Wolfgang Kemp Geschichte der Fotografie Von Draguerre bis ...

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128 Seiten, Paperback ISBN: 978-3-406-62348-6 Unverkäufliche Leseprobe © Verlag C.H.Beck oHG, München Wolfgang Kemp Geschichte der Fotografie Von Draguerre bis Gursky

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128 Seiten, Paperback ISBN: 978-3-406-62348-6

Unverkäufliche Leseprobe

© Verlag C.H.Beck oHG, München

Wolfgang Kemp Geschichte der Fotografie Von Draguerre bis Gursky

Von den Anfängen 1839 bis zum Piktorialismus um 1900

Die vom Licht getragene Göttin

1857 schrieb Elizabeth Eastlake, die Gattin des Präsidenten der Royal Society of Photography, über die Fotografi e: Sie «fi ndet sich im prächtigsten Salon und in der ärmlichsten Dachwoh-nung, in der Einsamkeit einer Hütte im Hochland und im Glanz eines Londoner Gin-Palastes, in der Tasche des Detektivs, in der Zelle des Verurteilten, in der Mappe des Malers und Architek-ten, in den Papieren des Fabrikbesitzers und Fabrikanten und auf der kalten tapferen Brust auf dem Schlachtfeld.» Das war 18 Jahre, nachdem 1839 das neue Bildmedium mit großem Aplomb dem Pariser Parlament vorgestellt und damit dem öf-fentlichen Gebrauch übereignet worden war. 1889, im fünfzigs-ten Jubiläumsjahr der Erfi ndung der Fotografi e, wurde der Foto-graf Peter Henry Emerson allegorisch: «Unglaublich in der Tat scheint die alles durchdringende Kraft dieser vom Licht getrage-nen Göttin zu sein. Fotografi e ist eine besonders wertvolle Waffe, die der Menschheit für ihr intellektuelles Weiterkommen gegeben wurde.» Im Jahrhundertjahr 1939 las man im Klap-pentext von Lucia Moholys A Hundred Years of Photography: «Wie viele unserer Errungenschaften der Moderne ist auch die Kamera zu einem integralen Bestandteil unseres täglichen Lebens geworden, so daß man oft ihren enormen sozialen und ökonomischen Einfl uß unterschätzt.» Im Weiteren ist von der «world power» der Fotografi e die Rede. Auf dem Umschlag dieses Penguin-Buches war die berühmte Lithographie von Honoré Daumier aus dem Jahr 1862 abgebildet, die er dem gro-ßen Pariser Fotografen Nadar (1820–1910) gewidmet hatte und deren Titel lautet: «Nadar erhebt die Fotografi e zur Höhe der Kunst». (Abb. 1) Fast alle Häuser der summarischen Stadtansicht tragen die weithin sichtbaren Werbeinschriften der

Foto-Ateliers, die Fotografi e ist überall, auf Erden wie am Himmel.

Tatsächlich hat Nadar mit einem Ballon, der ohne Übertrei-bung «Le Géant», «Der Riese», hieß, Ballonfahrten unternom-men – die zweite führte ihn von Paris nach Hannover – und Luftbilder gemacht. Diese neue Anwendung der Fotografi e be-schrieb er in einem eigenen Buch mit dem Titel Nouveau sys-tème de photographie aérostatique (Neues System der areostati-schen Fotografi e). Nadar war ein berühmter Porträtfotograf (Abb. 10), aber im Zeitalter der Anwendungserweiterung des Mediums (siehe Eastlake) hat er mehr darauf gegeben, als Luft-schiffer und Luftbildfotograf berühmt zu werden. Jules Verne, sein Mitarbeiter, hat seine Ideen und sein Vorbild in Romanen verarbeitet, in denen Technik als Abenteuer aufgefasst wird. Ein Abenteuer war es in der Tat: Bei der Landung in der Nähe von Hannover wurden Nadar und seine Frau schwer verletzt.

Der weltweite Triumph des neuen Mediums, der bis heute an-

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1 Honoré Daumier, Nadar erhebt dieFotografi e zur Höhe der Kunst, 1862

hält, baute im 19. Jahrhundert auf einer ganz und gar nicht selbstverständlichen, ja man möchte eher sagen, unwahrschein-lichen Basis auf. Timm Starl hat das so ausgedrückt: «Ein Tri-umph der Bilder des Unwirklichen: farblos, unbewegt, verklei-nert, zweidimensional, manche seitenverkehrt. Während der Glaube an den Fortschritt den ununterbrochenen Blick in die Zukunft verlangt, galten die bildlichen Belege des eben Vergan-genen als die modernsten.»

Die Fotografi e, eine Kunst?

Zu der unwahrscheinlichen Basis kamen die Probleme der Ein-ordnung des neuen Verfahrens, hinzu. Daumiers Lithographie sagt im Titel etwas ganz anderes, als sie zeigt: Nadar erhebt die Fotografi e nicht (nur) zur Höhe einer Luftbildaufnahme, son-dern zu den Höhen der Kunst. Elizabeth Eastlake forderte Foto-grafi en auch in den Mappen der Maler und Architekten und verwies so auf den indirekten Nutzen der Fotografi e für die Kunst. Nun lag Daumiers Intention vielleicht darin zu zeigen, dass die Fotografi e die quasiontologische Erhebung zur Kunst geschafft habe. «Die Worte», schreibt Heinrich Guttmann 1930, «waren als Ironie gedacht. Sie erwiesen sich als Wahr-heit.»

Wir steuern diesen Punkt an, weil wir in dieser Darstellung die Fotografi e als künstlerisches Medium favorisieren. Fotogra-fi e ist das erste Neue Medium, und Neue Medien haben an sich, dass ihre Applikation einmal quer durch das Ganze der Welt-verhältnisse schneidet: der sozialen, wissenschaftlichen, politi-schen, ästhetischen Gegebenheiten. Nie wird die Fotografi e sich als Ganze «zur Kunst erheben». Sie kann es als spezielle Appli-kation tun, kann «Kunst mit Fotografi e» schaffen, wie es heute heißt. Damit ist das Problem der Zuordnung aber noch nicht gelöst. Schon in den 50 er Jahren des 19. Jahrhunderts war die Option der Fotografi e auf den Kunstrang ausgestellt worden. Das am stärksten diskutierte Foto-Kunstwerk der Epoche stammte von Oscar Gustav Rejlander (1813–1875), einem ge-bürtigen Schweden. Der Kunstanspruch führte ihn zu einer

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Frühform der Montage, der sogenannten Kompositionsfotogra-fi e, bei der die gewünschten Details einer Aufnahme nacheinan-der auf einen Bildträger kopiert wurden. Der Rest wurde durch Masken ausgeblendet. 1857 schuf Rejlander die aus 32 Einzel-aufnahmen zusammengesetzte allegorische Fotografi e The Two Ways of Life (Abb. 2). Das vielfi gurige Tableau folgt der alten und in Drucken weitverbreiteten Ikonographie des breiten und des schmalen Wegs, des Wegs der Verdammnis und des Wegs des Heils nach Matthäus. Es nimmt also Bezug auf eine popu-läre und moralische Bildtradition, übersetzt aber diese Vorlage in das hohe akademische Idiom der Allegorie und benutzt als Kombinationsgrundlage ebenfalls vielfi gurige Werke wie Raffa-els Schule von Athen oder Coutures Römer der Verfallszeit. Auch das exorbitante Format von 78 x 40,6 cm zeigt an, dass der Fotograf Großes vorhatte. Die Hauptpersonen sind ein al-ter, «weltweiser» Mann in der Mitte und zwei etwas ratlose Jünglinge, die sich vorsichtig der Seite mit den Vergnügungen und der Laster sowie der Seite mit den Tugenden und ernsten Beschäftigungen nähern. Um die Partie der Verdammnis an-schaulich zu machen, brachte der Künstler hier fünf halbnackte Frauen unter – dazu konnte er sich auf die lange Tradition der nackten weiblichen Allegorien stützen, aber er hatte auch einzu-kalkulieren, dass diese Nuditäten ein reales Abbild waren. Es

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2 Oscar Gustav Rejlander, Die zwei Wege des Lebens, 1856

gab prominente Unterstützer: Königin Viktoria erwarb einen Abzug für ihren Ehemann. Doch die Zahl und Macht der Geg-ner war größer: In Edinburgh wollte man das Werk nicht aus-stellen; erst ein Jahr später wurde es dort gezeigt, aber die an-stößige Hälfte blieb verhüllt. Rejlander hielt zur Verteidigung einen langen Vortrag vor der Londoner Gesellschaft, in dem er Element für Element seiner Komposition durchnahm und die dabei angewandten technischen Tricks erläuterte. Dies war ver-mutlich die erste ausführliche Lektüre und technische Erläute-rung einer Fotografi e, aber sie brachte ihm nicht die gewünschte Entlastung. Der Blick in die Werkstatt wurde nicht honoriert, er bestätigte alle Vorurteile, die Fotografi e als mechanische und manipulative Kunst betreffend. Es gibt Darstellungen, die Rej-landers Karriere mit dem Skandal um dieses Werk beendet se-hen. Davon kann aber keine Rede sein; er hat noch viele, auch erfolgreiche Bilder geschaffen, man kann jedoch sicher sagen, dass er diesen Vorstoß auf das Gebiet der «künstlerischen Foto-grafi e», wie sie damals schon hieß, eher bereut hat.

In der Fotografi egeschichte stand lange Zeit nur sein Haupt-werk für bzw. gegen ihn – dass er ein großer Porträtfotograf war, blieb eher unbekannt und macht heute seinen Ruhm aus. Auch in dem hier ausgewählten Porträt eines Paares (Abb. 3) unterließ er das Inszenieren nicht, und vielleicht retuschierte er

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3 Oscar Gustav Rejlander,

Mister and Miss Constable, 1866

auch, was er gerne tat, aber er verzichtete ganz auf Ausstattung und Attribute, setzte dafür eine Art Streifl icht ein, das in einem lebendigen Kontrast mit Personen und Kleidern steht. Es scheint auch so, als würde er den Verzicht auf sachliche Ausstattung und erzählerische Momente, an denen ihm in seinen anderen Arbeiten so viel lag, durch die gleichgerichtete Intensität der Bli-cke ersetzen. Und mit dem stark zur Seite gerichteten Blick anti-zipiert er eine Mode der Porträtfotografi e, die erst viel später um sich greift, in den 20 er und 30 er Jahren des nächsten Jahr-hunderts.

Heute ist inszenatorische Fotografi e schon fast so etwas wie ein Leitmedium geworden. Die Namen Anna und Bernhard Blume, Duane Michals, Cindy Sherman und Jeff Wall fallen ei-nem als Erste ein. Wir werden sie im letzten Kapitel behandeln. Auch der «Kombinationsprint» ist zurück, wenn auch auf ganz anderer technischer Basis: als digitale Bildbearbeitung. Wir den-ken hier an Jeff Wall, der seine Tableaus aus vielen Einzelauf-nahmen zusammensetzen kann. Selbst die direkte Anlehnung, ja das Zitat historischer Gemälde ist gang und gäbe. Auf Jeff Walls Dialog mit Édouard Manet (vgl. Abb. 33) wurde oft ver-wiesen, nicht zuletzt von ihm selbst, Cindy Sherman hat eine ganze Serie History Portraits (1988–1990) nach Meisterwerken der Kunstgeschichte geschaffen. Doch damit ist die Kritik an Rejlanders so vergleichbarem Ansatz nicht entwertet. Sehen wir einmal von dem peinlichen Versuch ab, seine Ausstellung nack-ter Frauen als hochmoralische Botschaft zu chiffrieren, so lässt sich nur im Sinne von Arthur Danto sagen, dass zu jeder Kunst-epoche eine «künstlerische Theorie, eine Kenntnis der Ge-schichte der Kunst, eine Kunstwelt» gehört. In den 1980 er Jah-ren hat sich die inszenatorische und kunstnahe Richtung gegen die Street Photography, gegen den Dokumentarismus, aber auch gegen konzeptionelle Strömungen in der Kunstwelt positi-oniert. Es gab also genug, wogegen man sich absetzen konnte und musste, und das bis dato als «unfotografi sch» Verpönte wurde «zur Höhe der Kunst erhoben». In Rejlanders Zeit musste eine Gattungsnorm wie «das Fotografi sche» überhaupt erst gefunden und durchgesetzt werden. Erst danach konnte

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man sich Neues oder auch Altes vornehmen. Was die Fotografi e eigentlich sei, darüber ist in den ersten Jahrzehnten nach ihrer Erfi ndung mit großer Intensität gestritten worden. Dorthin, zu den Anfängen, gehen wir jetzt erst mal zurück.

Die Erfi ndung der Fotografi e I

«Die Erfi ndung [der Fotografi e] war nicht zufällig», schrieb Heinrich Schwarz, dem wir die erste monographische Arbeit über ein fotografi sches Studio – das von Hill und Adamson – verdanken. Sie erschien 1931. Er war vielleicht der Erste, der die Ursprünge nicht mehr isoliert betrachtete, «sondern aufs engste verbunden mit allen anderen gleichzeitigen Äußerungen wissen-schaftlicher und künstlerischer, sozialer und wirtschaftlicher, technischer und ästhetischer Art». So werde «die Photographie als charakteristisches Symptom und unausweichliches Ergebnis einer allgemeinen Wandlung der Anschauungen» aufgefasst.

Als erstes der neuen Medien leitet Fotografi e den Übergang vom Sinn zu den Sinnen ein, um eine Formulierung von Jochen Hörisch aufzugreifen. Oder, wie Hörisch auch sagt, Fotografi e ist ein Realitätsverstärker, sie widmet sich der Aufzeichnung ei-ner Fülle indifferenter Daten, sie baut auf und fördert die Sensi-bilität für die immanente Beschaffenheit von Natur und Kultur. Und sie tut dies scheinbar ohne menschliches Zutun. Hegel, kein Freund der zu seiner Lebenszeit erst gerade ansetzenden realisti-schen Tendenzen in der Kunst, noch nicht in der Fotografi e, meinte, das neue Verfahren bestünde darin, «das, was ist und geschieht, als bloß Einzelnes, d. h. seiner bedeutungslosen Zufäl-ligkeit nach, aufzunehmen». David E. Wellbery hat dieses State-ment so kommentiert: «diese bloße Aufnahme ließe sich nur dort verwirklichen, wo sich die Kunstproduktion in (relativer) Unabhängigkeit von der Formung durch menschliches Handeln etabliert. Diese Bedingung ist erstmals gegeben mit der Erfi n-dung der Fotografi e, die die Bildproduktion aus dem leiblichen Intentionsraum von Hand und Auge befreit. Die Fotografi e ist die Prosa der Bildwelt. Nicht nur stellt sie Kontingenz dar, ihre Produktionsweise entfaltet sich als kontingentes Geschehen.»

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Darauf, auf ihr Nichtbeteiligtsein, waren die Fotografen zu-nächst einmal sehr stolz. Henry Fox Talbot, einer ihrer Erfi nder, nennt die Fotografi e den «Prozeß, durch den natürliche Objekte dazu gebracht werden, sich selbst abzubilden ohne die Hilfe des Stiftes eines Künstlers». Ganz ähnlich hatten Nicéphore Niépce und Daguerre bereits 1829, also zehn Jahre vor der Veröffentli-chung ihres fotografi schen Verfahrens, dieses als «von selbst vor sich gehende Reproduktion der in der Camera obscura auf-gefangenen Bilder» bezeichnet. Fotografi e als automatische Aufzeichnung musste in den Zeiten der sich etablierenden exak-ten Wissenschaften, des Empirismus und Realismus als unbe-dingter Vorteil gelten. «Kunst und Wissenschaft suchen auf ver-schiedenen Wegen dasselbe Ziel zu erreichen: die objektive Re-gistrierung der sichtbaren Erscheinungen.» (Heinrich Schwarz) Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Erfi nder der Fotografi e Dilettanten waren, Dilettanten auf dem Gebiet der bildenden Künste (Talbot, Niépce, Bayard) und der Wissen-schaften (Daguerre, Niépce, Bayard). Sie erfanden am Übergang vom dilettantischen zum wissenschaftlichen Zeitalter eine Ma-schine, die Berufsstände wie die Miniaturmaler und Porträtisten außer Brot setzte, und gleichzeitig erfanden sie das erste neue Medium, das der Wissenschaft dient, weil es – wie gesagt – Tat-bestände ohne menschliches Zutun aufzeichnet. Oder, nicht ganz so extrem gesagt, weil der Fotograf nie eine totale Kont-rolle über die Aufzeichnung hat.

Das Optisch-Unbewusste

Henry Fox Talbot bemerkte 1844: «Es geschieht überdies häu-fi g, dass der Fotograf selbst bei einer solchen späteren Überprü-fung entdeckt, dass er viele Dinge aufgezeichnet hat, die ihm zur Zeit der Aufnahme entgangen waren – und es macht zum Teil den Charme der Fotografi e aus. Manchmal fi ndet man Inschrif-ten und Daten auf Gebäuden oder ganz unbedeutende An-schläge; manchmal erkennt man das entfernte Zifferblatt einer Uhr und auf ihr – unbewusst festgehalten – die Uhrzeit, zu der die Aufnahme gemacht wurde.» Was Talbot auch die «unbe-

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wusste Aufzeichnung» nannte, wird einige Jahrzehnte später und auf technischer Basis dem gestaltenden Zugriff des Foto-grafen gänzlich entzogen. Die Phasenfotografi e schneller Bewe-gungsabläufe, die Eadweard Muybridge seit 1872 aufnahm, konnte nachweisen, dass ein Pferd tatsächlich für den Bruchteil einer Sekunde alle vier Hufe in der Luft hat. Noch einmal 60 Jahre später, in der Zeit des Surrealismus und der Hochge-schwingkeitsfotografi e, wurden solche Leistungen zu einer Hauptattraktion des Mediums. Walter Benjamin schreibt in sei-ner Kleinen Geschichte der Fotografi e 1931: «Es ist ja eine an-dere Natur, welche zur Kamera, als welche zum Auge spricht; anders vor allem so, daß an die Stelle eines von Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums ein unbewußt durchwirkter tritt. Ist es schon üblich, daß einer, beispielsweise, vom Gang der Leute, sei es auch nur im groben, sich Rechenschaft gibt, so weiß er bestimmt nichts mehr von ihrer Haltung im Sekunden-bruchteil des ‹Ausschreitens›. Die Fotografi e mit ihren Hilfsmit-teln: Zeitlupe, Vergrößerungen erschließt sie ihm. Von diesem Optisch-Unbewußten erfährt er erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewußten durch die Psychoanalyse.»

Fotografi en können also eine «Sichtbarkeit jenseits der Inten-tion» (Sigrid Weigel) aufweisen. Was die einen feierten, die op-tisch nicht genug bekommen konnten, war für die anderen der sicherste Grund, den Kunstanspruch des neuen Mediums abzu-wehren. Baudelaire dekretierte in der Salonkritik von 1846: «Die Kunst, da sie nichts anderes ist als eine Abstraktion und ein Opfer des Details zugunsten des Ganzen, muss sich vor al-lem mit der Wirkung der Massen beschäftigen.» Mit Massen ist die Wirkung der großen, zusammenhängenden Partien ange-sprochen; in englischen Verlautbarungen dieser Zeit heißt das «breadth», Breite, summierende Wiedergabe. Der Maler Hip-polyte Delaroche schlug zur gleichen Zeit in dieselbe Kerbe, als er vermerkte: «Der große Künstler konzentriert das Interesse, indem er die unnützen und dummen Details unterdrückt.» Bau-delaire wünschte sich Fotografi en «mit der Unschärfe einer Zeichnung». Er wusste, dass nur unscharfe, vage Züge die nö-tige «Assoziationstätigkeit» auslösen, um die Erinnerung anzu-

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regen. Nicht widerstandslos, aber doch im Endeffekt beein-druckt von dieser Kritik am Medium Fotografi e haben sich dann zahlreiche Fotografen im 19. Jahrhundert zur Reduzie-rung der Detailinformationen, zur Pfl ege der «Massen» ent-schlossen und sind der «Hölle der Details» (Benjamin) entron-nen. Davon wird noch zu hören sein.

Die Erfi ndung der Fotografi e II

Die Fotografi e wurde zur gleichen Zeit mehrfach erfunden, schrieb Heinrich Schwarz in seiner oben erwähnten Monogra-phie: «Die Duplizität der Bemühungen, die fast gleichzeitig und zunächst unabhängig voneinander der Erfi ndung der Fotogra-fi e gewidmet waren, erweist ihre zeitliche Notwendigkeit und führt die persönliche Tat der Erfi ndung auf den historisch be-dingten Willen einer höheren Macht zurück. In einer neuen so-zialen Ordnung und in einer neuen, aus wissenschaftlichen Vor aussetzungen hervorgegangenen ästhetischen Stellung der Menschen zu seiner Umwelt war die Erfi ndung auf das tiefste begründet.» In Frankreich war es der Particulier und Dilettant Nicéphore Niépce (1765–1833), der seit 1814 experimentierte und 1827 mit ersten Ergebnissen an die Öffentlichkeit trat, wo-rauf dann ab dieser Zeit der Dioramenmaler Louis Daguerre (1787–1851) seine Versuche fortsetzte und zum Erfolg führte, der in der öffentlichen Annahme der Erfi ndung der Fotografi e durch das Parlament im Juli 1839 kulminierte. Erste Meldun-gen über das neue Bildmedium gelangten aber schon Anfang desselben Jahres in die Presse, sodass in England und Frank-reich zwei Parallelerfi nder ihre Anstrengungen verstärkten. William Henry Fox Talbot (1800–1877) war ein englischer Di-lettant im besten Sinne, der auf den Gebieten der Mythologie, Sprachwissenschaft, Mathematik, Lokalgeschichte ebenso viel leistete wie auf dem Gebiet der graphischen Künste. Mit zeich-nerischen Fähigkeiten nicht begabt, versuchte er erst die Hilfs-mittel der Camera obscura und der Camera lucida, bis er erste Versuche mit kameraloser Fotografi e, dann mit der Kamera machte, die zuerst wie im Fall Niépce sein Haus festhielt. Das

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war 1834. Alarmiert durch die Meldungen über die französi-schen Erfi ndungen trat Talbot im Januar und Februar 1839 an die Öffentlichkeit. Sein erster Traktat trug den Titel: Some account of the art of photogenic drawing, or the process by which natural objects may be made to delineate themselves without the artist’s pencil. Das sagte schon eine Menge, und auch die kritische Frage nach den Namen für das neue Aus-drucksmittel ist hier schon fast beantwortet. «Photogenic draw-ing» heißt soviel wie: durch Licht hervorgebrachte Zeichnung. Aber schon im gleichen Jahr gebrauchte Talbot in seinen Tage-büchern das Wort «Photography», und «photographie» nannte der Naturwissenschaftler Arago das neue Verfahren, als er es ebenfalls 1839 dem Parlament vorstellte. Doch es sollte dauern, bis dieser Begriff, griechisch für Lichtschrift oder Lichtzeich-nung, sich durchsetzte. Bezeichnungen wie Helio graphie oder Kalotypie, aber auch personenbezogene Benennungen waren im Umlauf: Die Franzosen sprachen von Daguerreotypie, die Eng-länder von Talbotypie.

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4 Louis-Jacques-Mandé Daguerre, Boulevard du Temple, 1839

Die Erfi ndung der Fotografi e basiert auf der von Johann Heinrich Schulze 1727 gemachten Entdeckung der Lichtemp-fi ndlichkeit der Silbersalze. Daguerre arbeitete mit jodierten Silberplatten, Positiven und Unikaten, deren in der Kamera er-zeugtes Bild durch Quecksilberdämpfe sichtbar und dauerhaft gemacht wurde. Das Ergebnis waren silbrig glänzende Schei-ben. Talbot dagegen (und auch Bayard, s. u.) arbeitete mit Papier, mit Papiernegativen, die im Kontaktabzug beliebig oft auf sensibilisierte Papierpositive übertragen werden konn-ten. Damit war «die Voraussetzung für die prinzipiell unendli-che Vervielfältigung von Fotografi en» (Susanne Holschbach) geschaffen. Das Ergebnis war grundverschieden von der Wirkung der glänzenden Silberplatten. Talbot und seine Ge-folgsleute konnten auf Büttenpapier «drucken» und eher ma-lerische Effekte erzielen. Die unterschiedlichen Ergebnisse der Fotografi e auf Metall und auf Papier waren auch den Fran-zosen klar. Francis Wey schrieb 1851 in der Zeitschrift La Lu-mière, die Fotografi e auf Papier «stützt sich auf die Massen, reduziert das Detail wie ein geschulter Meister, unterstützt die Theorie des Opfers und stärkt hier die Form, dort den Kon-trast der Töne». Damit bezieht er sich auf den oben zitierten Charles Baudelaire und seine positive Bewertung des «Opfers der Details».

Fotografi ert wurde, was sich nicht bewegte. Die berühmte, dem bayerischen König gewidmete und heute total geschwärzte Aufnahme Daguerres (Abb. 4) zeigte eine stark belebte Stadt-szenerie, aber die Passanten und Kutschen sind nur als geister-hafte Schatten ahnbar – die einzige Ausnahme: der Mann, der mit ausgestrecktem Bein lange genug auf dem Podest eines Schuhputzers ausharrte, um sich erkennbar auf die Platte zu bannen. Er war der erste Mensch, den die Fotografi e im Bild festhielt. Es wird gesagt, dass Talbot seine Kamera auf ein De-tail seines Wohnsitzes richtete, die Blende öffnete, eine Weile spazieren ging, um dann die Aufnahme zu beenden (Abb. 5). Diese Beispiele sind aber nicht nur in technischer Hinsicht lehr-reich, sie sagen auch sehr viel über die Themenwahl der An-fänge aus. Alle Erfi nder der Fotografi e – und Timm Starl, den

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wir zitieren, nennt ihrer sechs – «postierten in einer ihrer frü-hesten Aufnahmen die Kamera in die Abgeschlossenheit eines Zimmers und richteten das Objektiv durch das Fenster auf die Straße. Als hätten sie das nämliche Ziel vor Augen gehabt: die Sicherheit der bekannten Umgebung zu verlassen und das Aben-teuer der Ungewißheit zu suchen, die Intimität des Privaten zu durchbrechen und auf jenen Ort zu blicken, der wie kein an-derer die Anonymität öffentlichen Lebens repräsentiert.» Man kann diese Fixierung auf den Blick aus Zimmer und Fenster auch noch etwas anders sehen und auf die unbewusst gesuchte Analogie von Camera obscura und Kamera verweisen.

Die Erfi ndung der Fotografi e III

Der vierte Erfi nder der Fotografi e heißt Hippolyte Bayard (1801–1887). Er war Beamter im Pariser Finanzministerium, und es wird gesagt, dass er seine ersten fotografi schen Versuche schon in den 20 er Jahren vom Fenster seines Büros aus unter-nahm. Er brachte sein Verfahren, herausgefordert durch den Prozess der öffentlichen Anerkennung Daguerres um 1839/40, zur Anwendungsreife, wurde aber für seine Leistungen eher ab-

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5 William Henry Fox Talbot,

Die Leiter, 1847

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