Zehn Jahre Bologna-Prozess

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    Zehn JahreBologna-Prozess

    Peter A. Henning

    PositionLiberal 125

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    Impressum:

    Herausgeber

    Liberales Institut derFriedrich-Naumann-Stiftung fr die FreiheitReinhardtstrae 1210117 Berlin

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    ZEHN JAHRE BOLOGNA-PROZESS

    Peter A. Henning

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    Inhalt

    1. Einleitung 5

    2. Anerkennung von Studienleistungen das ECTS 7

    3. Anerkennung von Studienleistungen Wer entscheidet? 10

    4. Erhhung der Mobilitt? 12

    5. Kam es zu einer Verschulung oder zu einem sinkenden Niveau? 14

    6. Waren die alten Diplomstudiengnge besser fr die Natur-und Ingenieurwissenschaften? 18

    7. Einheitlicher europischer Hochschulraum? 20

    8. Hat sich die Position der deutschen und europischenHochschulen verbessert? 23

    9. Versuch einer Bilanz 24

    ber den Autor 28

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    1. Einleitung

    Mit der sogenannten Bologna-Erklrung der europischen Bildungsminister

    vom 19. Juni 19991

    wurde ein Umbau der europischen Hochschullandschafteingeleitet, der unter dem Namen Bologna-Prozess seitdem durchgefhrtund dokumentiert wird. Fr Deutschland hatte dies die Konsequenz, dass anden Hochschulen nicht mehr Diplome erworben und Magisterarbeiten ge-schrieben werden knnen sondern dass jetzt die akademischen Grade desBachelor und des Master erworben werden mssen. Dass man sich dabeinicht gescheut hat, Studiengnge mit Bezeichnungen wie Bachelor Germa-nistik oder Master Philosophie einzurichten, dass also Universitten mit

    jahrhundertelanger Tradition pltzlich wie Motten auf das Licht einer neuenZeit zuflogen, ist im Nachhinein mehr als verblffend und nur durch extremhohe Erwartungen zu erklren.

    Der nachfolgende Text soll einen berblick und eine politische Wertung diesesProzesses fr Deutschland ermglichen, denn auch hier haben weitreichen-de Vernderungen inzwischen nahezu alle Studiengnge erfasst. Auch ganzeHochschulen haben sich innerhalb dieser Zeit so massiv verndert, wie langevorher nicht.

    Dass dieser Vernderungsprozess nach der ltesten und traditionsreichstenUniversitt Europas benannt wurde, hat seine Wurzeln in der sogenanntenMagna Charta Universitatum, einer relativ kurzen Erklrung, die am 18. Sep-tember 1988 anlsslich des 900-jhrigen Jubilums der Universitt Bolognadurch die Rektoren einer groen Zahl europischer Universitten unterzeichnetwurde.2Dieses Dokument wird als Grndungsdokument fr einen europischenHochschulraum angesehen; auf ihre Bedeutung fr die Internationalisierung

    der deutschen Hochschulen hat der Autor bereits in einer anderen Schrift hin-gewiesen.3Tatschlich ist aber in der Magna Charta Universitatum von einemUmbau nicht die Rede, vielmehr heit es wrtlich:

    Die Universitten insbesondere in Europa sehen im gegenseitigen Aus-tausch von Informationen und Forschungsergebnissen sowie in der Frderung

    1 Der Europische Hochschulraum. Gemeinsame Erklrung der Europischen Bildungsminister,19.06.1999, Bologna, http://www.bologna-berlin2003.de/pdf/bologna_deu.pdf.

    2 Magna Charta Universitatum, 18.09.1988 http://www.magnacharta.org/pdf/mc_pdf/mc_german.pdf.3 Henning, P.A.: I18N. zur Internationalisierung der Deutschen Hochschulen. Liberales Institut

    der Friedrich Naumann-Stiftung, Juni 2007.

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    gemeinsamer wissenschaftlicher Projekte das geeignete Instrument fr dieWeiterentwicklung des Wissens....

    Zugleich betrachten sie die internationale Angleichung von arbeitsrecht-

    lichen Regelungen, Titeln und Prfungen (unter Beibehaltung nationalerDiplome) sowie die Vergabe von Stipendien als wesentlich fr die Erfllungihrer Aufgaben unter den heutigen Bedingungen an.

    Die darin eindeutig formulierte Beibehaltung nationaler Diplome wurde aberbereits in der Bologna-Erklrung nicht mehr erwhnt, diese geht sehr viel wei-ter und erhebt den Umbau zum Programm, denn sie fordert die

    Einfhrung eines Systems, das sich im Wesentlichen auf zwei Hauptzyklensttzt: einen Zyklus bis zum ersten Abschluss (undergraduate) und einenZyklus nach dem ersten Abschluss (graduate). Regelvoraussetzung fr dieZulassung zum zweiten Zyklus ist der erfolgreiche Abschluss des erstenStudienzyklus, der mindestens drei Jahre dauert. Der nach dem ersten Zy-klus erworbene Abschluss attestiert eine fr den europischen Arbeitsmarktrelevante Qualifikationsebene. Der zweite Zyklus sollte, wie in vielen euro-pischen Lndern, mit dem Master und/oder der Promotion abschlieen.4

    Ungeachtet aller Kritik an den Anfngen dieses Programms, die auch der Autorschon ausfhrlich geuert hat5, wurde es begonnen und mehr oder weni-ger zu Ende gebracht. Nun ja, nicht ganz: Eine Neuordnung der Promotionwird weiterhin angestrebt und ist in Anbetracht der Plagiatsdiskussion auchsehr sinnvoll, und der Aspekt des lebenslangen Lernens ist ebenfalls noch nichtgengend aufgearbeitet worden. Man kann aber das derzeit erreichte Niveaudes Umbaus als einen beurteilungsfhigen Zwischenstand ansehen.

    Zu bemerken ist allerdings noch, dass der Titel des gesamten Textes leicht indie Irre fhren kann. Whrend der Autor seit 1999 Studiendekan eines Master-studienganges ist und somit 14 Jahre Bologna-Erfahrungen hat, haben vieleUniversitten erst seit wenigen Jahren den Wechsel vollzogen. Das gesamteSystem des Bologna-Prozesses muss also vor dem Hintergrund beurteilt wer-den, dass es an manchen Stellen noch nicht eingeschwungen ist, also lokalgewisse Verwerfungen auftreten knnen.

    4 Der Europische Hochschulraum. Gemeinsame Erklrung der Europischen Bildungsminister,19.06.1999, Bologna, http://www.bologna-berlin2003.de/pdf/bologna_deu.pdf.5 Henning, P.A.: I18N. zur Internationalisierung der Deutschen Hochschulen. Liberales Institut

    der Friedrich Naumann-Stiftung, Juni 2007.

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    Im Folgenden wollen wir uns also nicht mit der fehlenden akademischen, insti-tutionellen und demokratischen Legitimation des Bologna-Prozesses, sondernmit den folgenden Fragestellungen befassen:

    Ist die Anerkennung von im Ausland erbrachten Studienleistungen einfacher

    geworden?

    Ist die Mobilitt von Bachelor-Studierenden tatschlich gestiegen?

    Kam es zu einer Verschulung oder zu einem sinkenden Niveau?

    Waren die alten Diplomstudiengnge, insbes. im naturwissenschaftlichenBereich, gefragter bzw. anerkannter?

    Wurde ein einheitlicher europischer Hochschulraum erreicht?

    Hat sich die Position der deutschen und europischen Hochschulen iminternationalen Vergleich verbessert?

    2. Anerkennung von Studienleistungen das ECTS

    Auf der untersten Ebene, dem studentischen Workload, hat man im Rahmendes Bologna-Prozesses eine europaweite Regelung geschaffen. Das Europe-an Credit Transfer and Accumulation System (ECTS)6soll es ermglichen, denstudentischen Arbeitsaufwand fr ein Studium einzuschtzen. Ein ECTS-Punkt(ein Credit) soll 25-30 Arbeitsstunden der Studierenden entsprechen. Ent-

    sprechend ist ein wesentlicher Kern der Akkreditierung von Studiengngen dieberprfung der Modularisierung, also der Einteilung in kombinierbare, separatabgeprfte Inhaltsblcke und die Ausweisung ihrer ECTS-Werte. Im Idealfallsollte ein Studierender also in der Lage sein, im Laufe der Zeit ECTS-Punkteverschiedener Institutionen aufzusammeln und somit zu einem akkumulativenAbschluss zu gelangen. Dementsprechend wird ECTS von der EU-Kommissionals ein Instrument des lebenslangen Lernens gesehen.

    6 Eine Erluterung des ECTS-Systems findet man auf den Webseiten der EU-Kommission,http://ec.europa.eu/education/lifelong-learning-policy/ects_de.htm.

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    Aber bereits auf dieser Ebene luft die bersetzung der Regeln in tatschlichesHandeln weit auseinander: An manchen Hochschulen erhalten Studierendefr den Besuch einer zweistndigen Vorlesung ber ein ganzes Semester (alsoetwa 30 Prsenzstunden) zwei ECTS-Punkte es werden ihnen also weitere 30

    Stunden an Eigenarbeit, Nachbereitung und Klausurvorbereitung angerechnet.An anderen Hochschulen sind es hingegen fnf ECTS-Punkte, entsprechend120 zustzlichen Arbeitsstunden.

    Die Absurditt dieser Spreizung wird deutlich, wenn man fr diese Veranstal-tungen den tatschlichen studentischen Workloadabfragt selten korrelierter mit den ECTS-Punkten. Ebenso findet man an manchen Hochschulen diesinnlose Festlegung von halben oder gar Zehntel ECTS-Punkten nur, um inder Summe eines Semesters auf 30 Punkte zu kommen.

    Nun knnte man einwenden, dass dieses System ja nur den Input normiert und dass bei gleichem Inputselbstverstndlich unterschiedliche Studierendeganz unterschiedlichen Outputgenerieren: Es braucht eben nicht jeder dengleichen Arbeitsaufwand, um einen Sachverhalt zu durchdringen und zu erfas-sen. Leider hat es sich jedoch eingebrgert, diese Input-Messung als Ma frden Output zu verwenden. So etwa gilt nicht der tatschliche Kenntnisstand,sondern die Anzahl der absolvierten ECTS-Punkte als Zulassungskriterium fr

    Masterstudiengnge. Die Widersprchlichkeit dieses Systems spiegelt sich dar-in, dass die Hochschulrektorenkonferenz innerhalb eines einzigen Dokumentsambivalent argumentiert:

    Das ECTS ... reduziert das Studium nicht auf das Sammeln von Kreditpunk-ten Kriterium zum Bestehen von Studienleistungen und -abschlssen sindprimr die erreichten Lernergebnisse...

    ...Kreditpunkte liefern Informationen zum relativen Gewicht einer Studien-leistung bzw. eines -abschlusses, die Hinweise fr die Gleichwertigkeits-prfung geben.7

    Gleichwertig ist demnach, was gleich lange gedauert hat und nicht, wasden gleichen Output erzeugt hat. Es sollte hier klar festgestellt werden, dasseine solche Fixierung auf den Input einem Menschenbild widerspricht, in demalle Studierenden unterschiedliche Individuen mit hchst unterschiedlichenFhigkeiten sind.

    7 ECTS im Kontext: Ziele, Erfahrungen und Anwendungsfelder, Empfehlung des 104. Senatsder Hochschulrektorenkonferenz vom 12.06.2007.

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    Die Duale Hochschule Baden-Wrttemberg (DHBW) hat es sogar geschafft, ihresechssemestrigen Bachelorstudiengnge mit 210 ECTS-Punkten akkreditiert zubekommen. Das bedeutet: Nicht etwa besteht die Gefahr, dass durch die zustz-liche Ttigkeit der dual Studierenden in ihren Ausbildungsfirmen etwas an den

    akademischen Inhalten verlorengeht. Sondern die Aussage dieser Akkreditierungist vielmehr, dass duale Studierende durch die Ttigkeit in den Ausbildungs-firmen mehr akademische Inhalte aufnehmen, nmlich in sechs Semestern soviel wie andere Studierende in sieben Semestern. Eine Bewertung dieser Aus-sage wird dem Leser berlassen ihre Konsequenz ist, dass die Absolventender DHBW ein halbes Jahr weniger fr ihr Studium aufwenden mssen.

    Die EU-Kommission vergibt ferner auf Antrag das sogenannte ECTS-Labelan Hochschulen. Angeblich soll dies ein Qualittsausweis (Honorary Distinc-tion) sein tatschlich verbirgt sich dahinter nur, dass alle Veranstaltungenmit ECTS-Punkten bepreist sind, dass Modulbeschreibungen und DiplomaSupplementsder Hochschule in einer englischsprachigen bersetzung vorlie-gen und Studienprogramme in Learning Agreementsmit Gaststudenten genaubeschrieben werden.8

    Die Bewerbungsrunde 2013 fr das ECTS-Label ist derzeit noch nicht abge-schlossen. In der vorigen Bewerbungsrunde 2009 war die Hochschule Karlsruhe

    Technik und Wirtschaft die einzige deutsche Institution, die dieses Labelerhalten hat; allerdings ist kein Vorteil bekannt, den die Hochschule von derHonorierung der brokratischen Erfllung gehabt htte, abgesehen von ei-ner Erwhnung auf der entsprechenden Website zusammen mit den wenigenanderen Hochschulen aus Europa, die sich um dieses Label bemht haben.Auffallend ist, dass die grten, bekanntesten und forschungsstrksten Hoch-schulen Europas in dieser Liste nicht zu finden sind mit ganz wenigen Aus-nahmen, z.B. (natrlich) der Universitt Bologna.

    8 ECTS im Kontext: Ziele, Erfahrungen und Anwendungsfelder, Empfehlung des 104. Senatsder Hochschulrektorenkonferenz vom 12.06.2007.

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    3. Anerkennung von Studienleistungen Wer entscheidet?

    Eine der positiven Auswirkungen des Bologna-Prozesses wird in ihren Auswir-kungen auf die Hochschulen weithin unterschtzt. Das bereinkommen berdie Anerkennung von Qualifikationen im Hochschulbereich in der europischenRegion (auch als Lissabon-Konvention bekannt), ist ein 1997 geschlossener

    Vertrag des Europischen Ministerrates und der UNESCO ber die Anerken-nung von akademischen Qualifikationen aus allen Lndern, die diesen Vertragratifiziert haben.9Im Kern umfasst diese Lissabon-Konvention10

    1. die wechselseitige Anerkennung von Hochschulzugangsberechtigungen.Allerdings schliet dies Aufnahmeprfungen der jeweiligen aufnehmendenInstitution nicht aus.

    2. eine Umkehr der Beweislast bei der Anerkennung von Studienleistungen.Die aufnehmende Institution muss danach einem Antragsteller nachweisen,dass seine irgendwoerbrachten Leistungen wesentliche Unterschiede zuden eigenen Programmen aufweisen, wenn sie diese nicht anerkennen will.

    Wird diese Anerkennung verweigert, kann der Antragsteller ohne weiterenSchritt Rechtsmittel einlegen.

    Diese Regelung bezieht sich ausdrcklich nicht nur auf Abschlsse, sondern aufjeden bewerteten Studienabschnitt, der einen erheblichen Kenntniszuwachserbringt. Allerdings darf die aufnehmende Institution eine eigene Bewertungder fraglichen Leistung vornehmen und es ist unklar, ob diese Bewertungauch z.B. nicht ausreichend lauten darf.

    Diese Regelungen haben nach ihrer Ratifizierung durch den Bundestag seitdem 1. Oktober 2007 fr Deutschland Gesetzescharakter. Sie sind hinreichenddeutlich, um fr Studierende eine dramatische Vereinfachung bei der Aner-kennung durchzusetzen aber andererseits so schwammig, dass bei hinrei-chendem Aufwand der aufnehmenden Institution jede Aufnahme torpediertwerden kann.

    9 ECTS-Label http://eacea.ec.europa.eu/llp/support_measures_and_network/ects_dsl_

    en.php.10 Lissabon-Konvention vom 11.04.1997, download unter http://www.hrk.de/fileadmin/redak-tion/hrk/02-Dokumente/02-07-Internationales/02-07-05-Mobilitaet-und-Anerkennung/lissabonkonvention.pdf.

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    Eine faktische Folge der Lissabon-Konvention ist, dass inzwischen gegebenen-falls nach einer Aufnahmeprfung auch die sogenannte Fachhochschulreifezum Studium an allen Hochschulen Deutschlands berechtigt. Das Argument,dass nur eine Mindeststundenzahl in bestimmten Fchern (z.B. Sprachen) eine

    Allgemeine Hochschulreife begrnde, ist damit nicht mehr zu halten und dieFachhochschulreife als immer schon zweifelhafte halbgare Qualifikationmittelfristig vollkommen obsolet geworden. Es wre deshalb an der Zeit, dieLissabon-Konvention zur Grundlage einer Neubewertung deutscher Hochschul-zugangsberechtigungen zu machen.

    Bei der tatschlichen Anerkennung auslndischer Studienleistungen sind je-doch immer noch viele individuelle Hrden zu berwinden. Vielfach sind dieStudierenden ber ihre Rechte nicht ausreichend informiert. Auch Hochschul-lehrer verweigern sich dieser neuen Offenheit manchmal noch eine typischeBemerkung im Kollegenkreis lautet Wer kann schon sagen, ob das wirklichgelernt worden ist, was man uns hier vorlegt? Die Lissabon-Konvention istalso zunchst einmal eine formale Erleichterung, kein Rezept fr die Moder-nisierung von Denkweisen.

    Beim Aspekt der Anerkennung von Studienabschlssen wird uns dies zwarnoch beschftigen, generell aber hat sich die Lissabon-Konvention dennoch

    positiv ausgewirkt. Es gehrt inzwischen auch zum Kanon eines jeden Akkre-ditierungsverfahrens, nach der entsprechenden Regelung in den Statuten derHochschule zu fragen.

    Aus politischer Sicht sei noch angemerkt, dass es offenbar bei Bedarf jederzeitmglich ist, fr solche Vertrge wie die Lissabon-Konvention das Grundgesetzzu umgehen, das eine klare Hoheit der Bundeslnder fr Bildungsfragen fest-schreibt. Denn die Ratifizierung des Vertrages wurde durch den Bundestag voll-

    zogen, der damit ganz massiv in diese sonst wie eine heilige Kuh beschworeneBildungshoheit eingegriffen hat. Dem entspricht, dass fr die berwachungder Einhaltung dieses Vertrages die Kultusministerkonferenz zustndig ist eine durch kein Gesetz legitimierte Institution, die schon in vielen Fllen eherundurchsichtige Entscheidungen auf den Weg gebracht hat.

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    4. Erhhung der Mobilitt?

    Hinter dem Begriff der studentischen Mobilitt verbergen sich viele unter-

    schiedliche Konzepte. So konzentriert sich beispielsweise die Kultusminister-konferenz in ihren Mobilittsuntersuchungen auf die Frage, ob Studienanfngerihre Hochschulzugangsberechtigung in einem anderen Bundesland erworbenhaben11 dies ist fr uns im Folgenden allerdings weniger interessant.

    Im Rahmen des Bologna-Prozesses wird als vertikale Mobilitt meist der Trendbezeichnet, beim bertritt von einer Studienstufe zur nchsten die Hochschulezu wechseln z.B. nach dem Bachelor-Abschluss. Unter horizontaler Mobilittverstehen wir die Mobilitt innerhalb einer Studienstufe z.B. wenn nur ein-zelne Studiensemester an einer anderen Hochschule absolviert werden.

    Die vertikale Mobilitt deutscher Studierender ist nach bereinstimmenderAussage aller fr diese Studie befragten Hochschullehrer deutlich gestiegen:Deutlich mehr Studierende als vor dem Bologna-Prozess beenden ihre Aus-bildung mit dem Master an einer anderen Hochschule, als derjenigen ihrerErsteinschreibung. 24 Prozent der Bachelor-Absolventen von Universittenund 12 Prozent der Bachelor-Absolventen von Fachhochschulen nehmen nach

    ihrem Studium einen Auslandsaufenthalt wahr, hierbei sind allerdings auchberufliche Ttigkeiten im Ausland bercksichtigt.12

    Auch im Ausland werden hnliche Erfahrungen berichtet, hierbei wird allerdingsin der Regel nicht der deutsche Wert fr die Mobilitt erreicht, diese bildendie grte Gruppe der international mobilen Studierenden.13

    Die horizontale Mobilitt deutscher Studierender ist hingegen nicht merklich

    gestiegen. Das ist insofern bedenklich, als bei der Akkreditierung von Studien-gngen heute in der Regel ein Mobilittsfenster eingefordert wird, in welchemes zumindest auf dem Papier besonders leicht sein soll, im Ausland zu stu-dieren. Ferner sehen viele moderne Studiengnge explizite Auslandssemestervor und erzwingen diese Mobilitt sogar. Die meisten Hochschullehrer fhrenden eher geringen Erfolg solcher Manahmen darauf zurck, dass die strkere

    11 Die Mobilitt der Studienanfnger und Studierenden in Deutschland von 1980 bis 2009,Statistische Verffentlichungen der Kultusministerkonferenz, Dokumentation Nr. 191 Mrz

    2011.12 Vierter Bericht ber die Umsetzung des Bologna-Prozesses in Deutschland. Drucksache17/8640 des deutschen Bundestages der 17. Wahlperiode vom 02.02.2012.

    13 Education at a Glance 2010, OECD September 2010, http://www.oecd.org/edu/eag2010.

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    zeitliche Strukturierung bei ganz unterschiedlichen Inhalten an den verschie-denen Hochschulen Studierende eher dazu bringt, zugunsten eines strafferenStudiums mit klarer Organisation auf den Auslandsaufenthalt zu verzichten.

    Nach Erhebungen des DAAD kommt die berwiegende Mehrheit derauslandsmobilen Studierenden mit guten Erfahrungen zurck. Kritik gibtes z. T. im Hinblick auf den fachlichen Ertrag oder bezglich bestimmterorganisatorischer Aspekte (z. B. Erwerb von Leistungsnachweisen). Zudemweist bis zu ein Drittel der Studierenden auf finanzielle Schwierigkeiten hin.

    Verbreitet bleibt die Sorge, dass mit einem Auslandsaufenthalt ein Zeitverlustim Studium verbunden ist.14

    Ferner lsst sich keine signifikante und nicht durch andere Faktoren zu erkl-rende Erhhung der Anzahl europischer Bachelor-Absolventen finden, die zumMaster nach Deutschland kommen. Der Anteil auslndischer Studierender andeutschen Hochschulen ist zwar leicht rcklufig. Doch ist dies ein Scheineffekt,hervorgerufen durch den generellen Anstieg der Studierendenzahlen. Vielmehrstagnieren die absoluten Zahlen auslndischer Studierender in Deutschland seitJahren, steigen erst seit 2010 wieder etwas an (vergl. Tabelle 1). Derzeit lassendie Daten deshalb nicht den Schluss zu, dass sich die Mobilitt auslndischerStudierender nach Deutschland durch die Bologna-Reform erhht hat, wohl

    aber eventuell durch erst seit kurzem wirkende Effekte (vergl. den AbschnittEinheitlicher europischer Hochschulraum?)

    Tabelle 1:Anteil und Anzahl auslndischer Studierender in Deutschland

    Akademisches Jahr(WS)

    2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011

    Anteil ausl.Studierender

    11,7% 12,2% 12,5% 12,5% 12,4% 12,0% 11,8% 11,5% 11,4% 11,1%

    GesamtzahlStudierender

    1,939 2,019 1,963 1,986 1,979 1,942 2,026 2,121 2,218 2,381

    Anzahl ausl.Studierender

    0,227 0,246 0,245 0,245 0,245 0,233 0,239 0,243 0,253 0,264

    Quelle: Statistisches Bundesamt, ffentlich verfgbar unter http://de.statista.com.

    14 Vierter Bericht ber die Umsetzung des Bologna-Prozesses in Deutschland. Drucksache17/8640 des deutschen Bundestages der 17. Wahlperiode vom 02.02.2012.

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    Zu bercksichtigen ist ferner, dass sich im vergangenen Jahrzehnt erheblicheglobale Effekte ergeben haben, welche die internationale Studierendenmobi-litt beeinflussen: Der Aufstieg des internationalen Terrorismus mit der nach-folgenden zunehmenden Erschwerung von US-Aufenthalten, die weltweite Fi-

    nanzkrise ebenso wie die zunehmende Wirtschaftskraft von Schwellenlndernund die Zunahme von Frderprogrammen lassen Auswirkungen vermuten.

    Zusammenfassend kann daher eigentlich nur festgestellt werden, dass deutscheAbsolventen verstrkt Auslandserfahrungen machen (vertikale Mobilitt). Einkausaler Zusammenhang mit dem Bologna-Prozess kann vorsichtig angenom-men werden offenbar vermitteln die reformierten deutschen Hochschuleninzwischen Fhigkeiten und Kenntnisse, die diese Auslandserfahrungen erleich-tern. Es scheint dem Autor jedoch nicht mglich, diesen kausalen Zusammen-hang eindimensional auf den Bologna-Prozess zurckzufhren und von denanderen globalen Effekten zu trennen.

    5. Kam es zu einer Verschulung oderzu einem sinkenden Niveau?

    Dies ist tatschlich eine im Rahmen des Bologna-Prozesses hufiger gehrteBehauptung, die insbesondere von Studierenden geuert wird, wenn an ihrenInstitutionen die reformierte Studienstruktur neu eingefhrt wird. Allerdings istdabei zu bercksichtigen, dass auch Institutionen etwa fnf Jahre bentigen,bis sie die ntigen Lehren aus der Einfhrung gezogen haben. Diese Behaup-tung muss also sehr kritisch hinterfragt werden.

    Beginnen wir dafr bei den Absolventen. Denn auch wenn viele unter uns Hoch-schullehrern gefhlsmig berzeugt sind, dass das Niveau der Absolventenheute geringer ist als noch vor zehn Jahren, ist dies keineswegs nachgewiesen.Tatschlich gibt es einen Effekt, der heute an die Absolventen bestimmter F-cher vorwiegend in den Natur- und Ingenieurwissenschaften ganz andereAnforderungen stellt als noch vor zehn Jahren.

    Dabei handelt es sich um das Wachstum der weltweiten Informations- und

    Wissensmenge. 2003 ergab die letzte verlssliche Studie, die wenigstens unge-fhr das wissenschaftliche Kriterium der Reproduzierbarkeit erfllte, ein welt-weites Datenwachstum von ca. 5.7 ExaByte = 5.7 x 1018Byte. Damit konnten

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    wir noch 2003 in voller berzeugung sagen, dass man in zwei Jahren so vieleInformationen neu geschaffen habe, wie in den ersten 5.000 Jahren unsererZivilisation.15

    2012 aber teilte Google mit, dass man diese Datenmenge (Originaldaten, wohl-gemerkt) inzwischen innerhalb weniger Tage neu schaffe. Um es plakativ zusagen: 2013 hat auch nur noch Google die Mglichkeiten, dies abzuschtzen und inwieweit dies noch das Kriterium der Reproduzierbarkeit erfllt, bleibtfraglich. Nicht nur ist es deshalb heute faktisch nicht mehr mglich, auch nurin einem eng begrenzten Wissensgebiet vieler Fcher den berblick zu behal-ten. Sondern der Anteil am weltweiten Fachwissen, den eine Person beim Ab-schluss ihrer Ausbildung hat, wird immer geringer. Es ist nicht berraschend,dass dieser Effekt sich immer weiter beschleunigt.16

    Fr einen Absolventen wird es deshalb immer wichtiger, sich mit anderen Wis-sensgebieten zu vernetzen und einen Anteil an Prozesswissen aufzunehmen klar, dass dann auch in einem Studium weniger Zeit bleibt, in die fachlicheTiefe zu graben. Demnach sind unsere Absolventen wahrscheinlich nichtschlechter, als noch vor zehn Jahren nur ist ihr Wissen heute anders organi-siert, breiter und dafr weniger tief.

    Wenn man im zweiten Schritt die Studierenden betrachtet, wirkt sich der Bo-logna-Prozess allerdings massiv aus: Die Wahlfreiheit der Studierenden bei derGestaltung ihres Studiums ist insbesondere an den Universitten weitgehendverschwunden. Universitre Studiengnge mit den Abschlssen Bachelor undMaster sind sehr viel strker gegliedert und organisiert als dies vorher bei denDiplomstudiengngen der Fall war. Diese eher strikte Organisation war an denFachhochschulen schon immer gegeben. Nach den dort seit Jahrzehnten ge-machten Erfahrungen ist sie auch kein Nachteil, sondern eher von Vorteil fr

    orientierungsschwache Studierende. An den Fachhochschulen herrscht deshalb notwendigerweise, wegen der um einen Faktor 5-10 geringeren Grundfi-nanzierung eine sehr viel grere Effizienz des Lehrens und Lernens, die derMehrheit der Studierenden durchaus angemessen ist.

    Gerechterweise muss allerdings hinzugefgt werden, dass fr eine Minderheitder Studierenden, die zu hchsten Leistungen fhig sind, diese strkere Struk-turierung durch Modularisierung und Studientaktung katastrophal ist. Spit-

    15 Lyman, P., Varian, H.: How much Information? http://www.sims.berkeley.edu/research/projects/how-much-info-2003/.16 Henning, P.A.: Die Auswirkungen von Dezentralisiertem Wissen auf die Bildung. Position

    Liberal Nr. 14, Friedrich Naumann Stiftung, 2006.

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    zenleistungen in Wissenschaft und Forschung sind nur in einer Atmosphre dergeistigen Freiheit mglich, die von brokratischen Fragen wie ECTS-Punktenund Modulbeschreibungen freigehalten wird. Die Bologna-Reformen wirkensich also derzeit im Sinne einer forschungsorientierten Lehre an den Universi-

    tten ganz klar nachteilig aus.

    Jedoch: Forschung, sogar Spitzenforschung, gibt es schon seit Jahren und starkzunehmend auch an Fachhochschulen und dort sind Modelle gefunden wor-den, um diese freiheitliche Atmosphre auch unter dem Einfluss des Bologna-Prozesses herzustellen. Es ist nicht Aufgabe dieser Untersuchung, diese Mo-delle vorzustellen oder zu propagieren. Lediglich eine ihrer Gemeinsamkeitenmuss hervorgehoben und ein Schluss daraus gezogen werden: Die persnlicheBetreuung der leistungsfhigsten Studierenden in kleinen Gruppen durch ihreProfessoren. Es ist deshalb klar festzustellen:

    Die im Laufe des Bologna-Prozesses entstandene Verschulung der Studien-gnge ist fr die Mehrheit der Studierenden keineswegs ein Nachteil.

    Nachteile aus dieser Verschulung entstehen nur dann, wenn Professoren dieakademische Lehre nicht als ihre ureigene Aufgabe betrachten, sondern sieals eher lstige Pflicht von sich schieben.

    Man knnte natrlich einwenden, dass die Konzentration der persnlichenBetreuung auf wenige Studierende eine Zweiklassengesellschaft im Studiumhervorruft. Das ist vollkommen richtig, aber nicht per se schlecht. Schlielichgilt diese Zweiteilung auch sptestens nach dem Studienabschluss, wenn einekleine Zahl von Studierenden sich weiter qualifizieren mchte, das Gros aberdie Hochschule verlsst. Darber hinaus sei darauf hingewiesen, dass das Mo-dell der kleinen akademischen Gruppen genau das Erfolgsmodell der echten

    Eliteuniversitten ist.Im dritten Aspekt soll ein Blick auf die Studienanfnger geworfen werden.Man sollte meinen, dass der Bologna-Prozess sich auf diese Gruppe ja deshalbgar nicht ausgewirkt haben knne, weil er an den Hochschulen stattfand undstattfindet. Tatschlich aber findet dieser Prozess nicht im leeren Raum statt,sondern in einem gesellschaftlichen Umfeld muss sich deshalb auch daranmessen lassen, wie er mit diesem interagiert.

    Unzweifelhaft hat sich in Deutschland die Verkrzung der Schulausbildung von13 auf 12 Jahre in den alten Bundeslndern im Verein mit der Unfhigkeit derKultusministerien, die Lehrplne substanziell zu verbessern, negativ auf die

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    Fhigkeiten der Schulabgnger ausgewirkt. Dies lsst sich insbesondere in denMINT-Fchern belegen: Mathematik und Naturwissenschaften wurden im Zugeder Schulreformen der letzten zehn Jahre faktisch demontiert.

    Wre dies eine Rede, gbe es an dieser Stelle Zwischenrufe. Das stimme nicht,man habe je nach Bundesland - viele neue Fcher wie z.B. Naturphno-mene oder Naturwissenschaft und Technik eingefhrt, die PISA-Ergebnisseseien besser geworden etc. Tatsache ist aber, dass Mathematik nach wie vorder Hauptgrund fr den Abbruch eines MINT-Studiums ist und dass mathe-matische Brckenkurse beim Start eines Hochschulstudiums so stark nachge-fragt sind wie noch nie. Zwar kommen alle relevanten Inhaltsstichworte in dengymnasialen Lehrplnen vor aber sie werden typischerwese genau so gelehrt:als einzelne Stichworte. Es fehlt in der Schule vielfach an der Vermittlung vongrundlegendem Zusammenhangwissen, die tatschlich vermittelten Wissens-orte werden in der Schule weniger denn je zu einer Wissenslandkarte, zueinem Gesamtbild des heutigen Weltwissens verknpft.

    Gleichzeitig fehlt den neuen Studienanfngern ein Jahr der persnlichenEntwicklung. Viele sind bereits bei der Wahl des Studienfaches berfordert,reagieren darauf mit einer einjhrigen Auszeit vor dem Beginn eines Studiumsoder sind auf die elterliche Begleitung bei rechtsverbindlichen Entscheidungen

    angewiesen. Auch wenn es naheliegt, sollen diese Entwicklungen hier nichtim Kontext der Schulen diskutiert werden. Vielmehr interessieren uns die Aus-wirkungen auf die Hochschulen denn es ist klar, dass diese Vernderung denHochschulen zustzliche Aufgaben aufbrdet.

    Zunchst einmal muss positiv bemerkt werden, dass die bereits erwhnte str-kere Strukturierung der Studiengnge im Bologna-Prozess den persnlichenund fachlichen Vernderungen bei den Studienanfngern angemessen ist und

    ihnen hilft. Das ist kein ungeplanter Nebeneffekt denn die Auswirkungen derGlobalisierung und des Anwachsens der Wissensmenge sind sowohl fr die auf-tretenden Defizite in der Schulausbildung urschlich verantwortlich, als auchfr die in der Bologna-Erklrung angestrebte neue Rolle der Hochschulen.

    Allerdings sind die zustzlichen Aufgaben der Hochschulen vielfltig: Nebender bereits erwhnten Einrichtung von Brckenkursen muss die studienorga-nisatorische Beratung intensiviert werden. Modularisierung und Studien-taktung sind nicht dadurch zu erledigen, dass man Broschren druckt und

    seine Vorlesungen umbenennt, sonders erfordern erhebliche organisatorischeund personelle Aufwnde. Es mutet geradezu pervers an, dass diese erhhtenAufwnde nicht in die Hnde von hauptamtlichen Krften gelegt worden sind,

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    sondern fast berall als Bestandteil der akademischen Selbstverwaltungvon Professorinnen und Professoren miterledigt wurden. Der Aufwand fr dasSchreiben eines Akkreditierungantrages betrgt je nach Studiengang mehrerePersonenmonate, die entsprechend aus Forschung und Lehre herausgeschnit-

    ten wurden.

    6. Waren die alten Diplomstudiengnge besser frdie Natur- und Ingenieurwissenschaften?

    In Deutschland war der Magister-Abschluss ber lange Zeit der Regelabschlussdes Studiums nach etwa sechs Jahren und wurde als Titelabkrzung M. vordem Namen gefhrt. Ein Baccalaureus (von baccalaris = Knappe) stellte nureine Art halbgebildeten Menschen dar und genoss nur wenig Ansehen. DerAutor hat bereits ausgefhrt und belegt:

    Es traf und trifft demnach nicht zu, dass der Bachelor-Abschluss interna-tional als Regelabschluss anerkannt ist und fr alle Fcher als berufsquali-

    fizierend betrachtet wird.17

    Das deutsche Diplom wurde zuerst 1899 durch einen Erlass Kaiser WilhelmsII. eingefhrt und stellte damit die Absolventen der Technischen Hochschulendenjenigen der traditionellen Universitten gleich:

    ...will Ich den Technischen Hochschulen in Anerkennung der wissen-schaftlichen Bedeutung, welche sie in den letzten Jahrzehnten neben der

    Erfllung ihrer praktischen Aufgaben erlangt haben, das Recht einrumen:1, Auf Grund der Diplom-Prfung den Grad eines Diplom-Ingenieurs ... zuertheilen, ...18

    Es ist festzustellen, dass deutsche Ingenieurleistung weltweit einen ausge-zeichneten Ruf geniet, dass Diplom-Ingenieure dazu den herausragendenAnteil beigetragen haben und somit dieser Diplom-Abschluss ein wesentlichesAlleinstellungsmerkmal der deutschen Hochschulen war. Dabei ist aber die

    17 Henning, P.A.: I18N. zur Internationalisierung der Deutschen Hochschulen. Liberales Institutder Friedrich Naumann-Stiftung, Juni 2007.

    18 Erlass Wilhelm II. gegeben im Neuen Palast am 11.10.1899.

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    Frage zu stellen, ob dieser Ruf wirklich dem Titel geschuldet ist oder vielmehrandere Grnde hat.

    Nicht zu belegen ist, dass das Diplom fr die Bewerbung an auslndischen

    Hochschulen oder bei auslndischen Unternehmen von Nachteil war. Zwar wardamit mglicherweise ein gewisser Argumentationsbedarf verbunden, dennder Begriff des Diploms ist im angelschsischen Bildungssystem vollkommenbedeutungslos. Doch erstens hat sich dies nach erfolgreichem Beleg derLeistungen regelmig zum Vorteil der betreffenden Personen ausgewirkt.Zweitens kamen die Nicht-Anerkennungen in der Regel eher aus Hochschulenund Unternehmen, die nicht zur ersten Garde gehren.

    Unzweifelhaft ist ebenfalls, dass auch der beste Bachelorstudiengang in dreioder dreieinhalb Jahren Studium die Qualitt eines Diplom-Ingenieurs nichtannhernd liefern kann. Es ist deshalb nachvollziehbar und vollstndig gerecht-fertigt, dass auch viele Universitten Deutschlands den Master als Regelab-schluss fr technische und naturwissenschaftliche Fcher anstreben.

    International ist dies ebenfalls im Trend: Der Vorstand der grten Berufs-organisation fr Ingenieurberufe in den USA, der American Society for CivilEngineers (ASCE), verffentlichte im Oktober 1998 ein Policy Statement, in

    welchem fr Ingenieure der Masterabschluss als Regel gefordert wurde. DieseForderung wurde seitdem wieder zurckgenommen und 2004 ersetzt durcheinen Wissenskanon, den Body of Knowledge(BOK), dessen Beherrschung als

    Voraussetzung fr eine Professional Engineering Licensegilt.19Derzeit gibt es inverschiedenen US-Bundesstaaten Bestrebungen, dies gesetzlich festzuschrei-ben. Mit anderen Worten: In den USA gibt es 2013 erhebliche Fortschritte da-bei, eine Art Diplom als Abschluss fr Ingenieure einzufhren.

    Offensichtlich sind diese Entwicklungen aber an Inhalten orientiert, am Outputalso, nicht jedoch am Titel selbst und die Frage stellt sich damit, warum nichtvielmehr die Masterstudiengnge in den USA so reformiert werden, dass siedas berufsrelevante Wissen vermitteln. Hierzu ist natrlich darauf zu verwei-sen, dass ein mit groer normativer bildungspolitischer Macht ausgestattetesGremium wie die EU-Kommission in den USA nicht existiert.

    Die Titelfrage, ob die alten Diplomabschlsse besser waren, kann jedenfalls miteinem eindeutigen Nein beantwortet werden: Der Master-Abschluss, nicht je-

    doch der Bachelor-Abschluss kann diese vollkommen ersetzen. Zusammen mit

    19 Body of Knowledge, ASCE, http://www.asce.org/CE-Body-of-Knowledge/.

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    der Erhhung der vertikalen Mobilitt hat sich der Bologna-Prozess also auchfr die Natur- und Ingenieurwissenschaften positiv ausgewirkt.

    Zum 111. Geburtstag des Diplom-Ingenieurs im Jahre 2010 verffentlichte zwar

    die TU9, die Vereinigung der fhrenden technischen Universitten Deutsch-lands, ihre Forderung nach dem Erhalt dieses Titels. Er wird inzwischen vonden TU9 und anderen Universitten zustzlich zum Master vergeben und imsogenannten Diploma Supplementaufgefhrt.20Diese Forderungen kann man

    jedoch getrost als Marketingaktivitt gelten lassen.

    7. Einheitlicher europischer Hochschulraum?

    Dieser Begriff war schon zu Beginn des Bologna-Prozesses nicht sauber de-finiert, dementsprechend verbirgt sich dahinter eine Vielfalt von mehr oderweniger lnderbergreifend definierten Regeln. Auf der Ebene des Workloadsund der Lissabon-Konvention haben wir diese Regeln bereits beleuchtet undneben brokratischen Monstren wie dem ECTS auch positive Effekte wie dieLissabon-Konvention gefunden.

    Allerdings gibt es auf der Ebene der Qualifikationsniveaus weiterhin erheblicheUnterschiede innerhalb Europas. Als besonderes Beispiel dafr kann Grobri-tannien gelten, weil dort traditionell die Bildungsstrukturen des Common-wealth aufrecht erhalten werden und weniger Interesse an einer Einbindungin kontinentaleuropische Systeme besteht. In England vergeben Universittenbeispielsweise nach wie vor den Honors Degree.

    Solche Inkompatibilitten sollten eigentlich durch den Europischen Quali-fikationsrahmen (EQF)21und seiner nationalen Umsetzung in den DeutschenQualifikationsrahmen fr lebenslanges Lernen (DQR) behoben werden. Im EQFwerden acht Referenzniveaus eingefhrt, in der Regel entspricht

    dem Bachelor-Abschluss (erster Studienabschnitt) die Stufe 6,

    dem Master-Abschluss (zweiter Studienabschnitt) die Stufe 7,

    20 Schmachtenberg, E.M.: Glckwunsch Dipl.-Ing.! Ein Gtesiegel made in Germany wird 111Jahre alt(TU9, 2010), ISBN 978-3-00-032050-7.21 Empfehlung des Europischen Parlamentes und des Rates zur Einrichtung des Europischen

    Qualifikationsrahmens fr lebenslanges Lernen, (2008/C 111/01) 23.04.2008.

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    der Promotion (dritter Studienabschnitt) die Stufe 8.

    Allerdings ist in dieser Einstufung bereits fr Deutschland Sprengstoff ent-halten, denn natrlich mssen auch deutsche berufliche Abschlsse hier ein-

    sortiert werden. In Deutschland wurde die Abfassung des DQR deshalb langeweithin unbeachtet von der ffentlichkeit betrieben, vollkommen intransparentvon verschiedenen Gremien eingesetzte Kommissionen taten sich daran gt-lich. Eine Einigung wurde erst erzielt, als am 31. Januar 2012 ein sogenanntesSpitzengesprch der Kultusministerkonferenz, zweier Bundesministerien undverschiedener Wirtschaftsverbnde stattfand.22Diese Einigung fhrte im Mai2013 zur Verabschiedung des DQR unter dem sperrigen Titel GemeinsamerBeschluss der Stndigen Konferenz der Kultusminister der Lnder in der Bun-desrepublik Deutschland, des Bundesministeriums fr Bildung und Forschung,der Wirtschaftsministerkonferenz und des Bundesministeriums fr Wirtschaftund Technologie zum Deutschen Qualifikationsrahmen fr lebenslanges Ler-nen (DQR).23

    Enthalten ist beispielsweise im DQR die Gleichsetzung des beruflichen deut-schen Meister-Abschlusses mit einem Bachelor-Abschluss (Stufe 6) und desStrategischen Professionals (IT) mit dem Master-Abschluss (Stufe 7). Nichtenthalten ist jedoch das deutsche Abitur, von dem insbesondere die Wirtschafts-

    verbnde verlangten, dass es einer abgeschlossenen Berufsausbildung (Stufe 4,nicht etwa 5) gleichgestellt werden solle. Diese quivalenzbildung hat bereitsfrhzeitig Kritiker auf den Plan gerufen, so liest man z.B. in einer Resolutiondes Deutschen Hochschulverbandes (DHV) aus dem Jahre 2010:24

    Der DQR beruht auf einer Kompetenzdefinition, die sich an Wissen, Fer-tigkeiten und handlungsorientierter Kompetenz orientiert. Bildung wird aufkonomischen Nutzen und Verwertbarkeit reduziert. ... Ein universitres

    Studium dient der Bildung und Ausbildung durch Wissenschaft. Es erschpftsich nicht nur in der Ausbildung zur Berufsfhigkeit und in der Vermittlung

    22 Vereinbarung von Vertreterinnen und Vertretern der Bundesregierung, der Kultusminister-konferenz, der Wirtschaftsministerkonferenz, der Sozialpartner und der Wirtschaftsorganisa-tionen zum weiteren Vorgehen beim Deutschen Qualifikationsrahmen (DQR), 31.01.2012.

    23 Gemeinsamer Beschluss der Stndigen Konferenz der Kultusminister der Lnder in derBundesrepublik Deutschland, des Bundesministeriums fr Bildung und Forschung, derWirtschaftsministerkonferenz und des Bundesministeriums fr Wirtschaft und Technologiezum Deutschen Qualifikationsrahmen fr lebenslanges Lernen (DQR), 16.05.2013. Erhltlich

    unter http://www.deutscherqualifikationsrahmen.de/.24 Zur Einfhrung eines Deutschen Qualifikationsrahmens fr lebenslanges Lernen. Resolutiondes 60. DHV-Tages, Deutscher Hochschulverband 2010, erhltlich unter http://www.hoch-schulverband.de/cms1/778.html.

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    von Schlsselqualifikationen, sondern zielt auf eine umfassende Persnlich-keitsbildung ab, die nicht zur Schablone handlungsorientierter Kompetenzenpasst.

    Die duale deutsche Berufsausbildung ist zwar noch einmalig in Europa. Geradeaufgrund der hohen Jugendarbeitslosigkeit in Folge der Finanzkrise berlegenverschiedene Staaten aber, genau dieses System einzufhren. Der deutscheKonflikt ist also hier nur Vorreiter einer weitergehenden Diskussion um denBildungsbegriff hiervon mehr im Abschlusskapitel.

    Ungeachtet dessen sollte es seit dem Mai 2013 beispielsweise mglich sein,als deutscher Industriemeister an einer spanischen Universitt vorzusprechenund um die Zulassung zu einem Masterstudium zu bitten. Das schliet zwarnicht aus, dass diese Universitt dann eine Aufnahmeprfung durchfhrt dieAblehnung aus formalen Grnden ist jedenfalls deutlich schwerer geworden.

    Eindeutig ist auch, dass der EQF/DQR nicht zwischen verschiedenen Hoch-schultypen differenziert, auch nicht zwischen Mitgliedslndern der EU. Diesist insofern bedeutsam, als in Deutschland nach wie vor den nationalen, ver-meintlich bekannten Abschlssen eher misstraut wird als im Ausland erwor-benen Abschlssen. So ist dem Autor der absurde Fall bekannt, in welchem eine

    deutsche Eliteuniversitt einen englischen Bachelorabsolventen ohne Prfungfr einen Masterstudiengang zulie obwohl er nachweislich ein sehr vieldnneres Brett gebohrt hatte als ein Maschinenbaustudent einer deutschenFachhochschule, den man ohne Zusatzleistung nicht zugelassen htte.

    Es gibt natrlich ein starkes Qualittsgeflle in Europa, wie in der jngstenOECD-Studie Skills Outlook 2013 nachgewiesen wurde.25Das bezieht sich ei-nerseits auf die formalen Abschlsse - danach gilt in manchen Staaten Euro-

    pas als akademisches Studium, was in anderen Lndern (gemeint ist Deutsch-land) lediglich eine berufliche Ausbildung ist. Dieser Aspekt strkt natrlichdie Sichtweise der EU-Kommission, welche zum EQF gefhrt hat. Andererseitsaber besteht dieses Qualittsgeflle auch bei den real gemessenen Kompe-tenzen und da wird es dann brisant nicht nur wegen der Regelungen derLissabon-Konvention. Als Beispiel sei die im Zuge der Bekmpfung des Fach-krftemangels stark erhhte Anwerbung junger Absolventen aus sdlichenLndern zu nennen: Vielfach stellen die betreffenden Unternehmen enttuscht

    25 OECD Skills Outlook 2013. First Results from the Survey of Adult Skills (OECD 2013), http://skills.oecd.org/OECD_Skills_Outlook_2013.pdf.

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    fest, dass diese eben doch nicht die fachlichen Fhigkeiten eines deutschenAbsolventen besitzen.

    Zusammenfassend kann man sagen, dass ein einheitlicher europischer Hoch-

    schulraum bisher in keiner Weise erreicht wurde dass wir aber, nicht zuletztaufgrund neuer Entwicklungen wie des EQF/DQR, auf dem Weg zu einem str-keren Zusammenhalt in Europa sind. Man sollte deshalb przisieren, was un-ter dem Ziel der Einheitlichkeit verstanden wird. Das kann eben nicht eine Artakademischer Einheitsbrei sein, sondern muss von der Vielfalt der Hochschul-arten geprgt werden, gleichzeitig muss aber zwischen diesen eine strkereDurchlssigkeit geschaffen werden.

    8. Hat sich die Position der deutschen undeuropischen Hochschulen verbessert?

    Zu klren bleibt, inwieweit die diskutierten Vernderungen auch von auen alspositiv wahrgenommen werden. Sicher sind internationale Rankings hierbei mit

    Vorsicht zu genieen, denn sie werden allzu hufig von Protagonisten des an-gelschsischen Bildungssystems vorgenommen und bevorzugen Universittenin Grobritannien und den USA systematisch.

    Als Beispiel mag das durchaus renommierte Ranking von Quacquarelli Symonds(QS) dienen. Tabelle 2 listet die wenigen deutschen Universitten auf, die eshier in den letzten Jahren unter die Top 100 geschafft haben.

    Tabelle 2: Pltze deutscher Universitten unter den Top 100 im internationalenUniversitts-Ranking von Quacquarelli Symonds (QS)

    2013 2012 2011 2009

    U Heidelberg 50 55 53 57

    TU Mnchen 53 53 54 55

    LMU Mnchen 65 60 62 98

    FU Berlin (109) 87 66 94

    Quelle: Quacquarelli Symonds (QS) international university ranking, http://www.topuniversi-ties.com.

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    Aus diesen Positionen ist zwar keine systematische Verbesserung durch denBologna-Prozess abzulesen. Allerdings besteht eine starke Korrelation mit denSiegern der Exzellenzinitiative in Deutschland wobei man dies durchaus an-dersherum sehen kann. Denn selbstverstndlich hatten die international am

    besten wahrgenommenen Universitten natrlich auch die besten Chancen,in dieser Exzellenzinitiative an frisches Geld zu kommen.

    Auch eine bei manchen Hochschullehrern subjektiv wahrgenommene Verbes-serung des internationalen Renommes deutscher Institutionen kann durchausandere Grnde haben als den Bologna-Prozess. Erstens ist dabei die verstrktevertikale Mobilitt der deutschen Studierenden zu nennen diese haben in-ternational einen hervorragenden Ruf, der natrlich auf ihre Heimathochschu-len ausstrahlt. Zweitens ist zu bercksichtigen, dass Deutschland als eine derwirtschaftlich strksten Nationen der Welt gilt, deren Finanzkraft wesentlichzur berwindung der Staatsschuldenkrise im Europischen Whrungssystembeigetragen hat. Die Finanzkraft Deutschlands verbessert das Ansehen desdeutschen Bildungssystems, mithin also auch der Hochschulen, im Auslandkolossal.

    Auch wenn deshalb eine Verbesserung des internationalen Standingsdeut-scher Hochschulen durch den Bologna-Prozess nicht aus den Daten abzulesen

    ist, wird nach den Kommentaren vieler fr diese Studie befragter Hochschul-lehrer der gesamte europische Hochschulraum in seiner oben festgestelltenUn-Einheitlichkeit von auen als deutlich dynamischer, wettbewerblicher undinnovativer gesehen. Diese Entwicklung steht erst am Anfang, insofern ist einsystematischer Nachweis hier nicht gegeben. Abzuwarten bleibt auch, ob damitdas grandiose Ziel der EU-Kommission, die Europische Union zum wissens-strksten und innovativsten Wirtschaftsraum des Planeten zu machen, einenSchritt nher rckt.

    9. Versuch einer Bilanz

    Wie soll man nun eine Bilanz ziehen aus einer Mischung von brokratischen,strategischen und finanziellen Manahmen, die sehr heterogene Erfolge nachsich ziehen und vor dem Hintergrund extrem dynamischer globaler und eu-

    ropischer Entwicklungen erfolgen? Soll man den Bologna-Prozess danachbeurteilen, welche Erfolge er etwa bei der Aufweichung formaler Hrden ge-bracht hat? Oder danach, wie frustriert hochbegabte Studierende sind, deren

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    Arbeitslast normiert und deren Stundenplan fixiert ist? Hierzu kann kein Rezeptangegeben werden, das fr alle Flle zutrifft, auch eine politische Gesamtbi-lanz ist nicht einmal aus liberaler Sicht eindeutig mglich. Zu vielfltig sinddie Aspekte, unter denen eine Gewichtung von Erfolg oder Misserfolg vorge-

    nommen werden msste.

    Nach Auffassung des Autors gibt es jedoch einen Aspekt des Bologna-Prozesses,der unabhngig von der Bewertung der Einzelresultate zu betrachten ist. DieserAspekt ist eng mit dem Ziel verknpft, das wir mit Bildung verfolgen darumsoll in aller Krze die Idee des Bildungsziels skizziert werden.

    In den Anfngen des abendlndischen Bildungsbegriffes hatte Comenius dieBildung noch als zweckgerichtet gesehen, als Mittel gegen die Verwstungenund Verrohungen eines Krieges. Er hatte persnlich erlebt, was der Dreiigjh-rige Krieg aus den Menschen und ihren Werken gemacht hatte und hoffte, dassdurch das Erlernen von Sprachen die Tr sowohl zur Vergangenheit als auchzum Verstndnis auf einer europischen Ebene geffnet wrde.26Dies mutetnicht nur in Bezug auf die europische Dimension sehr modern an, sonderninsbesondere auch durch die klare Definition der Bildung als Trffner.

    Die Aufklrung differenzierte diese Vorstellung in die beiden Ziele der gesell-

    schaftlichen Partizipation und des inneren Wertes. So etwa formulierte Kant:

    Die Pdagogik oder Erziehungslehre ist ... Erziehung zur Persnlichkeit,Erziehung eines frei handelnden Wesens, das sich selbst erhalten, und inder Gesellschaft ein Glied ausmachen, fr sich selbst aber einen innern Werthaben kann.27

    Aus liberaler Sicht ist daran zunchst bedeutsam, dass Bildung als Vorausset-

    zung fr eine wie auch immer gelebte Freiheit gesehen wurde. Darber hinausaber mssen wir fr diese Zeit auch eine mechanistische Vorstellung der Gesell-schaft konstatieren, in welcher Individuen als Glieder funktionieren. Geformtwurde dieses Gesellschaftsbild durch die Fortschritte der Mathematik und derMechanik im 17. und 18. Jahrhundert, die es mglich schienen lieen, aus derKenntnis der Positionen und Geschwindigkeiten aller Teilchen im Universumdessen ganze Zukunft und Vergangenheit zu berechnen. Visionre wie Julien

    26 Johannis Amos Comenii: Auffgeschlossene Gldene Sprachen-Thr oder Ein Pflantz-Gartenaller Sprachen und Wissenschafften: das ist: ... Anleitung, die Lateinische und alle andereSprachen... zu lernen... = Janua linguarum reserata aurea. (Gross, Leipzig 1654).

    27 Kant, I: ber Pdagogik. (Friedrich Nicolovius, Knigsberg 1803).

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    Offray de la Mettrie hatten diese mechanistische Vorstellung auf menschlicheund gesellschaftliche Zusammenhnge bertragen.28

    Im 19. Jahrhundert wandelte sich das Bildungsideal erneut, weil der mecha-

    nistische Zusammenhang entfiel tatschlich lsten sich auch die Naturwis-senschaften vom mechanistischen Denken.29Es entwickelte sich ein gebildetesBrgertum, das mindestens moderat wohlhabend, in jedem Falle aber tragendeSule der Zivilgesellschaft war. Partizipation war dieser Schicht sicher esverblieb also der innere Wert der Bildung als ihr einziger Zweck. Paulsenschrieb dazu 1903:

    ...Gebildet ist, wer nicht mit der Hand arbeitet, sich richtig anzuziehen undzu benehmen wei, und von allen Dingen, von denen in der Gesellschaftdie Rede ist, mitreden kann. ... Dagegen ist die Bildung so gut wie bewie-sen, wenn er fremde Sprachen kann [...]. Damit kommen wir dann auf dasletzte und entscheidende Merkmal: gebildet ist, wer eine hhere Schuledurchgemacht hat...30

    Dieses Bildungsideal prgt unser Schulsystem bis heute und liegt auch dertraditionellen Sichtweise des Hochschulstudiums zugrunde, vergl. die obigeStellungnahme des DHV.31

    Tatschlich aber ist ein Automatismus der Partizipation im 21. Jahrhundertnicht mehr gegeben, die Reduktion auf den inneren Wert der Bildung und diePersnlichkeitsbildung dementsprechend nicht mehr zeitgem. Bildung mussheute (wieder) unter dem Aspekt der Partizipation gesehen werden, die durchdiese Bildung geschaffen wird. Diese Partizipation ist, wohlgemerkt, nicht mitkonomischer Verwertbarkeit gleichzusetzen. Sondern mit der aktiven Teilhabean einer modernen Gesellschaft mndiger Brger.

    Und es sei abschlieend festgestellt, dass die bisherigen Entwicklungen desBologna-Prozesses das deutsche Hochschulsystem insgesamt in dieser Rich-tung verndert haben.

    28 Henning, P.A.: Die beherrschbare Natur Mythos und Wirklichkeit. In Proceedings des10. Bozner Treffens Incontro a Bolzano: Naturforschung und Aufklrung, Bozen 1999.Publikationen der Europischen Akademie Bozen No. 24 (2000) 79 94 ISSN 1125-3827.

    29 Einstein, A., Infeld, L.: Die Evolution der Physik. (Paul Zsolnay, Wien 1950)30 Paulsen, F.: Bildung. In: W. Rein (Hrsg.): Encyclopdisches Handbuch der Pdagogik. 2.

    Auflage. Langensalza 1903, S. 658670.31 Zur Einfhrung eines Deutschen Qualifikationsrahmens fr lebenslanges Lernen. Resolutiondes 60. DHV-Tages, Deutscher Hochschulverband 2010, erhltlich unter http://www.hoch-schulverband.de/cms1/778.html.

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    Der Autor bedankt sich fr die konstruktive Mitwirkung vieler Kolleginnen undKollegen von Universitten und Fachhochschulen, deren persnliche Sichtweiseauf den Bologna-Prozess in die hier vorgelegte Wertung einfloss, insbesonderebei den Proffs. Dres. W. Bock, HS Regensburg; A. Bode, TU Mnchen, J. Krahl und

    E. Buchholz-Schuster, HS Coburg; R. Mller, HS Furtwangen, W. Zimmermann,Universitt Halle und D. Mller-Bling. Die Verantwortung fr die gezogenenSchlussfolgerungen und eventuelle Fehler liegt ausschlielich beim Autor.

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    ber den Autor

    Dr. Peter Henningist Professor fr Informatik an der Hochschule Karlsruhe

    Technik und Wirtschaft sowie Professor for Information Business Technologiesan der Steinbeis-Hochschule Berlin. Nach der Promotion und der Habilitationarbeitete er bis 1996 als Privatdozent fr Theoretische Physik an der TU Darm-stadt. Von 1996 bis 1998 war er Gruppenleiter in der Softwareentwicklung undTechnologieberater bei der Deutsche Brse AG.

    Henning wurde 2002 mit dem Akademiepreis der Evangelischen Akademie Ba-den fr Arbeiten zum Thema Internet und Gesellschaft ausgezeichnet underhielt 2006 einen doIT-Software Award des Landes Baden-Wrttemberg frherausragende Forschungsleistung. 2007 wurde er durch die Jury der ZeitschriftUNICUM zum Professor des Jahres gewhlt, 2009 erhielt er gemeinsam mitdem Fachgebiet Informatik der Hochschule Karlsruhe den Landeslehrpreis Ba-den-Wrttemberg. Henning hat mehr als 120 Publikationen zu Themen aus derTheoretischen Physik, der Informatik sowie zu diversen gesellschaftspolitischenFragestellungen verfasst. Seine Arbeitsgebiete umfassen die Computergrafik und3D-Modellierung von Stdten, das Technologiegesttzte Lernen, die Simulationkomplexer Systeme sowie die Bildungspolitik und die Wissenschaftstheorie.

    Henning ist in folgenden sozialen Medien zu finden: Facebook, Researchgate,Wikipedia, Xing.

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    PositionLiberalPositionspapiere des Liberalen Instituts der Friedrich-Naumann-Stiftung fr die FreiheitWeitere Publikationen unter www.liberales-institut.de

    [124] Karl-Heinz Paqu / Michael Theurer / Alexander Graf LambsdorffDIE ZUKUNFT DES EURO: KRITISCHE FRAGEN LIBERALE ANTWORTEN

    [123] Florian SwyterDIE ZUKUNFT DER ALTERSSICHERUNG

    [117] Lukas Lassak / Leonard Mack / David Rieger / Burkhard RingleinKONTROVERSEN NETZPOLITISCHER REGULIERUNG[116] Thomas Volkmann

    WRFELN ODER WHLEN? DEMOKRATISCHE ENTSCHEIDUNGSFINDUNG IN DERPARZELLIERTEN INTERESSENGESELLSCHAFT

    [115] Annette SiemesALLES KULTUR ODER WAS? ANMERKUNGEN ZUM LIBERALEN KULTURBEGRIFF

    [114] Siegfried HerzogFREIHEIT UND RELIGION SIND KOMPATIBEL

    [113] Jan Schnellenbach

    VON DER SCHULDENBREMSE ZUR SPARREGELANSTZE ZU EINER REGELGEBUNDENEN HAUSHALTSKONSOLIDIERUNG[112] Grard Bkenkamp

    KIRCHE UND STAAT IN DEUTSCHLAND WELCHEN SPIELRAUM HAT DIE POLITIK?[111] Tim Stephan

    SOZIALE NETZWERKE UND POLITISCHE BASISBEWEGUNGEN AM BEISPIELDER AUSEINANDERSETZUNG UM STUTTGART 21

    [110] Gebhard KirchgssnerFINANZPOLITISCHE KONSEQUENZEN DIREKTER DEMOKRATIE

    [109] Theo SchillerDIREKTE DEMOKRATIE IN DEUTSCHLAND.

    WELCHE BETEILIGUNGSFORMEN SIND AUF DER BUNDESEBENE MGLICH?[108] Robert Nef

    DIREKTE DEMOKRATIE UND LIBERALISMUS NON-ZENTRALISMUS UND MEHRHEITSPRINZIP

    [107] Michael GassnerWETTBEWERBSPOLITISCHE PROBLEMATIK FFENTLICHER UNTERNEHMEN

    [106] Jan SchneiderFREIHEIT, GERECHTIGKEIT, NATUR UND UMWELT IN ETHIK-SCHULBCHERN

    [105] Sven SpeerOFFENE RELIGIONSPOLITIK EINE LIBERALE ANTWORT

    AUF RELIGIS-WELTANSCHAULICHE VIELFALT[104] Detmar DoeringDIE RELIGIONSFREIHEIT IN DER WELT

    [103] Thomas VolkmannZURCK IN DIE ZUKUNFT? DER NEUE GRNE KONSERVATISMUS

    [102]Valerie Siegrist / Ren Sternberg (Hrsg.)SOZIALE UNGLEICHHEIT IM DEUTSCHEN SCHULWESEN

    [101] Ralf DahrendorfDIE KNFTIGEN AUFGABEN DES LIBERALISMUS EINE POLITISCHE AGENDA

    [100] Grard BkenkampDAS INTERNET ZWISCHEN DATENSCHUTZ UND INFORMATIONSFREIHEIT

    [99] Bodo HerzogHAUSHALTSLCHER UND STEUERENTLASTUNGEN WAS IST ZU TUN?