Wohlfahrtsstaat! und!demographischer! Wandel! · Wohlfahrtsstaat! und!demographischer! Wandel!...
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Wohlfahrtsstaat und demographischer Wandel Hausarbeit zur Erlangung des Akademischen Grades eines Magister Artium
Im Juni 2011 dem Fachbereich Sozialwissenschaften, Medien und Sport der Johannes Gutenberg-‐Universität vorgelegt von Tilman Johannes Scheipers aus Lörrach.
Tilman Johannes Scheipers Müllerstraße 30, 2. Aufgg. 13353 Berlin
Matrikelnummer: 2608772
Erstgutachterin: Fr. Prof. Dr. Edeltraut Roller
Zweitgutachterin: Fr. Dr. Claudia Landwehr
i
INHALTSVERZEICHNIS
I. EINLEITUNG ...................................................................................................................................1
II. THEORETISCHER TEIL ..............................................................................................................8
1. Der demographische Wandel .................................................................................................8 A. Determinanten des demographischen Wandels und seine Entwicklung in
Deutschland ............................................................................................................................................... 8 B. Die Ursachen der gegenwärtigen demographischen Entwicklung..................................10 i. Ursachen nach ökonomischen Theorien.................................................................................10 ii. Ursachen nach soziologischen Theorien ...............................................................................12 iii. Ursachen struktureller Natur....................................................................................................14
C. Folgen der derzeitigen demographischen Entwicklung.......................................................15 i. Die demographischen Auswirkungen ......................................................................................15 ii. Die wirtschaftlichen Auswirkungen ........................................................................................18 iii. Die sozialen Auswirkungen........................................................................................................20
2. Der Wohlfahrtsstaat................................................................................................................ 22 A. Theorien zur Entwicklung, zur Einordnung und zum Vergleich von
Wohlfahrtsstaaten.................................................................................................................................22 B. Das Entstehen von Wohlfahrtsstaaten.........................................................................................24 i. Deutschland.........................................................................................................................................24 ii. Großbritannien .................................................................................................................................25 iii. Schweden...........................................................................................................................................25
C. Die Typologisierung nach Gøsta Esping-‐Andersen.................................................................26 i. Der liberale Wohlfahrtsstaat........................................................................................................29 ii. Der konservative Wohlfahrtsstaat ...........................................................................................29 iii. Der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat ..........................................................................30
3. Demographischer Wandel trifft Wohlfahrtsstaat ......................................................... 31 A. Möglichkeiten, Ursachen demographischen Wandels entgegenzuwirken ..................31 i. Kinderbetreuung ...............................................................................................................................32 ii. Gleichberechtigung .........................................................................................................................35 iii. Armutsrisiko.....................................................................................................................................37
B. Familienpolitische Möglichkeiten, demographischem Wandel zu begegnen .............38 i. Definition von Familienpolitik ....................................................................................................40 ii. Akteure mit familienpolitischem Einfluss.............................................................................41 iii. Motive von Familienpolitik ........................................................................................................43 iv. Typen von Familienpolitiken.....................................................................................................45
III. DESKRIPTIVER TEIL.............................................................................................................. 50
1. Familienpolitische Maßnahmen in Deutschland .......................................................... 52 A. Mutterschaftsgeld .................................................................................................................................52 B. Elterngeld .................................................................................................................................................52 C. Elternzeit ...................................................................................................................................................54 D. Kindergeld................................................................................................................................................54
ii
E. Kinderzuschlag .......................................................................................................................................55 F. Kinderbetreuungsmöglichkeiten....................................................................................................55 G. Steuervergünstigungen.......................................................................................................................57
2. Familienpolitische Maßnahmen in Großbritannien.................................................... 59 A. Mutterschaftsurlaub ............................................................................................................................59 B. Geburtsprämien .....................................................................................................................................60 C. Elternzeit ...................................................................................................................................................61 D. Kindergeld................................................................................................................................................61 E. Kinderbetreuungsmöglichkeiten....................................................................................................61 F. Steuervergünstigungen.......................................................................................................................62
3. Familienpolitische Maßnahmen in Schweden ............................................................... 64 A. Schwangerschaftsgeld.........................................................................................................................64 B. Elterngeld .................................................................................................................................................64 C. Kindergeld ................................................................................................................................................66 D. Unterhaltsbeihilfe .................................................................................................................................67 E. Kinderbetreuungsmöglichkeiten....................................................................................................67 F. Steuervergünstigungen.......................................................................................................................69
IV. ANALYTISCHER TEIL............................................................................................................. 70
1. Deutschland: Familienpolitische Maßnahmen in Relation zum Wohlfahrtsregime.................................................................................................................... 70
2. Großbritannien: Familienpolitische Maßnahmen in Relation zum Wohlfahrtsregime.................................................................................................................... 73
3. Schweden: Familienpolitische Maßnahmen in Relation zum Wohlfahrtsregime.................................................................................................................... 75
V. FAZIT ........................................................................................................................................... 77
VI. LITERATURVERZEICHNIS.................................................................................................... 80
iii
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
BMFSFJ Bundesminiterium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
BZgA Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
bzgl. bezüglich
bzw. beziehungsweise
ca. circa
et al. et alii, und Andere
etc. et cetera, und so weiter
GG Grundgesetz
ggf. gegebenenfalls
i.d.R. in der Regel
KAS Konrad Adenauer-‐Stiftung
Kita Kindertagessätte
Mio. Million
Mrd. Milliarde
o.ä. oder Ähnliches
o.g. oben genannt
PDF Portable Document File
SGB Sozialgesetzbuch
sog. so genannt
u.ä. und Ähnliches
USA United States of America, Vereinigte Staaten von Amerika
usw. und so weiter
v.a. vor Allem
z.B. zum Beispiel
iv
DANKSAGUNG
Besonderer Dank — in alphabethischer Reihenfolge — gilt folgenden
Personen für moralische Unterstützung, für fachliche Beratung, für gute
Ratschläge und inhaltliches sowie orthographisch-‐grammatikalisches
Gegenlesen.
Dr. Herbert Bornebusch
Kristina Jeromin
Katrin Noller
Janna Scheipers
Josef Scheipers
Sebastian Vösgen
1
I. Einleitung
Die zentrale Frage dieser Arbeit lautet: Sind familienpolitische
Maßnahmen, die Einfluss nehmen sollen auf den demographischen
Wandel, abhängig vom Typ des Wohlfahrtsstaats?
Das tangiert gleich zwei der seit ein paar Jahren sowohl in Politik als auch
Wissenschaft gleichwohl intensiv wie kontrovers diskutierten Themen:
die Zukunft des Wohlfahrtsstaats und die vermutlichen Folgen des
demographisches Wandels der vergangenen 30 Jahre.
Da stellt sich zuerst die Frage: Was ist demographischer Wandel? Aus
soziologischer Sicht ist demographischer Wandel eine Veränderung der
Struktur der Bevölkerung, die in einem bestimmten Zeitraum auf einem
bestimmten Gebiet lebt. Diese Veränderungen ergeben sich durch die
Summe der drei Bevölkerungsprozesse, nämlich durch Geburten, durch
Sterbefälle sowie durch Ein-‐ bzw. Auswanderung. Ist Art und Ausmaß
dieser Veränderungen über einen gewissen Zeitraum einigermaßen
gleichbleibend, so spricht man von einer Bevölkerungsweise.1 Die sich seit
etwa dem Anfang der 1970er Jahre herauskristallisierende
Bevölkerungsweise in den Staaten Europas und Nordamerikas sieht so
aus: Die Geburtenrate geht zurück, und gleichzeitig steigt die
Lebenserwartung. Dadurch wächst der relative Anteil älterer Menschen
in der Bevölkerung. In den meisten Staaten wirkt Zuwanderung einem
Bevölkerungsrückgang entgegen. Auch in Staaten Südamerikas, Asiens
1 vgl.: Höhn, Charlotte: „Bevölkerungsentwicklung und demographische Herausforderung“, in: Hradil, Stefan / Immerfall, Stefan (Hrsg.): „Die westeuropäischen Gesellschaften im Vergleich“, Opladen 1997, S. 71f.
2
und der ehemaligen Sowjetunion lassen sich diese Tendenzen klar
erkennen.2
Im Hinblick auf unsere Fragestellung ist in einem zweiten Schritt zu
fragen und zu klären: Was ist Wohlfahrt bzw. was verstehen wir unter
einem Wohlfahrtsstaat? In Bezug auf den Begriff Wohlfahrt muss zum
einen auf der Ebene des umgangssprachlichen Gebrauchs unterschieden
werden: Gegenüber dem Begriff Wohlfahrtsstaat sind im Deutschen die
Bezeichnungen Sozialstaat oder Sozialpolitik geläufiger. Während bei
Sozialstaat direkt eine imperative Komponente mitschwingt, nämlich eine
implizite Fürsorgepflicht des Staats, hat Wohlfahrtsstaat bei Angehörigen
mancher politischer Lager einen etwas abwertenden Beigeschmack. Zum
anderen muss auf der Ebene wissenschaftlicher Definitionen differenziert
werden: Betrachtet man das System der Wohlfahrt, wie es sich in einer
gegebenen Gesellschaft darstellt, muss als Überbegriff von
Wohlfahrtsregime gesprochen werden. Denn Wohlfahrt produzieren drei
Akteure: Staat, Familie und Markt. Wohlfahrtsstaat impliziert also den
Staat als Akteur. Sozialpolitik wiederum bezeichnet akteurunabhängig
eher ein bestimmtes Vorgehen. Dennoch werden in der Wissenschaft alle
drei Begriffe oft synonym verwendet. In dieser Arbeit wird in Anlehnung
an die englische Bezeichnung welfare state der Begriff Wohlfahrtsstaat
bevorzugt und soll vollkommen deskriptiv und wertfrei verstanden
werden. Für den Begriff Wohlfahrtsstaat ist in dieser Arbeit ebenfalls
folgende Feststellung von Relevanz: Auch wenn Wohlfahrt nicht für nur
eine Staatsform reserviert ist, bleibt der Fokus im Folgenden allein auf
den Staaten, die sich zu den demokratischen Rechtsstaaten zählen lassen.
Wohlfahrtsstaatlichkeit — gleichwohl in unterschiedlichem Umfang —
definiert die Verantwortlichkeit eines Staats, seine Bevölkerung gegen 2 vgl.: Walla, Wolfgang / Eggen, Bernd / Lipinski, Heike: „Der demographische Wandel. Herausforderungen für Politik und Wirtschaft“, Stuttgart 2006, S. 25-‐45
3
gewisse Standardrisiken des menschlichen Lebens abzusichern. Zu diesen
Standardrisiken zählen im Kern: Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit und
Alter.3 Es können auch Einkommensausfälle hinzugezählt werden, die z.B.
aufgrund von Ausbildung, Kindererziehung oder dem Tod eines
Familienangehörigen entstehen. Weitere wohlfahrtsstaatliche Ziele sind
— in verschiedenem Maße — die Eindämmung von sozialen
Ungleichheiten, das Streben nach Vollbeschäftigung sowie die
größtmögliche Entkopplung des individuellen Schicksals von
marktzyklischen Begebenheiten. Diese Regulierungen äußern sich zum
Beispiel in Steuer-‐, Arbeitsmarkt-‐ oder Bildungspolitiken.4
Bevölkerung sei hier definiert als diejenigen Personen, die auf dem
Staatsgebiet eines bestimmten Staats leben; nicht notwendigerweise ist
diese Personengruppe identisch mit den Staatsbürgern ebendieses Staats.
Diese Personengruppe bildet im Prinzip eine Solidargemeinschaft, die für
individuelle Probleme des Einzelnen standardisiert eintritt — vertreten
durch staatliche oder staatsähnliche Versicherungssysteme.5 Je nach
Wohlfahrtsregime sind es jedoch zum Teil nur bestimmte
Bevölkerungsgruppen, die diese Versicherungssysteme finanzieren.
Schrumpft eine Gesellschaft, hat das wirtschaftliche und soziale Folgen,
die an dieser Stelle zunächst nur schlagwortartig angeschnitten werden
sollen: Arbeitskräftemangel, Kranken-‐ und
Rentenversicherungsproblematiken, aber auch z.B. ein schwächer
werdendes Unterstützungsnetzwerk für ältere Menschen.6 So wird in
3 vgl.: Hauser, Richard: „Soziale Sicherung in westeuropäischen Staaten“, in: Hradil, Stefan et al. (Hrsg.): a. a. O., S. 523f. 4 vgl.: Schmidt, Manfred G.: „Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich“, Wiesbaden 2005, 3. Auflage, S. 15ff. 5 vgl. hierzu weitergehend: Kaufmann, Franz-‐Xaver: „Schrumpfende Gesellschaft. Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen.“, Frankfurt am Main 2005, S. 23ff. 6 genauere Ausführungen zu Ursachen und Folgen einer schrumpfenden Gesellschaft folgen in den Kapiteln II.1.B und II.1.C
4
dieser Arbeit vorausgesetzt, dass es das Interesse einer Bevölkerung ist,
nicht zu schrumpfen. Aus diesem Grund wird angenommen, dass es zur
Aufgabe der die Bevölkerung vertretenden Regierung gehört, an der
Lösung dieses Problems zu arbeiten.7 In der Bundesrepublik Deutschland
gründet sich die Wohlfahrtsstaatlichkeit zudem auf die Artikel 20 und 28
des Grundgesetzes. Darin heißt es zum einen: „Die Bundesrepublik
Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“8 Und zum
anderen: „Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den
Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen
Rechtsstaats im Sinne des Grundgesetzes entsprechen.“9
Auf wissenschaftlicher Ebene gehört das Thema Wohlfahrtsstaat zu
einem der häufig erforschten Themengebiete: Josef Schmid — einer der
wichtigen Autoren in diesem Bereich — spricht in seinem Buch
„Wohlfahrtsstaaten im Vergleich“ sogar von einer „akademischen
Wachstumsbranche“10. Auch wenn bereits seit etwa 35 Jahren vermehrt
Schriften hierzu veröffentlicht wurden, ist das Erkenntnisinteresse noch
nicht erschöpft. Es sind v.a. die Arbeiten des Dänen Gøsta Esping-‐
Andersen von besonderer Bedeutung für den wissenschaftlichen Diskurs
und auch für den Aufbau dieser Arbeit.11 Insgesamt beschäftigt sich die
Literatur v.a. mit dem Thema: Wie und warum sind Wohlfahrtsstaaten
entstanden und wie lassen sie sich klassifizieren?
Ebenfalls nicht neu für die Forschung ist die Beschäftigung mit dem
demografischen Wandel; seit Ende der 1970er Jahre wird das Thema
7 Es scheint ebenfalls evident, anzunehmen, dass politische Maßnahmen alleine das Problem nicht lindern oder gar lösen können. Mehr dazu in den Kapiteln II.3.A.i sowie II.3.A.ii 8 Art. 20, Abs. 1, GG 9 Art. 28, Abs. 1, GG 10 Schmid, Josef: „Wohlfahrtsstaaten im Vergleich. Soziale Sicherung in Europa: Organisation, Finanzierung, Leistungen und Probleme“, Opladen 2002, S. 69 11 siehe v.a.: Esping-‐Andersen, Gøsta: „The Three Worlds of Welfare Capitalism“, Cambridge 1990
5
diskutiert. Auf fast schon populärwissenschaftlicher Ebene anzusiedeln,
aber für den Anstoß einer breiteren und auch medienöffentlichen
Diskussion nicht zu unterschätzen, sind die Beiträge von Herwig Birg:
„Prosperität einer alternden Gesellschaft“, „Die demografische
Zeitenwende“ und „Die ausgefallene Generation“.12 So fand das Thema
2004 seinen Weg auf die Titelseiten der deutschen Presse; mit dem
Titelthema „Land ohne Lachen“ stellte DER SPIEGEL fest: „Deutschland
schrumpft — und ergraut.“13 Ebenfalls 2004 erschien das Buch des Mit-‐
Herausgebers der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher,
„Der Methusalem-‐Komplott“14, das sogar ein direktes ‚Gegen-‐Buch’
provozierte: „Die Methusalem-‐Lüge“ von Ernst Kistler15.
Bestimmte Bevölkerungsweisen und das Entstehen von
Wohlfahrtsstaatlichkeit sowie dessen Ausmaß hängen eng miteinander
zusammen. Es wurden unterschiedliche Theorien dazu formuliert, aus
welchen Gründen sich in diesem Bereich auf Seiten des Staats ein
Verantwortungsbewusstsein für seine Bevölkerung herausgebildet hat.
Eine Theorie führt ihr Entstehen auf die wirtschaftlichen Umwälzungen
des 19. Jahrhunderts zurück.16 Diese Umwälzungen verkomplizierten das
Zusammenwohnen von mehreren Generationen unter einem Dach, wie es
in vorindustrieller Zeit weit verbreitet war, und machten es dadurch
seltener. Die technischen Neuerungen machten Kinderarbeit immer
überflüssiger. So bewirkte die Modernisierung eine ähnliche
demographische Veränderung wie sie heutzutage zu beobachten ist: Die 12 siehe: Birg, Herwig: „Prosperität einer alternden Gesellschaft“, Bad Homburg 2000; sowie: Birg, Herwig: „Die demografische Zeitenwende. Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa“, München 2001; sowie: Birg, Herwig: „Die ausgefallene Generation. Was die Demografie über unsere Zukunft sagt“, München 2005 13 Bölsche , Jochen: „Land ohne Lachen“, in: DER SPIEGEL, 2/2004, S. 38 14 siehe: Schirrmacher, Frank: „Das Methusalem-‐Komplott: Die Macht des Alterns 2004-‐2050“, Frankfurt am Main 2004 15 siehe: Kistler, Ernst: „Die Methusalem-‐Lüge. Wie mit demografischen Mythen Politik gemacht wird“, München 2006 16 genauere Ausführungen zum Entstehen von Wohlfahrtsstaaten in Kapitel II.2.A
6
Geburtenraten sanken, der dadurch wachsende Anteil der älteren
Bevölkerung wurde älter. Wohlfahrtsstaatliche Leistungen zur
Unterstützung der älteren Generation wurden eingeführt und auf andere
Bevölkerungsteile ausgeweitet. 17
In den meisten Wohlfahrtsstaaten sind es v.a. die Teile der Bevölkerung,
die einer geregelten Erwerbsarbeit nachgehen, durch die die
Finanzierung der sozialen Versicherungssysteme gewährleistet wird. In
der Regel ist dies der größte Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen
Alter: Menschen zwischen 20 und 60 Jahren. In einer schrumpfenden
Gesellschaft wird der Anteil der unter 60-‐Jährigen an der
Gesamtbevölkerung jedoch immer kleiner.
Eine schrumpfende und alternde Gesellschaft schafft sich Probleme also
genau dort, wofür ursprünglich das Entstehen von
Wohlfahrtsstaatlichkeit Linderung und Abhilfe versprach. Im Hinblick auf
diese paradoxale Konstellation könnte diskutiert werden, ob — und wenn
ja, welche — der Wohlfahrtsstaatlichkeit ‚Mitschuld’ am
demographischen Wandel zugewiesen werden müsste. Denn unterstützt
das Eintreten für etwas, das zuvor durch die Familie aufgefangen wurde,
nicht auch das Verschwinden familiärer Aufgaben und somit das
‚Verschwinden’ der Familie selbst?18 Eine Frage, die den Rahmen dieser
Arbeit sprengen würde. Denn sie setzt einen Schritt davor an:
17 vgl.: Esping-‐Andersen, Gøsta: „Drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus. Zur politischen Ökonomie des Wohlfahrtsstaats“, in: Lessenich, Stephan / Ostner, Ilona (Hrsg.): „Welten des Wohlfahrtskapitalismus“, Frankfurt am Main / New York 1998, S. 24f.; ausführlicher: Wilensky, Harold L.: „The welfare state and equality : strucural and ideological roots of public expenditures.“, Berkley / Los Angeles / London 1975 18 vgl.: Strohmeier, Klaus Peter: „Familiy Policy – How Does It Work?“, in: Kaufmann, Franz-‐Xaver / Kuijsten, Anton / Schulze, Hans-‐Joachim / Strohmeier, Klaus Peter (Hrsg): „Familiy Life and Family Policies in Europe. Volume 2: Problems and Issues in Comparative Perspective“, Oxford 2002, S. 326
7
Diese Arbeit fragt auf der übergeordneten Ebene, was Wohlfahrtsstaaten
innerhalb ihres familienpolitischen Feldes möglich ist zu tun, um einer
schrumpfenden Gesellschaft entgegen zu wirken. Auf der darunter
liegenden Ebene folgt sodann eine Analyse, ob sich familienpolitische
Maßnahmen abhängig vom Typ des Wohlfahrtsregimes unterscheiden.
8
II. Theoretischer Teil
1. Der demographische Wandel
A. Determinanten des demographischen Wandels und
seine Entwicklung in Deutschland
Die Determinanten des demographischen Wandels sind Veränderungen
in der Geburten-‐ und Sterberate sowie in der Aus-‐ und Zuwanderung. In
den vergangen 300 Jahren veränderte sich die Bevölkerungsweise in zwei
wesentlichen Phasen — dem sog. Ersten und sog. Zweiten
Demographischen Übergang.19
In der vorindustriellen Bevölkerungsweise bekamen die Menschen viele
Kinder und hatten eine niedrige Lebenserwartung: In Deutschland lag die
Geburtenrate bei ca. fünf lebend geborenen Kindern pro Frau, und die
Lebenserwartung bei durchschnittlich 30 Jahren. Die Bevölkerung wuchs,
da die Geburtenrate oberhalb der Sterberate lag — wenn auch beide auf
hohem Niveau.
Innerhalb des Ersten Demographischen Übergangs reduzierten sich
aufgrund von medizinischen Errungenschaften, Technisierung und
Industrialisierung der Gesellschaft zunächst die Sterbe-‐ und dann die
Geburtenrate. Da die Geburtenrate immer noch größer war als die
Sterberate, wuchs die Bevölkerung dennoch — wenngleich nun jeweils
auf niedrigerem Niveau. Dies versteht sich als die industrielle
Bevölkerungsweise: Die Fertilitätsrate lag in Deutschland bei ca. 2,5
Kindern pro Frau und die durchschnittliche Lebenserwartung betrug 45
Jahre.
19 vgl.: Andorka, Rudolf: „Einführung in die soziologische Gesellschaftsanalyse“, Opladen 2001, S. 240f.
9
Im Zuge des Zweiten Demographischen Übergangs sank die Geburtenrate
nach kurzem Babyboom weiter und fiel unterhalb des Niveaus der
Sterberate, die wiederum weitestgehend konstant blieb. Hierbei wird von
der postindustriellen Bevölkerungsweise gesprochen: in Deutschland ca.
1,3 Kinder pro Frau und eine durchschnittliche Lebenserwartung von 75
Jahren. Das Prekäre daran: Die Geburtenrate liegt unterhalb des
Reproduktionsfaktors von durchschnittlich 2,1 Kindern pro Frau. Bei
dieser Bevölkerungsweise schrumpft die Bevölkerung ohne
Zuwanderung.
Grob gesagt war Deutschland bis zum Zweiten Weltkrieg ein
Auswanderungsland: Aufgrund von Kriegen, Epidemien und
Hungersnöten emigrierten damals viele Menschen in die Vereinigten
Staaten von Amerika oder nach Russland. Nach dem Zweiten Weltkrieg
wurde Deutschland im Großen und Ganzen zu einem
Einwanderungsland: In den 1950er Jahren waren das v.a. Flüchtlinge aus
den vormals deutschen Gebieten im Osten, also deutschstämmige
Aussiedler; bis zum Bau der ‚Berliner Mauer’ waren das Flüchtlinge aus
der sowjetischen Besatzungszone; seit den 1960er Jahren bis zum sog.
Anwerbestopp 1973 wurden aufgrund des ‚Wirtschaftswunders’
inklusive Familien fast sieben Mio. ‚Gastarbeiter’ aus den südlichen
Mittelmeerländern nach Deutschland angeworben; v.a. seit den 1980er
Jahren nahm Deutschland viele Asylbewerber und politische Flüchtlinge
auf.20 Seit Bestehen der Bundesrepublik sind rund 31 Mio. Menschen
nach Deutschland zu-‐ und etwa 22 Mio. abgewandert; so sind netto 9 Mio.
Menschen nach Deutschland immigriert.21
20 vgl.: Hradil, Stefan: „Die Sozialstruktur Deutschlands im internationalen Vergleich“, Wiesbaden 2004, S. 56f. 21 vgl.: Zuwanderungskommission: „Bericht der unabhängigen Kommission ‚Zuwanderung’, Juli 2001“, Berlin 2001, S. 14f.
10
B. Die Ursachen der gegenwärtigen demographischen
Entwicklung
i. Ursachen nach ökonomischen Theorien
Phänomene demographischer Natur anhand ökonomischer
Entscheidungsmethodiken zu begründen, hat bereits seit Thomas Robert
Malthus und Adam Smith Tradition. Doch die Geburtenrate auf Basis der
Rational-‐Choice-‐Theorie zu erklären, wurde v.a. durch Gary S. Becker22
begründet. Ein Homo Oeconomicus fällt seine Entscheidung auf
Grundlage zweier Determinanten: seinem Nutzen und der subjektiven
Wahrscheinlichkeit, diesen Nutzen zu erlangen. Seine Präferenzen
werden durch Restriktionen beeinflusst: z.B. durch finanzielle
Möglichkeiten, durch Gesetze, durch soziale Un-‐ oder Erwünschtheiten
sowie durch mentale oder physische Fähigkeiten.23 Während Malthus die
Bevölkerungsentwicklung mittels der Variablen Heiratsalter oder
durchschnittliche Koitushäufigkeit in Ehen berechnete, stellte Becker fest,
dass in einer modernen Gesellschaft zwei Entwicklungen diese Formel
unbrauchbar gemacht haben. Zum einen ist die
Säuglingssterblichkeitsrate vernachlässigbar gering, zum anderen das
Wissen um Empfängnisverhütung allgemein verbreitet. Familienplanung
ist eine Entscheidungsgröße geworden. Sie hat nichts mehr mit einer
durchschnittlichen Koitushäufigkeit in Ehen zu tun. Eine Schwangerschaft
bedeutet im Normalfall: Es wurde eine Entscheidung dafür getroffen.24
Der rational abwägende Homo Oeconomicus entscheidet sich für eine
Geburt, wenn der zu erwartende Nutzen des Kindes seine
22 siehe: Becker, Gary S.: „An Economic Analysis of Fertility. Demographic and Economic Change in Developed Countries“, Princeton 1960 23 vgl.: Opp, Karl-‐Dieter: „Die Entstehung sozialer Normen. Ein Integrationsversuch soziologischer, sozialpsychologischer und ökonomischer Erklärungen“, Tübingen 1983, S. 34f. 24 vgl.: Becker, Gary S.: „Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens“, Tübingen 1982, S. 188f.
11
wahrscheinlichen Kosten übertrifft. Überwiegen die Kosten, unterbleibt
die Geburt. Als Kosten können die Aufwendungen für z.B. Ernährung,
Kleidung, Ausbildung, u.ä. verstanden werden. Der Nutzen ist
aufgefächert in Konsum-‐, Arbeits-‐ und Vorsorgenutzen.
Nach der ökonomischen Theorie der Fruchtbarkeit haben somit zwei
Faktoren zum Sinken der Geburtenraten beigetragen: Auf der Habenseite
fällt zu aller erst die Arbeitskraft als Nutzen des Kindes weg. Es kann
lediglich der Konsumnutzen — das Kind als Objekt der Freude — als
zeitgemäß gelten. Daher definiert Becker Kinder als „eine Quelle
psychischen Einkommens oder psychischer Befriedigung, [so dass sie] in
der Terminologie der Ökonomie [...] als Konsumgüter“25 verstanden
werden müssen. Das Konzept des Value of Children beschreibt den
immateriellen Nutzen von Kindern u.a. mit folgenden Größen:
Anerkennung durch das soziale Umfeld, religiöse oder
verwandtschaftliche Traditionen, Lebenssinnstiftung durch Elternschaft,
emotionale Erfahrungen gegenüber dem Partner und dem Kind.26
Ein weiterer Faktor ist die Bildungsexpansion — v.a. die der Frauen.
Mehr Bildung führt zu höherem Einkommen. Mit steigendem Einkommen
steigen ebenfalls die Opportunitätskosten des Kindes, die durch Verzicht
oder Teilverzicht auf Berufstätigkeit mit dem damit verbundenen
Einkommenswegfall entstehen. Da sich die Erwerbsmöglichkeiten von
Frauen infolge von höherer Qualifikationen deutlich verbessert haben,
muss der Nutzen eben auch solche Kosten relativieren, die in einer
bereits investierten Ausbildung zu suchen sind sowie in dem Risiko, im
Anschluss an eine Babypause keine Anstellung mehr zu finden.27
Wolfgang Walla et al. haben für eine Frau mit einem Einstiegsgehalt von 25 Zimmermann, Klaus F.: „Die ökonomische Theorie der Familie“, in: Felderer, Bernhard (Hg.): „Beiträge zur Bevölkerungsökonomie“, Berlin 1986, S. 189 26 vgl.: Höpflinger, François: „Bevölkerungssoziologie“, Weinheim 1997, S. 80ff. 27 vgl.: Andorka, Rudolf: a.a.O., S. 241
12
bspw. 24.000 Euro, die nach sechs Jahren Berufstätigkeit eine Babypause
von zwei Jahren einlegt, einen durchschnittlichen Einkommensverlust
von 80.000 Euro bis zum 15. Berufsjahr errechnet.28
So erklärt die Logik der Opportunitätskosten das Phänomen des demo-‐
ökonomischen Paradoxons: Je weiter eine Gesellschaft in Bezug auf ihren
wirtschaftlichen Fortschritt entwickelt ist und je mehr die Einkommen
sowie der allgemeine Wohlstand steigen, desto niedriger liegt die
Geburtenrate. Denn je höher die Einkommen, desto höher die
Opportunitätskosten. 29
ii. Ursachen nach soziologischen Theorien
Soziologische Theorien der Fertilität führen gesellschaftliche
Konventionen als Gründe an:
„Wenn [...] Familien mit zwei oder mehr Kindern für unverantwortlich,
altmodisch oder [...] dumm gehalten werden, [...] sind nur wenige bereit,
mehrere Kinder zu bekommen.“30
Doch wie kommen diese Konventionen zustande? Zunächst sind es
Gründe der Individualisierung und Deinstitutionalisierung: Analog zu den
ökonomischen Theorien wird Schwangerschaft und Geburt nicht als
spontanes, biologisches Ereignis, sondern als Entscheidung der Eltern
aufgefasst. Die Veränderung des reproduktiven Verhaltens wird auf den
sog. Wertewandel31 zurückgeführt. Postmaterialistische Werte lösen
materialistische ab: Ein Leben fokussiert auf Pflicht und Akzeptanz wird
28 vgl. Walla, Wolfgang et al.: a.a.O., S. 192 29 vgl.: Birg, Herwig: „Die demographische Zeitenwende. Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa“, München 2001, S. 24f.; 42-‐45 30 Andorka, Rudolf: a.a.O., S. 242 31 siehe: Inglehart, Ronald: „Kultureller Umbruch. Wertewandel in der westlichen Welt“, Frankfurt am Main / New York, 1990
13
ersetzt durch Streben nach Selbstfindung und Selbsterfahrung. Die
frühere Institution Familie ist lediglich zur am häufigsten gewählten
Alternative geworden, doch keine biographische Notwendigkeit. Eine
Familie zu gründen muss gegenüber der Abkehr von anderen
Möglichkeiten der Lebensführung gerechtfertigt werden. Kinder sind
keine logische Konsequenz einer ehelichen oder eheähnlichen
Partnerschaft.32 Der damit einhergehende Zuwachs an biographischen
Optionen für Männer als auch für Frauen bewirkt eine Zurückhaltung vor
endgültigen und langfristigen Entscheidungen: Der Geburtenrückgang ist
zurückzuführen auf eine „Zunahme des Risikos langfristiger
biographischer Festlegungen“33. Hinzu kommt: Aufgrund der allgemein
bekannten und akzeptierten Möglichkeiten der Empfängnisverhütung
wird im Falle einer Schwangerschaft von einer bewussten Entscheidung
ausgegangen. Dieser bewussten Entscheidung folgt die Erwartung, das
Kind verantwortungsbewusst zu erziehen — der gesellschaftliche
Imperativ verantworteter Elternschaft.34
Des Weiteren werden für das Zustandekommen von Fertilität
hemmenden Konventionen Gründe der Pluralisierung und Polarisierung
aufgeführt: In mittel-‐ und südeuropäischen Staaten ist zu beobachten,
dass sich Lebensformen zwar diversifizieren, Elternschaft sich aber
dennoch an eheliche oder eheähnliche Partnerschaften knüpft. Im sozial-‐
geographischen Stadt-‐Land-‐Vergleich zeigt sich: In ländlichen Gebieten
leben Familien, während sich in Städten häufig kinderlose Milieus finden,
in denen Kinderlosigkeit Normalität ist.35,36 Eine für die Landesregierung
32 vgl.: Huinink, Johannes / Strohmeier, Klaus Peter / Wagner, Michael: „Solidarität in Partnerschaft und Familie: Zum Stand familiensoziologischer Theoriebildung“, Würzburg 2001, S. 12 33 Birg, Herwig / Koch, Helmut: „Der Bevölkerungsrückgang in der Bundesrepublik Deutschland“, Frankfurt am Main 1988, S. 44 34 vgl.: Kaufmann, Franz-‐Xaver: a.a.O., S. 133f. 35 vgl.: ebenda, S. 142f.
14
Baden-‐Württembergs erstellte Studie des Instituts für Demoskopie
Allensbach kommt zu dem Schluss:
„Eine Folge der Entfremdung vieler Kinderloser ist, dass [...] Nachteile, die mit
Kindern verbunden sind [...], Kinderlosen besonders plastisch vor Augen stehen
[...].“37
iii. Ursachen struktureller Natur
Hierzu werden Schwierigkeiten gezählt, verschiedene konkurrierende,
individuelle Interessen miteinander zu vereinen. Dazu können
unterschiedliche Wünsche auf partnerschaftlicher Ebene gehören; dazu
gehören aber auch ambivalente Einstellungen auf der persönlichen
Ebene. Zu nennen sind partnerschaftliche sowie innere Konflikte
gegenüber der Vereinbarkeit von Kinderwunsch und beruflicher
Entwicklung: Während die meisten jungen Frauen die Zeit zwischen dem
24. und 31. Lebensjahr für das optimale Erstgebäralter halten, möchte die
Mehrzahl — v.a. der höher gebildeten Frauen — zunächst ihre
Ausbildung abschließen und zu einem befriedigendem beruflichen Punkt
gelangen.38
Partnerschaftliche sowie innere Konflikte zwischen gesellschaftlichen
Normen, erstrebenswerten eigenen Zielsetzungen sowie realisierbaren
Rahmenbedingen sind weitere Gründe für Kinderlosigkeit. Johannes
Huinink zählt folgende Problematiken auf, die zu lösen als gesellschaftlich
erstrebenswert gilt, bevor man sich für ein Kind entscheidet: Erstens das
36 Interessant, jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengend, wäre der Einfluss von TV-‐Serien, Kinofilmen u.ä. als Vorbild, in denen Kinder ebenso selten bis gar nicht vorkommen. 37 Institut für Demoskopie Allensbach: „Einflussfaktoren auf die Geburtenrate. Ergebnisse einer Repräsentativbefragung der 18-‐ bis 44-‐jährigen Bevölkerung“ Allensbach 2004, S. 83 38 vgl.: ebenda, S. 18
15
Perspektiven-‐Problem, zweitens das Ressourcen-‐Problem sowie drittens
das Vereinbarkeits-‐Problem.39 En detail sind das:
• „eine gefestigte Paarbeziehung40 [...];
• eine gefestigte ökonomische Basis [...];
• ein verlässliches soziales Netzwerk (Verwandte, Freunde), das als Stütze beim
Aufziehen von Kindern eingesetzt werden kann;
• eine halbwegs kalkulierbare berufliche Zukunft;
• Lebens-‐ und Karriereinteressen [beider Partner], mit denen Kinder vereinbar
sind;
• Berufstätigkeiten, die dem Zusammenleben mit Kindern zuträglich sind.“41
Als letzter struktureller Punkt sind Zukunftsunsicherheiten zu nennen:
Tiefgreifende Entscheidungen werden in sog. schweren Zeiten
aufgeschoben. Zu diesen sog. schweren Zeiten kann hohe Arbeitslosigkeit
zählen sowie wirtschaftliche Krisensituationen oder Unsicherheiten in
Bezug auf soziale Sicherungssysteme. Dass sich im Umkehrschluss
prosperierende Zeiten positiv auf das reproduktive Verhalten auswirken,
konnte bisher nicht bewiesen werden.42
C. Folgen der derzeitigen demographischen Entwicklung
i. Die demographischen Auswirkungen
Die demographische Entwicklung beeinflusst die Zukunft, d.h. die
demographische Zusammensetzung in den nächsten Jahren und 39 vgl.: Huinink, Johannes: „Elternschaft in der modernen Gesellschaft“, in: Gabriel, Karl / Herlth, Alois / Strohmaier, Klaus Peter (Hrsg): „Modernität und Solidarität. Konsequenzen gesellschaftlicher Modernisierung. Für Franz-‐Xaver Kaufmann.“, Freiburg i.Br. 1997, S. 86f. 40 In genannter Studie des Institutes für Demoskopie Allensbach nennen 84% der Befragten „eine stabile Beziehung“ als Vorraussetzung für die Realisierung eines Kinderwunsches. 41 Strohmeier, Klaus Peter / Schulz, Annett: „Familienforschung für die Familienpolitik. Wandel der Familie und sozialer Wandel als Herausforderungen der Familienpolitik“, Bochum 2005, S. 77 (PDF-‐Version) 42 vgl.: Walla, Wolfgang et al.: a.a.O., S. 95f.
16
Jahrzehnten. Bevölkerungsvorausberechnungen sind — z.B. im Vergleich
zu. ökonomischen Prognosen — ziemlich exakt. Frühere Berechnungen
für die gegenwärtige Situation weichen um weniger als ein Prozent ab.43
Exemplarisch sollen an dieser Stelle die Zahlen für Deutschland genannt
werden; diese Werte weichen für andere westliche Staaten zwar in
absoluten Größen ab, unterscheiden sich jedoch nicht in Tendenz und
Prinzip.44 Wie eingangs beschrieben gibt es die folgenden
Hauptmerkmale:
• eine Bevölkerung, die schrumpft
• eine Bevölkerung, die altert
• eine Bevölkerung, die sich aus immer mehr alten und immer
weniger jungen Menschen zusammensetzt.
Während 2001 der Anteil der Alten und Hochbetagten45 an der
Gesamtbevölkerung bei etwa 25% lag, wird er bis zum Jahre 2050 auf
etwa 35% anwachsen. Lag das Durchschnittsalter 2001 noch bei 41, wird
es 2050 bei 47 liegen. Während 2001 knapp 20% der Gesamtbevölkerung
unter 21 Jahre alt war, werden es 2050 etwa 15% sein.
Im Hinblick auf wirtschaftliche, politische und soziale Implikationen sind
der Alten- sowie der Jugendquotient von Relevanz: Der Altenquotient setzt
die Größe der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (20 bis 59 Jahre) mit
der Größe der Bevölkerung im Rentenalter (60 Jahre und älter) ins
Verhältnis. Kamen 2001 auf 100 Personen im erwerbsfähigen Alter noch
ungefähr 44 im Rentenalter, so werden es im Jahre 2050 bereits etwa 78
Personen sein. Der Jugendquotient hingegen beziffert das Verhältnis von 43 vgl.: Birg, Herwig: „Dynamik der demographischen Alterung, Bevölkerungsschrumpfung und Zuwanderung in Deutschland. Prognosen und Auswirkungen“ in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B20/2003, S. 6 44 vgl.: Birg, Herwig: a.a.O., S. 119-‐136 45 Per definitionem sind Menschen über 59 Jahre alt; Hochbetagte sind älter als 79 Jahre
17
unter 20-‐Jährigen gegenüber der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter:
Kamen 2001 auf 100 Personen im erwerbsfähigen Alter noch ca. 38
Personen unter 20, so werden es 2050 nur noch ungefähr 34 sein. Der
sog. Gesamtquotient veranschaulicht, für wie viele Personen 100
Personen im erwerbsfähigen Alter sorgen müssen, um Ausbildung oder
Rente zu finanzieren: Während es 2001 etwa 82 Personen sind, werden
es 2050 bereits 112 sein. Bezüglich politischer und sozialer
Auswirkungen ist anzumerken, dass Pro-‐Kopf-‐Ausgaben für
Kinderbetreuung und Schulausbildung wie auch jene für Gesundheit und
Pflege voraussichtlich steigen werden.46 Das Problem ist also nicht nur
eine Überalterung, sondern v.a. eine ‚Unterjüngung’ der Gesellschaft.47
Demographischer Wandel hängt auch von Wanderung ab. Im Jahr 2000
rechnete die United Nations Population Division drei
Wanderungsszenarien u.a. auch für Deutschland durch (Projektionsziel
2050):
1. Welche Zuwanderung wäre nötig, um die Bevölkerungszahl
konstant zu halten? — Hierzu müssten jährlich etwa 325.000
Menschen zuwandern. 2050 wären das insgesamt ca. 18 Mio.
Immigranten, die dann knapp 30% der Bevölkerung ausmachten.
2. Welche Zuwanderung wäre nötig, um die Bevölkerung im
erwerbsfähigen Alter konstant zu halten? — Hierzu müssten
jährlich ungefähr 460.000 Menschen zuwandern. 2050 wären das
insgesamt etwa 25 Mio. Immigranten, die dann knapp 35% der
dann insgesamt 92 Mio. in Deutschland lebenden Menschen
ausmachten. 46 vgl.: Michael, Frank: „Die demographische Entwicklung in Deutschland und ihre Implikationen für Wirtschaft und Soziales“, in: Kerschbaumer, Judith / Schroeder, Wolfgang (Hrsg.): „Sozialstaat und demographischer Wandel. Herausforderungen für Arbeitsmarkt und Sozialversicherungen.“ Wiesbaden 2005, S. 54f. 47 vgl.: Lehr, Ursula: „Die Jungend von gestern – und die Senioren von morgen.“ in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 30/2003, S. 3
18
3. Welche Zuwanderung wäre nötig, um den Altenquotienten
konstant zu halten? — Hierzu müssten jährlich 3,5 Mio.
zuwandern. 2050 wären somit 189 Mio. der dann fast 300 Mio. in
Deutschland lebenden Menschen Immigranten (80%).48
Nicht nur das letzte Beispiel offenbart die Fiktivität dieser Rechenübung:
Aus welchen Ländern soll diese Masse an Menschen einwandern? Wie
ließen sich die Herausforderungen meistern, die mit einer Integration all
dieser Einwanderer verbunden sind? Und wie wäre mit der — v.a. nach
dem dritten Szenario erlebten — Bevölkerungsexplosion umzugehen?49
ii. Die wirtschaftlichen Auswirkungen
Die relative und absolute Verkleinerung der Bevölkerung im
erwerbsfähigen Alter wirkt sich v.a. auf ökonomische Belange aus. Robert
Merton Solow50 lieferte Mitte der 1950er Jahre ein theoretisches Modell
zur Erklärung von Wirtschaftswachstum: Die drei Determinanten des
Wachstums lauten Arbeit, Kapital und technischer Fortschritt.
„Arbeit und Kapital bilden den quantitativen Aspekt [...], technische[r] Fortschritt die qualitative Seite des Wirtschaftswachstums [...]. Mit Arbeit ist das geleistete
Arbeitsvolumen der Erwerbstätigen [...] gemeint. [...] Kapital beinhaltet
sämtliche Produktionsmittel [...] zur Erstellung von Dienstleitungen.
Technischer Fortschritt liegt vor, wenn mit der gleichen Menge von
Produktionsfaktoren ein höherer Output oder der gleiche Output mit
geringerem Einsatz von Produktionsfaktoren erreicht wird. [...]
48 vgl.: United Nations Population Division: „Replacement Migration: Is It A Solution To Declining And Aging Population?“, New York 2000, S. 37ff. 49 Zum Vergleich: Seit Bestehen der Bundesrepublik sind netto nicht mehr als 9 Mio. Menschen nach Deutschland eingewandert; vgl.: Kapitel II.1.A 50 siehe: Solow, Robert M.: „A Contribution to the Theory of Economic Growth“, in: Quarterly Journal of Economics, Band 70/1956, S. 65–94
19
Wirtschaftswachstum [...] ist die Summe aus den Veränderungsraten der
genannten Faktoren.“51
Anfang der 1990er Jahre wurde dieses Konzept von N. Gregory Mankiw,
Paul Romer und David Weil um den Faktor Humankapital52 erweitert.
Verändert sich die Bevölkerungsweise, wirkt sich das u.a. auf die
Erwerbstätigenquote oder das Renteneintrittsalter aus. Diese Größen
wiederum beeinflussen den o.g. Faktor Arbeit.53 Gibt es weniger
Erwerbspersonen, so schrumpft der Faktor Arbeit. Dadurch werden die
Preise für Arbeit teurer. Somit muss zur Erhaltung der Qualität der Arbeit
mehr Kapital aufgebracht werden, das tangiert die Produktivität sowie
die Rendite des eingesetzten Kapitals auf negative Weise.54
Ebenso wird der Faktor technischer Fortschritt durch die Veränderung
der Bevölkerungsweise beeinflusst. Die Erlangung verbesserter
Produktionsverfahren und gesteigerter Effizienz braucht qualifizierte und
motivierte Arbeitskräfte als Grundlage. Hier stehen zukünftige
Gesellschaften vor zwei Herausforderungen: Um ihr Humankapital zu
expandieren, ist zum einen in breite, allgemeine Ausbildung zu
investieren. Auch wenn die älteren Menschen der Zukunft sich geistig und
körperlich von den Alten heutiger Tage unterscheiden werden, muss zum
anderen dafür Sorge getragen werden, dass die Ressource Erfahrung
genutzt wird und diese gleichzeitig durch Fortbildungen weiter
vergrößert wird. Das Prinzip des lebenslangen Lernens wird immer
51 Michael, Frank: a.a.O., S. 59 (Hervorhebungen hinzugefügt) 52 Unter Humankapital wird die Masse des Wissens in den Köpfen z.B. der Bevölkerung eines bestimmten Staats oder eines Unternehmens verstanden. Gefördert und vermehrt werden kann es etwa durch Investitionen in Schul-‐, Aus-‐ oder Fortbildung; siehe: Becker, Gary S.: „Human Capital. A Theoretical and Empirical Analysis with Special Reference to Education“, Chicago 1993 53 vgl.: Gräf, Bernhard: „Deutsches Wachstumspotenzial: Vor der demographischen Herausforderung“, in: Deutsche Bank Research (Hrsg.): Aktuelle Themen, Nr. 277/2003, S. 7 ff. 54 vgl.: ebenda, S. 22
20
wichtiger, da für Fortschritt und Innovation große physische und
psychische Belastbarkeit, Konzentrationsfähigkeit und Risikobereitschaft
als notwendige Faktoren eingeschätzt werden: Eigenschaften, die heute
älteren Erwerbstätigen tendenziell eher abgesprochen werden.55
Auch das Konsumverhalten wird sich wandeln. Die Nachfrage an sich
wird zurückgehen, besonders im Bereich der Immobilien. Sie wird sich
verlagern hin zu personenbezogenen Dienstleistungen, besonders im
Pflegebereich — hier ist damit zu rechnen, dass die erhöhte Nachfrage bei
nicht parallel wachsendem Angebot die Preise steigen lässt und dadurch
den potentiellen Konsum anderer Güter verringert.56
iii. Die sozialen Auswirkungen
Sozial sei hier im soziologischen Sinne verstanden — also als Interaktion
zwischen Menschen. Durch die Zunahme von Kinderlosigkeit werden
immer mehr Menschen alt, ohne unmittelbare verwandtschaftliche
Beziehungen zur nachfolgenden Generation zu haben. Das lässt eine
zunehmende Vereinzelung und Vereinsamung zukünftiger Hochbetagter
voraussehen. Gleichzeitig ergibt sich durch diese Alleinstellung eine ganz
andere Lebensführung. Es bildet sich eine eigene, quasi neue
Lebensphase heraus: die der sog. Junge Alten — eine Lebensphase
zwischen Renteneinstiegsalter und gebrechlichem Alter.57
Auch wenn die o.g. Wanderungsrechnungen der United Nations
Population Division zunächst nur Zahlenspiele sind — Einwanderung v.a.
von hochqualifizierten Erwerbstätigen sowie deren Integration sind
55 vgl.: ebenda, S. 23ff. 56 vgl.: Kaufmann, Franz-‐Xaver: a.a.O., Frankfurt am Main 2005, S. 111 57 vgl.: ebenda, S. 112
21
Herausforderungen, die auf die Gesellschaft in Zukunft in noch größerem
Maße zukommen werden.
22
2. Der Wohlfahrtsstaat
Begrifflichkeit und Definition des Wohlfahrtsstaats wurden bereits im
einleitenden Kapitel erörtert. Die Kernaussagen in unserem Kontext sind:
• Zu den Aufgaben des Wohlfahrtsstaats gehören der Schutz des
Bürgers vor Risiken des Lebens sowie das Bestreben, Gleichheit
der Lebenschancen zu erreichen.
• Als Instrumente der Umsetzung der wohlfahrtsstaatlichen
Aufgaben dienen im Allgemeinen Einkommensumverteilungen
und Dienst-‐ und Sachleistungen.
• Anwendung finden wohlfahrtsstaatliche Leistungen im Falle von
bspw. Arbeitslosigkeit, Alter, Krankheit, Invalidität, Unfall oder
Schwangerschaft und Elternschaft.58
Doch wie lassen sich Wohlfahrtsstaaten als solche definieren, wie lassen
sie sich ordnen und wie kann man sie miteinander vergleichen?
Antworten darauf versuchen mehrere theoretische Ansätze zu geben:
A. Theorien zur Entwicklung, zur Einordnung und zum
Vergleich von Wohlfahrtsstaaten
Die Theorie des sozioökonomischen Funktionalismus sah als
Unterscheidungskriterium die Sozialausgaben. In der Erklärung der
jeweiligen Höhe der Sozialausgaben stützte sie sich v.a. auf den Stand der
wirtschaftlichen Entwicklung. Detlev Zöllner bspw. verglich mehr als 30
sehr unterschiedliche Staaten miteinander und konstatierte: „Die
Sozialleistungsquote entwickelt sich weitgehend unabhängig von 58 vgl.: Schmitt, Manfred G. / Ostheim, Tobias: „Einleitung“, in: Schmitt, Manfred G. / Ostheim, Tobias / Siegel, Nico A. / Zohlnhöfer, Reimut (Hrsg.): „Der Wohlfahrtsstaat. Eine Einführung in den historischen und internationalen Vergleich.“, Wiesbaden 2007, S. 21
23
politischen Wertvorstellungen.“59 Diese These konnte allerdings in
erneuten Analysen nicht verifiziert werden. Die Machtressourcentheorie
und Parteiendifferenzlehre hingegen hat eine sehr policy-‐bezogene
Herangehensweise60. Sie geht davon aus, dass die Zusammensetzung und
parteipolitische Prägung der Regierung maßgeblich dafür verantwortlich
ist, welches Niveau die Sozialausgaben erreichen. So wurde dargelegt,
dass unter sonst gleichen Bedingungen Sozialleistungen umso höher
ausfallen, je größer die Kabinettsitzanteile linker Parteien sind. Kritiker
dieses Ansatzes bemängeln die zu undifferenzierte Aufteilung der
internationalen Parteienlandschaft in ‚rechts’ gegenüber ‚links’, die so
nicht allerorts in ein ebenfalls zu unscharfes ‚konservativ’ gegenüber
‚sozialistisch’ übersetzt werden könne. Um Akteure außerhalb der
Regierung mit einbeziehen zu können, bringt das institutionalistische
Theoriekonzept den Vetospieler-‐Ansatz in die Diskussion mit ein und
kann so verschiedenste Faktoren für die Durchsetzbarkeit
wohlfahrtsstaatlicher Reformen berücksichtigen.61
Jedoch verwenden alle diese Theorien zur Entwicklung und zum
Vergleich der wohlfahrtsstaatlichen Tätigkeiten das Niveau der
Sozialleistungsquote, um Wohlfahrtsstaaten einzuordnen. An dieser
Vorgehensweise wird u.a. von Esping-‐Andersen bemängelt, es sei nicht
klar, welche Ausgaben zu den Sozialausgaben gezählt werden müssten.
Zum anderen bildet die Höhe der Ausgaben allein noch keinen Indikator
dafür, welche Art von wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen implementiert
59 Zöllner, Detlev: „Öffentliche Sozialleistungen und wirtschaftliche Entwicklung. Ein zeitlicher und internationaler Vergleich“, Berlin 1963, S. 115 60 Der Begriff Politik hat mehrere Bedeutungsdimensionen. Um diese klar zu trennen werden auch im Deutschen die englischen Begriffe policy, polity und politics gebraucht. Policy bezeichnet die inhaltliche Dimension von Politik, während polity die strukturelle, institutionelle Dimension beschreibt und politics die politischen Prozesse. 61 vgl.: Siegel, Nico A.: „Sozialpolitik“, in: Lauth, Hans-‐Joachim: „Vergleichende Regierungslehre. Eine Einführung“, Wiesbaden 2006, S. 298-‐301
24
wurden und wer die Empfänger dieser Leistungen sind: „Sozialausgaben
sind nur Begleiterscheinungen dessen, was die theoretische Substanz des
Wohlfahrtsstaats ausmacht.“62
B. Das Entstehen von Wohlfahrtsstaaten
Gøsta Esping-‐Andersen unterteilt die Welt der Wohlfahrtsstaaten in drei
Typen.63 Als Beispiele für diese drei Typen können Schweden,
Großbritannien und Deutschland gelten. Um die Herangehensweise in der
Esping-‐Andersen’schen Typologisierung vorzubereiten, soll zunächst ein
Überblick über das Entstehen von Wohlfahrtstaatlichkeit in den drei
genannten Staaten gegeben werden.
i. Deutschland
Die Beweggründe, die Otto von Bismarck Ende des 19. Jahrhunderts dazu
brachten, die ersten Säulen des deutschen Wohlfahrtsstaats zu errichten,
waren reine Mittel zum Zweck: Sein Ziel war, in Zeiten aufkommender
politischer und gewerkschaftlicher Mobilisierung die Bevölkerung
ruhigzustellen und die Herrschaft zu sichern. So wurde zur sog. ‚Lösung
der Arbeiterfrage’ eine Kranken-‐ und eine Unfall-‐ sowie eine Invaliditäts-‐
bzw. Altenversicherung geschaffen.64 Die Prinzipien der Versicherung
und der Bedürftigenfürsorge blieben bis heute bestehen, lediglich das
Finanzierungssystem wurde geändert sowie der Inklusionsradius und
das Volumen modifiziert.65
62 Esping-‐Andersen, Gøsta: a.a.O., S. 33 63 ausführlich im folgenden Kapitel, in II.2.C 64 vgl.: Butterwegge, Christoph: „Krise und Zukunft des Sozialstaates“, Wiesbaden 2005, S. 40-‐44 65 vgl.: Schmid, Josef: a.a.O., S. 106; 109
25
ii. Großbritannien
Erste wohlfahrtsstaatliche Elemente wurden 1834 in Form des sog. Poor
Law eingeführt: Armenfürsorge bedeutete die Bereitstellung von
Armenhäusern, die hilflose Arme, Kranke und Alte davor bewahren sollte,
an den Folgen ihrer Hilflosigkeit zu sterben. Anfang des 20. Jahrhunderts
wurden weitere, weniger stigmatisierende Leistungen installiert, die nach
dem Zweiten Weltkrieg auf Grundlage des nach seinem Autor benannten
Beveridge-‐Reports in Form einer Sozialversicherung, einer Sozialhilfe
und einem nationalen Gesundheitsdienst ausgebaut wurden.66 In den
1980er und 1990er Jahren reduzierten die Regierungen Thatcher und
Major viele wohlfahrtsstaatliche Leistungen und verlagerten sie auf den
privaten Sektor. Ziel war, die Marktkräfte zu stärken und damit das Preis-‐
Leistungs-‐Verhältnis zu verbessern.67 Das Prinzip der universellen
Armutsrisikoabsicherung blieb erhalten.
iii. Schweden
Seinen Anfang nahm der schwedische Wohlfahrtsstaat in Initiativen
nicht-‐staatlicher Organisationen, die peu à peu von den kommunalen
Verwaltungen aufgegriffen wurden. Dabei sicherlich förderlich war die
Tatsache, dass zum einen die schwedische Gesellschaft sehr homogen
war: ohne große ethnische, religiöse oder regionale Minderheiten. Zum
anderen gab es nie eine feudale Landwirtschaft.68 So entstanden schon
bis in die 1930er Jahre folgende Elemente des Wohlfahrtsstaats: ein
Arbeitsschutzgesetz; eine Unfallversicherung; ein zunächst noch 66 vgl.: ebenda, S. 161ff. 67 vgl.: Mitton, Lavinia: „Vermarktlichung zwischen Thatcher und New Labour: Das britische Wohlfahrtssystem“, in: Schubert, Klaus / Hegelich, Simon / Bazant, Ursula (Hrsg.): „Europäische Wohlfahrtssysteme“, Wiesbaden 2008, S. 264ff. 68 vgl.: Hort, Sven O.E.: „Sklerose oder ständige Bewegung? Das schwedische Wohlfahrtssystem“, in: Schubert, Klaus et al.: a.a.O., S. 526
26
freiwilliges, doch später obligatorisches Krankenkassensystem; eine
Rentenversicherung; ein System der Armen-‐ und Kinderfürsorge; sowie
eine einkommensunabhängige Volksgrundrente. Des Weiteren wurde
bereits zu dieser Zeit realisiert, dass Geburtenüberschüsse in Zukunft
abnehmen würden und spezielle Kündigungsschutzregelungen für
Schwangere sowie eine Müttervorsorge eingeführt.69
C. Die Typologisierung nach Gøsta Esping-‐Andersen
Wie angeklungen bezweifelt Esping-‐Andersen die Aussagekraft einer
linearen Nebeneinanderstellung von Wohlfahrtsstaaten, aufgereiht nach
der Höhe ihrer Sozialausgaben.70 Um eine Typologisierung zu finden,
fordert er, die Frage zu stellen, was einen Wohlfahrtsstaat eigentlich
ausmacht:71
Könnte — wie es Göran Therborn vorschlägt72 — als Minimaldefinition
gelten, dass die Mehrzahl der täglichen Routine-‐Aktivitäten73 geleistet
werden; Aktivitäten im Sinne von finanziellen Aufwendungen sowie
Dienstleistungen?
Richard Titmuss schlägt vor, zwischen sog. residualen und
institutionellen Wohlfahrtsstaaten zu unterscheiden.74 Ist die Trennlinie
also im Inklusionsradius der Leistungsadressaten zu suchen — also
zwischen einem residualen Wohlfahrtsstaat auf der einen Seite, dessen
Verantwortung dort beginnt, wo Markt und Familie versagt haben und
69 vgl.: Schmid, Josef: a.a.O., S. 203f. 70 vgl.: Kapitel II.2.A. 71 vgl.: Esping-‐Andersen, Gøsta: a.a.O., S. 34f. 72 siehe: Therborn, Göran: „When, How and Why does a Welfare State become a Welfare State?“, Freiburg 1983 73 Im englischen Original heißt der Terminus: „daily routine activities“, vgl.: Esping-‐Andersen, Gøsta: „The Three Worlds of Welfare Capitalism“, Cambridge 1990, S. 20 74 siehe: Titmuss, Richard: „Essays on the Welfare State“, London 1958
27
auf der anderen Seite einem institutionellen Wohlfahrtsstaat, der
universell für die gesamte Bevölkerung in der Pflicht steht?
Ist Ausmaß und Inklusion eines idealtypischen Wohlfahrtsstaats zunächst
normativ festzulegen, um sodann Wohlfahrtsstaaten an den dadurch
definierten Kriterien zu messen und mit dem formulierten Idealtypus in
Vergleich zu setzen?
Die Esping-‐Andersen’sche Typologisierung besteht gewissermaßen in der
Quintessenz dieser drei Ansätze: Sein Blick ist zum einen auf die Qualität
der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen gerichtet. Zum anderen schlägt er
Kategorisierungen bezüglich ihrer unterschiedlichen Ausprägung vor.
Des Weiteren entwickelt er idealtypische Modelle. Seine Kategorisierung
fußt auf drei Parametern: auf dem Grad der De-Kommodifizierung des
Individuums, auf dem Ausmaß der Stratifizierung der Gesellschaft sowie
auf der Verortung im Dreieck der Wohlfahrtsproduzenten Familie, Markt
und Staat.
• De-Kommodifizierung beschreibt die Unabhängigmachung des
Erwerbstätigen von den Preisen und Zwängen des Markts. Doch
das Vorhandensein von Elementen sozialer Fürsorge bedeutet
nicht notwendigerweise die Abwesenheit von Marktabhängigkeit:
Bedürftigkeitsabhängige Fürsorge etwa stärkt sogar den Markt. Da
Fürsorge stigmatisiert, spornt sie an, alles dafür zu tun, sie nicht in
Anspruch nehmen zu müssen. Ebenso birgt das
Versicherungsprinzip keine vollkommene Unabhängigkeit. Die
Versicherungen beinhalten oftmals bestimmte Zugangskriterien
und sind an die vorherige Einzahlung von Beiträgen gekoppelt
bzw. ihre Leistungen stehen in Relation zur Höhe des zuvor
Eingezahlten. Echte De-‐Kommodifizierung sähe so aus: Jeder
Bürger könnte, ohne die Konsequenzen bzgl. der Fortführung
28
seiner beruflichen Karriere und bzgl. des Bestreitens seines
Lebensunterhalts zu bedenken und fürchten zu müssen, einfach
sein Arbeitsverhältnis verlassen, wann immer er dies aus z.B.
gesundheitlichen, familiären oder altersbedingten Motivationen
tun möchte.75
• Stratifizierung beschreibt die Schichtung einer Gesellschaft in
unterschiedliche Klassen. Nicht notwendigerweise zielen
wohlfahrtsstaatliche Instrumente auf die Nivellierung
klassenspezifischer Unterschiede einer Gesellschaft. Erwähnte
bedarfsabhängige Fürsorge ebenso wie ein Versicherungsprinzip
mit unterschiedlichen und exklusiven Versicherungszielgruppen
sind z.T. aus gewollt stratifizierenden Gründen implementiert
worden.76 Ein universalistisches System hingegen stattet jeden
Bürger mit gleichen sozialen Rechten aus, ungeachtet seiner
sozialen Herkunft, seiner Klassenzugehörigkeit oder seiner
Stellung am Markt. Allerdings ist ein universelles System nicht
davor gefeit, ggf. ungewollt zu polarisieren: Auf der einen Seite
stehen die mit Hilfe des Markts Bessergestellten, die versuchen,
sich Vorteile durch z.B. zusätzliche, private Versicherungen zu
verschaffen. Auf der anderen Seite stehen jene, die sich nur auf
den Staat verlassen können.77
Wohlfahrtsstaaten unterscheiden sich sehr in Bezug auf diese beiden
Kriterien. In seinen berühmten drei Welten von Wohlfahrtsstaaten
differenziert Esping-‐Andersen anhand dieser Eigenschaften die
75 vgl.: Esping-‐Andersen, Gøsta: „The Three Worlds of Welfare Capitalism“, Cambridge 1990, S. 21f. 76 vgl. mit der Entstehung der Wohlfahrtsstaaten bspw. in Großbritannien oder Deutschland; Kapitel II.2.B.i. und II.2.B.ii. 77 vgl.: Esping-‐Andersen, Gøsta: a.a.O., S. 23ff.
29
verschiedenen Regime auf einer qualitativen Achse von Markt, Familie
und Staat.78
i. Der liberale Wohlfahrtsstaat
Auf die regulierenden Kräfte des Markts vertraut das System des liberalen
Wohlfahrtsstaats. Auch wenn es universelle Leistungen gibt, sind sie auf
niedriger Höhe angesiedelt. Ebenso bescheiden ausgestattet präsentieren
sich Sozialversicherungsprogramme. Bedarfgeprüfte und häufig
stigmatisierende Mindestleistungen bringen die Mittelschicht dazu,
private und marktgestützte Vorkehrungen zu treffen. Dieses Regime ist
wenig de-‐kommodifizierend und sehr stratifiziert. Als Beispiele seien
Staaten wie Australien, die USA oder Großbritannien angeführt.
ii. Der konservative Wohlfahrtsstaat
Im Regimetyp des konservativen Wohlfahrtsstaats differieren viele soziale
Rechte schichtabhängig; ein gewisses Maß an Stratifizierung ist Intention.
Es setzt in der Wohlfahrtsproduktion v.a. auf den Rückhalt familiärer
Strukturen. Das gilt für bspw. werdende Eltern ebenso wie für Arbeitslose
oder Pflegebedürftige. Erst wenn die Familie ausfällt, springt der Staat
ein; zumeist in Form von monetären Transferleistungen. So kann dieses
Regime als teilweise de-‐kommodifizierend eingestuft werden. Als
Beispielstaaten seien Italien, Österreich oder Deutschland genannt.
78 vgl.: ebenda, S. 26ff.
30
iii. Der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat
Im dritten Modell fungiert der Staat als größter Wohlfahrtsproduzent; er
bietet universelle Leistungen auf einem vergleichsweise hohen Niveau
und wendet sich oft auch in Form sozialer Dienste unmittelbar an die
Leistungsempfänger: Kinder, Alte, Pflegebedürftige oder Kranke. So
erreichen Wohlfahrtsstaaten des sozialdemokratischen Systems einen
hohen Grad an De-‐Kommodifizierung und ein geringes Ausmaß an
Stratifizierung. Sie entkoppeln damit nicht nur das Individuum vom
Markt, sondern entlasten auch die Familie. Musterbeispiele hierfür sind
Norwegen, Finnland oder Schweden.
31
3. Demographischer Wandel trifft Wohlfahrtsstaat
A. Möglichkeiten, Ursachen demographischen Wandels
entgegenzuwirken
Betrachtet man die in den Kapiteln II.2.B.i bis II.2.B.iii genannten
Ursachen, kristallisiert sich Folgendes heraus: Die Ursachen dafür, dass
sich viele Menschen gegen Kinder entscheiden, lassen sich in mindestens
zwei Dimensionen verorten.
Auf der einen Seite sind es Überzeugungen, die sich durch einen Wandel
der Werte entwickelt haben: veränderte Ideale; gewandelte
Normvorstellungen; andere Lebensentwürfe und Lebensläufe. Charlotte
Höhn et al. fassen es in einer Studie für die Robert Bosch-‐Stiftung wie
folgt zusammen:
„Kinder haben [...] nur noch relativ wenig Bedeutung für ein erfülltes Leben.
Obwohl Ehe und Familie als abstrakte Werte hochgehalten werden, haben die
Menschen kaum noch das Gefühl, daß [...] Kinder ihr eigenes Ansehen bei
Freunden oder Nachbarn erhöhen würden [...].“79
Auf der anderen Seite gibt es Ursachen auf einer eher praktischen Ebene:
der richtige Zeitpunkt für eine Schwangerschaft im Entwurf des eigenen
Lebenswegs; die Vereinbarkeit von Elternschaft und beruflicher
Entwicklung; die Befürchtung finanzieller Schwierigkeiten und
Ungewissheiten.
Es dürfte evident sein, dass sich gesellschaftlich entwickelte Normen und
Überzeugungen nur schwerlich mittels vom Gesetzgeber verordneter
Maßnahmen ändern lassen; und falls doch, dann mit Sicherheit nicht
eindimensional und direkt, sondern nur über einen langen Zeitraum. Und
79 Höhn, Charlotte / Ette, Andreas / Ruckdeschel, Kerstin: „Kinderwünsche in Deutschland. Konsequenzen für eine nachhaltige Familienpolitik“, S. 78 (PDF-‐Version auf: http://www.bosch-‐stiftung.de/content/language1/downloads/Kinderwunsch.pdf)
32
würden bspw. in Deutschland alle Kinder geboren werden, die potentielle
Eltern angeben, sich zu wünschen, hätte die Fertilitätsrate 2005 anstatt
1,37 Kindern pro Frau immerhin 1,75 betragen.80 Und in der finanziell-‐
strukturellen Dimension erscheinen gestalterische Eingriffe von Seiten
des Staats durchaus möglich.
Der erste Schritt auf der Suche nach Möglichkeiten, Ursachen
demographischen Wandels entgegenzuwirken, muss also so aussehen:
Die Frage, was ein Staat tun kann, um nicht zu schrumpfen, muss
modifiziert werden. Nämlich: Wie kann ein Staat die Barrieren so niedrig
wie möglich halten für diejenigen, die gerne (weitere) Kinder bekommen
würden, sich von äußeren Umständen jedoch daran gehindert fühlen? Wo
liegen die Ursprünge dieser Hindernisse? Und wo hat hierbei ein Staat
mittels seiner gesetzgeberischen Kompetenzen die Möglichkeit der
Einflussnahme?
i. Kinderbetreuung
Das Bundesministerium für Finanzen gibt an, dass in Deutschland 2009
rund 20% der Kinder im Alter von unter drei Jahren einen
Betreuungsplatz in einer Kita81 in Anspruch genommen haben.82 Schaut
man sich die Zahlen genauer an, erkennt man große Unterschiede
zwischen den alten und neuen Bundesländern: Während in Ost-‐
80 vgl.: ebenda, S. 16 81 Abk. f. Kindertagesstätte; die genaue Definition ist national und zum Teil sogar regional unterschiedlich. Im Folgenden wird „Kita“ im Sinne einer Kinderkrippe für Kinder bis 3 Jahre verwendet, in Abgrenzung zu Kindergarten (für Kinder von 3 bis 6 Jahre) oder Schulhort, den Grundschulkinder vor Schulbeginn und nach Schulende besuchen 82 vgl.: Bundesfinanzministerium: „Kein Kitaplatz für mein Kind? Ausbau der Betreuungsmöglichkeiten für Kinder unter drei Jahren in Deutschland“, (Web-‐Version: http://www.bundesfinanzministerium.de/DE/Buergerinnen__und__Buerger/Familie__und__Kinder/Kinderbetreuung/100106__Kita.html)
33
Deutschland 37% in einer Kita betreut werden, können Eltern im Westen
nur für 3% ihrer unter drei jährigen Kinder einen Betreuungsplatz
bekommen.83 Gleichzeitig sind die Vorhaben der Bundesregierung
ambitioniert: Bis 2013 soll es für jedes Kind unter drei Jahren einen
Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz geben.84 Doch mindestens bis
dahin müssen die meisten Eltern mit Bekannten, Tagesmüttern, Au-‐Pairs
und Verwandten eine Patchwork-‐Betreuung organisieren. Denn knapp
ein Drittel der Mütter mit Kleinkindern geht einer Erwerbstätigkeit nach,
während die anderen zwei Drittel als Nichterwerbpersonen oder in
Elternzeit zuhause bleiben. Für viele Frauen ist dies nicht der gewünschte
Lebensentwurf: Jede zweite Frau zwischen 20 und 45 Jahren favorisiert
das sog. modifizierte Ernährermodell — er arbeitet vollzeit, sie teilzeit.85
Für diejenigen Eltern, die für ihr Kind einen der Plätze in einer Kita
erhalten haben, ist die Bezeichnung „Kindertagesstätte“ allerdings
irreführend. Die Betreuungszeiten sind sogar mit einer
Teilzeitarbeitsstelle schwer zu kombinieren: In den meisten Fällen sind
die Öffnungszeiten von Kinderbetreuungseinrichtungen nicht auf
allgemein übliche Kernarbeitszeiten abgestimmt — bspw. öffnen sie erst
um 9 Uhr, schließen um 16 Uhr und haben von 12 bis 13 Uhr eine
Mittagspause.86
83 vgl.: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ): „1. Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland“, München 2005, (Web-‐Version: http://www.bmfsfj.de/Publikationen/genderreport/5-‐Vereinbarkeit-‐von-‐familie-‐und-‐beruf/5-‐8-‐kinderbetreuungsangebote-‐und-‐erwerbstaetigkeit.html) 84 vgl.: BMFSFJ: „Gute Kinderbetreuung“ (Website: http://www.bmfsfj.de/bmfsfj/generator/BMFSFJ/Kinder-‐und-‐Jugend/kinderbetreuung.html) 85 vgl.: Peuckert, Rüdiger: „Familienformen im sozialen Wandel“, Wiesbaden 2008, S. 237f. 86 vgl.: Pfundt, Karen: „Die Kunst, in Deutschland Kinder zu haben“, Berlin 2004, S. 35ff.; vgl. ebenfalls: Gerlach, Irene: „Familienpolitik“, 2. Aktualisierte und überarbeitete Auflage, Wiesbaden 2010, S. 332
34
In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die Entscheidung gegen
Nachwuchs häufig aus folgenden Gründen fällt 87:
• Vermeidung von Opportunitätskosten, die durch einen Ausstieg
aus dem Beruf entstehen,
• Fehlen eines verlässlichen, sozialen Netzwerks, das in der
Kinderbetreuung als Unterstützung gebraucht wird,
• Unvereinbarkeit der Berufstätigkeit mit der notwendigen
Betreuung des Nachwuchses.
Wohnen die Großeltern nicht am Ort und sieht das Zeitbudget von
Nachbarn oder Freunden ebenfalls prekär aus, ist das Ausweichen in der
Kinderbetreuung auf Au-‐Pairs oder Tagesmütter eine Angelegenheit, die
sich finanziell nicht allen Bevölkerungsschichten anbietet. Gäbe es also
mehr und bessere Kinderbetreuungsmöglichkeiten, wären diese
Hinderungsgründe theoretisch bereits für viele potentielle Eltern
relativiert. So stehen nach einer Untersuchung der Robert-‐Bosch-‐Stiftung
auf den Plätzen eins bis drei folgende Verbesserungen, die sich Eltern
zwischen 20 und 49 Jahren 2006 gewünscht haben, um
Familiengründung und Berufstätigkeit vereinbaren zu können:
1. „mehr und bessere Teilzeitarbeitsmöglichkeiten für Eltern mit Kindern
2. flexiblere Arbeitszeiten für berufstätige Eltern mit kleinen Kindern
3. bessere Möglichkeiten zur Tagesbetreuung von Kindern ab drei Jahren bis zum
Schulalter“88
87 vgl.: Kapitel II.1.B.i bis II.1.B.iii 88 vgl.: Höhn, Charlotte et al.: a.a.O., S. 44
35
ii. Gleichberechtigung
Ende der 1950er Jahre wurde in Deutschland eine Umfrage durchgeführt,
in der 55% der Männer und sogar 61% der Frauen die Einbringung eines
Gesetzes befürworteten, nach dem es Müttern verboten werden sollte,
einer Arbeit nachzugehen, bevor ihr jüngstes Kind nicht das zehnte
Lebensjahr erreicht hätte.89 Etwa 60 Jahre später hat sich das Bild zwar
stark gewandelt: Fast 90% der befragten Frauen gehen davon aus, dass
erwerbstätige Mütter eine ebenso herzliche und innige Beziehung zu
ihren Kindern haben könnten wie nicht erwerbstätige Mütter. Jedoch sind
bestimmte Tendenzen unbewusst fest verhaftet: In einer Studie von 2003
stimmte fast die Hälfte der Befragten der Aussage zu, dass Kinder im
Vorschulalter höchstwahrscheinlich unter der Berufstätigkeit der Mutter
leiden würden. 30% der Befragten sind der Ansicht, dass Kinder, die in
jungen Jahren eine Kita besuchen, später aus diesem Grund Probleme
bekommen würden. Knapp 60% sind der Meinung, dass das
Familienleben darunter zu leiden hat, wenn die Frau einer
Vollzeitberufstätigkeit nachgeht.90 Gleichzeitig hat das Deutsche Institut
für Wissenschaft herausgefunden, dass die meisten Frauen in
Deutschland gerne Beruf und Kinder verbinden würden und dass Frauen,
die diese Verbindung wollen und schaffen, zufriedener sind:
„Die Doppelbelastung durch Familie und Beruf mündet paradoxerweise oft in
einer höheren Zufriedenheit der Mütter. [...] Wer sich im Beruf und in der
Familie in gleicher Weise engagiert — dies gilt auch für Mütter von
Vorschulkindern —, ist gesünder, psychisch stabiler und zufriedener mit seinem
Leben.“91
89 vgl.: Peuckert, Rüdiger: a.a.O., S. 229 90 vgl.: Dorbritz, Jürgen / Fiedler, Christian: „Familien im Spannungsfeld von Kinderbetreuung und Frauenerwerbstätigkeit: Ergebnisse und Umfragen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung im Kontext der aktuellen Diskussion.“, in: BiB-‐Mitteilungen, Nr. 28(1) 2007, S. 21-‐25 91 Peuckert, Rüdiger: a.a.O., S. 243
36
Jan Künzler kommt darüber hinaus zu dem Ergebnis, dass in
Gesellschaften eher eine höhere Fertilitätsrate vorliegt, in denen eine
egalitärere Aufteilung zwischen den Geschlechtern vorherrscht bezüglich
Erwerbsarbeit auf der einen Seite und Aufgaben im Haushalt und in der
Kindererziehung bzw. Kinderbetreuung auf der anderen Seite.
Wohingegen in Gesellschaften, in denen vornehmlich eine
geschlechtsspezifische Aufgabenteilung praktiziert wird,
wahrscheinlicher eine sehr niedrige Geburtenrate zu ermitteln ist.92 In
Deutschland verführen häufig steuerliche Anreize viele Paare und
Familien dazu das traditionelle Ernährermodell zu leben — klare
Aufteilung: er arbeitet, sie ist für den Haushalt und die Kinder zuständig
— obwohl das Gegenteil der Wunsch vieler Paare ist .93
Werden die Kinder dann älter, wird der Anteil der Frauen größer, die
wieder einer Arbeit nachgehen (wollen). Jedoch sind sie mit der
Berufspause das Risiko eingegangen, beim Wiedereinstieg Nachteile in
Kauf nehmen zu müssen. Häufig können sie nur einer
Teilzeitbeschäftigung nachgehen, arbeiten unterqualifiziert oder müssen
sich auf befristete Arbeitsverhältnisse einlassen.94 Handelt es sich — wie
in den meisten Fällen — bei der Partnerschaft um eine Ehe, kommt
spätestens nach der Babypause ein zweiter Aspekt zum Tragen: Oft ist
das Ehegattensplitting dafür verantwortlich, dass es finanziell in der
Summe keinen Unterschied macht, ob die Frau einer Arbeit nachgeht
oder nicht; manchmal sind die Auswirkungen nach Steuern sogar negativ
und es ist per Saldo besser, sie arbeitete nicht.95 Ehegattensplitting
bedeutet: Die Einkünfte beider Ehepartner werden gemäß des Tarifs für
92 vgl.: Kaufmann, Franz-‐Xaver / Schulze, Hans-‐Joachim: „Comparing Family Life in the Frame of National Policies: An Introduction“, in: Kaufmann, Franz-‐Xaver et al.: a.a.O., S. 13 93 vgl.: Pfundt, Karen: a.a.O., S. 241 94 vgl.: ebenda, S. 237; S. 245 95 vgl.: ebenda, S. 32
37
den Durchschnitt aus ihren beiden Einkünften einheitlich besteuert.
Aufgrund des progressiven Steuertarifs in Deutschland ergibt sich somit
ein umso größerer Vorteil, je größer der Unterschied zwischen den
beiden Einkünften ist. Bleibt ein Elternteil also — in aller Regel die Frau
— zuhause, macht sich dieser dadurch komplett abhängig vom
arbeitenden Partner.96 Das gefällt v.a. Frauen mit höherer Bildung immer
weniger. Besteuerte man — wie etwa in Schweden — das Einkommen
getrennt, könnte laut einer Simulation die Frauenerwerbsrate auch in
Deutschland deutlich gesteigert werden.97
iii. Armutsrisiko
Eine Familie zu haben ist in Deutschland ein Armutsrisiko. Allem voran
liegt das daran, dass Beruf und Familie für Frauen schwer miteinander
vereinbar sind. So können sie nichts zum Familienbudget beitragen.
Deswegen gestaltet sich die Situation für Alleinerziehende besonders
schwer.98 Das Armutsrisiko entsteht gleichermaßen daraus, dass
kindbezogene Ausgaben steuerlich kaum geltend gemacht werden
können. Das Nebeneinander von Kindergeld und Kinderfreibetrag
begünstigt sogar Besserverdienende. Zusätzlich ist die Unterstützung
sehr dezentral organisiert; das führt dazu, dass selbst Experten nicht
exakt beziffern können, welches Geld welchen Familien in welchen
Situationen insgesamt zusteht: Laut einer Studie der Universität
96 vgl.: Peuckert, Rüdiger: a.a.O., S. 233 97 vgl.: Gustafsson, Siv: „Getrennte Besteuerung und subventionierte Kinderbetreuung. Warum schwedische Frauen häufiger erwerbstätig sind als Frauen in Deutschland, den Niederlanden und den USA“, in: Grötzinger, Gerd / Schubert, Renate / Backhaus , Jürgen (Hrsg.): „Jenseits von Diskriminierung“, Marburg 1993, S. 237-‐260 98 vgl.: Hradil, Stefan: a.a.O., S. 225
38
Frankfurt am Main können Eltern bis zu 155 verschiedene
Sozialleistungen bei mehr als 35 verschiedenen Stellen beantragen.99
Aufgrund dieser multikausalen Hinderungsgründe, sind Maßnahmen mit
dem Ziel, diese Barrieren abzubauen, nicht nur jene, deren
Gesetzesvorlagen in einem Familienministerium ausgearbeitet werden.
Es spielen hier arbeitsmarktpolitische genauso wie wirtschaftspolitische
oder finanzpolitische Aspekte eine Rolle. Doch möchte sich diese
Ausarbeitung darauf konzentrieren und beschränken, den
familienpolitischen Bereich unter die Lupe zu nehmen.
B. Familienpolitische Möglichkeiten, demographischem
Wandel zu begegnen
Diese Arbeit fragt nach den Auswirkungen des Wohlfahrtsstaatsregimes
auf den demografischen Wandel. Es drängt sich also auf, zunächst zu
klären, welchen Einfluss Familienpolitik als Teil des Wohlfahrtsstaats
losgelöst von der Einordnung in Regimetypen überhaupt auf
demographischen Wandel haben kann.
In dieser Frage herrscht weitreichende Einigkeit: Der unmittelbare
Einfluss von bestimmten Familienpolitiken auf die Fertilitätsrate ist als
sehr gering einzuschätzen. In Zahlen ausgedrückt: Die am eindeutigsten
ausschließlich familienpolitische Maßnahme — die französische Praxis,
frisch gebackenen Eltern eine nicht zu versteuernde Geldprämie
auszuzahlen — hebt auf lange Sicht die Fertilitätsrate nur um 0,2 Kinder
pro Frau.100 Darüber hinaus ist es sehr schwierig, bestimmte
Maßnahmen und ihre Auswirkungen isoliert zu betrachten und zu
99 vgl.: Pfundt, Karen: a.a.O., S. 240 100 vgl.: Fux, Beat: „Which Models of Family are Encouraged or Discouraged by Different Family Policies?“, in: Kaufmann, Franz-‐Xaver et al.: a.a.O., S. 408
39
untersuchen. So ist es die wesentlich sinnvollere Variante, Maßnahmen
als Bündel zu betrachten — so wie es Kaufmann vorschlägt:
„It is rather obvious that life situation or quality of life of individuals and
families result from a combined impact of rights, economic resources, available
opportunities, and disposable capacities.“101
Um Aussagen darüber zu treffen, wie und in wie weit Familienpolitiken
das reproduktive Verhalten der Bürger beeinflussen, ist ein Umweg zu
nehmen. Familienpolitik und Fertilität, Konstrukte auf der Makroebene,
werden in Abhängigkeit gebracht, indem der Weg über die Mikroebene
eingeschlagen wird: über die individuellen Lebensformen.102 Es sind also
folgende Punkte zu klären:
• Wie definiert sich Familienpolitik?
• Welche sind die Hauptakteure?
• Welche Motive kann Familienpolitik haben?
• Wie lassen sich Familienpolitiken kategorisieren?
• Welche Familienpolitiken erschweren oder begünstigen welche
Lebensformen?
So können dann die weiterführenden Fragen geklärt werden: Wie
beeinflusst Familienpolitik die individuellen Lebensformen und wie
beeinflussen die individuellen Lebensformen die Fertilität?
Es wird weiter — wie zu Beginn dieser Arbeit beschrieben — davon
ausgegangen, dass es im Interesse der Bevölkerung eines Staats liegt103,
101 Kaufmann, Franz-‐Xaver: „Politics and Policy towards the Family in Europe: A Framework and an Inquiry into their Differences and Convergences“, in: ebenda, S. 438 (Hervorhebung im Original) 102 vgl.: Strohmeier, Klaus Peter: a.a.O., S. 339ff. 103 vgl.: Kapitel I, Kapitel II.1.B, Kapitel II.1.C
40
Einfluss auf die Entwicklung der Gesellschaft zu nehmen. Auch wenn der
Sektor Familie auf den ersten Blick als ein privater Bereich anmutet: Die
sehr individuelle Entscheidung eines Paares, Eltern zu werden, sieht sich
schon immer Regeln und Restriktionen von Seiten der Gesellschaft und
des Staats gegenüber gestellt. Genannt sei hier beispielhaft zum einen,
dass legitime Elternschaft Heirat voraussetzte, sowie zum anderen, dass
Heirat bestimmten Besitz und gewisse Abstammung voraussetzte.104 Die
familienpolitischen Ziele sehen heute etwas anders aus — wie, sei in den
folgenden Abschnitten beschrieben.
i. Definition von Familienpolitik
In einer weiten Definition umfasst Familienpolitik alle Maßnahmen einer
Regierung, von denen Familien in irgendeiner Form direkt und indirekt
betroffen sind. Doch dies umschlösse auch Maßnahmen, die sich negativ
auf Familien auswirkten. Daher bietet es sich für eine engere Definition
an, unter dem Terminus Familienpolitik nur jene Maßnahmen zu
verstehen, die positive Effekte für Familien haben. Nun können positive
Auswirkungen für Familien Ziel bestimmter Maßnahmen sein oder sie
sind positive Nebeneffekte von Maßnahmen, deren primäre Ziele ganz
woanders liegen.
Aus diesem Grunde ist es zielführend, zwischen sog. expliziter und
impliziter Familienpolitik zu differenzieren: Von impliziter Familienpolitik
ist dann zu sprechen, wenn zwar Familien zu Gute kommende
Maßnahmen zu beobachten sind, diese Maßnahmen jedoch eher nur aus
wissenschaftlicher Sicht als familienfreundlich interpretiert werden
können. In den häufigsten Fällen ist die eigentliche Zielgruppe der
104 vgl.: Gerlach, Irene: a.a.O., S. 134
41
Maßnahmen nicht ausdrücklich die Familie: Sie entstammen den Ressorts
der Steuer-‐, Frauen-‐, Jugend-‐, etc. oder der Sozialpolitik allgemein und
sind sozusagen zufällig auch Familien zuträglich. Von expliziter
Familienpolitik ist erst dann zu sprechen, sobald mindestens zwei
Merkmale vorhanden sind. Zum einen sollte eine weitestgehend
selbstständige Institution für die Interessen der Familie zuständig sein
wie etwa ein eigenes Ministerium oder zumindest eine eigene
Unterabteilung. Zum anderen sollten Familien das beabsichtigte Ziel der
Maßnahmen sein, die sie betreffen.105
Folgendes Zitat fasst die wesentlichen Punkte sehr gut in einem Satz
zusammen:
„Familienpolitik ist die Summe aller Handlungen und Maßnahmen, die im
Rahmen einer feststehenden Verfahrens-‐, Kompetenz-‐ und
Rechtfertigungsordnung eines Staates normativ und/oder funktional
begründbar die Situation von Familien im Hinblick auf eine als wünschenswert
definierte Erfüllung von deren Teilfunktionen hin beeinflussen.“106
ii. Akteure mit familienpolitischem Einfluss
Generell kann von zwei verschiedenen Verständnissen gesprochen
werden, wie familienpolitische Inhalte ihre Adressaten erreichen:107
• Das Ursache-Wirkung-Modell geht von Folgendem aus: Die
Regierung beschließt eine bestimmte familienpolitische
Maßnahme, um ganz gezielt ein bestimmtes Verhalten von
Individuen oder Familien hervorzurufen.108 Dieses Modell
105 vgl.: Kaufmann, Franz-‐Xaver: a.a.O., S. 430ff. 106 Gerlach, Irene: a.a.O, S. 256 107 Zur Aufstellung der Akteursmodelle vgl.: Fux, Beat: a.a.O., S. 369ff. 108 Welchen Einfluss Familienpolitik überhaupt auf individuelles Verhalten ausüben kann, wird in Punkt II.3.B.v behandelt.
42
impliziert, dass sich das Individuum mehr oder weniger
ausschließlich durch den Akteur Regierung beeinflussen lässt;
außerdem werden unterschiedliche Auswirkungen und
Bedeutungen der Maßnahmen auf unterschiedliche
Bevölkerungsgruppen und somit nicht beabsichtigte Nebeneffekte
außer Acht gelassen. Ebenfalls setzt es rationale Entscheidungen
voraus.
• Ein zweites Modell geht davon aus, dass im Entscheidungsprozess
neben dem Staat noch weitere Akteure im Spiel sind. Das Modell
der gegenseitigen dynamischen Abhängigkeiten berücksichtigt
unterschiedliche, individuelle Präferenzen, Vorlieben und
Interessen und versucht einzukalkulieren, dass Entscheidungen
oft nicht rational sind. Staat und Individuum befinden sich in
einem Feld diverser wechselseitiger Abhängigkeiten und
Verpflichtungen. In diesem Sinne ist Familienpolitik und der
Umfang ihres Einflusses ein Ergebnis vielschichtiger Prozesse, in
die zusätzliche Größen involviert sind wie etwa die Wirtschaft
(„der Markt“) oder tradierte Wertevorstellungen sowie Lehren, die
aus vergangenen Maßnahmen gezogen wurden. Das Modell sieht
die Regierung als Mediator zwischen den unterschiedlichen
Akteuren. Während das Ursache-‐Wirkung-‐Modell eindeutige
Wenn-‐Dann-‐Zusammenhänge erkennt, beschreibt das Modell der
gegenseitigen dynamischen Abhängigkeit eher Tendenzen:
Abhängigkeiten, die ein bestimmtes individuelles Verhalten
wahrscheinlicher bzw. unwahrscheinlicher machen.
43
iii. Motive von Familienpolitik
Um Familienpolitiken zu kategorisieren, bietet es sich an, zunächst auf die
Motive ihrer Etablierung einzugehen.109
• Das simpelste Motiv besteht darin, die Institution, den Wert, die
Familie an sich bewahren und schützen zu wollen. Dieses familial-
institutionelle Motiv geht oftmals einher mit traditionellen
Familienbildern, die das traditionelle Ernährermodell favorisieren.
• Das bevölkerungspolitische Motiv110 beschreibt die wahrscheinlich
älteste Zielsetzung familienpolitischer Maßnahmen. Es begründet
sich in der Wichtigkeit der demographischen Reproduktion;
minimal ausreichender Reproduktionsfaktor ist Nullwachstum.
• Das ökonomische Motiv betont die makroökonomische Rolle der
Familie innerhalb der Gesellschaft: Familie als Produktionsstätte
zukünftiger Generationen mittels Kindererziehung, Pflege von
Familienmitgliedern, etc. Demographischer Wachstum auf
Bestandserhaltungsniveau wird als das ökonomisch sinnvolle Ziel
gesehen, weil eine schrumpfende Gesellschaft negativen Einfluss
auf das Wirtschaftswachstum hat.111
• Verwandte Motive kann dem gesellschaftlichen unterstellt werden:
Die Familie als kleinste gesellschaftliche Einheit muss aufgrund
der Sicherung und Mehrung von Humankapital als schützens-‐ und
förderungswerter Herd der Gesellschaftsreproduktion verstanden
werden.
• Das sozialpolitische Motiv: Im Vordergrund stehen Bedarf und
Gerechtigkeit. Ein erhöhtes Armutsrisiko bzw. ökonomische 109 Zur Kategorisierung der Motive vgl.: Kaufmann, Franz-‐Xaver: a.a.O., S. 426ff. 110 Dieses bewusste und zielgerichtete Einwirken auf die Bevölkerungsstruktur und Bevölkerungsentwicklung ist – v.a. in Deutschland ob seiner nationalsozialistischen Vergangenheit – ein hochsensibles Thema, dessen Gestaltungsspielräume klar abgesteckt werden müssen! 111 vgl.: Kapitel II.1.C.ii
44
Nachteile, die durch Elternschaft und Anzahl der Kinder entstehen
— oft im Speziellen für die Mutter — müssen aufgefangen bzw.
ausgeglichen werden. Neben der Nivellierung von Disparitäten ist
es ebenso Ziel dieser Politik, die Infrastrukturen für Familien
durch spezifische Einrichtungen und Dienstleistungen zu
optimieren.112
• Ebenfalls den Gerechtigkeitsgedanken im Visier hat das
emanzipatorische Motiv. Da Familienarbeit größtenteils
Frauenarbeit bedeutet, wird in diesem Falle Familienpolitik
dadurch motiviert, Anstrengungen voranzutreiben, eine egalitäre
Verteilung der Familien-‐ und Erwerbsarbeit auf beide
Geschlechter zu ermöglichen.
Vorangegangen vorgestellte Motive beantworten die Frage, unter
welchen Beweggründen und mit welchen Schwerpunkten
familienpolitische Maßnahmen angegangen werden können. Davor steht
natürlich die Entscheidung, ob überhaupt und — falls ja — in welchem
Umfang Familienpolitik betrieben werden soll. Hier lassen sich im Groben
drei Herangehensweisen erkennen:113
• Die Position des starken Wohlfahrtstaats: Es herrscht eine
Grundverantwortung des Staats gegenüber seiner Bevölkerung,
die mit allen sinnvollen und dem Staat möglichen Mitteln die
Familie zu beschützen und zu unterstützen umgesetzt wird. Hier
steht als Motor v.a. das bevölkerungspolitische, gesellschaftliche
und sozialpolitische Motiv im Vordergrund.
• Die Position des zurückhaltenden Wohlfahrtsstaats: Die Familie
wird als eine schützenswerte, aber autonome und private Einheit
gesehen, in die sich der Staat einzugreifen nur im äußersten 112 vgl.: Gerlach, Irene: a.a.O., S. 137 113 Zur Einordnung der Herangehensweisen vgl.: Kaufmann, Franz-‐Xaver: a.a.O., S. 429ff.
45
Notfall erlaubt, uns zwar um Armut und Verwahrlosung
abzuwenden. Die vorherrschenden Beweggründe sind das
ökonomische und das familial-‐institutionelle Motiv.
• Die Position des punktuellen Wohlfahrtsstaats: Aufgabe des Staats
ist es, sich v.a. um die sozial Schwachen, die Benachteiligten und
deren Probleme zu kümmern. Auch hier sind das familial-‐
institutionelle sowie das gesellschaftliche Motiv die zentralen
Leitgedanken, wobei das sozialpolitische Motiv ebenso eine Rolle
spielt. 114
iv. Typen von Familienpolitiken
In der Synthese aus den Beschreibungen der Akteure und Motive
kristallisieren sich drei Hauptüberzeugungen heraus, die in enger
Verwandtschaft zu Esping-‐Andersens Welten des Wohlfahrtskapitalismus
stehen. Während in „The three worlds of welfare capitalism“ die Familie
wenig Berücksichtigung findet, widmet er sich in „Why we need a new
welfare state“ besonders den Funktionen der Familie im Wohlfahrtsstaat
und fordert gar ein komplettes Umdenken in der Familienpolitik.
In „Why we need a new welfare state“ formuliert er diese drei Welten der
Familienpolitik: das nordische, das kontinental-‐europäische und das
anglo-‐amerikanische Regime.115 Er formuliert Variablen, deren zu
erwartender Ausprägung er Typen von Wohlfahrtsstaatssystemen
zuordnet.116
114 vgl. ebenfalls: Kapitel II.2.C.i bis II.2.C.iii 115 siehe: Esping-‐Andersen, Gøsta / Gallie, Duncan / Hemerijck, Anton / Myles, John: „Why we need a new welfare state“, Oxford und New York 2002 116 Zur Aufstellung der Wohlfahrtsstaatstypen aus familienpolitischer Sicht vgl.: Gerlach, Irene: a.a.O., S. 366f.; vgl. ebenfalls: Fux, Beat: a.a.O., S. 372ff. und S. 384
46
a. Familienpolitik im liberalen Wohlfahrtsstaatssystem
Hier ist Folgendes zu erwarten: So zurückhaltend wie bei
wohlfahrtsstaatlichen Interventionen allgemein verhält sich im liberalen
Wohlfahrtsstaat auch das Ausmaß an familienpolitischen Maßnahmen. Es
lassen sich oft weder gesamtheitlich abgestimmte Maßnahmen erkennen
noch findet sich eine explizite Familienpolitik. Die beschriebenen
Variablen fallen fast durchweg negativ aus:117 Die Aufwendungen für
Familienunterstützung, gesetzliche Regelungen zu Mutter-‐ oder
Elternschaftsurlaub sowie Verbreitung von Kinderbetreuungsstätten sind
allgemein durchweg in niedrigem bzw. geringem Maße zu erwarten.
Zuwendungen sind Sach-‐ als auch Transferleistungen. Während es zwar
wenige Steuervergünstigungen für Familien gibt, ist das Steuerniveau
auch insgesamt tendenziell niedrig.
Dieses Modell begünstigt zumeist das traditionelle Ernährermodell und
macht folgendes Verhalten der Bürger wahrscheinlich:
• Die Entscheidung Kinder zu bekommen oder kinderlos zu bleiben,
ist eine polarisierende Frage des Lebensentwurfs. Die Lösung, eine
Geburt aufzuschieben, wird häufig getroffen.
• Im Vergleich zu Ländern anderer Wohlfahrtsstaatssysteme
erfolgte hier die Partizipation von Frauen am Erwerbsleben
geschichtlich später und entwickelt sich langsamer.
• Da das Nebeneinander von Beruf und Familie hier individuell
organisiert ist, zeichnet sich eine bipolare Alterstruktur v.a.
erwerbstätiger Frauen ab. Im Allgemeinen arbeiten sie bis zur
Geburt ihres Kindes, konzentrieren sich dann auf die Elternschaft
und die Erziehung des Kindes. Sobald das Kind in die Schule 117 Eigene Übersetzung der Kriterien. Im englischen Original bei Fux heißen sie: „Family Allowances“, „Perinatal Maternity Leave“, Child-‐Care Leave“, „Public Child-‐Care (<3y)“, „Public Child-‐Care (3-‐6y)“, „Tax Rates“; vgl.: ebenda
47
gekommen ist, orientieren sie sich, so gut es geht, zurück hin zum
Beruf.
• Die Heirat wird funktional: Die Ehe wird geschlossen, um der
Elternschaft bzw. beiden Eltern einen rechtlich klaren Status
gegenüber den Kindern zu verschaffen.
b. Familienpolitik im sozialdemokratischen
Wohlfahrtsstaatssystem
Der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat stellt sich vollkommen
gegensätzlich zum liberalen dar. Fast alle Variablen sind positiv
ausgeprägt: Zuwendungen für Familien sind hoch; die
Betreuungssituation insgesamt für Kinder bis sechs Jahre ist umfassend;
Mutter-‐ bzw. Elternschaftsurlaube sowie berufliches Kürzertreten zum
Wohle der Kindererziehung werden in großem Umfang von beiden
Geschlechtern wahrgenommen. Das Steuerniveau ist ebenfalls hoch.
Dieses Modell unterstützt eine ausgeglichene Aufteilung von Haus-‐ und
Erwerbsarbeit auf Mann und Frau und macht folgende Auswirkungen im
Verhalten der Bürger wahrscheinlich:
• Die Bildungsexpansion setzt geschichtlich früher ein und betrifft
Männer wie Frauen gleichermaßen.
• Ebenso partizipieren Frauen geschichtlich früher und in größerem
Maße am Arbeitsmarkt verglichen mit Ländern anderer
Wohlfahrtsstaatssysteme.
• Es besteht eine viel größere Offenheit und Toleranz gegenüber
sog. unüblichen familienlebenszyklischen Entscheidungen wie
etwa Verhütung, Schwangerschaftsabbruch und Scheidung. Dies
fördert ebenfalls die Pluralisierung von Lebensentwürfen.
48
c. Familienpolitik im konservativen Wohlfahrts-‐
staatssystem
In konservativen Wohlfahrtsstaaten erhalten Empfänger
familienpolitischer Leistungen diese in ihrer Mehrzahl in Form von
monetären Zuwendungen. Es wird großes Vertrauen in die Fähigkeiten
und den Rückhalt der Familie gesetzt, sich selbst helfen zu können. Die
Motive der Familienpolitik liegen hier mehr in der Vermeidung von
Armut als in der Förderung von Gleichberechtigung bzgl.
Arbeitsmarktintegration von Männern und Frauen. Daher ist zu erwarten,
dass die Ausprägungen der Kriterien sehr variieren:
Familientransferleistungen fallen hoch aus; die Betreuungsmöglichkeiten
für drei-‐ bis sechsjährige Kinder sind zwar verbreitet, die für Kinder von
unter drei Jahren jedoch kaum vorhanden; Mutter-‐ und
Elternschaftsurlaub sowie der Ausstieg aus dem Beruf zum Wohle der
Kindeserziehung ist unter Frauen ebenfalls hoch; das Steuerniveau ist
moderat, aber progressiv.
Dieses Modell fördert meist das traditionelle bzw. das modifizierte
Ernährermodell. Auch im Hinblick auf verhaltensbezogene Auswirkungen
der Bürger zeichnet sich dieses System als Mischform aus: Es liegt
zwischen liberalem und sozialdemokratischem Wohlfahrtsstaatssystem,
jedoch mit klarer Tendenz in Richtung der Auswirkungen des Ersteren.
Es ergeben sich nun also zwei weiterführende Fragen: erstens — auf
welche Art und Weise beeinflussen diese drei unterschiedlichen Regime
die Fertilitätsrate; und zweitens — gibt es familienpolitische
Maßnahmen, die für ein bestimmtes familienpolitisches Regime und
somit für ein bestimmtes Wohlfahrtsstaatsregime typisch sind, in einem
anderen Regime jedoch unmöglich zu etablieren wären?
49
Um diese Fragen beantworten zu können, wird im Folgenden ein Blick auf
die konkreten Maßnahmen der Staaten Deutschland, Großbritannien und
Schweden geworfen. Diese drei Staaten stehen als Beispiel für das
konservative, das liberale bzw. das sozialdemokratische
Wohlfahrtsstaatsregime.
50
III. Deskriptiver Teil
Wie bereits im theoretischen Teil dieser Arbeit angeklungen118 ist es
problematisch, Wohlfahrtsstaaten anhand ihrer getätigten Ausgaben zu
messen. Es ist oft nicht klar, welche Investitionen unter den Bereich
Wohlfahrt fallen und welche nicht mehr. Ähnlich verhält es sich im
Bereich der Familienpolitik.
Am Beispiel Deutschland: Die Robert-‐Bosch-‐Stiftung errechnete, dass
Deutschland 2006 2,9% des Bruttoinlandprodukts in familienpolitische
Sach-‐ und Geldleistungen investierte. Während bspw. das Institut für
Weltwirtschaft die deutschen Familienleistungen für das Jahr 2005 mit
234 Mrd. Euro beziffert, weist das Bundesministerium für Finanzen
diesen Posten jedoch mit ‚nur’ 59 Mrd. Euro aus. Im Detail liegen diese
Unterschiede an folgenden Parametern119:
• Inwieweit sind die Ehe betreffende Leistungen bzw. Vorteile, wie
etwa das Ehegattensplitting, dem Bereich Familie zuzurechnen?
• Sind Ausgaben für Bildung mit zu berücksichtigen?
• Des Weiteren sind folgende Punkte diskussionswürdig: Sind
Sozialhilfe bzw. Arbeitslosengeld II als Familienleistung
anzusehen, da es ja auch Familien unterstützt?
• Wie ist die Mitversicherung von Kindern bei ihren Eltern in der
Krankenversicherung zu beurteilen, wie der Rentenanteil für
erbrachte Erziehungsleistungen?
118 vgl.: Kapitel II.2.A 119 vgl.: BMFSFJ: „Monitor Familienforschung: In Familien wirksam investieren – Familienleistungen in Deutschland“, Berlin 2006, S. 3-‐5
51
In der Maßnahmenbetrachtung der Staaten Deutschland, Großbritannien
und Schweden werden daher folgende Arten von Leistungen
berücksichtigt:
• Maßnahmen, die potentielle Eltern ermutigen sollen, Kinder zu
bekommen — wie etwa Geburtsprämien oder Geburtsbeihilfen
• Maßnahmen, die den Familien durch Kinder verursachte Kosten
minimieren sollen — wie etwa Kindergeld oder Steuerfreibeträge
• Maßnahmen, die Eltern es in den ersten Monaten ermöglichen
sollen, frei von beruflichen Verpflichtungen zu sein — wie etwa
Mutterschafts-‐ oder Elterngeld
• Und schließlich Maßnahmen, die darauf abzielen, es Müttern und
Vätern einfacher zu machen, berufliches und familiäres Leben in
Einklang zu bringen — wie etwa Kitas oder Bezuschussungen für
Tagesmütter
52
1. Familienpolitische Maßnahmen in Deutschland
A. Mutterschaftsgeld
In Deutschland hat eine schwangere, abhängig beschäftigte und
krankenversicherte Frau ab dem Zeitpunkt von sechs Wochen vor dem
errechneten Geburtstermin und bis acht Wochen nach der Entbindung
Anspruch auf 13 Euro pro Tag bzw. 385 Euro pro Monat
Mutterschaftsgeld, das von ihrer Krankenversicherung ausgezahlt wird.
Die Differenz zum vorherigen Einkommen wird durch den Arbeitgeber
getragen. War die Frau zuvor arbeitslos, erhält sie Mutterschaftsgeld in
Höhe des Arbeitslosengeldes. Stand die Frau zuvor in keinem
Arbeitsverhältnis, sondern befand sich aufgrund eines älteren Kindes in
Elternzeit, erhält sie lediglich den Krankversicherungsanteil des
Mutterschaftsgeldes. War die Frau zuvor selbstständig und privat
versichert, hängt es von der Krankenkasse ab, ob Mutterschaftsgeld
gezahlt wird; der Arbeitgeberanteil ist hier natürlich obsolet.120
Einmalige Geldzahlungen zur Geburt des Kindes — wie etwa sog.
Geburtsprämien — gibt es in Deutschland von Seiten des Staats nicht.
B. Elterngeld
Zum 1. Januar 2007 wurde das Elterngeld eingeführt, das die Regelung
des Erziehungsgeldes ersetzte. Es steht Vätern bzw. Müttern in den
ersten zwölf, maximal 14, Lebensmonaten ihres Kindes zu, in denen einer
von ihnen ihr Kind zuhause betreut und nicht — oder maximal 30
Stunden pro Woche — arbeitet. Um die vollen 14 Monate in Anspruch zu
nehmen, muss die Zeit zwischen Vater und Mutter aufgeteilt werden, so
dass der eine Elternteil mindestens zwei und der andere höchstens zwölf 120 vgl.: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA): „Das Mutterschaftsgeld“ (Website: http://www.familienplanung.de/index.php?id=368)
53
Monate die Betreuung übernimmt. Alleinerziehende können die vollen 14
Monate alleine in Anspruch nehmen. Die Höhe des Elterngeldes
berechnet sich aus dem durchschnittlichen Einkommen des jeweiligen
Elternteils während den zwölf Monaten vor der Geburt; die Zeit des
Mutterschutzes wird in diese Rechnung nicht miteinbezogen. Im
Allgemeinen beträgt die Leistung 67% des entfallenen Einkommens,
jedoch mindestens 300 und höchstens 1.800 Euro. Falls das errechnete
Elterngeld niedriger liegt als 1.000 Euro pro Monat, kann sich der
Prozentsatz auf bis zu 100 erhöhen. Wird einer Teilzeitarbeit
nachgegangen, muss das damit erwirtschaftete Einkommen auf das
Elterngeld angerechnet werden. Darüber hinaus gibt es Sonderzuschüsse
bei Mehrlingsgeburten sowie bei älteren Geschwistern unter drei Jahren.
Zusätzlich besteht die Möglichkeit, die Zeit, in der das Elterngeld gewährt
wird, zu verdoppeln: Die Bezugsdauer kann auf bis zu 26 Monate
ausgeweitet werden, indem sich gleichzeitig die Bezüge halbieren.121
Auf Zustimmung traf, dass das Elterngeld — im Gegensatz zum zuvor
gültigen Erziehungsgeld — sich zum einen an beide Elternteile richtet,
um die komplette Inanspruchnahme auszuschöpfen, und dass es sich zum
anderen an dem zuvor zur Verfügung stehenden Einkommen bemisst.
Denn das Erziehungsgeld konnte auch als eine Maßnahme gesehen
werden, die die Mütter ermuntern sollte, sich mehrere Jahre
ausschließlich auf die Erziehungsarbeit zu konzentrieren und dafür aus
dem Beruf auszusteigen.122
121 vgl.: BMFSFJ: „Elterngeld und Elternzeit – Das Bundeselterngeld-‐ und Elternzeitgesetz“, Berlin 2007, S. 7-‐17 122 vgl.: Butterwegge, Christoph / Klundt, Michael / Zeng, Matthias: „Kinderarmut in Ost-‐ und Westdeutschland“, Wiesbaden 2004, S. 100 f.
54
C. Elternzeit
Für Beamten sowie nicht selbstständig Beschäftigte besteht ein
Rechtsanspruch, sich für bis zu drei Jahre unbezahlt von seiner Arbeit
beurlauben zu lassen: die sog. Elternzeit. Das gilt ebenso für Teilzeit-‐ oder
geringfügig Beschäftigte sowie für Auszubildende oder Studenten. Nach
Beendigung dieser Zeit ist der Arbeitgeber dazu verpflichtet, eine Stelle in
gleichem Umfang und bei gleicher Vergütung wieder bereit zu stellen.123
Die Elternzeit beträgt pro Kind für jeden Elternteil drei Jahre.124
Sie muss nicht am Stück und auch nicht vollständig genommen werden;
bis zu einem Jahr kann in Abstimmung mit dem Arbeitgeber falls
gewünscht auch erst zwischen dem dritten und achten Lebensjahr des
Kindes genommen werden. Die Elternzeit-‐Regelung kann genauso als
Anspruch auf eine Teilzeitstelle verwendet werden; alle gesetzlichen
Ansprüche bleiben erhalten, wenn nicht mehr als 30 Stunden pro Woche
gearbeitet werden.125
D. Kindergeld
Seit 1954 gibt es in Deutschland die Familienausgaben unterstützende
Maßnahme des Kindergeldes. Es wird i.d.R. bis zum 18. Lebensjahr des
Kindes ausgezahlt, aufgrund von Arbeitslosigkeit bzw. Ausbildung oder
Studium können die Zahlungen bis zum Abschluss des 21. bzw. 25.
Lebensjahrs ausgeweitet werden — es sei denn die jährlichen Einkünfte
des Kindes bzw. des jungen Erwachsenen überschreiten nicht die Grenze
von etwas mehr als 8.000 Euro. Im Gegensatz zu anderen Ländern
123 Es ist dem Arbeitgeber lediglich in besonderen Härtfällen – wie bspw. Insolvenz oder Betriebsstilllegung – erlaubt, der sich in Elternzeit befindlichen Person zu kündigen. 124 „für jeden Elternteil“ bedeutet: Diese Regelung gilt z.B. ebenso in Bezug auf Kinder des Ehepartners oder für den eingetragenen Lebenspartner bei gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften 125 vgl.: BMFSFJ: a.a.O., S. 63-‐76
55
existiert keine Abstufung der Bezüge, die sich nach dem Alter des Kindes
richten würde. Das Kindergeld liegt für das erste und zweite Kind bei 184
Euro pro Monat und Kind, für das dritte Kind sind es 190 Euro, für
weitere Kinder erhöht sich dieser Betrag auf 215 Euro pro Monat und
Kind.126
E. Kinderzuschlag
Unter bestimmen Voraussetzungen ist es möglich, über das Kindergeld
hinaus einen Kinderzuschlag zu erhalten. Es wendet sich an Eltern, deren
Einkünfte als Ehepaar bzw. als Alleinerziehende bei weniger als 900 bzw.
600 Euro im Monat liegen. Solange die Kinder jünger als 25 Jahre sind
und im Haushalt ihrer Eltern leben, beläuft sich der Kinderzuschlag auf
140 Euro im Monat.127
F. Kinderbetreuungsmöglichkeiten
An Kinderbetreuungsmöglichkeiten stehen Eltern Kitas, Kindergärten,
Tagesmütter, Eltern-‐Kind-‐Zentren, Horte sowie Ganztagsschulen zur
Verfügung. Genauer: Momentan gibt es für ungefähr jedes siebte Kind von
unter drei Jahren einen Betreuungsplatz. Eine genaue Auflistung der
dafür anfallenden Kosten sowie wer diese unter welchen Umständen und
in welcher Höhe erstattet, stellt sich als für diese Arbeit zu umfangreich
dar: Je nach Bundesland und nach Träger der Einrichtung variieren die
126 vgl.: Gerlach, Irene: a.a.O., S. 374f.; vgl. ebenfalls: BMFSFJ: „Familienwegweiser Kindergeld“ (Website: http://www.familien-‐wegweiser.de/wegweiser/stichwortverzeichnis,did=39986.html) 127 vgl.: BMFSFJ: „Familienwegweiser Kinderzuschlag“ (Website: http://www.familien-‐wegweiser.de/wegweiser/stichwortverzeichnis,did=41054.html)
56
Kosten stark.128 Mindestens werden allgemein jedoch für Kinder unter 15
Jahren Betreuungskosten mit einem Betrag von 130 Euro monatlich pro
Kind bezuschusst. Geltend gemacht werden können nur Ausgaben für
reine Betreuung: Kita-‐, Kindergarten-‐ und Hortgebühren, Kosten für eine
Tagesmutter bzw. einen Tagesvater, Aufwendungen für die Betreuung
durch Nachbarn oder Verwandte. 129
Des Weiteren erstattet das Jugendamt im Bedarfsfalle Betreuungskosten.
Doch welche Kriterien einen Fall zu einem Bedarfsfall machen und in
welcher Höhe dann Kosten übernommen werden, unterscheidet sich
auch hier je nach Landkreis bzw. Kommune. In jedem Falle können
Betreuungskosten — unabhängig davon, ob sie durch eine Tagesmutter,
durch eigene Betreuung, durch einen Kindergarten o.ä. entstehen —
steuerlich geltend gemacht werden.130
Kinder im Alter zwischen drei und sechs Jahren haben einen Anspruch
auf den Besuch eines Kindergartens. Allerdings beschreibt dieser
bundesrechtlich verankerte Anspruch nicht die inhaltliche Ausgestaltung
oder den konkreten Umfang wie bspw. die Gruppenstärke und die
Personalausstattung. Es können auch Priorisierungskriterien angelegt
werden, die sich bspw. nach der speziellen familiären Situation, nach der
Erwerbstätigkeit der Eltern, nach der Entfernung zum Wohnort oder
auch nach der Konfessionszugehörigkeit und dem Anmeldedatum
128 vgl.: BMFSFJ: „Kinderbetreuung: Elternbeiträge und Kostenübernahme durch das Jugendamt“ (Website: http://www.familien-‐wegweiser.de/wegweiser/stichwortverzeichnis,did=93876.html) 129 vgl.: Bundesagentur für Arbeit: „Kinderbetreuung“ (Website: http://www.arbeitsagentur.de/nn_26530/Navigation/zentral/Buerger/Familie/Kinderbetreuung/Kinderbetreuung-‐Nav.html) 130 vgl.: Kapitel III.1.G
57
richten. Kinder von Alleinerziehenden werden im Allgemeinen bevorzugt
behandelt.131
Für Kinder im Alter zwischen sechs und 14 Jahren sind die Kommunen
verpflichtet, ein bedarfsgerechtes Betreuungsangebot anzubieten;
allerdings ergibt sich durch das Fehlen einer genaueren Definition von
„bedarfgerecht“ ein sehr großer, aber auch sehr unscharfer
Gestaltungsspielraum.132 Die Bundesregierung hat 2008 beschlossen, bis
2013 rund 2,15 Mrd. Euro in den Ausbau von Betreuungsmöglichkeiten
für Kinder zu investieren. Ziel ist, 2013 35% aller Kinder unter drei
Jahren ein Betreuungsangebot zur Verfügung stellen zu können. Die
Investitionen fließen ebenfalls in eine Verbesserung der Ausbildung von
Betreuungspersonal.133
G. Steuervergünstigungen
Für Eltern in Deutschland existieren darüber hinaus diverse
Steuervergünstigungen bzgl. allgemeiner und spezifischer, kindbezogener
Ausgaben. Die erste Säule dieser Steuerfreibeträge ist der sog.
Kinderfreibetrag: Pro Kind können rund 7.000 Euro pro Jahr von der
Steuer abgesetzt werden. Der Haushaltsfreibetrag beläuft sich auf etwa
2.300 Euro pro Jahr, jedoch sind nur Alleinerziehende
anspruchsberechtigt. Ebenfalls zunächst nur für Alleinerziehende galt der
Absatzbetrag von maximal 4.000 Euro pro Kind und Jahr für
131 vgl.: BMFSFJ: „Kinderbetreuung für Kinder bis drei Jahre“ (Website: http://www.familien-‐wegweiser.de/wegweiser/stichwortverzeichnis,did=38652.html) 132 vgl.: BMFSFJ: „Kinderbetreuung für Kinder über sechs Jahre“ (Website: http://www.familien-‐wegweiser.de/wegweiser/stichwortverzeichnis,did=45330.html) 133 vgl.: BMFSFJ: „Bericht der Bundesregierung 2010 nach § 24a Abs. 5 SGB VIII über den Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot an Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren für das Berichtsjahr 2009“, Berlin 2010, S. 12 (PDF-‐Version: http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Abteilung5/Pdf-‐Anlagen/kifoeg-‐bericht,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf)
58
Kinderbetreuungskosten. Mittlerweile können den
Kinderbetreuungsbetrag auch allgemein Ehepaare mit Kindern bis 14
Jahre geltend machen. Auch Kosten für ältere Kinder sind berücksichtigt:
Ausgaben für die (Aus-‐)Bildung der Kinder können bis zu einem Betrag
von etwas mehr als 900 Euro abgesetzt werden.134
134 vgl.: Gerlach, Irene: a.a.O., S. 266
59
2. Familienpolitische Maßnahmen in Großbritannien
Großbritannien wird oft als Spätstarter in Sachen Familienförderung
beschrieben. Die Vielzahl der im Folgenden beschriebenen Maßnahmen
wurden in den Jahren 1999 bis 2002 im Rahmen der Work-Life-Balance-‐
Kampagne der Blair-‐Administration eingeführt — wie bspw. der Parental
Leave — oder in ihrem Umfang erweitert — wie z.B. der Maternity bzw.
Paternity Leave.135
A. Mutterschaftsurlaub
Mütter in Großbritannien haben Anspruch auf 26 Wochen
Mutterschaftsurlaub: Ordinary Maternity Leave. Dieser muss spätestens
zwei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin angetreten werden.
Mutterschaftsgeld wird in den ersten sechs Wochen in einer Höhe von
90% des vorherigen, durchschnittlichen Einkommens gezahlt — ohne
absolute Obergrenze. In den restlichen 20 Wochen beträgt das
Mutterschaftsgeld im Allgemeinen 162 Euro pro Woche, jedoch maximal
90% des durchschnittlichen, vorherigen Einkommens. Mütter, die bis zur
14. Woche vor der errechneten Geburt bereits länger als ein halbes Jahr
bei dem gleichen Arbeitgeber beschäftigt waren, können Anspruch auf
zusätzliche 26 Wochen Mutterschaftsurlaub geltend machen: Additional
Maternity Leave. Diese zusätzliche Zeit bleibt allerdings unbezahlt. Der
Vater hat ein Anrecht auf zwei Wochen Vaterschaftsurlaub (Paternity
Leave), in denen er für seinen Verdienstausfall je Woche 162 Euro, jedoch
135 vgl.: Wegener, Alexander / Lippert, Inge: „Familie und Arbeitswelt. Rahmenbedingungen und Unternehmensstrategien in Großbritannien, Frankreich und Dänemark“, Berlin 2004, S. 8ff. (PDF-‐Version: http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Abteilung2/Pdf-‐Anlagen/familie-‐und-‐arbeitswelt,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf)
60
höchstens 90% des vorherigen, durchschnittlichen Einkommens,
erstattet bekommt.136
Darüber hinaus existiert eine Mutterschaftsbeihilfe, deren Leistungen
ebenfalls bei zusätzlichen 162 Euro pro Woche liegen: die sog. Maternity
Allowance bzw. das Statutory Maternity Pay. Ihre Leistungsdauer
erstreckt sich auf über 26 Wochen.137 Jedoch richten sich beide
Leistungen i.d.R. nur an Frauen, die vor der Geburt bzw. der
Schwangerschaft in einem Arbeitsverhältnis standen oder selbstständig
waren. Arbeitslose Frauen erhalten in den meisten Fällen nur
Arbeitslosengeld: Job Seeker Allowance bzw. Income Support.138
B. Geburtsprämien
Eine Einmalzahlung von 742 Euro — den sog. Sure Start Maternity Grant
— zahlt Großbritannien ausschließlich an Bedürftige. Als bedürftig
eingestuft werden Bürger, die Arbeitslosengeld beziehen oder von einer
Beihilfe für einkommensschwache Familien — durch den sog. Family
Credit oder Working Tax Credit — unterstützt werden oder Rentner sind.
Allerdings kann diese Unterstützung nur für ein einzelnes Kind im
Haushalt beantragt werden, das jünger als 16 Jahre ist — es sei denn, es
handelt sich um Mehrlingsgeburten oder um ein Enkelkind, dessen
jugendliche Eltern ebenfalls im gleichen Haushalt leben.139
136 vgl.: Gerlach, Irene: „Familienpolitik“, a.a.O, S. 385 137 vgl.: Department for Work and Pensions: „Statutory Maternity Pay (SMP)“ (Website: http://www.dwp.gov.uk/international/benefits/statutory-‐maternity-‐pay-‐smp) 138 vgl.: Citizens Advice Bureau: „Benefits for families and children“ (Website: http://www.adviceguide.org.uk/index/your_money/benefits/benefits_for_families_and_children.htm) 139 vgl.: Department for Work and Pensions: „Sure Start Maternity Grant“ (Website: http://www.dwp.gov.uk/publications/specialist-‐guides/technical-‐guidance/sb16-‐a-‐guide-‐to-‐the-‐social/sure-‐start-‐maternity-‐grants)
61
C. Elternzeit
Großbritannien gewährt weder spezielle unterstützende Geld-‐ noch
Sachleistungen, um sich die ersten Monate der Elternschaft ohne
Rücksicht auf seine ökonomischen Verhältnisse voll auf die Familie
konzentrieren zu können. Allerdings hat jeder erziehungsberechtigte
Elternteil Anrecht auf 13 Wochen unbezahlte Elternzeit — den sog.
Parental Leave —, die entweder am Stück genommen werden können
oder in einzelne Wochen gestückelt bis zu insgesamt vier Wochen pro
Jahr bis zum fünften Geburtstag des Kindes.140
D. Kindergeld
Neben einer kindbezogenen Steuervergünstigung141 erhalten Eltern
universal 112 Euro monatlich für das älteste Kind, für jedes weitere 75
Euro. Kindergeld kann bezogen werden für Kinder bis 16 Jahre, bei
fortdauernder, grundlegender Ausbildung bis zur Vollendung des 20.
Lebensjahres.142
E. Kinderbetreuungsmöglichkeiten
Universale finanzielle Unterstützung für die Betreuung von Kindern ist in
Großbritannien nicht vorhanden. Unterstützungsleistungen richten sich
ausschließlich an Arbeitslose und sozial Benachteiligte. Der Bedarf liegt
v.a. bei Eltern mit Kindern, die sich noch nicht im schulpflichtigen Alter
befinden: Die Schulzeiten erstrecken sich im Allgemeinen über den
ganzen Tag, so dass sich Schulkinder den größten Teil des Tages unter 140 vgl.: Moss, Peter / O’Brien, Margaret: „International Review of Leave Policies and Related Research 2006“, in: Department of Trade and Industry: „Employment Relations Research Series No. 57“, London 2006, S. 219ff. (PDF-‐Version: http://www.bis.gov.uk/files/file31948.pdf) 141 siehe: Kapitel III.2.F 142 vgl.: Gerlach, Irene: a.a.O., S. 378
62
der Obhut der Schule stehen.143 Um der Nachfrage an
Kinderbetreuungsmöglichkeiten gerecht zu werden, wurde 2000 die
National Childcare Strategy aufgelegt, die mit ca. 2,3 Mio. Euro jährlich
den Ausbau von Kindertagesstätten fördert. Neben Förderungen von
Kindergardens über die Primary School — der Grundschule — bis zur
weiterführenden Schule — der sog. Secondary School — stand auch hier
die Unterstützung von sozial benachteiligten Familien im Vordergrund144:
• Early Excellence Centres: Mit dem Ziel der Förderung der
frühzeitigen physischen, intellektuellen und sozialen Entwicklung
wurden Zentren gegründet, die sich als eine Verbindung aus
Tagesbetreuung, Bildungseinrichtung, einer Anlaufstelle zur
familienpädagogischen Unterstützung sowie der Bereitstellung
medizinischer Grundversorgung an Kinder bis zu einem Alter von
vier Jahren richtet.
• Neighbourhood Nursery Initiative: Diese Initiative fördert ebenfalls
die informelle Nachbarschaftshilfe. Somit sollen Betreuungsplätze
im direkten wohnlichen Umfeld der Familie geschaffen werden.
• Sure Start: Dieses Programm ist auf benachteiligte Stadtviertel
ausgerichtet. Familien mit Kindern sollen mithilfe dieses
Serviceangebotes dabei geholfen werden, soziale
Benachteiligungen auszugleichen und Zugangsschwierigkeiten
zum Kinderbetreuungssystem zu überwinden.
F. Steuervergünstigungen
Der 2003 eingeführte Child Tax Credit setzt sich aus einem Grundbetrag
pro Kind sowie einem Family Element und einem Baby Element 143 vgl.: Deutscher Bundestag: „Drucksache 16/1360“, S. 53ff. (PDF-‐Version: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/16/013/1601360.pdf) 144 vgl.: Wegener, Alexander et al.: a.a.O., S. 13ff.
63
zusammen. Für eine Familie mit zwei Kindern von älter als einem Jahr
beträgt dieser Abzug von der Steuerschuld umgerechnet ungefähr 110
Euro pro Woche. Für berufstätige Eltern wird der volle Betrag gewährt,
solange das jährliche Einkommen ca. 5.700 Euro nicht überschreitet.
Danach sinkt der Betrag umgekehrt proportional zum steigenden
Einkommen. Bei erwerbslosen Familien liegen diese Freibeträge etwas
höher.145
Darüber hinaus sind keine weiteren ehe-‐ oder familienbezogenen
Steuervergünstigungen vorhanden.
In Großbritannien besteht die Tradition neue Regelungen im
Schulterschluss mit den Arbeitgebern auszuarbeiten. Um Elternzeit auch
auf Unternehmensseite attraktiv zu machen, wurden steuerliche Anreize
für kleine und mittelständische Unternehmen geschaffen. Diese Anreize
basieren darauf, dass Unternehmen die Kosten, die ihnen durch in
Elternzeit befindliche Mitarbeiter entstehen, bei der Steuererklärung
geltend machen können.146
145 vgl.: Peter, Waltraut: „Der britische Working Tax Credit – Beispiel für eine Strategie gegen Arbeitslosigkeit und Armut“, in: Konrad Adenauer Stiftung: „KAS-‐Arbeitspapiere“, Nr. 150/2006, S.18 (PDF-‐Version: http://www.kas.de/wf/doc/kas_8202-‐544-‐1-‐30.pdf) 146 vgl.: Wegener, Alexander et al.: a.a.O., S. 14
64
3. Familienpolitische Maßnahmen in Schweden
A. Schwangerschaftsgeld
Frauen, die beruflich eine körperlich anstrengende Arbeit verrichten oder
in irgendeiner anderen Form Tätigkeiten ausüben, die das Wohl des
ungeborenen Kindes beeinträchtigen könnten, haben die Möglichkeit,
ihren Arbeitgeber verbindlich um eine temporäre, interne Versetzung
außerhalb des Gefahrenbereichs zu bitten. Kann eine solche Versetzung
aus gewichtigen Gründen nicht durchgeführt werden, können diese
werdenden Mütter Schwangerschaftsgeld beantragen — das sog.
Havandeskapspenning. Die Zahlungen dieser Leistung entsprechen 80%
des vorherigen Nettoeinkommens und werden für maximal 50 Tage
innerhalb der letzten 60 Tage vor dem errechneten Entbindungstermin
gewährt.147
Einmalige Geldzahlungen zur Geburt des Kindes — z.B. eine sog.
Geburtsprämie — gibt es in Schweden von Seiten des Staats nicht.
B. Elterngeld
Ab dem 60. Tag vor der errechneten Entbindung an können Eltern in
Schweden Elterngeld beziehen — das sog. Föräldrapenning. Insgesamt
haben Eltern bis zum achten Lebensjahr ihres Kindes oder bis es in die
Schule kommt Anspruch auf 480 Tage Elterngeld. Je die Hälfte ist für
einen Elternteil vorgesehen. Mindestens 60 Tage davon muss jeder
Elternteil selbst in Anspruch nehmen, um sie nicht verfallen zu lassen. Die
restlichen 180 Tage sind jedoch übertragbar. Alleinerziehende haben
alleinigen Anspruch auf die vollen 480 Tage. Die ersten 390 Tage beträgt
147 vgl.: Försäkringskassan: „Faktablad: FK Havandeskapspenning“, S. 1-‐3 (PDF-‐Version: http://www.forsakringskassan.se/irj/go/km/docs/fk_publishing/Dokument/Publikationer/Faktablad/Andra_sprak/Engelska/havandeskapspenning_eng.pdf)
65
das Elterngeld 80% des vorherigen Bruttoeinkommens oder — falls nur
wenig bzw. aufgrund von Arbeitslosigkeit kein Einkommen vorlag —
pauschal 20 Euro pro Tag; die restlichen 90 Tage wird allgemein eine
Pauschale ausgezahlt, die bei 20 Euro pro Tag liegt. Elterngeld zu
beziehen, bedeutet allerdings nicht, dafür seinen Job aufgeben zu müssen.
Einer Arbeit kann in dem Umfang nachgegangen werden, wie es
gewünscht ist bzw. mit dem Arbeitgeber ausgehandelt werden kann; die
Höhe des Elterngeldes passt sich dementsprechend an: Bei Reduzierung
auf eine 87,5%-‐Stelle wird 12,5% des Elterngeldes gewährt, bei
Reduzierung auf 75% werden 25% ausgezahlt, wer 50% arbeitet
bekommt 50% ausgezahlt usw.148
Für Väter149 gibt es ein zusätzliches, temporäres Elterngeld — das sog.
tillfällig föräldrapenning. Es kann für zehn Tage in Anspruch genommen
werden innerhalb von den ersten 60 Tagen nach der Geburt des Kindes;
auf die Höhe der Leistung bezogen gelten die gleichen Konditionen wie
beim normalen Elterngeld, dem föräldrapenning.150
Ein weiteres, temporäres Elterngeld — das sog. tillfällig föräldrapenning
vid vård av barn — zollt der Tatsache Bedeutung, dass Kinder hin und
wieder krank werden und in diesen Situationen intensivere Betreuung
benötigen; sowie in Situationen, in denen die primäre Betreuungsperson
wegen Krankheit ausfällt. Auf die Höhe der Leistung bezogen gelten die
gleichen Konditionen wie beim normalen Elterngeld. Es kann bis zum
vollendeten zwölften Lebensjahr jedes Kindes für in der Summe 120 Tage
148 vgl.: Forsäkringskassan: „Faktablad: Föräldrapenning“, S. 1-‐6 (PDF-‐Version: http://www.forsakringskassan.se/irj/go/km/docs/fk_publishing/Dokument/Publikationer/Faktablad/Andra_sprak/Tyska/foraldrapenning_tys.pdf) 149 Im Allgemeinen für Väter, doch es darf sich explizit ebenfalls um eine andere, weitere Erziehungsperson handeln, die nicht die Mutter ist. 150 vgl.: Försäkringskassan: „Faktablad: Tillfällig föräldrapenning“, S. 1 (PDF-‐Version: http://www.forsakringskassan.se/irj/go/km/docs/fk_publishing/Dokument/Publikationer/Faktablad/Andra_sprak/Tyska/tillfallig_foraldrapenning_fodelse_tys.pdf)
66
pro Jahr genommen werden. Im Gegensatz zum normalen Elterngeld ist
der Kreis der empfangsberechtigten Personen nicht nur auf die Eltern
beschränkt, sondern kann auch auf Dritte ausgeweitet werden.151
C. Kindergeld
Das schwedische Kindergeld — der sog. barnbidrag — teilt sich auf in
einen Grundbetrag und eine zusätzliche Mehrkindzulage ab dem zweiten
Kind. Der Grundbetrag für jedes pro Kind beträgt umgerechnet ca. 117
Euro pro Monat. Die Mehrkindzulage ist nach Anzahl der Kinder
gestaffelt: Beim zweiten Kind erhöht sich der Grundbetrag um 11 Euro,
beim dritten um 39 Euro, beim vierten um 95 Euro und bei jedem
weiteren Kind erhöht sich der Grundbetrag jeweils um weitere 116 Euro.
Kindergeld wird bis einschließlich zum 16. Lebensjahr an jedes in
Schweden lebende Kind gezahlt. Bei Patchwork-‐Familien können für die
Mehrkindzulage gemeinsame und in die neue Partnerschaft mitgebrachte
Kinder zusammengefasst werden. Für Kinder über 16 Jahre erhalten die
Eltern verlängertes Kindergeld, solange sie eine schwedische Grund-‐ oder
Sonderschule besuchen. Bei Kindern, die das Gymnasium besuchen, greift
die Schwedische Zentralstelle für Ausbildungsförderung.152
151 vgl.: Försäkringskassan: „Faktablad: Tillfällig föräldrapenning vid vård av barn“, S. 1f. (PDF-‐Version: http://www.forsakringskassan.se/irj/go/km/docs/fk_publishing/Dokument/Publikationer/Faktablad/Andra_sprak/Tyska/tillfallig_foraldrapenning_sjuk_tys.pdf) 152 vgl.: Försäkringskassan: „Faktablad: Barnbidrag och flerbarnstillägg“, S. 1f. (PDF-‐Version: http://www.forsakringskassan.se/irj/go/km/docs/fk_publishing/Dokument/Publikationer/Faktablad/Andra_sprak/Tyska/barnbidrag_flerbarnstillagg_tys.pdf)
67
D. Unterhaltsbeihilfe
Für Alleinerziehende gibt es zusätzlich zum Kindergeld unter gewissen
Umständen eine Unterhaltsbeihilfe — die sog. underhållsstöd. Falls
festgestellt wird, dass der nicht erziehungsberechtigte Elternteil seinen
Unterhaltzahlungspflichten nicht oder nicht in vollem Maße nachkommen
kann, besteht die Möglichkeit, Unterhaltsbeihilfe bis zu einer Höhe von
142 Euro pro Monat zu beziehen. Leistungsempfangsberechtigt sind
Kinder bis 18 Jahre — bzw. 21 Jahre, falls in Ausbildung.153
Doch auch Eltern, die getrennt leben und sich das Sorgerecht teilen,
können durch Unterhaltsbeihilfen unterstützt werden, falls das
gemeinsame unter 18-‐jährige Kind regelmäßig und in etwa gleichgroßen
Teilen abwechselnd bei beiden Elternteilen lebt und das jeweilige
Einkommen der beiden Elternteile eine bestimmte Grenze nicht
überschreitet. Diese Grenzen liegen z.B. bei einem Kind bei umgerechnet
jeweils 22.320 Euro Jahreseinkommen, bei zwei Kindern bei 24.750 Euro
und bei drei Kindern bei 26.790 Euro. Darunter sinkt der
Unterhaltsbeihilfebetrag graduell zum steigenden Einkommen.154
E. Kinderbetreuungsmöglichkeiten
In Schweden gibt es eine angebotsstarke Infrastruktur für die Betreuung
von Kindern, sowohl im Schulalter als auch zuvor. Die Kinderbetreuung
zeichnet sich dadurch aus, dass sie über ein sehr gut ausgebildetes
Personal verfügt. Es gibt vier Mitarbeiterkategorien — Kinderpfleger,
153 vgl.: Försäkringskassan: „Faktablad: underhållsstod“, S. 1 (PDF-‐Version: http://www.forsakringskassan.se/irj/go/km/docs/fk_publishing/Dokument/Publikationer/Faktablad/Andra_sprak/Tyska/underhallsstod_tys.pdf) 154 vgl.: Försäkringskassan: „Faktablad: Underhållsstöd vid växelvis boende“, S. 1-‐3 (PDF-‐Version: http://www.forsakringskassan.se/irj/go/km/docs/fk_publishing/Dokument/Publikationer/Faktablad/Andra_sprak/Tyska/underhallsstod_vaxelvis_tys.pdf)
68
Familienkinderpfleger, Freizeitpädagogen und Vorschullehrer. Letztere
beiden verfügen über eine Hochschulausbildung in Fächern wie
Pädagogik, Entwicklungspsychologie, Familiensoziologie und kreatives
Arbeiten. Kinderpfleger sowie Kinderfamilienpfleger ist ein
Ausbildungsberuf; die Kommune sorgt für stetige Weiterbildung.
Kinder bis einschließlich fünf Jahre gehen in Familientagesstätten — dem
sog. familjedaghem — in denen sie den halben oder auch ganzen Tag
verbringen können — ganz wie es den Arbeitszeiten der Eltern
entspricht. In ländlichen Gebieten betreuen professionelle Tagesmütter
oder -‐väter die Kinder berufstätiger Eltern. Ab einem Alter von sechs
Jahren können Kinder freiwillig die Vorschule besuchen — die sog.
förskolan. Obwohl erst ab dem siebten Lebensjahr Schulpflicht besteht,
wird dieses Angebot von 80% der schwedischen Kinder bzw. Eltern
wahrgenommen. Kinder, die ab einem Alter von sieben Jahren die
normale Schule besuchen, können vor und nach der Schule im
Freizeitheim — dem sog. fritidshem — betreut werden. Inhaltlich
orientieren sich die Angebote und Aktivitäten im Freizeitheim an den
Lehrplan der Schule. Sowohl Familientagesstätte, Vorschule als auch das
Freizeitheim sind das ganze Jahr hindurch geöffnet. Die
Betreuungsangebote sind gebührenpflichtig; die Kosten unterscheiden
sich zwar von Kommune zu Kommune, jedoch richten sie sich immer
nach dem Einkommen der Eltern, der Verweildauer der Kinder sowie
nach der Anzahl der Geschwister des Kindes.155
155 vgl.: Veil, Mechthild: „Leitbilder in der Kinderbetreuung. Deutschland, Schweden und Frankreich im Vergleich“, in: Forum Politische Bildung (Hg.): „Geschlechtergeschichte – Gleichstellungspolitik – Gender Mainstreaming“, Innsbruck / Bozen / Wien 2006, S. 32f. (PDF-‐Version: http://www.demokratiezentrum.org/fileadmin/media/pdf/veil_kinderbetreuung.pdf)
69
F. Steuervergünstigungen
Steuervergünstigungen oder Freibeträge in irgendeiner Form sind in
Schweden nicht vorhanden.156
156 vgl.: Gerlach, Irene: a.a.O., S. 398; 401
70
IV. Analytischer Teil
Zurück zur zentralen Frage dieser Arbeit: Sind familienpolitische
Maßnahmen, die Einfluss nehmen sollen auf den demographischen
Wandel, abhängig vom Typ des Wohlfahrtsstaats? Um eine Antwort auf
diese Frage zu finden, sollen im Folgenden Theorie und Praxis
gegenübergestellt werden:
1. Deutschland: Familienpolitische Maßnahmen in
Relation zum Wohlfahrtsregime
In Deutschland sollen v.a. monetäre Leistungen Eltern in den ersten
Monaten unterstützen, in denen sie weniger arbeiten können und
gleichzeitig Mehrausgaben für die Bedarfe ihres Kindes anfallen. So gibt
es Mutterschaftsgeld, Elterngeld, Kindergeld, Kinderzuschlag und
Steuervergünstigungen. Praktische Unterstützung gehört in Deutschland
nicht zur Standardleistung. Bzgl. Kinderbetreuung von unter drei Jährigen
soll in den nächsten Jahr viel erreicht werden, im Moment liegt das
Angebot jedoch noch weit unter der Nachfrage.
Die meisten Leistungen sind im Prinzip universal, jedoch in ihrem
Umfang z.T. abhängig vom Einkommen. Es gibt viele Sonderregelungen,
spezielle Zuschüsse für spezielle Lebensumstände und unterschiedliche
Zuständigkeiten bei verschiedenen Leistungen. Teilweise ist das
Jugendamt zuständig, teilweise die Bundesagentur für Arbeit, manchmal
das Finanzamt, andere Leistungen muss der Arbeitgeber beisteuern.
Unterstützungen für einkommensschwächere Bevölkerungsgruppen
werden eher aufgrund des niedrigen Einkommens als der Kinder wegen
gewährt. Steuerrechtliche Privilegien genießen nicht nur Eltern, sondern
71
auch Verheiratete — ungeachtet der Tatsache, ob sie Kinder haben oder
nicht.
Die Position hinter den deutschen Familienleistungen versteht sich so: Es
wird versucht, finanzielle Nachteile von Eltern gegenüber Kinderlosen zu
kompensieren. Doch es werden keine Privilegien für Eltern geschaffen
oder umgekehrt Nachteile für Kinderlose aufgebaut. Kinderbetreuung
organisieren müssen Eltern selbstständig bzw. auf die Mithilfe von
Freunden oder Verwandten setzen. Inwieweit sich Familie und Beruf
vereinbaren lassen, liegt im Verhandlungsgeschick der Mütter und Väter
untereinander und gegenüber ihren Arbeitgebern. Familiale Wohlfahrt
liegt in den Händen der Familie bzw. des sozialen Umfeldes.
Diese Position hat große Ähnlichkeit mit der in Kapitel II.3.B.iii
vorgestellten Position des punktuellen Wohlfahrtstaats: Der Schutz der
familialen Werte hat eine hohe Priorität. Wenn auch nicht explizit — ein
traditionelles Familienbild wird durch die Maßnahmen der deutschen
Familienpolitik gefördert. Gleichzeitig wird versucht, ökonomische
Nachteile der Elternschaft aufzufangen. Gerade durch den oft in
Abhängigkeit zum Einkommen gesetzten Umfang der Leistungen wird
versucht, diese bedarfsgerecht zu verteilen.
Auch hier zeigt sich im Vergleich mit der bereits in Kapitel II.3.B.iv.c
erfolgten Beschreibung der zu erwartenden Ausprägung der
Familienpolitik in konservativen Wohlfahrtsstaaten eine verblüffende
Übereinstimmung zwischen Modell und Realität:
• Die Mehrzahl der Familientransferleistungen sind monetäre
Zuwendungen
• Es wird auf den Rückhalt der Familie gesetzt, sich selbst zu helfen
• Die familienpolitischen Motive zielen erstrangig auf die
Vermeidung von Armut und zweitrangig auf die Förderung von
72
Gleichberechtigung bzgl. der Arbeitsmarktintegration von
Männern und Frauen
• Die Betreuungsmöglichkeiten für drei-‐ bis sechsjährige Kinder
sind zwar verbreitet, für Kinder unter drei Jahren jedoch kaum
vorhanden
• V.a. Frauen treten mit Beginn der Elternschaft beruflich zurück,
häufig legen sie die Arbeit komplett nieder
73
2. Großbritannien: Familienpolitische Maßnahmen in
Relation zum Wohlfahrtsregime
Das Spektrum an Familienlastenausgleichsleistungen ist in
Großbritannien nicht sehr breit gefächert. Neben dem
Mutterschaftsurlaub — dem Ordinary Maternity Leave — und der
Geburtsprämie — dem Sure Start Maternity Grant — existieren keine
universellen Leistungen in Form von monetären Transfers. Eine
zusätzliche geldwerte Kompensation sind die kindbezogenen
Steuervergünstigungen, die jedoch nur bis zu einer gewissen
Einkommensobergrenze geltend gemacht werden können.
Weitere Leistungen erfolgen durch die Bereitstellung von Infrastruktur
— z.B. kostenfreie Arztbesuche. Zur Kinderbetreuung gibt es koordinierte
Initiativen zur Nachbarschaftshilfe sowie die sog. Early Excellence Centres.
Diese Angebote richten sich allerdings vornehmlich an die Kinder sozial
benachteiligter Eltern. Im Fokus wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen
stehen v.a. die einkommensschwachen Schichten.
Die Position hinter den britischen Familienleistungen versteht sich so:
Ausschließlich Bedürftige sollen davor bewahrt werden,
existenzbedrohliche Situationen durch ihre Umstände zu erfahren.
Gleichzeitig sind die Leistungen nur so groß, dass sie keinen Anreiz
bieten, auf sie angewiesen zu sein oder von ihnen leben zu wollen. Der
Staat sieht die Familie in der Verantwortung und vertraut auf die
Innovationskraft des Markts: Mittels Steuervergünstigungen werden
Unternehmen Anreize geboten, neue Angebote im Bereich Work-Life-
Balance zu entwickeln.157
Diese Position hat große Ähnlichkeit mit der in Kapitel II.3.B.iii
vorgestellten Position des zurückhaltenden Wohlfahrtstaats: Wenngleich
157 vgl.: Wegener, Alexander et al.: a.a.O., S. 14f.
74
die Familie als schützenswert angesehen wird, wird sie dennoch als
autonome und private Einheit verstanden, in die der Staat nur in
Notfällen einzugreifen hat. Interventionsmotivation ist die Verhinderung
von existenzbedrohender Armut und Verwahrlosung.
Auch hier stimmt im Vergleich mit der bereits in Kapitel II.3.B.iv.a
erfolgten Beschreibung der zu erwartenden Ausprägung der
Familienpolitik in liberalen Wohlfahrtsstaaten weitestgehend das Modell
mit der Realität überein: Das Ausmaß an familienpolitischen Maßnahmen
ist vergleichsweise zurückhaltend — wie es in Großbritannien bzgl.
wohlfahrtsstaatlichen Interventionen allgemein zu beobachten ist. Für
Innovationen liegt das Vertrauen auf dem Markt.
Gegensätzlich zum Modell gibt es jedoch klare gesetzliche Regelungen zu
Mutter-‐ und Elternschaftsurlaub. Ebenso abweichend: Großbritannien
betreibt eine explizite Familienpolitik — in so geringem Ausmaß sie
innerhalb der gesetzten Ziele auch ausfällt.
75
3. Schweden: Familienpolitische Maßnahmen in Relation
zum Wohlfahrtsregime
Die schwedische Familienpolitik ist allumfassend, gleichberechtigend,
flexibel und universal. Es gibt eine Vielzahl an finanziellen Förderungen
für Familien: Schwangerschaftsgeld, Vätergeld, Elterngeld, zusätzliches
temporäres Elterngeld, Kindergeld und Unterhaltsbeihilfen. Gleichzeitig
gibt es ein großes Angebot an praktischen Leistungen: Neben z.B.
kostenlosen Arztbesuchen steht Eltern junger Kinder eine große
Infrastruktur von Kinderbetreuungsmöglichkeiten zur Verfügung.
Die Zuständigkeiten liegen gebündelt bei der Vorsorgekasse, der sog.
Försärkringskassan. Möglicherweise deswegen scheinen viele der
Maßnahmen, Leistungen und Angebote auf einander passend
zugeschnitten und abgestimmt zu sein.
Zusätzlich existieren flexibel gestaltete gesetzliche Regelungen. Sie
erlauben es Eltern, zu einem gewünschten Zeitpunkt nach der Geburt des
Kindes die Berufstätigkeit in einem gewünschten Umfang wieder
aufzunehmen und sich dennoch für das Kind in bestimmten Situationen
freinehmen zu können — über den normalen Urlaub hinaus.
Andererseits bevorteilt das schwedische familienpolitische Regime
Berufstätige. Viele der genannten Leistungen sind an Berufstätigkeit
geknüpft. Gleichermaßen scheint die Frau als reine Mutter und Hausfrau
nicht mehr zeitgemäß; das Idealbild sind Vater und Mutter, die jeweils ihr
Elternsein mit ihrer Berufstätigkeit verbinden.
Die Position hinter den schwedischen Familienleistungen versteht sich
so: Der Staat ist in umfassendem Maße dafür verantwortlich, dass seine
Bürger in den Wechselfällen des Lebens so gut wie möglich unterstützt
und vor den Zwängen des Markts so gut wie möglich bewahrt werden.
76
Diese Position hat große Ähnlichkeit mit der in Kapitel II.3.B.iii
vorgestellten Position des starken Wohlfahrtstaats.
So zeigt sich auch hier im Vergleich mit der bereits in Kapitel II.3.B.iv.b
erfolgten Beschreibung der zu erwartenden Ausprägung der
Familienpolitik in sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten eine
verblüffende Übereinstimmung zwischen Modell und Realität:
• Die Familienlastenausgleichsleistungen sind hoch
• Die Betreuungssituation für Kinder unter sechs Jahren insgesamt
ist umfassend
• Elternschaftsurlaube und die Möglichkeit, beruflich
kürzerzutreten, wird von beiden Geschlechtern gleichermaßen in
Anspruch genommen
77
V. Fazit
In der Einleitung wurde zunächst die Frage aufgeworfen, was
Wohlfahrtsstaaten möglich ist zu tun, um einer schrumpfenden
Gesellschaft entgegen zu wirken. Diese Frage hat zwei Gesichtspunkte:
Worauf kann Familienpolitik überhaupt Einfluss nehmen? — Ein Staat
kann seine Bürger nicht gegen ihre Einstellung und ihren Willen davon
überzeugen, häufiger Eltern zu werden. Doch der Staat kann Barrieren für
diejenigen verringern, die gerne Kinder bekommen würden, sich jedoch
daran gehindert fühlen: sei es aus finanziellen Gründen, aus
Karrieregründen, sei es durch die Frage, wie Elternschaft mit
Berufstätigkeit zu vereinbaren ist oder durch die generelle Frage, wann
der richtige Zeitpunkt ist. Der Staat kann also verbesserte
Rahmenbedingungen schaffen.158
Und das ist der Kern des anderen Gesichtspunkts: Auf welche Arten und
Weisen kann Familienpolitik Einfluss nehmen? — Essentiell scheint a) die
Möglichkeit zu sein, Beruf und Familie verbinden zu können und sich
nicht nur für einen Weg entscheiden zu müssen. Ebenso ist es b) wichtig,
Gleichberechtigung unter dem Aspekt zu forcieren, dass es für Eltern
nach der Geburt ihres Kindes nicht im praktischen und finanziellen Sinne
günstiger kommt, die Aufgaben des Broterwerbs und der Erziehung mit
eindeutigen Zuständigkeiten zwischen Mann und Frau aufzuteilen. Denn
weder auf Familie noch auf Berufstätigkeit zu verzichten entspricht den
gewünschten Lebensentwürfen der meisten Menschen.159
Sind nun familienpolitische Maßnahmen, die Einfluss nehmen sollen auf
den demographischen Wandel, abhängig vom Typ des Wohlfahrtsstaats?
Betrachtet man das vorangegangene Kapitel, so kommt man zu zwei 158 vgl.: Kapitel II.3.A 159 vgl.: Kapitel II.3.A.ii
78
Erkenntnissen und würde die Fragestellung dieser Arbeit auf den ersten
Blick mit „Nein“, bei genauerem Hinsehen jedoch mit „Ja“ beantworten:
Nein, die Bandbreite an Maßnahmen hängt nicht vom Typ des
Wohlfahrtsstaats ab: In Bezug auf die Arten von familienpolitischen
Maßnahmen gibt es keine wirklich großen Unterschiede zwischen den
drei Policy-‐Typen. Überall gibt es eine Art Kindergeld, überall gibt es
Mutterschaftsurlaub, gibt es eine Art Elternzeit, gibt es
Kinderbetreuungsmöglichkeiten.
Doch sind die Maßnahmen sehr wohl abhängig vom Typ des
Wohlfahrtsstaats: Die drei verschiedenen Typen unterscheiden sich
nämlich sehr hinsichtlich des Umfangs der Maßnahmen. Das zeigt sich gut
am Beispiel Elternzeit: Während diese in Großbritannien lediglich eine
Art Rechtsanspruch auf einen langen, aber unbezahlten Sonderurlaub
bedeutet, lässt sich in Schweden finanziell kompensierte Elternzeit mit
Berufstätigkeit in einem gewünschten Verhältnis verbinden; in
Deutschland liegt es irgendwo dazwischen.
Und welcher Typ liefert also die günstigsten Rahmenbedingungen? In
welchem Wohlfahrtsstaatsregime ist Gleichberechtigung zwischen Frau
und Mann und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf am weitesten
ausgeprägt? Der Vergleich zwischen Großbritannien, Deutschland und
Schweden zeigt: Vereinbarkeit und Gleichberechtigung sind in dem Staat
am weitesten ausgeprägt, in dem hauptsächlich der Staat für die
Wohlfahrtsproduktion zuständig ist — in Schweden.
Zwar gibt es in Großbritannien gute Ansätze, in denen der Markt von
alleine für die Einführung von familienfreundlichen Arbeitsbedingungen
verantwortlich ist. Doch diese Entwicklung lassen sich bisher nur
bestimmte Branchen beobachten — v.a. bei Fachkräften. Diese können
79
aufgrund des wachsenden Mangels an ihnen ihre Arbeitsbedingungen
ohnehin gut beeinflussen.
Doch möchte man den problematischen Aspekten des demographischen
Wandels sinnvoll und gesamtgesellschaftlich begegnen, ist wohl das
beherzte Eingreifen des Staates von Nöten. Jeder sollte in den Genuss
kommen können, zwischen Familie oder Beruf zu wählen oder beides
miteinander zu kombinieren.
80
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SCHRIFTLICHE VERSICHERUNG
Hiermit versichere ich, Tilman Johannes Scheipers, an Eides statt, dass ich
die Magisterhausarbeit selbstständig ohne fremde Hilfe verfasst und
keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel benutzt habe.
Die Stellen der Arbeit, die dem Wortlaut oder dem Sinn nach anderen
Werken entnommen wurden, sind unter Angabe der Quellen der
Entlehnung kenntlich gemacht. Die Arbeit ist noch nicht veröffentlicht
oder in gleicher oder anderer Form an irgendeiner Stelle als
Prüfungsleistung vorgelegt worden.
Heidelberg, 19. Juni 2011
Tilman Johannes Scheipers
EINSICHTNAHME IN DIE MAGISTERHAUSARBEIT
Hiermit erkläre ich, Tilman Johannes Scheipers, mein Einverständnis,
dass Interessenten Einsicht in meine Magisterhausarbeit nehmen können
bzw. dass meine Arbeit in der Bibliothek meines Hauptfaches aufgestellt
und damit öffentlich zugänglich gemacht wird.
Heidelberg, 19. Juni 2011
Tilman Johannes Scheipers