Zawalinski, Der Ostpark-Blues

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Simon Zawalinski · Der Ostpark-Blues

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Simon Zawalinski, geboren 1952 in Stettin, lebte mit seinen El-tern zuerst in Polen. Während der antijüdischen Exzesse in den Jahren 1967–1970 emigrierte er nach Israel und von dort in die damalige Bundesrepublik Deutschland, wo er sich in Frankfurt am Main niederließ. Noch in Polen als Jugendlicher schrieb er Gedichte und Erzählungen. In Israel redigierte er mit anderen Mitgliedern eine Kibbuzzeitung, für die er auch regelmäßig schrieb. In Deutschland war er Mitherausgeber und Autor einer polnischen Exilzeitschrift. Dieses Buch ist sein Erstlingswerk. Der Autor sieht es nicht unbedingt als eine Abrechnung mit der Vergangenheit, es sind auch keine Erinnerungen im wahrsten Sinne des Wortes, sondern ein Versuch, das Erlebte als Basis für eine der Fantasie des Autors entsprungene Geschichte zu betrachten.

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Simon Zawalinski

Der Ostpark-Blues

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Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 Simon ZawalinskiSatz und Layout: Buch&media GmbH, MünchenUmschlaggestaltung: Kay Fretwurst, FreienbrinkHerstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, NorderstedtPrinted in Germany isbn 978-3-8391-9526-0

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Inhalt

Das Heinrich-Müller-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7Die Odyssee der Freimans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17Von Taschkent in das befreite Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44Auf einem Amt in Frankfurt am Main . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60Heimweh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66Ostpark-Blues . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72Katharina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77Der Big Jossel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83Ein Ausflug ins Milieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88Ich lerne Deutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99Alina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108Meine Universität(en) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111Agnieszka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114Wozu man Freunde hat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121Anita . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128»Disneyland« am Main . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135Meine Zeit im Kibbuz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142Mit Motty bei Madame Rosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161Ein Besuch in Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179Claudia – Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

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Das Heinrich-Müller-Syndrom

W ir sind nach Deutschland gekommen, um uns an Heinrich Müller zu rächen. Wir reisten mit dem Schiff von Haifa

nach Neapel und gelangten dann über Genua und Wien nach Frankfurt. Wir, das waren mein Vater und ich. Wir reisten aus Österreich an, wo wir bei Helga Stölzl in Wien drei Wochen lang an unserem Vorhaben gebastelt hatten. Mit dem Planen klappte es nicht besonders, aber wir waren fest entschlossen, Heinrich Müller Schaden zuzufügen. Dieser Schaden sollte ihn empfindlich treffen und schmerzhaft sein, entweder körperlich oder seelisch, am besten beides. Noch in Israel war uns klar gewesen, dass dieser Müller mit der perfidesten, der schlimmsten Strafe rechnen mus-ste. Wir waren von dem Gedanken beseelt, Heinrich Müller für all unsere Qualen bezahlen zu lassen. Vor Mord schreckten wir zwar zurück, aber in unserem Szenario der blutigen Rache fand sich durchaus Platz für illusorische Mordgedanken. Wir wussten noch nicht, ob wir ihn entführen, ihn in ein Erdloch stecken und langsam verdursten lassen, ihn lebendig unter einem Müllberg begraben oder ihn bis zum Zusammenbruch »Bitte verzeiht mir meine miesen Taten!« wiederholen lassen sollten. Wir wussten nicht, wie er jetzt aussah, wir wussten auch nicht, wie er früher ausgesehen hatte. Ich stellte ihn mir als einen groß gewachsenen, blonden, bebrillten Herrenmenschen vor, der gern viel trank, gut aß und sich nach dem Essen eine Havanna, Sumatra oder Brasil genehmigte. Für meinen Vater war Heinrich Müller ein kleiner, in sich gekehrter Mensch, der im normalen Leben ein netter Vater, Bruder oder Ehegatte war, in einer extremen Situation aber zum hasserfüllten Ungeheuer wurde.

In Frankfurt wartete schon Mendel Apfelbaum auf uns, ein alter Bekannter meines Vaters aus den Kriegsjahren. Sie hatten sich in Tadschikistan kennengelernt, in der Stadt Osch an der chinesischen

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Grenze. Beide waren vor den deutschen Nazis in die Sowjetunion geflohen, die den damals für den Sozialismus schwärmenden jun-gen polnischen Juden als ein Paradies der Freiheit, Brüderlich-keit, Toleranz und Hoffnung auf diskriminierungsfreies Leben erschien. Der Genosse Stalin propagierte doch Gleichheit für alle Menschen dieser Welt, ob sie schwarze, rote, gelbe oder weiße Haut hatten und ob sie Juden, Zigeuner, Katholiken, Moslems, Indianer oder Atheisten waren. Alle sollten lieben und geliebt werden – aber der Genosse Stalin am meisten.

Herr Apfelbaum hatte den Auftrag erhalten, auszukundschaften, wo sich Heinrich Müller versteckte, falls dieser es wirklich für nötig hielt, sich zu verstecken. Mendel Apfelbaum wohnte schon länger in Deutschland, seit einiger Zeit in Frankfurt, und war, wenn auch mit manchen Schönheitsfehlern, der deutschen Sprache mächtig. Den Rest seiner Konversation erledigte er in Jiddisch. Er hatte den Auftrag meines Vaters übernommen und alsbald gewis-senhaft mit der Recherche begonnen. Hilfe fand er bei einem jun-gen deutschen Intellektuellen, Herrn Jaschke, den er eines Tages im Café Kranzler an der Hauptwache zufällig getroffen hatte. Sie besuchten unzählige Archive und Institute, Verbände und Orga-nisationen. Langsam begann sich das Puzzle in ein überschaubares Ganzes zu verwandeln. Am Ende dieses Prozesses stand der Name des gesuchten Täters: Heinrich Müller. Eine Adresse war auch vor-handen: Schwarzenfeld bei Schwandorf, im schönen Bayernland. Ganz und gar sicher waren sich die beiden Kundschafter nicht, als Mendel Apfelbaum meinen Vater in Israel anrief und ihn über das erfolgreiche Ende der Suchaktion informierte. Denn es war sehr schwer, etwas Brauchbares zu erfahren. Die Verbände und Orga-nisationen ehemaliger Angehöriger der Wehrmacht in besetzten Ländern Europas mauerten und gaben nur nichtssagende, wort-karge Auskünfte. Trotzdem gelang es Jaschke und Apfelbaum, viele Informationen einzusammeln und zu verwerten.

Nur langsam erkannte Herr Jaschke das ganze Ausmaß der deutschen Okkupation. Die Besatzer hatten mit jedem Tag der Besatzung mehr ihre menschlichen Züge verloren, die Besetzten verwandelten sich in Gejagte, die, nachdem die Jagd immer länger dauerte, stetig weniger Abwehrkraft besaßen und am Ende in eine lethargische Hoffnungslosigkeit verfielen. So auch die Familien

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meiner Eltern, die damals in Warschau und Otwock lebten. Herr Jaschke unterhielt sich öfter mit Mendel Apfelbaum über diese vergangene Zeit, über die er nicht sehr viel wusste.

Nach der Zeit in der Sowjetunion, wo sie gemeinsam in einer Zuckerfabrik gearbeitet hatten, kehrten die Flüchtlinge ein Jahr nach Kriegsende zurück nach Polen. Meine Eltern fuhren nach Warschau, Mendel Apfelbaum nach Lodz. Trotz mühsamer Suche konnten sie keine Spuren der Kupieckastraße finden. Der Bezirk lag in Schutt und Asche, keine Häuser, keine Plätze oder Stra-ßenzüge waren mehr erkennbar. Meinem Vater war es unmöglich festzustellen, wo sein Haus und der Betrieb seines Vaters einmal gestanden hatten. In Otwock war es etwas besser. Da befanden sich die meisten Häuser noch an ihren Plätzen, obwohl sie in gro-ßer Mehrheit aus Holz gebaut waren – auch in der Lindenstraße, wo vor dem Krieg die Familie meiner Mutter ein solches Holzhaus bewohnt hatte. Durch ihre christliche Nachbarin erfuhr die Mut-ter vom Schicksal ihrer Familie und insbesondere von der Ermor-dung ihrer Schwester Esther. Die Nachbarin konnte sich aber nur vage an den deutschen Wehrmachtsoffizier erinnern. Von einem Heinrich Müller war damals nie die Rede.

Die Eltern fuhren weiter in die – wie es damals offiziell hieß – »befreiten« Gebiete. In Stettin beschlossen sie, einen Neuanfang zu wagen. Nach einigen Monaten kam auch Mendel Apfelbaum zu ihnen, der in Lodz niemanden mehr von seiner Familie lebend vorgefunden hatte. Zum Glück hatte aber einer seiner Brüder die Gefangenschaft im KZ Dachau überlebt und war nach Kriegsende in Bayern geblieben. Ein ehemaliger KZ-Aufseher – ein Bauer aus dem Bayerischen Wald – hatte ihn eines Tages in München am Hauptbahnhof erkannt und in seine Heimat eingeladen. Der Bauer wurde dort zum Bürgermeister gewählt und fortan bra-chen für Herrn Apfelbaums Bruder goldene Zeiten an. Die ganze Dorfgemeinschaft war stolz, einen Dorfjuden zu haben, den man auf verschiedenen Veranstaltungen gerne vorzeigte. »Seht, das ist unser Jud, er überlebte Dachau und er hat uns verziehen.« Man verkaufte ihm billigst ein großes Grundstück, auf dem er eine Textilfabrik baute. Man fuhr sogar nach München, um ihm eine echte jüdische Frau zu suchen. Ihm wurden zahlreiche Frauen

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gebracht, von denen damals viele verwahrlost am Hauptbahnhof saßen und nicht weiterwussten. Manche kamen aus Mauthausen, manche aus Dachau oder Sachsenhausen, aus Oranienburg oder aus Buchenwald. Manche hatten als Sklavinnen in Fabriken und auf Bauernhöfen gearbeitet und man hatte einfach vergessen, sie ins KZ zu deportieren.

Eine stille, dürre Rumänin durfte bleiben, für immer. Die Dorf-bewohner organisierten den beiden eine nette Hochzeit, sogar ein Rabbiner wurde engagiert. Der Bürgermeister war da, auch der Landrat schaute vorbei, und man spielte ihnen Landserlieder auf der Mundharmonika. Der Kirchenmann war ebenfalls da, der katholische selbstverständlich.

So schuf der Bruder des Herrn Apfelbaum den Grund für dessen spätere Ausreise nach Bayern – und damit sehr entfernt auch für meine Rückkehr in die mir ganz unbekannte bayerische »Heimat«. Denn mein Vater erzählte mir die Geschichte, die er von seinem Vater gehört und die dieser wiederum von seinem Vater – und so weiter – erfahren hatte, dass ein Urahn seine fränkische Heimat verlassen habe, um den Judenjägern zu entkommen. Damals im Mittelalter war es gang und gäbe, die Juden für alle Katastrophen, Unglücke, Epidemien, Krankheiten, Unwetter etc. verantwortlich zu machen und sie dann zu bestrafen. Bei solchen Aktionen gab es immer Unzählige, die diese kollektiven Sanktionen nicht über-lebten. Nach einer Pestseuche, die den Namen »Schwarzer Tod« trug, folgte im Frankenland die Suche nach den Verantwortlichen für dieses Desaster. Es gab das Gerücht, die Juden hätten die Pest eingeschleppt, um sich so an den Christen für ihnen früher ange-tanes Unrecht zu rächen. Das wiederum führte zu Rachegelüsten bei den Christen, besonders bei den Armen und Zukurzgekom-menen, die man gerne hochnäsig als Mob bezeichnet. Aber die wirklichen Manager des Todes waren die feinen Herren in den Ratshäusern, die Aristokraten, die Kaufleute und die Handwerks-stände. Sie fürchteten ihre jüdische Konkurrenz und auf diese Weise entledigten sie sich der gefährlichen Wettbewerber.

Die Familie Freiman wollte nicht warten, bis die ersten Toten zu beklagen waren. Sie floh gen Osten. Über Sachsen gelangte sie nach Polen, ins Königreich des letzten Herrschers der Pias-

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ten-Dynastie, des Königs Kasimir III. des Großen, von dem eine Legende uns überliefert: »Habe ein Polen vorgefunden, das aus Holz errichtet war, und ein Polen hinterlassen, das aus Stein ge-baut war.« Um Polen zu erneuern und zu modernisieren brauchte er neue Ideen, neue Menschen und er brauchte Geld. Da waren ihm die Juden nur recht. Er nahm sie mit offenen Armen auf und wurde nicht enttäuscht. So übersiedelte unsere Familie nach Po-len – und ich besuchte die Heimat meiner Vorfahren erst nach gut 400 Jahren Abwesenheit.

Mendel Apfelbaum verließ als Erster das Land. Nach Jahren der Ruhe begannen die polnischen Machthaber, ein Ventil für die Unzufriedenheit des Volkes mit der sozialistischen Misswirt-schaft zu suchen. Wie immer fand man schnell die Prügelknaben. Die kommunistischen Kader der neuen Gesellschaft schufen ein Schimpfwort, mit dem sie die Schuldigen an der Wirtschaftsmi-sere zu benennen und gleichzeitig ihre antirassistische, interna-tionale Einstellung kundzutun versuchten: den »Zionisten«. Die Juden zu diffamieren, das war den Menschenverächtern von der Weichsel dann doch zu heikel, aber diese Revisionisten, Hege-monisten, Unterdrücker, Volksschädlinge jüdischen Ursprungs, also Zionisten, die konnte man für alles verantwortlich machen: für die schlechten Wirtschaftsverhältnisse, für den Niedergang der polnischen Kultur, für die Schlangen vor leeren Geschäften. An allem waren die Imperialisten, die Zionisten, schuld. Sie nah-men den friedliebenden Arabern das Land weg, sie nahmen dem polnischen Arbeiter das Geld weg, sie schickten den sowjetischen Freund nach Polen, um das Volk zu drangsalieren. In der Schule, in der Freizeit hörte man immer öfter das Schimpfwort »Zionist«. In unserer Klasse rief mich der Lehrer nach vorne mit den Worten: »Zionist, an die Tafel.« Alle lachten, ich auch – bis ich merkte, dass ich gemeint war.

Mein Vater verlor zuerst alle Ämter und dann auch seine Arbeit. Mendel Apfelbaum schrieb uns aus Bayern, wie gut es seinem Bru-der hier gehe, und er hoffe, dass er und seine Familie nun bessere Zeiten erlebten. Bald nach ihm verließ der nächste Freund und Kompagnon meines Vaters das Land. Sewek Kirschholz übersie-delte nach Israel, genauso wie der nächste Weggefährte aus der asiatischen Periode, Chaim Goldberg, mit seiner Familie.

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Wir waren die Nächsten. Eines heißen Julimorgens setzten wir uns in den Zug nach Warschau. Unser Hab und Gut hatten wir vorher aufgegeben; direkt nach Haifa sollte der Container gehen. In Warschau besuchten wir noch unseren »Onkel« Schayn, der Polen nicht verlassen wollte und erst ein Jahr später, als man ihm alle Medaillen und Abzeichen wieder wegnahm, nach Israel emigrierte. Von Warschau fuhren wir mit dem Zug nach Wien, wo wir in Schönau auf den Flug nach Tel Aviv warteten. Nach drei Monaten war es so weit und der silberne Vogel mit dem blauen Davidstern brachte uns in die Heimat unserer Vorväter. Auf dem Flughafen von Tel Aviv küsste mein Vater den heiligen Boden, eine junge Soldatin küsste mich, ein Sochnut-Mitarbei-ter küsste meine Schwester und die Stiefmutter und überreichte uns die Schlüssel zu unserer neuen Wohnung in der Stadt Bat-Yam, was in der deutschen Sprache mit »Tochter des Meeres« gleichzusetzen wäre. Der Vertreter der israelischen Streitkräfte überreichte mir ein Dokument, in dem stand, wann ich in die Armee einrücken sollte. Dann kam ein untersetzter Herr mit einer Hornbrille und legte uns einen Stoß Formulare und Papiere vor. Mein Vater sollte alle unterschreiben. Auf dessen Frage, was er hier unterzeichnen solle, wurde ihm entgegnet, der Staat wisse schon, was zu tun sei. Im Einzelnen waren es Versicherungen, Bankkredite und die Finanzierung für ein Auto. Wir waren noch keine halbe Stunde in Israel, hatten aber schon eine Wohnung, die Möglichkeit, ein Auto zu kaufen, sowie einen Bankkredit und Versicherungen, um das alles abzusichern. Man fragte uns nicht, ob wir das auch haben wollten, man gab es uns einfach. Und wehe, wir hätten Nein gesagt! Die Familie Zitronowitsch, die wir eines Tages bei der Stadtverwaltung trafen, konnte sehr viel davon erzählen.

Wir lebten uns allmählich ein und wurden zu normalen israe-lischen Staatsbürgern mit all ihren Sorgen und Problemen. Das Leben in Israel wurde nie langweilig. Mich schickte man zu mi-litärischen Übungen in den tiefsten Sinai. Mein Vater eröffnete mit zwei weiteren Kompagnons, jiddisch »schitew« genannt, ein Textilgeschäft. Nach einem halben Jahr waren die Miteigentü-mer mit dem Geld verschwunden und das Geschäft pleite. Aber mein Vater lernte dazu. Er eröffnete in Tel Aviv eine Boutique mit

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Miederwaren. Eines Tages wurde er mitten in der Nacht von der Polizei geweckt: Sein Geschäft stand in Flammen und brannte bis auf die Grundmauern ab.

»Gut, dass ich den Laden versichert habe, besonders gegen Feuer«, sagte Vater. Das Geld von der Versicherung brachte er zur Bank, aber zur niederländischen, denn die israelische hätte doch eines Tages ebenfalls abbrennen können.

Wir warteten auf ein Zeichen von Mendel Apfelbaum aus Frank-furt, doch als es eines Tages kam, waren wir total unvorbereitet. Wir waren verwirrt, verängstigt und auch überfordert. Das, wo-von wir die ganze Zeit geträumt hatten, wurde jetzt Realität; ama-teurhafte Theorie verwandelte sich in reale Praxis. Wir wollten plötzlich wissen, ob die Deutschen so waren, wie man überall in der Welt von ihnen sprach. Mit »überall« waren Polen und Israel gemeint, die Länder, in denen wir bisher gelebt hatten. Uns inter-essierte, ob die Deutschen immer noch so radikal waren wie frü-her, ob die Nazis sich überall versammeln konnten und die Juden dann angriffen, ob die Hitlers bewaffnet waren, ob man als Jude um sein Leben fürchten musste. Diese Fragen hat Mendel Apfel-baum unter der Mitarbeit von Herrn Jaschke in einem langen Brief eingehend beantwortet. Er führte aus, dass sich die Deutschen geändert hätten, etwas ruhiger geworden seien, auf ihre Worte achteten und versuchten, die Juden als normale Bürger zu sehen. Zu viel Vertrauen dürfe man ihnen aber nicht schenken. Was sie wirklich im Schilde führten, wisse kein Außenstehender. Einen gewissen Abstand zu halten sei bestimmt nicht verkehrt. Außer den üblichen Staatsorganen sei kein Deutscher bewaffnet. Die Ju-gend nähme ab und zu Drogen. Die Alten änderten sich zwar nicht so schnell, aber es gebe unter ihnen keine Radikalisierung.

Frankfurt begrüßte uns mit viel Sonne und Temperaturen, die mit denen in Israel mithalten konnten. Am Hauptbahnhof erwar-tete uns schon Herr Apfelbaum. Die Wiedersehensfreude war auf beiden Seiten groß. Wir nahmen ein Taxi, das uns in den Stadtteil Bornheim bringen sollte. Der Taxifahrer erzählte uns, dass Frank-furt die Landeshauptstadt von Hessen sei und 600 000 Einwohner zähle, doch nach einigen Minuten erhöhte er seine Angaben auf 650 000 Ortsansässige. Wir bedankten uns bei dem Fahrer für so

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viel Unterhaltung und betraten dann Herrn Apfelbaums Woh-nung. Dessen Frau hatte schon das Mittagessen vorbereitet.

Nach dem Essen fuhren wir zum Café Kranzler an der Haupt-wache, wo Herr Jaschke auf uns wartete. Nach seinen Recherchen wohnte Heinrich Müller in Schwarzenfeld bei Schwandorf, Bezirk Nabburg. Er besaß dort ein Haus, hatte einen Hund, eine Frau und zwei Kinder, die schon außer Haus waren. Er habe früher als Polizeibeamter gearbeitet, jetzt sei er seit einem Jahr pensioniert. Mein Vater wollte wissen, ob dieser Heinrich Müller wirklich der von uns gesuchte Verbrecher sei. Herr Jaschke erklärte, dass er während seiner Recherchen auf keinen anderen Heinrich Müller, auf den unsere Angaben passten, gestoßen sei. Dessen Einheit war in Otwock stationiert gewesen, sie war bei der Umsiedlung ins Ghetto dabei: Mit ziemlicher Sicherheit war dieser Müller per-sönlich verantwortlich für den Tod meiner Tante Esther. Mehr konnte uns Herr Jaschke nicht sagen.

Einen Tag darauf bestiegen wir den Zug nach Weiden. In un-serem Abteil waren wir zu dritt: mein Vater und ich sowie ein schönes blondes Mädchen, das ein mir unbekanntes deutsches Presseerzeugnis las – die »Bild-Zeitung«. Ob wir wollten oder nicht, wir mussten sie immer wieder ansehen, so intensiv war ihre Ausstrahlung. Wir schauten durch das Fenster und genossen das schöne Panorama des Bayernlandes, die Wälder, Täler, Wiesen und Felder. In Weiden stiegen wir in einen Regionalzug nach Nabburg um und von dort brachte uns ein Bus in den kleinen, weltverges-senen Heimatort der Familie Müller. Diese bewohnte in der Gar-tenstraße ein Haus, das auf einer Anhöhe stand. Ein mittelgroßer Garten gehörte dazu, auch eine Garage. Es war also Standard, nichts Besonderes, was dieser »Übermensch« besaß.

Wir standen eine Weile vor dem Hauseingang, unschlüssig über die nächsten Schritte. Sollten wir? Durften wir? Wir waren schon so weit gekommen, Apfelbaum und Jaschke hatten so viel Zeit, Kraft und Energie investiert. Und wir waren Esther noch was schuldig. Ich klingelte. Nach einer Weile kam jemand an die Tür. Wir sahen eine ältere Dame mit traurigem Gesichtsausdruck und weißem Haar. So sieht also die Frau eines Mörders aus, ging es mir durch den Kopf.

»Wir würden gerne Herrn Heinrich Müller sprechen«, rezitierte mein Vater den von ihm gelernten Text.

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»Und warum?«, fragte die alte Dame. Jetzt kam der zweite Teil des Textes: »Wir sind aus Israel ge-

kommen, um ihm unsere Dankbarkeit auszusprechen«, sagte mein Vater.

Die Dame schaute mich und meinen Vater ungläubig an, als wollte sie sagen, so etwas sei unmöglich, kaum vorstellbar. Um-gekehrt wäre es schon eher der Wahrheit gemäß. Jetzt kam mein Auftritt. »Sie müssen nämlich wissen, Heinrich Müller rettete meine Tante vor dem sicheren Tod.«

»Mein Mann Heinrich?«, murmelte die Frau fassungslos und schaute gen Himmel. »Irren Sie sich da nicht?«

»Wir haben genau recherchiert«, antwortete ich. Sie stand eine Weile regungslos da, stumm in sich gekehrt. »Bitte,

kommen Sie herein«, bat sie dann, »seien Sie meine Gäste.« Sie führte uns in eine große Halle, eine Art Loggia, und wir

nahmen auf einem rosaroten Sofa Platz. Frau Müller brachte Kaf-fee und Kuchen. »Selbst gebacken«, sagte sie und zeigte auf das Gebäck. Ich schaute mich um. Auf dem Boden lag ein großer Per-serteppich, an den Wänden hingen Bilder, meist Familienfotos, einen Mann in Uniform fand ich da nicht. An der Wand über dem Kamin befand sich eine Darstellung des gekreuzigten Jesus Chris-tus. »Ich bin glücklich, dass Sie mich besuchen«, sagte die weiß-haarige Dame. »Leider kann mein Mann Sie nicht mehr persönlich empfangen. Heinrich ist vor zwei Wochen plötzlich verstorben. Er hatte einen Herzinfarkt.«

Es wurde plötzlich still. Mein Vater und ich schauten uns ver-dutzt an. Ich merkte ihm eine gewisse Erleichterung an. Die war bei mir auch spürbar. Ich dachte über die menschlichen Schicksale und über das Leben nach. Es würde also keine Rache mehr geben, keine Selbstjustiz; der Mord an meiner Tante sollte ungesühnt blei-ben. Die Reise nach Deutschland veränderte sich jetzt zu einem Touristikausflug nach Bayern, Frankfurt und Umgebung. Ich für mich war froh, dass der alte Verbrecher gestorben war, denn ich war unsicher, wie meine Rache an ihm ausgesehen hätte.

Frau Müller wollte unbedingt wissen, was die Heldentat ih-res Gatten gewesen sei. Vater erzählte ihr das zuvor vorbereitete Märchen von einem kleinen Mädchen im polnischen Otwock, das die anderen Wehrmachtsangehörigen töten wollten, das Heinrich

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Müller aber im Keller ihres Hauses versteckt habe. »So viel ich weiß«, entgegnete Frau Müller, »nahm Heinrich an solchen Akti-onen wegen seiner Behinderung nicht teil. Auch bei der Polizei saß er nur am Schreibtisch. Und soweit ich mich an seine Erzählungen entsinnen kann, gab es damals in der Einheit mehrere Müllers, auch einen weiteren Heinrich.«

Mein Vater saß still und schaute an die Decke, wo er einen ima-ginären Punkt mit den Augen durchbohrte. Frau Müller brachte uns Fotos, auf denen lauter junge uniformierte Männer in die Kamera lachten. Unter jeder Person stand ein Name: Heinrich Müller, Rene Graß, Heiner Müller, Hans Müller, Kurt Rother, Heinrich Müller, Markus Müller-Schulze, Eugen Schartau, Bernd Blauth. »Vielleicht war es jemand anderes, der Ihrer Tante geholfen hat«, meinte unsere Gastgeberin und brachte noch etwas Kuchen. Er schmeckte hervorragend und ich fühlte mich satt und plötzlich so müde, ich hätte dort in der Loggia sofort einschlafen können.

Mein Vater stand auf. Ich verstand. Die Geschichte um Tante Esther kam hier zu ihrem unabdingbaren Schluss. Wir waren am Ende, geistig und körperlich, es wurde uns alles zu viel: Frau Mül-ler, das idyllische Dorf, die Kameraden ihres verstorbenen Man-nes. So bedankten wir uns artig für den Kaffee und den Kuchen und verließen das Haus. Noch in der Tür stehend fragte mich Frau Müller mit gütiger Miene: »Wie geht es Ihrer Tante jetzt?«

Erschrocken schaute ich auf meinen Vater. »Danke, gut. Es geht ihr sehr gut«, kam er mir zu Hilfe.

»Grüßen Sie sie bitte von mir, von der Frau ihres Retters«, lä-chelte sie zum Abschied.

»A brennen soln sein«, sagte mein Vater leise. Wir gingen in Richtung Bushaltestelle. Bis zum Eintreffen des

Busses war noch ein wenig Zeit und wir wollten diese nutzen, um uns den Ort anzuschauen. Neben einem Lebensmittelmarkt entdeckte ich das blonde Geschöpf vom Zug, vertieft in eine Un-terhaltung mit einer jungen Nonne. Es wehte ein leichter, sommer-licher Wind, die Sonne strahlte vom Himmel. Ich nahm Vater am Arm und wir gingen schweigend mit dem Wind durch den Ort.

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Die Odyssee der Freimans

D ie Familie meines Vaters hieß Freiman, die meiner Mutter hieß ebenfalls Freiman. Diese Familien waren nicht mitein-

ander verwandt, ja sie wussten nicht einmal voneinander, obwohl sie nur einige Kilometer getrennt lebten.

Die Familie meiner Mutter stammte aus Karczew, wohnte aber bis zum Kriegsanfang in der Kreisstadt Otwock in der Nähe von Warschau. Sie hatte eine Buchhandlung, in der neben jüdischen auch polnische Bücher verkauft wurden. Die Eltern meines Vaters be-saßen eine kleine Textilfabrik und dazu noch ein Textilgeschäft in der Nowolipki Straße. Beide Familien waren sehr groß, die Tanten, Onkel, Omas, Opas sowie Urgroßeltern wohnten alle zusammen.

Die Freimans in Otwock wohnten in einem großen Haus aus Holz, das man in diesem Kurort Villa nannte. Meine Mutter war eines von sieben Kindern des Buchhändlers Jankel Freiman und seiner Frau Rachel. Das älteste Kind war Perla, bei Kriegsausbruch stolze dreißig Jahre jung. Meine Mutter war die Zweitälteste, dann folgten dem Alter nach Berele, Moischele, Zipele, Chaim und als Letzte die damals dreijährige Esther. In der Villa wohnten außer-dem die Großeltern Zila und Kalman.

Mutters Tante Sara wohnte an der Ausfallstraße nach Warschau, die andere Tante, Berele, residierte direkt im Kurbezirk, da ihr Mann Itzik bei den städtischen Kurbetrieben angestellt war. Meine Mutter hatte auch noch drei Onkel, die alle ihre eigenen Geschäfte führten. Onkel Josef verkaufte landwirtschaftliche Geräte an die Bauern, er war die ganze Woche unterwegs, bisweilen führten ihn seine Reisen sogar bis nach Gora Kalwaria, Lowicz oder Terespol. Manchmal kehrte er nach so einer Reise zurück, ohne irgendet-was verkauft zu haben. Mamas zweiter Onkel, Avner, hatte einen Bauchladen, mit dem er im Zentrum Warschaus auf Kundenfang ging. Er verkaufte Puppen, Plüschtiere und andere Spielwaren.

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Die Stadt Otwock lag etwa 25 Kilometer von Warschau entfernt. Sie galt als einer der wichtigsten Kurorte Polens. Besonders ge-schätzt und genutzt wurden die Kureinrichtungen vom jüdischen Teil der polnischen Bevölkerung. Kaufleute, Freiberufler, Kultur-schaffende bevölkerten die Sanatorien und Erholungsheime, unter ihnen auch bekannte Persönlichkeiten wie der spätere Literaturno-belpreisträger Isaak Bashevis Singer und der spätere Parteichef der sozialistischen Volksrepublik, Jakub Berman. Die Einwohnerzahl Otwocks betrug vor dem Kriegsanfang etwa dreißigtausend, da-von waren etwa vierzehntausend Juden. Die Lindenallee und die angrenzenden Straßen wurden meist von Juden bewohnt, die je-doch ihre stärkste Population in den Außenbezirken hatten.

Der dritte Onkel meiner Mutter war ein überzeugter Zionist, nachdem er Bücher von Pinsker und Herzl gelesen hatte; im Jahr 1930 verließ er Polen und fand in der damaligen britischen Kron-kolonie Palästina seine neue Heimat. Er schrieb häufig Briefe nach Otwock, in denen er vom harten Leben und dem schwierigen Mit-einander mit den Arabern berichtete. Dem Onkel Avinoah blieb die ganze Kriegs-Gehenna erspart, er kam bei einem Verkehrs-unfall in der Nähe der Stadt Rehovoth um.

Die Familie meines Vaters stammte aus der Hauptstadt Warschau, mein Großvater aber wurde noch in Zamosc an der russischen Grenze geboren. Der Urgroßvater wiederum erblickte in Kiew das Licht der Welt, während dessen Vater in der Nähe von Moskau lebte. Auf der Flucht vor dem »Schwarzen Tod« und den abend-ländischen Judenhassern war ein Urahn der Familie Freiman, ursprünglich aus dem Raum Nürnberg, in den Osten ausgewan-dert.

Die Familie wohnte zusammen mit den Großeltern, Tanten und Onkeln über der kleinen Textilfabrik in der Kupieckastraße, in der vorwiegend die jüdische Bevölkerung ihr Zuhause hatte. Man brauchte nur die Wohnung zu verlassen und konnte gleich in der Nähe beim jüdischen Metzger, Bäcker, Schleifer oder Apotheker einkaufen. Und wer das Bedürfnis zum Beten verspürte, fand gleich um die Ecke ein kleines Bethaus. Die jiddische Sprache war das alles beherrschende Kommunikationsmittel in dieser Straße, ja im ganzen großen Areal, auf dem heruntergekommene Arbei-

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terquartiere, Mietskasernen, kleine Fabriken, Handwerksbetriebe, soziale Einrichtungen der Stadt und des Staates und einige noch gut erhaltene Gebäude wie das, in dem die Familie meines Va-ters wohnte, standen. Mein Vater hatte noch drei Brüder und vier Schwestern: Chajele, Täubele, Miriam, Schajne sowie Fajwel, Ru-ven und Josef.

Fajwel war ein sehr religiöser junger Mann und sah seine Zu-kunft im Aufbau eines eigenen freien jüdischen Lebens in Eretz Is-rael, welches unter der Kolonialbesatzung Großbritanniens stand und Palästina hieß. Er verließ seine Familie und Warschau Ende des Jahres 1927 und erreichte nach monatelanger Reise durch halb Europa im Sommer 1928 den heißen Strand von Haifa. Er hielt sich zunächst in einem Kibbuz im Norden des Landes auf, später gelangte er nach Jerusalem, wo er als Straßenbauarbeiter anheuerte und in der freien Zeit die Thora studierte.

Ruven Freiman dagegen war ein überzeugter Kommunist, Mit-glied der polnischen kommunistischen Partei. Mehrmals verhaf-tet, verließ er Polen und verschwand in Stalins Reich. Im Jahr 1937 schrieb er einen Brief »an die liebe Familie«, in dem er mit-teilte, er habe in Kiew geheiratet und bereits zwei Kinder. Den letzten Brief bekam die Familie Mitte des Jahres 1939. Er war in Russisch abgefasst und von Ruven unterschrieben. Darin teilte er mit, er habe samt Familie Kiew verlassen und befinde sich jetzt in Jekaterinenburg. In Kiew habe er Maschinenbau studiert und jetzt eine Anstellung als Ingenieur in einer Maschinenbaufabrik gefunden. Seitdem hat niemand mehr eine Nachricht von ihm bekommen.

Das Schicksal von Josef Freiman ist nicht bis zum Ende aufge-klärt. Der jüngste Bruder des Warschauer Freiman-Zweigs ver-schwand ein Jahr vor dem Krieg aus der Kupieckastraße. Man sah ihn öfter in Begleitung eines nicht mehr ganz jungen Mannes, der stets eine Pfeife rauchte. Man munkelte von der angeblichen Andersartigkeit des jungen Mannes, was wohl auf seine versteckte Homosexualität hinweisen sollte. Während des Krieges, als das Warschauer Ghetto nach Auschwitz und Birkenau »evakuiert« wurde und die ersten Ghetto-Kämpfer dem Feind bewaffneten Widerstand leisteten, erschien ein Pfeife rauchender Mann. Er leitete neben Anielewicz den Widerstandskampf. An seiner Seite

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war stets ein junger Bursche, der die Rolle eines Kuriers und Ver-bindungsmannes innehatte. Ob es sich dabei um Josef Freiman handelte, wird wohl nie geklärt werden, denn es gab keine Zeugen, die die beiden Männer eindeutig identifizieren konnten. Jedenfalls wurde Josef Freiman nie wieder gesehen, weder lebend noch tot. Auch der Mann mit der Pfeife tauchte nicht mehr auf. Anschei-nend hat er die Ghettoruinen nicht lebend verlassen.

Der zweitjüngste Sohn Mendel, mein Vater, war genauso wie Ruven ein Anhänger der Kräfte der Freiheit, des Fortschritts und des Sozialismus. Er differenzierte sehr wohl zwischen dem puren Kommunismus und seiner leichteren Variante. Aber unter dem Einfluss des älteren Bruders und der vielen Freunde und Genossen ließ er sich immer mehr von der Richtigkeit der stalinistisch-lenini-stischen Theorien überzeugen. Die Befreiung der Juden aus ihrem Ghettodasein traute er nur dem georgischen Sonnenzar, dem Vater aller Kämpfer um das bessere Morgen, zu. »Nur der Kommunismus kann den Antisemitismus besiegen«, dachten die progressiven Ju-den, die durch den Sieg der Aufklärung und des Humanismus über den braunen Spuk eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen er-warteten. »Wenn eines Tages alle Menschen Brüder werden, dann werden wir in Frieden und Wohlstand leben können«, sagten sich die jüdischen Kommunisten. Dann wäre es unwichtig, ob man Christ oder Jude, ob man Engländer, Deutscher oder Russe war, ob man rote, weiße oder schwarze Haut hatte, ob man Arzt, Bau-arbeiter oder Bauer war. Alle Menschen wären gleich und hätten gleiche Startchancen im Leben. Aber weil die Menschen Menschen sind, gab es auch bei den auf Gleichheit erpichten Kommunisten Genossen, die noch ein bisschen gleicher waren und die für sie ein wenig erweiterte Gleichheit entsprechend genossen.

Mendel Freiman, der ein großer Sympathisant der mächtigen Sowjetunion geworden war, vergaß seine Wurzeln jedoch nicht vollständig. Jeden Samstag besuchte er das kleine Gebetshaus. Und an den hohen Feiertagen ging er mit der ganzen Familie in die große Wazyk-Synagoge, wo die jüdische Elite ihre Einmaligkeit zur Schau stellte. Man diskutierte zwar über die Kriegsgefahr durch die deutschen Nazis, aber man verwies zugleich auf die Tatsache, dass Deutschland ein hochkultiviertes Land sei, das die Nazis nicht wei-ter regieren lassen würde. Ein Land, das so große Dichter und Den-

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ker wie Goethe, Heine, Kant oder Lessing hervorgebracht hatte, würde doch niemals tun, was die Nazis vollmundig ankündigten. Und die Deutschen würden es nie wagen, sich an den Juden in Eu-ropa zu vergreifen. Dann würden England, Frankreich und sogar die Sowjetunion ihnen schon eine richtige Antwort geben.

Mendel Freiman beschloss, nicht abzuwarten, ob die deutschen Nazis ihre Drohungen gegenüber den Juden verwirklichten. Er begann mit den Vorbereitungen, um Polen zu verlassen. Es gab nur zwei Möglichkeiten, dem Land an der Weichsel den Rücken zu kehren: Amerika oder die Sowjetunion. Mendel entschied sich für die zweite Option, denn sein Herz schlug eher links. Bis er aber das rettende Ufer des sowjetischen Staates erreichte, vergingen noch mehrere Monate.

Auch bei den Freimans in Otwock gab es eine Fraktion, die den »Kräften des Fortschritts« die Treue hielt, sowie diejenigen, die den Nazi-Spuk für eine vorübergehende Episode in der europä-ischen Geschichte betrachteten. Rosa »Rćźka« Freiman gehörte zu den aufgeklärten Anhängern der Bewegung, die auf ihren Transparenten die Slogans von Fortschritt, Gleichheit und so-zialer Gerechtigkeit ganz groß herausstellten. Rosa, die in ihrer Freizeit Tagebuchnotizen und Gedichte schrieb, die die polnische Literatur genauso gut wie die jüdische kannte und von einem Stu-dium der Literatur träumte, erkannte sofort, dass Hitlers Hassti-raden gegenüber den Juden, Kommunisten und allen Demokraten nicht die Worte eines Wahnsinnigen waren, sondern dass dahinter Methode stand. Nämlich die Methode der allmählichen Vernich-tung der Juden, der demokratischen Kräfte, der Sozialisten und Kommunisten sowie schließlich aller Andersdenkenden. Für sie gab es keine Alternative zur Sowjetunion. Zusammen mit zwei Freundinnen und Genossinnen, Guta und Halcia, verließ sie eines sonnigen Oktobertages im Jahr 1938 ihr Haus in Otwock und erreichte auf Umwegen die Grenze zur Sowjetunion. Die drei wurden direkt nach Kiew gebracht und vom KGB verhört.

Auch Mendel Freiman war im Begriff, in der Sowjetunion Zu-flucht zu suchen. Im Februar 1939 machte er sich auf den Weg in Stalins Paradies. Auch er wurde nach seinem Grenzübertritt vom

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KGB in Kiew verhört. Man vermutete in ihm einen jüdisch-pol-nischen Agenten, der gekommen war, um den geliebten Genossen Stalin und sein Volk auszuspionieren. Man brachte ihn nach Mos-kau und steckte ihn in das berüchtigte KGB-Gefängnis Lubjanka. Dort erkrankte er an Typhus – was ihm schließlich das Leben rettete. Er hätte die Todesstrafe bekommen, denn für den KGB war er eindeutig ein Spion, ein jüdisches subversives Element, das in das friedliebende Land eindrang, um es im Auftrag dunkler Mächte auszukundschaften. Für diese niederträchtige Tat konnte es nur die Todesstrafe geben. Aber Mendel Freiman war krank, todkrank. Er hatte den Flecktyphus, die schlimmste Variante die-ser schlimmen Krankheit. Und da die Sowjetmacht zu taktischen Zwecken dann doch ein menschliches Antlitz hatte, ließ sie den Spion Mendel Freiman in ein Moskauer Krankenhaus einweisen, wo er die Chance erhielt, den Todeskampf gegen die Krankheit zu bestehen. Bei einem unerwarteten Sieg stünde als Belohnung das Erschießungskommando des KGB bereit.

Rosa Freiman wurde nach mehreren Verhören im Hauptquar-tier des KGB für sowjettauglich erklärt und durfte vorerst in dem Arbeiter- und Bauernstaat bleiben. Gemeinsam mit ihren Freundinnen Guta und Halcia wurde sie einer Textilfabrik am Rande Kiews zugewiesen, wo sie das Schneiderhandwerk erlernen konnte. Sie wohnten in einem Zimmer einer Arbeiterpension, wo die hygienischen Verhältnisse an das Mittelalter erinnerten – der Schmutz stammte noch aus der Zeit vor der großen Oktoberre-volution –, wo mehr Alkohol als Wasser konsumiert wurde und wo die Miliz täglich Schlägereien zu schlichten versuchte. Rosa organisierte einen Bleistift und Papier und begann Gedichte zu schreiben, in denen sie ihre zunehmende Enttäuschung über das Leben in der Räterepublik zum Ausdruck brachte. Aber sie ver-teidigte dieses System dennoch als das beste von allen, denn es sei von Feinden umgeben, die es nicht nur von außen, sondern auch von innen zu zersetzen versuchten.

Einer dieser »Zersetzer« lag über ein Jahr im Moskauer Kranken-haus, bis er den Kampf gegen die tückische Krankheit gewann. Aber er war zu schwach, um sofort erschossen zu werden. Man

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brachte ihn in eine Reha-Klinik nach Gorki, wo er ganz langsam wieder zu Kräften kam.

Die Zeiten hatten sich geändert: Die Politik und ihre heimliche Tochter, die Diplomatie, hatten zwei Tyrannen zusammenge-führt, die über Europa und die ganze Welt Unheil, Angst, Tod und Trauer bringen sollten. Der Hitler-Stalin-Pakt, zustande gekommen durch die Verhandlungen ihrer Außenminister von Ribbentrop und Molotow, war der Anlass zur Teilung Europas, zu Massenmord in bis zu dieser Zeit nie dagewesenem Ausmaß. Als Mendel Freiman die Reha-Klinik verließ, war sein Gastland, die Oase der Humanität und des Fortschritts, der Gleichheit und der Freiheit, Partner und Komplize eines menschenverachtenden Re-gimes geworden, das seine Bürger in Lager einsperrte, ethnische Minderheiten verfolgte und ihre Gotteshäuser abbrennen ließ. Aber das wusste er leider nicht.

Nach der Besserung seines Gesundheitszustands tauschte er sein Bett in der Reha-Klinik mit einem in der Gefängniszelle. Die KGB-Mitarbeiter überstellten ihn den Moskauer Justizbehörden zwecks einer raschen Verurteilung. Sein Nachbar in dem engen, primitiv zusammengestellten Raum war ein Pole, der bis zu die-sem Zeitpunkt nicht wusste, warum er eigentlich dort einsaß und wie die Anklagepunkte lauteten. Er war mit einem Transport me-dizinischer Geräte von Warschau nach Lwow unterwegs gewesen, als der Konvoi, in dem sich Zivilisten und auch versprengte Sol-daten der von deutschen Angriffen total überraschten polnischen Armee befanden, von feindlichen Flugzeugen angegriffen wurde. Das war knapp vor der russischen Grenze. Er sprang gerade noch rechtzeitig aus dem Wagen, bevor dieser getroffen explodierte. Wie er auf sowjetischen Boden gelangt war, wusste er nicht. Plötzlich hatten die Soldaten dagestanden und ihn abgeführt. Man verdäch-tigte ihn, für die Deutschen und für die Polen spioniert zu haben, was er kategorisch verneinte. So landete er in Mendels Zelle und wartete auf die Gerichtsverhandlung.

Durch ihn erfuhr Mendel Freiman, dass die Deutschen ihre Drohungen doch wahr gemacht und Polen den Krieg erklärt hat-ten. Zudem erfuhr er, dass Hitler seinem Vorhaben, die Juden zu drangsalieren und zu vernichten, einen Schritt näher gekommen war, indem er ihnen in den besetzten polnischen Gebieten alle

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Rechte aberkennen ließ und sie wie Menschen dritter Klasse be-handelte. Die »zweite Klasse« war für die Slawen reserviert. Es wurden viele Juden erschossen oder in Konzentrationslager ge-bracht. Mendel Freiman wollte den Erzählungen des Polen nicht ganz glauben, besonders der Geschichte eines Paktes zwischen Hitler und Stalin und die Tatsache, dass sich die russische Armee Lwow und andere polnische Ostgebiete einfach einverleibte, wäh-rend die Deutschen Polen ausbluten ließen.

Für Mendel Freiman war die Welt zusammengebrochen, aber im Innersten seines Herzens keimte noch die Hoffnung, dies alles sei ein großes Missverständnis, ein böser Traum, der bald zu Ende sein würde.

Rosa Freiman und ihre Freundinnen erfuhren vom Anfang der deutschen Kriegshandlungen aus dem polnischen Rundfunk, der in Kiew sehr gut zu empfangen war. Sie waren per Radio dabei, als das Gebäude des polnischen Rundfunks bombardiert wurde und Wladyslaw Szpilman sein letztes Livekonzert inmitten des deutschen Bombardements gab. Sie konnten kaum glauben, was sie hörten. Sie weinten und machten sich gegenseitig Mut, dass die deutschen Angriffe abgewehrt und Frankreich und England endlich Polen zu Hilfe eilen würden. Dann erfuhren sie, was die deutschen Besatzer mit Juden machten, und durchlebten die schlimmsten Alpträume ihres Lebens. Sie arbeiteten weiter in der Textilfabrik und litten mit den Daheimgebliebenen.

Dann kam das Jahr 1941 und mit ihm das Ende der stalinisti-schen Gutgläubigkeit. Im Juni griff die faschistische Maschinerie ihren sowjetischen Ex-Partner an. Die vollkommen überraschten Sowjets wurden am Anfang überrannt. In größter Panik begann man die wirtschaftlich wichtigen Betriebe nach Asien zu evakuie-ren. Auch die Kiewer Textilfabrik wurde als wirtschaftlich wich-tiger Betrieb eingestuft. Maschinen samt Menschen wurden nach Taschkent ins sonnige Usbekistan verfrachtet. Die Reise dauerte fast eine Woche, die Züge gingen unregelmäßig; durch die nach dem deutschen Angriff entstandene Panik war der ganze Verkehr fast zum Stillstand gebracht. In Taschkent angekommen, über-nachtete man am Anfang in Zelten, bis für die Menschen Woh-nungen zur Verfügung gestellt werden konnten. Der Aufbau der

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Fabrik dauerte sehr lange, und als sie eines Tages endlich betriebs-bereit war, waren die Arbeiterinnen und Arbeiter längst woanders untergebracht.

Mendel Freiman hatte Glück. Noch bevor das hohe Gericht sich seiner annahm, ließ man ihn laufen. Das verdankte er dem polnischen General Anders, der von den Sowjets die Erlaubnis erhalten hatte, eine polnische Armee für den Kampf gegen Hit-lerdeutschland zusammenzustellen. Alle polnischen Staatsange-hörigen sollten sich im Rekrutierungsbüro melden, um sich regis-trieren zu lassen. Da man jeden verfügbaren Mann brauchte, griff man zurück auf Kranke, Minderjährige und auch Gefangene.

Eines frühen Morgens stand Mendel Freiman vor dem Büro der polnischen Streitkräfte in Moskau und wurde sofort als tauglich eingestuft, obwohl er noch wenige Monate zuvor einen Todes-kampf gegen den Typhus geführt hatte. Aber wie gesagt, auch Halbtote erhielten die Chance, auf dem Schlachtfeld als Märtyrer zu sterben. Man schickte seine Einheit zum Manöver in Richtung der Westfront, um Kampferfahrung zu sammeln. Aus ungeklär-ten Gründen gerieten die Adepten der Kriegskunst zwischen die Fronten. Zuerst wurden sie von der deutschen Wehrmacht unter Feuer genommen, dann von der anderen Seite von der Roten Ar-mee attackiert. Mendel Freiman nahm nur noch ein heulendes Pfeifen in der Luft wahr, dann wurde es dunkel. Als er wieder zu sich kam, erfasste er nur langsam seine missliche Lage. Neben ihm lagen die Leichen polnischer Soldaten. Verstreut im Umkreis von hundert Metern sah er Gewehre, Munition, Fahrzeugswracks und Kleidungsstücke liegen. Von den beiden anderen Armeen und auch der polnischen Einheit fehlte jede Spur.

Noch im Schockzustand begann er seine Lage logisch zu analy-sieren. Wenn ihn die Deutschen erwischen würden, hätte er keine Chance zu überleben. Sollten ihn die Russen finden, würden sie ihn dem KGB übergeben oder sofort standrechtlich erschießen, denn er könnte jetzt wirklich als fremder Spion gegen die Sowjet-macht arbeiten. Und wenn man beim KGB seine Akte durchsah, dann würde er niemals heil aus diesem Schlamassel herauskom-men. Daher war es am besten, seine Einheit – oder das, was von ihr übrig war – zu finden und sich ihr wieder anzuschließen. Nach

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dieser Analyse seiner Lage versuchte er aufzustehen, verspürte aber sofort einen stechenden Schmerz im linken Bein. Erst jetzt, als der Schock allmählich nachließ, merkte er, dass die Schmerzen unerträglich waren. Er hob ein vor einer Leiche liegendes Ge-wehr auf und benutzte es als eine Art Stütze. Langsam entfernte er sich vom Kampfplatz, als ihm einfiel, dass er mit seinem Aus-weis für die Deutschen wie auch für die Russen ein willkommener Todeskandidat war. Also ging er zurück zu den Gefallenen und durchsuchte sie. Bei einem der Toten fand er einen polnischen Personalausweis, ausgestellt in Warschau auf den Namen Jacek Kaminski. Ein bisschen Ähnlichkeit mit Kaminski bestand sogar, auch er hatte dunkles Haar und die Größe passte genau. Mendel bat den toten Kameraden um Verzeihung und erklärte, dass er damit eine Seele rette – und »wer einen Menschen rettet, rettet die ganze Welt«. Er sprach das Kaddisch an Kaminskis Leiche und deckte ihn mit herumliegenden Kleidungsstücken zu.

Ganz langsam ging er Richtung Osten, obwohl er nicht sicher war, ob er nicht vielleicht in die falsche Richtung marschierte und direkt in die Arme der Deutschen lief. Nach ein paar Kilometern erreichte er einen Wald. Hier fühlte er sich sicher, hier könnte ihm höchstens ein Wolf nach dem Leben trachten. Er untersuchte sein Bein und vermutete einen Knochenanbruch, was sich später als richtige Diagnose herausstellte. Aus Erde, Ästen und Gras baute er sich eine Schlafstelle unter drei Birken, und obwohl er starke Schmerzen hatte, schlief er sofort ein.

Er wurde wach, weil er am ganzen Körper Tritte spürte. Es war nicht mehr so dunkel, die Nacht begann zu weichen und der Mor-gen brach bereits an. Er drehte sich um und schaute seine Peiniger an. Sein Gesicht erhellte sich. Es waren sowjetische Soldaten, die ihn gefunden hatten. Man brachte ihn zum Kommandeur, der noch ein ganz junger Mann war. Mendel Freiman zeigte ihm die Papiere und der junge Kommandant las langsam, fast akribisch die Personaldaten dieses verdächtigen Menschen. »Hier steht, du bist Pole«, sagte er zu Freiman. »Wo und wann bist du geboren?«

»Am 15. März 1912 in Warschau, Genosse Kommandant«, ant-wortete er auf Russisch.

»Dein Name ist …?« »Kaminski, Genosse Kommandant, ich heiße Kaminski.«

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»Einen Vornamen hast du nicht?«, fragte der Russe ironisch. »Doch, Genosse Kommandant, doch natürlich …« Aber der

arme Freiman/Kaminski hatte leider seinen neuen Vornamen ver-gessen.

»Na, dann sag ihn uns endlich, es ist doch wohl nicht so schwer, sich an seinen Vornamen zu erinnern!«

Mendel Freiman wusste nur, dass sein neuer Vorname mit dem Buchstaben »J« begann. »Jakob, ich heiße Jakob Kaminski«, sagte er endlich, »ich komme aus Warschau und wurde am 15. März 1912 geboren.«

»Bist du Christ oder etwa Jude?«, wollte der junge Befehlshaber plötzlich wissen.

»Christ. Ich bin katholisch«, sagte Jakob Kaminski und bekreu-zigte sich.

»Na, davon bin ich nicht hundertprozentig überzeugt. Wenn du die Hose runterlassen würdest, könnten wir vielleicht eine Über-raschung erleben.« Alle lachten und spuckten auf den Boden. Die Lage wurde jetzt entspannter.

Mendel Freiman/Jakob Kaminski hatte wieder einmal den Kampf ums Überleben für sich entscheiden können. Die russischen Solda-ten nahmen ihn mit und lieferten ihn in einem Städtchen bei dem dortigen KGB-Vorsteher ab. Dieser, ein Genosse namens Ogur-zew, sperrte ihn in ein Kellerzimmer seines Amtsgebäudes. Die Front war unüberhörbar und Jakob Kaminski hatte den Eindruck, als näherte sie sich der Ortschaft immer mehr. Die Deutschen standen nur noch wenige Kilometer vor seinem unfreiwilligen Aufenthaltsort. Ogurzew beschloss, sofort mit der Evakuierung zu beginnen. Zuerst musste aber der einzige Arzt im Ort Mendels Verletzung diagnostizieren und die entsprechenden Heilmittel be-sorgen, was mit großen Schwierigkeiten verbunden war.

Mit einem Transporter sollten sie die Stadt Voronesch errei-chen. Ogurzew verzichtete auf Handschellen, denn der Gefangene schien ihm ein harmloser Pole zu sein, der seine Einheit verloren hatte. Normalerweise stand auf diese Art Verlust die Todesstrafe, aber dieser Kaminski war kein russischer Soldat und deswegen war es nicht sicher, ob er verurteilt würde. Allerdings taugte der Wagen nicht für eine längere und schnelle Fahrt, und nach kurzer Zeit mussten sie ihn aufgeben. Ein Lastwagenfahrer aus Kursk,

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der in diese Stadt fuhr, nahm die beiden dann mit. In Kursk sah Mendel einige Soldaten aus der polnischen »Trainingseinheit«, die in Zivilkleidung auf irgendetwas warteten. Wie sich später heraus-stellte, versuchte General Anders seine Armeeangehörigen durch den Kaukasus in den Nahen Osten zu schmuggeln, was ihm auch glänzend gelang.

Jakob Kaminski startete keinen Versuch, mit ihnen in Kontakt zu treten, er konzentrierte sich völlig auf seine neue Identität. In Kursk bestiegen sie einen kombinierten Passagier- und Güterzug nach Voronesch. Unterwegs wurden sie plötzlich von deutschen Fliegern beschossen, die ohne jegliche Vorwarnung am Himmel erschienen. Es gab Panik im Zug, der nach ein paar hundert Metern getroffen anhielt. Die Menschen sprangen hinaus aufs Feld und suchten Schutz in der Heide, die gerade zu blühen begann. Auf di-ese Reaktion der verängstigten Passagiere warteten die Deutschen nur. Unversehens erschienen am Himmel wiederholt deutsche Jäger und nahmen sich als Ziel die in der Heide versteckten Menschen vor. Von dort gab es kein Entkommen und die Nazis konnten eine sehr einseitige Todesorgie veranstalten. Während Ogurzew mit anderen Passagieren sein Heil im freien Feld suchte, versteckte sich Kaminski im Zug zwischen den Waggons, was ihm das Leben ret-tete. Ogurzew dagegen lag schwer verletzt in einer Blutlache.

Als die deutschen Flugzeuge abgezogen waren, wagte sich Ka-minski auf das Feld und fand auch seinen Begleiter, der inzwi-schen verstorben war. Er durchsuchte dessen Papiere und KGB-Ausweise und fand die Adresse seines Bruders, der Oberarzt im städtischen Krankenhaus in Rostow am Don war.

Mit Armeewagen wurden die am Leben gebliebenen Passagiere in die Stadt Voronesch gebracht. Hier suchte Jakob Kaminski ei-nen Arzt auf, der ihm den Verband wechselte und neue Medika-mente gab. Als Bezahlung diente der KGB-Ausweis, vor dem alle großen Respekt zeigten. Bereits nach zwei Tagen gab es den ersten Flugalarm, für Jakob Kaminski ein untrügliches Zeichen, dass die Deutschen schon bald in Voronesch einmarschieren würden. Er nahm also den Morgenzug nach Rostow am Don, der dann schließlich am späten Nachmittag die Stadt verließ. Doch Jakob war froh, dass er es überhaupt noch schaffte, Voronesch zu ver-lassen.