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Dialog im „Club der Jugend und Sportler“ in Riesa WERNER-HEISENBERG-GYMNASIUM RIESA Zeitzeugen sprechen 2012 über die Wendezeit 1989/90 in Riesa – De-Konstruktion von Zeitzeugengesprächen Besondere Lernleistung Marina Keil, 12/2 Betreuerin: Prof. Dr. Sylvia Mebus Riesa, Schuljahr 2012/2013

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Dialog im „Club der Jugend und Sportler“ in Riesa

WERNER-HEISENBERG-GYMNASIUM RIESA

Zeitzeugen sprechen 2012 über die Wendezeit 1989/90 in

Riesa – De-Konstruktion von Zeitzeugengesprächen

Besondere Lernleistung

Marina Keil, 12/2

Betreuerin: Prof. Dr. Sylvia Mebus

Riesa, Schuljahr 2012/2013

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Inhalt

1. Einleitung 4

2. Historischer Abriss über die politische Entwicklung 1989/90 6

2.1 Die DDR – ein demokratischer Staat? Einblick in die gesellschaftliche

Situation vor Beginn der politischen Wende 6

2.2 Politische Entwicklungen in der DDR von 1989 bis zu den

Volkskammerwahlen am 18.03.1990 am Beispiel der Stadt Riesa 11

3. Zeitzeugen erinnern sich – Gespräche mit Bürgern der Stadt Riesa über die

Wendezeit 1989/90 14

3.1 Vorstellung der Zeitzeugen 14

3.2 Was sind Zeitzeugengespräche? 16

3.3 Prinzip des Leitfadeninterviews – Struktur der Gespräche 17

4. De-Konstruktion der Zeitzeugengespräche 19

4.1 Darlegung der Arbeitsmethode 19

4.2 Fokussierung auf Vergangenheit 21

4.2.1 Erläuterungen zur Fokussierung 21

4.2.2 Zeitzeuge 1 21

4.2.3 Zeitzeuge 2 27

4.2.4 Zeitzeuge 3 32

4.2.5 Vergleichende Analyse 38

4.3 Fokussierung auf Geschichte 43

4.3.1 Erläuterungen zur Fokussierung 43

4.3.2 Zeitzeuge 1 43

4.3.3 Zeitzeuge 2 45

4.3.4 Zeitzeuge 3 46

4.3.5 Vergleichende Analyse 47

4.4 Fokussierung auf Gegenwart und Zukunft 49

4.4.1 Erläuterungen zur Fokussierung 49

4.4.2 Zeitzeuge 1 49

4.4.3 Zeitzeuge 2 50

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4.4.4 Zeitzeuge 3 51

4.4.5 Vergleichende Analyse 52

5. Chronologie der Wendezeit in Riesa 53

6. Vergleich der Ergebnisse mit Darstellungen in wissenschaftlichen

Publikationen und der Presse 55

7 . Fazit 57

8. Anhang 59

8.1 Grafiken 59

8.2 Übersicht der Fragelandschaft 63

8.3 Zusammenfassung der Antworten der Zeitzeugen 66

8.4 Chronologie der Wendezeit 1989/90 76

8.5 Abkürzungsverzeichnis 78

8.6 Literaturverzeichnis 79

8.7 Selbstständigkeitserklärung 81

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1 Einleitung

Die Jahre 1989 und 1990 sind ein Sinnbild für tiefgreifende Veränderungen und Umbrüche in

der DDR bis zu ihrem Ende. Sie begannen mit der Ausreisewelle im Sommer 1989 und

mündeten über die friedliche Revolution und den Fall der Berliner Mauer im Herbst 1989

schließlich in die ersten demokratischen Volkskammerwahlen seit 19461am 18. März 1990

und zu der damit verbundenen Entscheidung für die deutsche Einheit, die am 3. Oktober des

gleichen Jahres vollzogen wurde.

All diese Ereignisse und Prozesse führten binnen weniger Monate dazu, dass die Fesseln, in

denen sich das geteilte Deutschland ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Zweiten

Weltkrieges befand, gesprengt wurden und ein neuer Weg der Zusammenarbeit und

Kooperation in Europa und in der Welt beschritten werden konnte.

Die Faszination, die von diesen ein einhalb Jahren des Umbruchs ausgeht, hat mich dazu

bewogen, eine „Besondere Lernleistung“ (BeLL)2 zu diesem Thema zu erstellen. Eine solche

Arbeit bietet Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe ll im Freistaat Sachsen die

Möglichkeit, sich, unter Nutzung wissenschaftlicher Forschungs- und Arbeitsmethoden,

intensiv mit einem bestimmten Themengebiet zu beschäftigen. Ich fokussiere dabei auf die

Ereignisse vom Beginn des Jahres 1989 bis zu den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 in

der DDR. Dabei werde ich insbesondere die Situation in der Stadt Riesa beleuchten, die ich

mit Hilfe von Zeitzeugengesprächen analysiere. Mittels De-Konstruktion können die

Gespräche näher untersucht werden, sodass diese Methode einen maßgeblichen Bestandteil

meiner Arbeit darstellt. Die De-Konstruktion ist eine historische Kernkompetenz und

bedeutet, die Tiefenstruktur einer historischen Narration, als solche können

Zeitzeugengespräche bezeichnet werden, zu erfassen und begründet zu beurteilen.3 Die

Zeitzeugen formulieren in einem Gespräch stets eine Darstellung über die Ereignisse, die,

1 Freie Wahlen fanden auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR zwischen 1945 und

1989 im Jahre 1946 nur einmal statt. Danach wurde mittels vorgegebenen Einheitslisten „abgestimmt“. 2 siehe dazu „Das Abitur am allgemeinbildenden Gymnasium“ herausgegeben vom Sächsischen Staatsministerium für Kultus und Sport. 3 Vgl. Schreiber, Waltraud: Mit Geschichte umgehen lernen – Historische Kompetenzen aufbauen, in: Schreiber, Waltraud; Mebus, Sylvia: Durchblicken. Dekonstruktion von Schulbüchern. Themenhefte Geschichte 1. Neuried: arsuna 2006 (2. Auflage), S. 8-17.

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aufgrund der subjektiven und selektiven Wahrnehmung des Erlebten nicht exakt den

tatsächlichen Geschehnissen entsprechen kann.4

Die in Narrationen festgehaltenen Erfahrungen eines Zeitzeugen sind zunächst historische

Quellen, die für die Re-Konstruktion von Vergangenem aus der Zeitgeschichte unverzichtbar

sind. Jedoch haben die Wenigsten ihre Erfahrungen zeitgenössisch festgehalten, sondern

leben mit ihnen weiter. Die Zeitzeugen deuten und interpretieren bei ihren Schilderungen die

damaligen Ereignisse, wobei spätere Erlebnisse die Erinnerung an die Geschehnisse

naturgemäß beeinflussen. Der Zeitzeuge kann das nicht verhindern und sein

Gedankenkonstrukt nicht sicher von den tatsächlichen Erlebnissen trennen. Somit hat es der

Zuhörer in einem Zeitzeugengespräch mit einer Darstellung der Erfahrungen zu tun – also mit

einer historischen „Narration“ über Vergangenes. Das Problem dabei ist, dass der Zuhörer

oftmals nur die „Narration“ kennt, nicht die tatsächlichen Geschehnisse.5 So kann es

vorkommen, dass verschiedene Zeitzeugen durch ihre eigenen Interpretationen und

Folgeerfahrungen ein und dieselbe Situation auf verschiedene Art und Weise schildern. Es ist

ebenso nicht zu verhindern, dass ein und derselbe Zeitzeuge ein bestimmtes Erlebnis zu

unterschiedlichen Zeiten, vor unterschiedlichem Publikum unterschiedlich darstellt. Die De-

Konstruktion der Zeitzeugengespräche ist ein essentieller Bestandteil meiner Arbeit, um

herauszufinden, an welchen Punkten bzw. Schnittstellen die Interpretationen der Erfahrungen

differieren und wie die Zeit die Erinnerungen in welcher Weise verändert hat.

Meine Arbeit hat das Ziel, zu zeigen, dass Zeitzeugengespräche eine hervorragende und

effektive Möglichkeit sind, um besonders die regionale Geschichte zu verstehen und greifbar

für andere zu machen. Das bedeutet gleichzeitig, die Erfahrungen Riesaer Bürger/innen ins

Verhältnis zu den vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Wendezeit,

insbesondere über den Fall der Berliner Mauer zu setzen, um Typisches, aber auch

Besonderes, dieser Region herauszustellen. Meine Besondere Lernleistung soll Aufschluss

darüber geben, wie Personen unterschiedlicher Bereiche des Lebens in Riesa die

Geschehnisse dieser Zeit wahrgenommen haben und heute beurteilen, wie die Bevölkerung

Riesas zu den damaligen Veränderungen stand und welche Ereignisse und Veränderungen das

Stadtbild prägten.

4 Vgl. Schreiber, Waltraud: Zeitzeugengespräche führen und auswerten, in: Schreiber, Waltraud; Árkossy, Katalin: Zeitzeugengespräche führen und auswerten. Historische Kompetenzen schulen. Themenhefte Geschichte 4. Neuried: arsuna 2009, S. 21-28. 5 Vgl. Schreiber, Waltraud: Zeitzeugengespräche führen und auswerten, a. a. O.

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2. Historischer Abriss über die politische Entwicklung

1989/90

2.1 Die DDR – ein demokratischer Staat? Einblick in die

gesellschaftliche Situation vor Beginn der politischen Wende

Um Zeitzeugengespräche führen und auswerten zu können, ist im Vorfeld eine intensive

Auseinandersetzung mit der konkreten historischen Situation unbedingt notwendig. Sie bildet

das Fundament für die Entwicklung von sachbezogenen Fragestellungen für die

Zeitzeugengespräche und anschließend für eine triftige De-Konstruktion der Gespräche. In

meiner Arbeit werde ich mich folglich mit der Entwicklung der DDR, ihrer Legitimation, vor

allem aber mit den Jahren des Umbruchs 1989 und 1990 beschäftigen.

Nach der bedingungslosen Kapitulation am 8. Mai 1045 wurde im Ergebnis der Potsdamer

Konferenz 1945 das besiegte Deutschland in vier Besatzungszonen der Alliierten eingeteilt;

die DDR ging aus der Sowjetischen Besatzungszone hervor. Der 7. Oktober 1949 gilt als

Gründungsdatum der DDR, da an diesem Tag die vom Volksrat ausgearbeitete und vom

Volkskongress gebilligte Verfassung in Kraft trat. Am selben Tag konstituierte sich der

Volksrat zur „Provisorischen Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik“ als

zukünftiges Parlament, welcher wiederum den Vorsitzenden der SED, Otto Grothewohl, mit

der Regierungsbildung betraute. Nach der Staatsgründung begann bald die Gestaltung der

DDR nach sowjetischem, damals noch stalinistisch geprägtem Vorbild. Begonnen hatte dieser

Prozess schon eher in der stärksten Partei, der SED, die sich 1946 aus KPD und SPD

vereinigte und von inneren stalinistischen Kräften nach dem Vorbild der KPdSU

umstrukturiert wurde. Diese Entwicklung war von innerparteilichen „Säuberungsaktionen“

begleitet.6

Noch vor der Gründung der DDR, bereits am 14.07.1945 wurde die „Einheitsfront der

antifaschistisch-demokratische Parteien“ gegründet7, später umbenannt in die „Nationale

Front der Deutschen Demokratischen Republik“, in der alle Parteien und

Massenorganisationen der DDR unter Führung der SED zusammengeschlossen wurden. Die

SED war die mit Abstand mitgliedsstärkste Partei mit erklärtem Machtanspruch, neben der 6 Pötzsch, Horst: Deutsche Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart. Die Entwicklung der beiden deutschen Staaten und das vereinte Deutschland. Olzog-Verlag: München, 2009, S. 106. 7 J. Engelbrecht, W. Maron: Sechzig Jahre Deutsche Geschichte. 1949 – 2009. Aschendorff-Verlag: Münster, 2009, S. 28f.

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die anderen Blockparteien nur noch eine untergeordnete Rolle spielten. Die Blockparteien

hatten sich hinter die Ziele der SED zu stellen und ihre Arbeit in den Aufbau des Sozialismus

zu stellen.

Die Wahlen zu den Gemeinden, den Kreis- und Landtagen und zur Volkskammer erfolgten

fortan nach Einheitslisten, die von der Nationalen Front aufgestellt wurden. Die Bürger

konnten entweder für oder gegen die Liste stimmen, die Wahl einzelner Personen oder

Parteien war nicht vorgesehen. Daher waren die Wahlen in der DDR keine freien, sondern

Scheinwahlen. Wer die Wahlkabine benutzte, musste mit direkten und indirekten politischen

Repressionen rechnen, da die Vermutung der Ablehnung der Einheitsliste bestand. Die

meisten Wahlberechtigten begrenzten den Wahlvorgang auf das sogenannte „Zettel falten“.

Die so unmarkiert in die Urne eingeworfenen Stimmzettel zählten als Zustimmung zur

Einheitsliste. Offiziell war die Wahlbeteiligung stets sehr hoch, ebenso wie die Annahme der

Einheitsliste.8

Nachdem die Westmächte die sogenannte „Stalinnote“9 vom 10. März 1952 abgelehnt hatten,

wurde der endgültige Aufbau des Sozialismus in der DDR beschlossen. Infolgedessen löste

die SED-Führung die Länder auf; an ihre Stelle traten 14 Bezirke sowie die Hauptstadt der

DDR, Berlin, die absichtlich nicht mit den historisch gewachsenen Grenzen übereinstimmten.

Weiterhin sollten als Reaktion auf die Aufrüstung der BRD bewaffnete Streitkräfte aufgebaut

und außerdem die Landwirtschaft kollektiviert werden.

Schon in den Anfangsjahren der DDR kam es in Folge der Unzufriedenheit der Bevölkerung

mit dem politischen und wirtschaftlichen System zu antisozialistischen Bestrebungen, wie

dem Volksaufstand am 17. Juni 1953. Dieser begann als Protest auf die zehnprozentige

Normerhöhung und schlechte Arbeitsbedingungen in Ostberlin und breitete sich rasch auf die

ganze Republik aus. Im Laufe des Aufstandes traten politische Forderungen immer mehr in

den Vordergrund; der Ruf nach freien Wahlen, der Freilassung politischer Gefangener und der

Einheit Deutschlands wurde laut.10 Die DDR-Regierung verzichtete auf Gespräche mit den

Aufständischen, stattdessen ließ sie sowjetische Panzer auffahren, um den Aufstand

niederzuschlagen.

8 siehe Anlage 1. 9 Die Stalinnote war ein Angebot Stalins zur Wiedervereinigung Deutschlands. Das Angebot war verknüpft mit den Bedingungen, dass Deutschland neutral sein musste und sich in kein westliches Bündnis integrieren durfte. 10 Pötzsch, Horst: Deutsche Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart. a. a. O. S. 116.

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Der Unmut in der DDR-Bevölkerung gegenüber den unzureichenden Befriedigung der

sozialen Bedürfnisse und den politischen Druck zeigte sich auch in dem konstant hohen

Zahlen der DDR-Flüchtlinge in den Westen. Von 1949 bis zum Bau der Berliner Mauer 1961

flohen fast drei Millionen Menschen aus der DDR, vor allem junge und gut ausgebildete

Kräfte.11 Die DDR-Regierung holte sich die Genehmigung der Regierung der UdSSR und der

Warschauer Vertragsstaaten für die Errichtung der Berliner Mauer am 13. August 1961 als

„antifaschistischen Schutzwall“12 und die Verstärkung der allgemeinen Grenzkontrollen.13

Auf diese Weise gelang es der Regierung, das „Ausbluten der DDR“ zu stoppen. Die

Bevölkerung musste sich nun mit dem System arrangieren, nur wenige wagten einen der

immer schwieriger und gefährlicher werdenden Fluchtversuche.

In den Jahren nach dem Mauerbau bemühte sich die DDR-Führung um die Stabilisierung des

Systems, was vor allem wirtschaftliche Veränderungen nach sich zog. Auf dem VIII. Parteitag

der SED im Juni 1971 wurde beschlossen, mehr in die Konsumgüterindustrie zu investieren,

um den Lebensstandard zu erhöhen.14 Trotz einiger wirtschaftlicher Lockerungen im Rahmen

des „Ökonomische System des Sozialismus“ veränderte sich kaum etwas am starren System

der Planwirtschaft, die sich an den vorgegebenen Plankennziffern orientierte und kaum

Innovation und Fortschritt zuließ.

In den 80er Jahren verschlechterte sich der wirtschaftliche Zustand der DDR immer mehr. Mit

der Explosion der Weltmarktpreise für Erdöl und Erdgas entstanden immense

Finanzierungsprobleme im Wirtschafts- und Sozialsystem. Die DDR-Führung wollte die

Preiserhöhung aus Angst vor Protesten nicht an die Bevölkerung weitergeben. Um niedrige

Mieten und Lebenserhaltungskosten zu halten, musste sich die DDR verschulden. Durch

Kredite von Westbanken und der BRD konnte das System vorübergehend stabilisiert werden,

jedoch vertiefte sich die Verschuldung mehr und mehr.15 Mittel für die Modernisierung von

veralteten Fabrikanlagen oder Umweltschutz waren nicht vorhanden. Der technische

Rückstand gegenüber dem Westen vertiefte sich immer weiter.

Für weiteren Unmut in der Gesellschaft sorgte das „Ministerium für Staatssicherheit“ (MfS)16,

kurz „Stasi“. Sie betrachtete sich als „Schild und Schwert der Partei“ – sie sollte den

Machanspruch der SED festigen und sichern. Die hauptamtlichen Mitarbeiter wurden von

11 siehe Anlage 2. 12 Bezeichnung der Berliner Mauer in der offiziellen Propaganda. 13 Pötzsch, Horst: Deutsche Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart. a. a. O. S. 165 14 Pötzsch, Horst: Deutsche Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart. a. a. O. S. 202 15 J. Engelbrecht, W. Maron: Sechzig Jahre Deutsche Geschichte. a. a. O. S. 106f. 16 Das MfS wurde am 8. Februar 1950 gegründet.

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inoffiziellen Mitarbeitern unterstützt, die Informationen über ihre Mitbürger und auch

Familienmitglieder sammeln sollten, was nicht selten unter Druck der Staatsmacht geschah.

Es wurden tatsächliche und vermeintliche Gegner des Systems überwacht, sowie potenzielle

oppositionelle Treffpunkte und Gruppen infiltriert. 17

Die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den bestehenden ökonomischen und politischen

Umständen wuchs in den 1980er Jahren stets an und entlud sich schließlich im Jahr 1989.18

Begonnen hatte der Prozess des Aufbegehrens mit den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989.

Externe, unabhängige Stimmauszählungen bestätigten die Vermutung, dass Wahlfälschung

betrieben wurde. Das offizielle Ergebnis von ca. 99% Zustimmung zur Einheitsliste konnte

widerlegt werden. Oppositionelle Gruppen und Kirchgemeinden erstatten Strafanzeige gegen

die Wahlfälscher.19

Als weiteres Problem für das Fortbestehen der DDR erwies sich der wieder wachsende

Ausreisestrom vor allem über die seit dem September 1989 für DDR-Flüchtlinge geöffnete

ungarisch-österreichische Grenze. Rund 15.000 DDR-Bürger nutzten ihre Chance, über

diesen Weg in die BRD auszureisen. Viele weitere flüchteten in die Ständige Vertretung der

BRD in Ostberlin und in ihre Botschaften in Prag, Budapest und Warschau, wo sie auf die

Ausreisemöglichkeit hofften. Die DDR-Regierung entschied Ende September in Hinblick auf

den baldigen 40. Jahrestag der DDR, die Ausreise dieser Menschen in Zügen zu genehmigen.

Insgesamt gelangten so rund 200.000 Menschen im Jahr 1989 über die Grenzen in den

Westen.20

In der DDR selbst formierte sich nun eine breite Opposition. Begonnen hat dieser Prozess

Mitte der 80er Jahre, als Michail Gorbatschow in der UdSSR an die Macht kam. Er wollte mit

seiner Politik von Glasnost (Umgestaltung) und Perestroika (Offenheit) das System des

Staatskommunismus reformieren. Viele DDR-Bürger erhofften sich von ihrer Regierung ein

Einlenken auf den Reformkurs, doch die DDR-Führung distanzierte sich eher von ihrem

ehemaligen Vorbild der Sowjetunion.21

Die Stadt Leipzig wurde 1989 zum Zentrum von Demonstrationen. Anfang September

formierte sich nach wöchentlichen Friedensgebeten am Montag ein Demonstrationszug mit

Forderungen nach Bürgerrechten, Meinungs- und Reisefreiheit durch die Innenstadt, deren

17

Pötzsch, Horst: Deutsche Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart. a. a. O. S. 108. 18 J. Engelbrecht, W. Maron: Sechzig Jahre Deutsche Geschichte. a. a. O. S. 113. 19 Pötzsch, Horst: Deutsche Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart. a. a. O. S. 243f. 20 J. Engelbrecht, W. Maron: Sechzig Jahre Deutsche Geschichte. a. a. O. S. 114. 21 J. Engelbrecht, W. Maron: Sechzig Jahre Deutsche Geschichte. a. a. O. S. 113.

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Teilnehmerzahlen von Woche zu Woche stiegen.22 Zudem entstanden zahlreiche

oppositionelle Bürgerrechtsgruppen, die ähnliche Forderungen hervorbrachten. Diese blieben

aber nicht im Untergrund, sondern beantragten offiziell ihre Zulassung, die natürlich

abgewiesen wurde. 23Trotzdem erfreuten sie sich großem Zulauf. Sogar die Feierlichkeiten

zum 40. Jahrestag der DDR wurden von Protesten überschattet. Während der Feierlichkeiten

im Palast der Republik in der Hauptstadt der DDR, Berlin, mit geladenen Gästen

demonstrierten davor tausende Menschen für Meinungs- und Reisefreiheit und lobten Michail

Gorbatschow. Dieser symbolisierte mit seinem Reformkurs „Glasnost“ (Offenheit) und

„Perestroika“ (Umgestaltung) in der UdSSR auch in der DDR die Möglichkeit eines

Symbolwandels. Der nun fehlende Rückhalt der Großmacht Sowjetunion für die DDR-

Regierung verschärfte die kritische Situation für eben diese noch weiter, da sich die

Bevölkerung an Gorbatschow orientierte.

22 J. Engelbrecht, W. Maron: Sechzig Jahre Deutsche Geschichte. a. a. O. S. 115. 23 J. Engelbrecht, W. Maron: Sechzig Jahre Deutsche Geschichte. a. a. O. S. 115.

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2.2 Politische Veränderungen in der DDR von 1989 bis zu den

Volkskammerwahlen am 18.03.1990 am Beispiel der Stadt Riesa

Die tiefgreifenden politischen Veränderungen, die in den Jahren 1989 und 1990 geschahen,

spiegelten sich auch in der Stadt Riesa wider.

Besonders die evangelische Kirche war sehr aktiv. Es sind sowohl Aktivitäten der Jungen

Gemeinde bereits seit 198724 als auch oppositionelle Vorstellungen des Neuen Forums Ende

September/Anfang Oktober unter dem Dach der Kirche bekannt.25 Im Oktober 1989 fanden

die ersten Friedensgebete in der Kirche Riesa-Gröba statt26, auch das Neue Forum veranstalte

hier einige Versammlungen. Die Präsenz dieser Gruppe in Riesa wuchs.27

Ein reges Interesse weckten Podiumsdiskussionen. Eine der größten Veranstaltung fand am

30. Oktober in der Kirchgemeinde Riesa-West statt. Die Vorsitzende des Rates des Kreises

der SED, Bärbel Heym, stellte sich 2000 interessierten Bürgerinnen und Bürgern, die sie

allerdings mit Buhrufen und Pfiffen empfingen.28

Wenige Tage später, am 2. November 1989, fand in der größten Riesaer Kirche, der

Trinitatiskirche, ein Friedensgottesdienst mit Vorstellung des Neuen Forums statt.

Anschließend zogen rund 3000 Teilnehmer in einem friedlichen Demonstrationszug durch die

Innenstadt. Mit Parolen, wie „Wir sind keine Fans von Egon Krenz“, „Stasi raus“ oder „SED,

das tut weh“ verliehen die Demonstranten ihren Forderungen Ausdruck. 29

Am 6. November 1989 wurde die Durchführung regelmäßig montags stattfindender

thematischer Foren im Klub der Jugend und Sportler bekanntgegeben. Unter dem Motto

„Worte – Dialog – Taten“ sollte mit führenden Funktionären des Kreises über aktuelle Fragen

der Zeit diskutiert werden. Am ersten Forum nahmen 1500 Menschen teil, die sich

hauptsächlich gegen die führende Rolle der SED wandten.30

24 M. Richter: Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen, 2009, S. 90. 25 M. Richter: Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90 a. a. O. S.206. 26 M. Richter: Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90 a. a. O. S. 284. 27 M. Richter: Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90 a. a. O. S. 523. 28 M. Richter: Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90 a. a. O. S. 523. 29 M. Richter: Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90 a. a. O. S. 636. 30 M. Richter: Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90 a. a. O. S. 636.

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Im Zuge des Falls der Berliner Mauer und des veränderten Reisegesetzes am 9. November

1989 stellten auch in Riesa viele Bürger einen Visaantrag31. Es mussten im Volkspolizei-

Kreisamt Riesa zusätzliche Mitarbeiter eingestellt werden, um alle Visaanträge schnell zu

bearbeiten.32 Die meisten Menschen wollten ein Visum für einen Besuch in Berlin-West oder

in der BRD, nicht für eine Ausreise. Die Flut an Anträgen riss bis zum Wochenende nicht ab,

vor dem Volkspolizei-Kreisamt herrschte Hochbetrieb. Das zeigte sich auch in der Kreisfiliale

der Staatsbank in Riesa, wo die Bürger stundenlange Wartezeiten in Kauf nahmen, um die

einmal im Kalenderjahr bewilligten 15 Mark der DDR in 15 DM einzutauschen.33

Mitte November 1989 wurden, wie in der ganzen Republik, auch in Riesa in der Innenstadt

und vor dem Haus der Kreisleitung der SED Kundgebungen durchgeführt, die teilweise vom

Neuen Forum initiiert wurden. Die Teilnehmerforderten eine ehrliche und kritische, politische

und wirtschaftliche Bestandsaufnahme auch im Kreis Riesa, weiterhin die Änderung des 1.

Artikels der Verfassung der DDR34, der die führende Rolle der SED festschreibt und

schnellstmöglich freie, demokratische Wahlen. 35 Die von nun an, wie in vielen Kirchen der

Republik, regelmäßig montags stattfindenden Friedensgebete und Demonstrationen fanden ab

Ende November stets 17:30 Uhr in der Riesaer Klosterkirche statt. Eine besondere Aktion

wurde mit dem Neuen Forum am Ersten Advent (3. Dezember 1989) durchgeführt. Bürger

der Stadt und des Kreises bildeten eine symbolische Menschenkette, die von der SED-

Kreisleitung in beide Richtungen wachsen sollte. 36

Am 5. Dezember wurden im Beisein von zwei Vertretern des Neuen Forums die

Panzerschränke und einige Räume der Kreisstelle des Amtes für Nationale Sicherheit durch

den Kreisstaatsanwalt versiegelt.37 Das dort verwahrte Schriftgut. wurde eine Woche später,

ebenfalls unter Beobachtung von Vertretern des Neuem Forums und des Militärstaatsanwaltes

Zielke, von der Volkspolizei nach Dresden gebracht, wo es bis zur Auswertung sicher

31 http://www.riesa.de/deu/leben_in_riesa/stadtgeschichte/chroniken/media_chroniken/chronik_1989.pdf, Aufruf am: 27.11.2012 32http://www.riesa.de/deu/leben_in_riesa/stadtgeschichte/chroniken/media_chroniken/chronik_1989.pdf, Aufruf am: 27.11.2012 33 http://www.riesa.de/deu/leben_in_riesa/stadtgeschichte/chroniken/media_chroniken/chronik_1989.pdf, Aufruf am: 27.11.2012 34 Artikel 1 der Verfassung der DDR: „(1) Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei. Die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik ist Berlin. […]“ 35 M. Richter: Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90 a. a. O. S. 893. 36 http://www.riesa.de/deu/leben_in_riesa/stadtgeschichte/chroniken/media_chroniken/chronik_1989.pdf, Aufruf am: 27.11.2012 37 M. Richter: Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90 a. a. O. S. 960.

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aufbewahrt wurde. Waffen, Munition und Spezialnachrichtentechnik gelangten ins

Volkspolizeikreisamt Riesa. 38

Die Bürgerbewegung in Riesa folgte in ihren weiteren Maßnahmen den Erfahrungen in

anderen Landesteilen. „Runde Tische“ wurden in Dresden, Leipzig, Berlin und vielen

weiteren Städten gebildet, in denen basisdemokratisch Politik gestaltet wurde. Auch in Riesa

wurde am 12. Dezember 1989 die Bildung eines „Runden Tisches“ beschlossen; drei Tage

später trat er erstmals zusammen. 39In diesem Rahmen sollte der bereits begonnene Dialog

zwischen Staat und Bürgern aufrecht erhalten und fortgeführt werden.

Erwähnenswert ist das Aufleben der Beziehungen zwischen den Partnerstädten Riesa und

Mannheim in der Zeit. Binnen weniger Monate besuchten sowohl Jugendliche eines

Gymnasiums als auch Vertreter der Stadt Mannheim und von privaten Organisationen ihre

sächsische Partnerstadt.40 Vertreter der verschiedenen westdeutschen Parteien besuchten auch

die neugegründeten Parteien in der DDR in der Kreisstelle Riesa und tauschten sich über

Fragen zur deutschen Einheit, der Währungsunion und wirtschaftliche Probleme aus.41

Im Verlauf des Jahres 1990 bildeten sich neue basisdemokratische Strukturen in Riesa und

Umgebung heraus. Gut sichtbar wurde dies an der Neugründung der Berufsinnungen der

Handwerker, die sich im ganzen Kreis bildeten und ihre Innungen und Organe in freien und

geheimen Wahlen bestimmten.42 Mit den letzten Volkskammerwahlen in der DDR am 18.

März 1990, die ebenfalls frei und geheim waren, hielt die Demokratie endgültig Einzug in das

Endstadium der DDR und somit auch in Riesa.

38 http://www.riesa.de/deu/leben_in_riesa/stadtgeschichte/chroniken/media_chroniken/chronik_1989.pdf, Aufruf am: 27.11.2012. 39 http://www.riesa.de/deu/leben_in_riesa/stadtgeschichte/chroniken/media_chroniken/chronik_1989.pdf, Aufruf am: 27.11.2012. 40 http://www.riesa.de/deu/leben_in_riesa/stadtgeschichte/chroniken/media_chroniken/chronik_1989.pdf, Aufruf am: 27.11.2012. 41 http://www.riesa.de/deu/leben_in_riesa/stadtgeschichte/chroniken/media_chroniken/chronik_1989.pdf, Aufruf am: 27.11.2012. 42 http://www.riesa.de/deu/leben_in_riesa/stadtgeschichte/chroniken/media_chroniken/chronik_1990.pdf, Aufruf am: 27.11.2012.

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3. Zeitzeugen erinnern sich – Gespräche mit Bürgern der

Stadt Riesa über die Wendezeit 1989/90

3.1 Vorstellung der Zeitzeugen

Zeitzeuge 1

Name: Frank Klinger43

geboren: September 1931

Familienstand

- im Betrachtungszeitraum: verheiratet

- heute: verheiratet

Berufliche Tätigkeit

- im Betrachtungszeitraum: zunächst Mitarbeiter für Ökonomie

und Planung in der Abteilung

Landwirtschaft im Kreisamt Riesa,

im Dezember 1989 Kündigung

- heute: Rentner

Zeitzeuge 2

Name: Bärbel Heym

geboren: 1950

Familienstand

- im Betrachtungszeitraum: ledig

- heute: ledig

Berufliche Tätigkeit:

- im Betrachtungszeitraum: Vorsitzende des Rates des Kreises

der SED Riesa

43

Der Name wurde geändert.

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- heute: stellvertretende Vorsitzende im

Ortsverband Riesa „Die Linke“,

Kreistagsabgeordnete im Landkreis

Meißen

Zeitzeuge 3

Name: Andreas Näther

geboren: 1958

Familienstand

- im Betrachtungszeitraum: verheiratet

- heute: verheiratet

Berufliche Tätigkeit

- im Betrachtungszeitraum: Jugenddiakon in der Kirchgemeinde

Riesa – Gröba

- heute: Abgeordneter im Stadtrat Riesa,

Vorstandsvorsitzender „Sprungbrett

e.V.“ Riesa

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3.2 Was sind Zeitzeugengespräche?

Zeitzeugen sind die Menschen, die bestimmte historische Begebenheiten miterlebt haben und

darüber berichten. Ihre Erlebnisse und Erfahrungen sind Quellen für Vergangenes. Die

Erzählungen in einem einige Zeit später geführten Interview sind darüber hinaus aus

ersichtlichen Gründen Darstellungen über damalige Geschehnisse. Der Zeitzeuge lebt mit den

Erlebnissen weiter; Folgeerfahrungen wirken sich auf die Erinnerung und die Art der

Erzählung aus. Die Erlebnisse werden bei jedem Abruf aus dem Gedächtnis neu konstruiert

und dem Rezipienten entsprechend aufbereitet.44 Es ist für den Zeitzeugen ein Unterschied, ob

er seine Erfahrungen einem Jugendlichen oder Erwachsenem berichtet. Oft wollen Zeitzeugen

der jüngeren Generation Botschaften mitgeben, die im Laufe des Gespräches deutlich

gemacht werden.

Zudem spielt bei einem Zeitzeugengespräch die Art der Erzählung eine entscheidende Rolle.

Gesprächspausen sowie Mimik und Gestik kommen eine ebenso große Bedeutung zu wie

dem eigentlichen Bericht und dessen Struktur. All diese Faktoren spiegeln die Emotionen des

Zeitzeugen wider, mit denen der Zuhörer in einem solchen Gespräch konfrontiert wird. Die

Emotionen beeinflussen auch den Rezipienten in seinem Empfinden; der Zeitzeuge kann mit

der Art der Erzählung bestimmte Gefühle bei den Zuhörern hervorrufen: zum Beispiel

Betroffenheit oder Stolz.

Die Gespräche werden durch konkrete Fragen des Interviewers geleitet, die vor dem Gespräch

seinen entsprechenden Zielen nach aufgestellt wurden. Darauf werde ich im folgenden

Kapitel näher eingehen.

Um die Zeitzeugengespräche im Nachhinein de-konstruieren zu können, ist eine

Aufzeichnung dieser sehr vorteilhaft. Am besten eignet sich dabei die Aufnahme als Video,

die auch ich bei meinen Zeitzeugengesprächen anwenden werde, da bei dieser Form auch die

genaue Analyse von Mimik und Gestik im Prozess der De-Konstruktion möglich ist. Eine

andere Variante ist die Aufzeichnung als Tondokument.

44 vergleiche http://www.geschichtsunterricht-anders.de/lehrerfortbildung/Zeitzeugen.pdf, Aufruf am 07.12.2012.

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18

3.3 Prinzip des Leitfrageninterviews45 – Struktur der Gespräche

Wie sich bereits aus dem Namen ableiten lässt, basieren Interviews dieser Form auf

Leitfragen46. Dabei werden, dem jeweiligen Ziel des Zeitzeugengespräches entsprechend,

thematische Gruppen erstellt, in denen Leitfragen und einige weiter differenzierende Fragen

formuliert gesammelt werden. Die Leitfragen sollen im Laufe des Interviews definitiv gestellt

und beantwortet werden, die weiteren Fragen können optional und dem Gesprächsverlauf

folgend gestellt werden.

Der Einstieg in das Interview kann auf unterschiedliche Art und Weise erfolgen. Denkbar sind

beispielsweise eine These oder ein Foto. Während des Gespräches werden die Reihenfolge

der Fragen und eventuell auch die Formulierung der Fragestellungen an die Erzählungen des

Zeitzeugen angepasst. Dazu ist ein ausgeprägtes Grund- und Fachwissen zur Thematik

essentiell47. Die Aufgabe des Interviewers besteht dabei darin, den Fokus auf die eigentliche

Zielstellung nicht zu verlieren und den Zeitzeugen, wenn erforderlich, durch gezieltes

Nachfragen wieder zurückzulenken. Weiterhin muss darauf geachtet werden, dass die

Leitfragen alle angesprochen und beantwortet werden.

Mein Ziel ist es, mich durch Gespräche mit mehreren Zeitzeugen einen Überblick über das

Geschehen in der Wendezeit in Riesa zu verschaffen, der zu einem differenziertem

Gesamtbild beitragen kann. Um ein solches Gesamtbild zu erstellen, sind Menschen aus

unterschiedlichen Bevölkerungsschichten und Bereichen des öffentlichen Lebens sowie die

Zeitspanne von 1989 bis zu den Volkskammerwahlen 1990 abzudecken. Ich habe

dementsprechend Fragegruppen nach folgenden Kriterien entworfen:

- Aktivitäten und Veränderungen in Riesa im Sommer/Herbst 1989 bis zu

den Volkskammerwahlen am 18. März 1990

- Fall der Berliner Mauer am 09. November 1989

- Entwicklung oppositioneller Gruppen/Neues Forum im Sommer/Herbst

1989 bis zu den Volkskammerwahlen am 18. März 1990

- Rolle der evangelischen Kirche

- Verhalten der Jugend

45http://www.univie.ac.at/igl.geschichte/kaller-dietrich/WS%2006-07/MEXEX_06/061102Durchf%FChrung%20von%20Interviews.pdf, Aufruf am: 27.11.2012. 46vgl. Mebus, Sylvia: Anregung zur Arbeit mit Zeitzeugen für Lehrer und Schüler. in: Schreiber, Waltraud; Árkossy, Katalin: Zeitzeugengespräche führen und auswerten. Historische Kompetenzen schulen. Themenhefte Geschichte 4. Neuried: arsuna 2009, S.65. 47 siehe Kapitel 1 und 2.

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- Probleme in der Wirtschaft Riesas

- Wirken des „Runden Tisches“

- Ergebnisse der Volkskammerwahlen am 18.03.1990

Jeder dieser Gruppen ist ein Pool an Fragen untergeordnet, die jeweils die Aspekte

entsprechend den von mir ausgewählten Kriterien sowie einige sich im Verlauf des

Interviews ergebende vertiefende Fragen ansprechen.48

Während des Gespräches liegt der Fokus auf den Berichten des Zeitzeugen. Ich werde im

Interview durch einige gezielte Fragen das Abschweifen vom Thema verhindern, damit alle

genannten Bereiche abgedeckt und die Leitfragen beantwortet werden können. Hauptsächlich

jedoch soll der Zeitzeuge frei und mit nur wenigen Einschränkungen von seinen Erfahrungen

und Erlebnissen berichten können.

Zum Einstieg in die Interviews verwende ich ein Video, in welchem in zahlreichen Fotos und

kürzeren Videosequenzen Impressionen des Wendeprozesses in der DDR wiedergegeben

werden. Hinterlegt ist das Video mit dem Lied „Wind of change“ von den „Scorpions“,

welches in den Medien oft zur „Hymne der Wende“ erklärt wurde. Das Video zeigt

durchgängig Menschen, die unglaubliche Freude über die Ereignisse ausstrahlen. Damit wird

eine Seite der Gefühlswelt der großen Teile der Bevölkerung verdeutlicht. Dieser

Videoausschnitt erweckt den Eindruck, dass alle DDR-Bürger die Öffnung der Grenze

begrüßt hätten. Ausgeblendet sind zweifelnde oder auch von Zukunftsängsten geplagte

Menschen. Diese Problematik werde ich im Laufe der Interviews aufgreifen.

48

Die gesamte Fragelandschaft ist im Anhang unter 8.2 Übersicht der Fragelandschaft zu finden.

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20

4. De-Konstruktion der Zeitzeugengespräche

4.1 Darlegung der Arbeitsmethode

Bezugnehmend auf den „Leitfaden zu De-Konstruktion „fertiger Geschichten“ im

Geschichtsunterricht“49 ist die De-Konstruktion von historischen Narrationen eine

Basisoperation bei der Auseinandersetzung mit Geschichte. Sie ist als die seitenverkehrte

Operation zur Re-Konstruktion zu betrachten: Während bei der Re-Konstruktion von

Vergangenem aus der Fülle historischer Quellen eine historische Narration (=Geschichte)

geschaffen wird, liegt für die De-Konstruktion eine solche Geschichte vor. Das Ziel der De-

Konstruktion besteht folglich darin, historische Narrationen, da sie ja Konstruktionen von

Vergangenem sind, in ihrem Konstruktcharakter zu entschlüsseln und somit in ihrer

Tiefenstruktur zu analysieren und zu erschließen.50 Beide Arbeitsmethoden sind nach dem

„Kompetenz-Struktur-Modell historischen Denkens“51 der historischen Methodenkompetenz

als Basiskompetenz historischen Denkens zuzuordnen. Die grundsätzliche Arbeitsweise wird

in der „Sechser-Matrix“ sehr gut veranschaulicht.52

Die De-Konstruktion der Zeitzeugengespräche erfolgt, dem vorgestellten Kompetenz-

Struktur-Modell folgend, in drei verschiedenen Fokussierungen. Begonnen wird dabei mit der

„Fokussierung auf Vergangenes“ (Fokus I), in der die sogenannten

„Vergangenheitspartikel“ herausgearbeitet werden. Hier wird das Interview zunächst

gegliedert und die wichtigsten inhaltlichen Schwerpunkte werden näher dargestellt. Weiterhin

werden die im Gespräch erwähnten bedeutenden historischen Fakten, wie Akteure,

Institutionen und Datierungen, benannt. Als letzter Punkt in diesem Bereich wird die

nonverbale (Mimik/Gestik) und verbale Darstellungsweise analysiert.

In der „Fokussierung auf Geschichte“ (Fokus II) wird untersucht, wie die

Vergangenheitspartikel vom Interviewpartner kontextualisiert werden und auf welche Art und

Weise er diese dargestellt. Die Analyse der Kontextualisierung geschieht auf zwei Wegen: Es

wird zum einen analysiert, welchen synchronen Zugriff der Interviewpartner bei seiner

Schilderung wählte, d. h. welche zeitgleichen Verbindungen er gezogen und wie er diese

49 Vgl. Leitfaden und Bausteine zur De-Konstruktion „fertiger Geschichten“ im Geschichtsunterricht. In: Mebus, Sylvia; Schreiber, Waltraud: a. a. O. 50 Vgl. Leitfaden und Bausteine zur De-Konstruktion „fertiger Geschichten“ im Geschichtsunterricht. In: Mebus, Sylvia; Schreiber, Waltraud: a. a. O. 51 vgl. Grafik, Anlage 3. 52 vgl. Darstellung „Sechser – Matrix“ , Anlage 4.

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erläutert hat. Zum anderen wird der diachrone Zugriff der Darstellung untersucht, d. h. es

werden die von ihm im historischen Verlauf geschilderten Geschehnisse analysiert. Die

einzelnen, im Fokus I herausgearbeiteten, einzelnen Partikel werden nun klassifiziert und in

den historischen Gesamtzusammenhang eingeordnet. Nun lassen sich Zusammenhänge

zwischen der Biographie der Personen und dem Erzählten herstellen, um mögliche politische,

soziale, ökonomische usw. Einflüsse auf den Zeitzeugen zu erkennen. Wichtig für das

Verständnis des Gesagten ist außerdem, Verbindungen zwischen der Ausdrucksweise

(nonverbal/verbal) des Zeitzeugen und den entsprechenden Erzählungen herauszustellen.

Im Fokus III, d. h. in der „Fokussierung auf Gegenwart/Zukunft“ wird hinterfragt, welche

Bezüge des Erlebten und Dargestellten der Zeitzeuge zu seiner Gegenwart/Zukunft herstellt.

Dabei ist es besonders wichtig, Botschaften des Zeitzeugen zu erfassen, zu deuten und zu

prüfen, zu welchem Zweck sie diese der jüngeren Generation mit auf den Weg geben wollen.

Jetzt werden Bezüge zwischen den einzelnen Erfahrungen, Deutungen und

Orientierungsangeboten sowie der jeweiligen Darstellungsweise des Zeitzeugen hergestellt

und erörtert. Schließlich werden die Wirkung des Gesamtbildes auf den Rezipienten überprüft

und Chancen und Grenzen von Zeitzeugengesprächen hinterfragt.

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4.2 Fokussierung auf Vergangenes (Fokus I)

4.2.1 Erläuterungen zur Fokussierung

Im Fokus I besteht der erste Schritt zunächst in der Aufnahme der wichtigsten biographischen

Daten des Zeitzeugen, die bereits im Gliederungspunkt 3.1 aufgeführt sind. Nun wird auch die

jeweilige individuelle Situation beleuchtet, in der sich der Zeitzeuge damals befand. Die

weitere Analyse erfolgt getrennt nach Inhalt und Darstellungsweise.53

Das Interview wird inhaltlich gegliedert, die getroffenen Aussagen und die Fakten werden

erfasst und berichtete Erlebnisse näher ausgeführt. Weiterhin wird analysiert, welche

Aussagen aus eigener Erfahrung getroffen worden und welche Informationen der Zeitzeuge

von anderen Zeitgenossen übernommen hat. Zum Schluss wird analysiert, inwieweit die

dargestellte Sichtweise die damaligen historischen Rahmenbedingungen spiegelt oder ob sie

von Folgeerfahrungen beeinflusst ist.54

Bei der Analyse der Darstellungsweise wird grundsätzlich der verbale und nonverbale

Ausdruck untersucht. Dabei gilt es herauszufinden, welche Aussagen dadurch besonders

gewichtet werden, auf welche Ereignisse er Wert legt und welche Emotionen dabei an den

Rezipienten übertragen werden. Weiterhin wird die Wirkung des Erzählten auf den Zuhörer

untersucht.55

In der Fokussierung auf Geschichte ist es zum Schluss von großer Bedeutung, die fachliche

Triftigkeit der Narration zu überprüfen. Dabei geht es vorrangig um die Feststellung der

sachlichen Richtigkeit der getroffenen Aussagen und deren Geltungssicherheit. Dazu ist es

notwendig, auf externe Fachliteratur zurückzugreifen.56

4.2.2 Zeitzeuge 1

Der erste Zeitzeuge, den ich zur Thematik befragt habe, ist Klinger. Im betrachteten Zeitraum

arbeitete er zunächst als leitender Mitarbeiter in der Abteilung Landwirtschaft im Kreisamt,

53 vgl. Mebus, Sylvia: Anregungen zur Arbeit mit Zeitzeugen für die Hand von Lehrern und Schülern. In: Schreiber, Waltraud; Árkossy, Katalin: Zeitzeugengespräche führen und auswerten. Historische Kompetenzen schulen. Neuried: ars una 2009, S.69. 54 vgl. Mebus, Sylvia: Anregungen zur Arbeit mit Zeitzeugen für die Hand von Lehrern und Schülern. a.a.O. 55 vgl. Mebus, Sylvia: Anregungen zur Arbeit mit Zeitzeugen für die Hand von Lehrern und Schülern. a.a.O. 56 Vgl. Leitfaden und Bausteine zur De-Konstruktion „fertiger Geschichten“ im Geschichtsunterricht. In: Mebus, Sylvia, Schreiber Waltraud: a. a. O.

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wo er zuständig für Ökonomie und Planung war. Im Prozess der Umstrukturierung wurde er

im Dezember 1989 entlassen.57 Aus dieser Steller heraus hatte er über viele Jahre sowohl

Kontakt zu führenden Persönlichkeiten im Kreis als auch zu anderen Bevölkerungsgruppen,

vornehmlich zu Beschäftigten in den Agrargenossenschaften in und um Riesa, die er betreute.

Dieser teilweise sehr intensive Kontakt mit Menschen unterschiedlicher Bereiche und auch

seine persönliche Betroffenheit von den Umbrüchen machten ihn für mich als Zeitzeugen

interessant.

Im Jahr 1931 geboren, wuchs er in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland auf und

erlebte den Aufbau der DDR nach dem Zweiten Weltkrieg mit. Mitte der 50er Jahre trat er

seine Stelle als leitender Mitarbeiter für Ökonomie und Planung im Ressort Landwirtschaft im

Kreisamt Riesa an, die er bis 1989 behielt, sodass er die Entwicklung in der Landwirtschaft

der DDR am Beispiel des Kreises Riesa über Jahre aus derselben beruflichen Position

verfolgen konnte. Er war weder Mitglied in der SED noch in einer anderen Blockpartei der

Nationalen Front der DDR. Nach seiner Kündigung im Dezember 1989 war er wenige

Monate arbeitslos, bevor er im Mai 1990, bedingt durch seine langjährigen Erfahrungen in der

Landwirtschaft, recht schnell eine Anstellung als Buchhalter in einer der neu gegründeten

Agrargenossenschaften fand.

Auf meine Anfrage hat er sich bald zu einem Gespräch bereit erklärt. Es wurde ein sehr und

interessantes Gespräch in einer aufgeschlossenen Atmosphäre. Klinger erläuterte ausführlich

seine damaligen Erlebnisse und Ansichten sowie zahlreiche Hintergrundinformationen und

Nebengeschichten, mit denen er seine Hauptaussagen untermauerte. Zudem machte er seine

Standpunkte zu den verschiedenen Geschehnissen in begründeten Aussagen deutlich. Das

gesamte Gespräch war sehr aufschlussreich und stellte eine Wahrnehmung der Wendezeit in

Riesa dar.

Analyse des Gesprächsinhaltes

Klinger berichtete im Gespräch von folgenden Erlebnissen:

In das Interview stieg ich mit Hilfe des bereits im Abschnitt 3.3 vorgestellten Videos ein. Das

Betrachten des Videos beschrieb er als sehr emotional. Besonders thematisierte er daraufhin

die Sequenz der Ausreise tausender DDR-Flüchtlinge mit Sonderzügen aus der

57 siehe dazu auch 3.1 Vorstellung der Zeitzeugen.

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bundesdeutschen Botschaft in Prag durch die DDR in die BRD. Er erlebte die Durchfahrt

dieser Züge durch Riesa hautnah mit und konnte somit einen persönlichen Bezug zu dem

Ereignis herstellen. Eben diese genehmigte Ausreise von DDR-Bürgern in die BRD, die

Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher Ende September 1989 verkündete, beschrieb

Klinger als Ereignis, welches in Riesa intensiv, vor allem in „Straßengesprächen“ diskutiert,

wurde. Dennoch blieb es ihm zufolge in Riesa recht ruhig; es wurden keine größeren

Protestaktionen ausgelöst. Das sieht er in der Tatsache begründet, dass es in Riesa und den

umgebenden ländlicheren Bereichen weniger aktive SED- Mitglieder gab als in den

Großstädten. Somit konnten größerer Aufruhr, Demonstrationen oder Protestaktionen eher

verhindert werden als in größeren Städten. Unterschwellige Äußerungen in seiner Dienststelle

hätten schnell zu Konsequenzen, wie z.B. einer Versetzung, führen können.

Weiteren Diskussionsstoff lieferten Missstände, die im Laufe der Wendezeit aufgedeckt

wurden. Als Beispiel führte er an, dass diverse „Westprodukte“ in der DDR billig produziert

wurden, um sie dann teuer in der Bundesrepublik oder in den Intershopgeschäften der DDR

weiter zu verkaufen. Das stieß bei ihm auf Unverständnis gegenüber den Westfirmen. Nach

Bekanntwerden der Vorwürfe nach der Wende führte dies ihm zufolge zu einem

Imageschaden für eben diese Firmen.

Ende der 80er Jahre wurde es Klinger immer offensichtlicher, dass die Wirtschaft der DDR

am Ende war. Er zog dieses Fazit für sich aus seinen Beobachtungen, und erläuterte es: So sei

es jahrelang üblich gewesen, dass Arbeiter aus anderen Firmen, in Riesa vorzugsweise aus

dem VEB Stahl- und Walzwerk Riesa, die Landwirtschaft in Stoßzeiten, wie der Ernte,

unterstützten. Im Gegenzug halfen die in den Landwirtschaftlichen Produktionsgesellschaften

(LPG) beschäftigten Mitarbeiter beispielsweise im Winter, wenn es bei ihnen nur wenig

Arbeit gibt, im Stahlwerk aus. Seit ca. 1985 sei diese Kooperation immer mehr

zurückgegangen, das Stahlwerk lehnte Anfragen zunehmend mit der Begründung ab, dass sie

vollkommen ausgelastet seien. Da die Unterstützung allerdings Jahre vorher stets funktioniert

hatte, schlussfolgerte Klinger daraus, dass es sehr schlecht um die Wirtschaft der DDR

bestellt sein musste. Die Zerschlagung vieler Industriegebiete in Riesa nach der Wende sah er,

begründet in diesen Erfahrungen, voraus. Das betrachtet er als eine der schlechtesten Folgen

der Wendezeit nicht nur für Riesa, sondern für die ganze DDR.

Als „größter Fehler“ des DDR-Regimes und der SED sieht er, dass die offiziellen

herausgegebenen Thesen des Politbüros nun für jeden offensichtlich falsch gewesen seien.

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Dies entzog der Regierung die Unterstützung und das Vertrauen eines Teils der Bevölkerung,

die vorher an das System glaubte.

Er konnte damals dennoch keine generelle Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den

bestehenden Verhältnissen erkennen. Auch diese Erkenntnis belegt er wieder mit einem

Beispiel aus der Landwirtschaft. Nach der Grenzöffnung, noch im November, sei ein Mann

aus Baden-Württemberg, den er als sehr patent beschreibt, in die Dienststelle gekommen, der

seine Unterstützung in der Neuordnung der Landwirtschaft im Raum Riesa anbot. Klinger

nahm ihn daraufhin mit in eine benachbarte LPG, um ihn persönlich mit den betroffenen

Menschen bzw. Bauern sprechen zu lassen. Die grundsätzliche Erwartung von beiden war,

dass die Menschen ihren Grund und Boden ab jetzt wieder allein bewirtschaften wollten.

Klinger berichtete, dass diese Erwartungshaltung jedoch nicht erfüllt worden sei, im

Gegenteil – die Bauern seien zufrieden mit der gemeinsamen Bewirtschaftung der Felder

gewesen und wollten dies beibehalten, auch wenn es einige Ausnahmen gab. Die

Genossenschaften und das gemeinsame Arbeiten sei als sehr positiv angesehen und in

zahlreichen LPG – bis heute – beibehalten worden. Viele Agrargenossenschaften, die nach

diesem Prinzip arbeiten, zeugen heute davon.

Dieses Beispiel betrachtet Klinger als ein Positives im Kontakt mit westdeutschen

Geschäftsleuten. Er berichtete auch von negativen Erfahrungen, beispielsweise Händler, die

Ackerland in großen Flächen zu geringsten Preisen gekauft und dieses bis heute

herunterwirtschaften hätten. Nach dieser Erkenntnis sei nicht nur bei ihm das Misstrauen

gegenüber Westdeutschen, sondern auch bei den Betroffenen gewachsen. Klinger ärgerten sie

sich außerdem über Vorwürfe der „Wessis“, „die ja immer alles besser wussten“.

Klinger sprach weiterhin von ca. drei bis vier Wochen Euphorie in Riesa, die er in die Zeit

rund um die Öffnung der Grenzen und dem damit verbundenen Fall der Berliner Mauer

(Oktober/ November 1989) einordnet. Nach diesem Ereignis habe er keine größeren

Erwartungen an weitere Schritte gehabt, sondern die Geschehnisse lieber auf sich zukommen

lassen. Er konnte in seiner Umgebung aber auch teilweise Desinteresse an den Geschehnissen

beobachten, von Menschen, die sich von allen Aktionen und Veränderungen nicht viel

erhofften.

Klinger berichtete darüber, dass in diesen Wochen schließlich auch erste

Podiumsdiskussionen durchgeführt worden seien. Er habe davon gewusst, aber selber nicht an

diesen teilgenommen. Infolgedessen trat auch das Neue Forum in den Vordergrund, er spricht

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von Dezember 1989. Dann erfuhr er auch erstmals von Zielen des Neuen Forums in Riesa. Er

lobte die gute Vorbereitung der Organisation, ohne darauf jedoch näher einzugehen. Als eine

aktive Person im Neuen Forum ist ihm Andreas Näther bekannt, da dieser auch in dieser

Angelegenheit einmal in seiner Dienststelle war. Den Verdienst oppositioneller Gruppen und

Bürgerbewegungen, wie zum Beispiel des Neuen Forums, sieht er in konkreten Forderungen,

die zur richtigen Zeit hervorgebracht wurden und einem Teil der Bevölkerung aus der Seele

sprachen. Die Forderungen sind aber im Laufe des Wendeprozesses „verwässert“ worden.

Die Rolle der Kirche in Riesa und Umgebung schätzt er, trotzt diverser positiv eingeschätzter

Aktivitäten wie Friedensgebete, als zu passiv ein. Das sieht er teilweise in der allgemeinen

Rolle der Kirche in der DDR begründet, dennoch sei die Thematisierung der Neugestaltung

und Veränderung zu kurz gekommen.

Er sieht in Riesa keinen spezifischen Träger der Revolution; sowohl die jüngere als auch die

ältere Generation waren an der Gestaltung des Wendeprozesses beteiligt. Die Jugend sieht er

dabei eher in der euphorischen, emotionalen Rolle, während die ältere Generation für die

Durchsetzung der Forderungen verantwortlich war.

Über die Arbeit des Runden Tisches, den es auch in Riesa gab, berichtet er nur kurz.

Informationen über Ergebnisse konnte man damals in der Zeitung lesen, allerdings erschienen

sie ihm zu wenig konkret auf Riesa bezogen. Er bedauert, dass nur allgemeine Thesen

diskutiert worden sind und sich nicht die Entwicklung von Riesa und Umgebung bezogen

wurde.

Die Volkskammerwahlen am 18. März 1990 waren seinen Worten folgend ein wichtiger

Schritt in Richtung Neugestaltung. Er spricht von einer hohen Wahlbeteiligung, woran man

den Willen zur Mitbestimmung ablesen konnte. Er schätzt die Zeit, die für den Wahlkampf

blieb, als zu kurz ein, auch wenn er natürlich versteht, dass die Wahlen möglichst schnell

stattfinden sollten.

Die Wiedervereinigung sieht er als beste und einzige Lösung an, da die DDR wirtschaftlich

am Ende war und ein alleiniger Wiederaufbau nur schwer möglich gewesen wäre. Dennoch

betrachtet er die Art und Weise – das „Überstülpen“ des Systems der BRD – kritisch. Das

rigorose Vorgehen in diesem Prozess wirkte sich negativ auf die weitere Entwicklung

Ostdeutschlands aus, da die wirtschaftspolitischen Umstände damals schlecht waren. Die

Betriebe waren zu heruntergewirtschaftet; es fehlte an moderner Technik und, es gab nur

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wenige Arbeitsplätze. Folglich suchten viele junge Menschen ihr Glück im Westen der

Bundesrepublik. Das ist ein Prozess, der bis heute zu spüren ist.

Analyse der Darstellungsweise

Während des Interviews wirkte Klinger auf mich sehr aufgeschlossen. Er war daran

interessiert, mir seinen persönlichen Eindruck über die Wendezeit aus seiner Perspektive zu

schildern.

Bei seinen vorwiegend synchronen Erzählungen berichtet er in Themenschwerpunkten, was

natürlich auch in der Ordnung der Fragestellungen zum Interview begründet liegt, die

thematisch geordnet waren. Bei Fragen nach konkreten Zeitabläufen ging er in die diachrone

Erzählweise über. Die Darstellung war stets sehr emotional, da er viele seiner Aussagen mit

persönlichen Erlebnissen verbunden hat und diese zum Teil auch näher ausgeführt hat. Er hat

immer wieder den Bezug zur Landwirtschaft, seinem Fachgebiet gesucht; viele Beispiele und

Ausführungen waren daran geknüpft. In fast allen meiner Themenschwerpunkte konnte er

Verbindungen zu diesem Ressort herstellen.

Bei konkreten Fragen nach seiner Meinung zum Wirken oppositioneller Gruppen oder der

Kirche war zunächst Zurückhaltung zu spüren, hier entstanden auch die Gesprächspausen. Es

war zu erkennen, dass er sich sehr genau überlegt hat, was er übermittelt: Teilweise setzte er

auch mehrmals an und unterbrach seine Ausführungen wieder.

Generell konnte ich feststellen, dass er sich noch sehr gut an die Ereignisse der Wendezeit

erinnern konnte. In seinen Ausführungen, vor allem den Beispielen, erwähnte er viele Details

zu Orts- und Personenangaben. Er konnte sich an vollständige Namen, aber auch an konkrete

Gesprächsteile erinnern.

Unterstrichen von Mimik und Gestik hat er immer wieder Botschaften an mich gerichtet. Die

wichtigste Botschaft, die er in mehreren Zusammenhängen äußerte und ihr damit eine große

Bedeutung zuspricht, war, dass man stets hinterfragen sollte, warum etwas getan wird, warum

jemand in dieser Art und Weise gehandelt hat.

Insgesamt war er sehr interessiert am Gespräch und hat oft nachgefragt, ob ich seinen sehr

verständlichen Ausführungen folgen konnte. Das hat mir gezeigt, dass er darauf bedacht war,

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dass seine Darstellungen auch tatsächlich bei mir ankommen und ich das Gespräch und seine

Äußerungen in Erinnerung behalte.

4.2.3 Zeitzeuge 2

Die zweite Zeitzeugin, die ich zur Thematik befragt habe, ist Bärbel Heym. Sie wuchs in der

DDR im Kreis Riesa auf. Nach Beendigung ihres Studiums, das sie als

Diplomgesellschaftswissenschaftlerin 1983 abschloss, trat sie der SED bei. Im Jahr 1986

übernahm sie das Amt der Vorsitzenden des Rates des Kreises in Riesa, welches sie auch

noch zur Wendezeit innehatte. Ich habe sie als Zeitzeugin gewählt, da sie aus dieser leitenden

Position heraus einen umfangreichen Blick über die Geschehnisse hatte. Ihr Name tauchte in

verschiedenen Chroniken der Jahre 1989/90 immer wieder auf.

Zudem trug sie in ihrem Amt eine große Verantwortung für die Stabilität des Kreises und

natürlich auch für die künftige Weiterentwicklung im Raum Riesa. Sie erklärte sich nach

meiner Anfrage schnell zu einem Gespräch bereit.

Während des Gespräches schilderte sie mir ihre Sicht auf die Wendeereignisse 1989/90. Viele

Eindrücke der Zeit waren ihr noch sehr gut in Erinnerung. Zur genauen Angabe von Daten

nutzte sie eine Chronik des Jahres 1989, in der sie die wichtigsten Entwicklungen im Kreis

Riesa markiert hatte. Insgesamt war es ein sehr interessantes und informatives Gespräch,

welches mir eine neue Perspektive auf die Ereignisse in der Wendezeit eröffnete.

Analyse des Gesprächsinhaltes

Heym berichtete im Gespräch von folgenden Ereignissen:

Sie beschrieb das Betrachten des Videos als sehr emotional. Eine Beobachtung, die sie

machte, war, dass es zum Ende der DDR viele Probleme und ein breites Konfliktpotential

gab, auf das die Staatsführung nicht reagierte. Diese ignorierte auch den Reformkurs von

Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion, was ebenfalls Frust und Enttäuschung der

Bevölkerung mit sich brachte.

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Sie sprach weiterhin davon, dass sie58 die Entwicklungen der friedlichen Revolution

unterschätzt haben. In der DDR gab es zwar mehrere Parteien, diese waren aber in der

Nationalen Front zusammengefasst und hatten keinen Spielraum, ihren spezifischen

politischen Intentionen zu folgen.59 So wurden in Diskursen im Rat des Kreises nur die

Randprobleme thematisiert, die tatsächlichen Widersprüche, vor allem lokalpolitischer Sicht,

wurden außer Acht gelassen. Sie kritisierte außerdem den absoluten Wahrheits- und

Machtanspruch von Staat und Partei, fügt aber hinzu, dass es diese Erscheinung auch heute in

der BRD noch gebe. Dabei spielt sie auf die starren Strukturen der CDU an, die ihr zufolge in

dieser Hinsicht an jene der SED erinnerten. Zudem seien Versuche, auf lokaler Ebene

wirtschaftspolitische Probleme, v. a. im Stahlwerk Riesa, zu beheben und Veränderungen

herbeizuführen, stets von übergeordneter Instanz abgelehnt worden. Sie macht es sich selbst

zum Vorwurf, diesen Sachverhalt nicht weiter hinterfragt, sondern ihn nur akzeptiert zu

haben.

Ihren Ausführungen folgend, fand am 2. Oktober 1989 das erste Friedensgebet in der Kirche

Riesa – Gröba statt, das den Beginn der oppositionellen Aktionen in Riesa markiert.

Ihr waren bis auf das Neue Forum, welches auch in Riesa eine Ortsgruppe bildete, und zwei

in ihr wirkenden Personen, keine weiteren oppositionellen Gruppierungen in Riesa bekannt.

Eine der Personen war Andreas Näther. Er kam zu ihr, um mit ihr über das Neue Forum zu

sprechen. Sie wusste zu jenem Zeitpunkt allerdings noch nichts über diese Bewegung, nur,

dass sie verboten war. Auf Nachfrage erklärte sie sich gesprächsbereit, wofür sie aus den

Reihen der SED im Rat des Kreises kritisiert wurde – diese Funktionäre vermuteten, dass hier

ein politischer Hinterhalt geplant war. Die für die Riesaer Bürger offene Podiumsdiskussion

fand schließlich am 30. Oktober 1989 in der Kirche Gröba mit ca. 2000 Teilnehmern statt.

Das Gespräch gestaltete sich ihr zufolge recht schwierig, da sehr viele persönliche Probleme

aufgeworfen worden, die vor Ort nicht zu lösen waren. Zudem meinte sie, dass es unmöglich

sei, mit so vielen Menschen konstruktiv zu diskutieren.

Heym berichtete, dass sie im Oktober 1989 permanent zuhause Anrufe erhielt, in denen sie

beschimpft wurde. Viele dieser Anrufer blieben anonym und griffen sie persönlich an. Die

Anrufe hörten erst auf, als sie Ende Oktober/Anfang November ihre Telefonnummer ändern

ließ.

58 sie: SED-Funktionäre auf allen Ebenen, Anmerkung. 59 Alle Parteien der DDR trugen demokratischen Charakter, wurden aber von Seiten der SED auf deren Kurs verpflichtet. Dies stellte einen Eingriff in die Souveränität der Parteien dar.

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30

Am 2. November 1989 fand ein weiteres Friedensgebet in Riesa statt und darauf folgte die

erste Demonstration durch das Stadtzentrum in Riesa. Ab dem 13. November 1989 fanden

fortan jeden Montag Dialoge im Club der Jugend und Sportler mit führenden

Persönlichkeiten des Kreises und oppositionellen Verantwortungsträgern statt. Auch dort

kamen Heym zufolge wiederum zahlreiche unlösbare Probleme zur Sprache, teilweise wurden

sie und andere von den Zuhörern verbal angegriffen. Bald darauf kam von Seiten der

Kreisleitung der SED der Vorschlag, den Dialog in Themenbereiche zu trennen und an

verteilten Orten zur gleichen Zeit durchzuführen, um sich auf wenige Themenbereiche zu

konzentrieren, um zu Ergebnissen gelangen zu können. Dafür wurden sie von Teilnehmern

mit dem Vorwurf kritisiert, die Kräfte spalten zu wollen.

Als eine weitere Veränderung berichtete sie von der Auflösung der Kreisdienststelle des

Ministeriums für Staatssicherheit am 5. Dezember 1989, die in ihrem Verantwortungsbereich

lag. Vor dem entsprechenden Gebäude fand an jenem Tag eine Demonstration statt, die sich

gegen die Arbeit der Staatssicherheit wandte. Auch dort ist Heym wieder mit Vorwürfen

konfrontiert worden, obwohl sie selbst nichts mit der Arbeit der „Stasi“ zu tun hatte und keine

detaillierten Informationen über deren Arbeit hatte.

Vom Fall der Berliner Mauer und der Grenzöffnung am 9. November 1989 erfuhr sie noch am

selben Tag in den Fernsehnachrichten der DDR, worauf sie zunächst ungläubig reagierte. Sie

befürchtete damals, dass die Sicherheit für die Menschen nicht mehr zu gewährleisten wäre,

und lobte die Grenzsoldaten der DDR für deren hervorragende, Ruhe bewahrende, Reaktion.

Heym sagte, dass die mit der Maueröffnung einher gehenden Veränderungen während der

folgenden Tage auch in Riesa spürbar wurden. Zum Beispiel bildeten sich vor der Sparkasse

in Riesa lange Warteschlangen, da jeder sein von der Regierung der Bundesrepublik in

Aussicht gestelltes Begrüßungsgeld von 100.- DM entgegennehmen wollte.

Im Folgenden kritisiert sie, dass die bald nach der Maueröffnung aufkommende Forderung

„Wir sind ein Volk!“ zu voreilig und zu euphorisch ausgesprochen wurde Sie hoffte damals

noch auf eine Reformierung des politischen Systems der DDR. Weiterhin beklagte sie, dass

von Teilen der DDR-Bevölkerung und den Bundesbürgern bisherige Lebensleistungen einiger

SED-Mitglieder missachtet wurden, denn nicht alle SED-Mitglieder beugten sich unkritisch

der Politik der SED-Führung. Sie berichtete von einer Art innerparteilicher Opposition, die

sogar recht groß war, die sehr aufmerksam nach Osten, in die Sowjetunion, schaute und

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forderte, dem Vorbild Michail Gorbatschows folgend, Veränderungen durch Glasnost 60und

Perestroika61 entsprechend.

Neben dem Neuen Forum wusste sie in Riesa noch von der „AG Friedensgebet“, die sich,

dem Namen entsprechend, um die Organisation von Friedensgebeten kümmerte. Im

Wendeprozess 1989/89 wurden neue Parteien gegründet, wie zum Beispiel die SPD. Sie

selbst kann sich mit den Forderungen der Bewegungen nach mehr Offenheit und Transparenz

identifizieren, das war auch eines von ihren persönlichen Zielen. Den Beitrag dieser Gruppen

zur Neugestaltung sah sie in der Benennung der Themenschwerpunkte, die zu überdenken und

zu diskutieren waren.

Der Kirche weist sie im Allgemeinen keine tragende, sondern eher eine auffangende und den

Wendeprozess begleitende Rolle zu. Sie bot Räume für Diskussionen und Friedensgebete und

fing entsprechende Bewegungen auf. Nicht umsonst hätten die ersten Diskussionsrunden in

einer Kirche stattgefunden. Da die Kirche das Vertrauen vieler Bürger besaß, trug sie

außerdem zur Versachlichung des Dialoges zwischen den Seiten bei und half, den erstarrten

Zustand der Gesellschaft aufzubrechen.

Als die Träger der Friedlichen Revolution sieht sie die Generation, die damals zwischen 35

und 45 Jahren alt war. Diese sind in die DDR hineingeboren, hatten deren politisches System

bewusst erlebt und konnten auch noch von den Veränderungen, die kommen könnten,

profitieren. Die Jugend sieht sie in einer eher untergeordneten Rolle.

Die Stimmung in den Betrieben und Firmen in Riesa sei ebenfalls recht angespannt gewesen.

Heym berichtete darüber, dass nicht erst seit dem Reformkurs der Sowjetunion (Mitte der

80er Jahre), sondern schon einige Jahre zuvor in der Arbeiterschaft regelmäßig über politische

Themen diskutiert worden sei. Besonders aber im Herbst ’89 erlebte sie mit, dass sich die

SED-Austritte, auch in Riesa, häuften. Die Ursache für die Austritte war häufig die

allgemeine Unzufriedenheit mit dem bestehenden System. Heym hatte auch Befürchtungen

um den Industriestandort Riesa. Es sei vorauszusehen gewesen, dass das Stahl- und Walzwerk

Riesa mit seinen Tausenden Beschäftigten nicht gehalten werden konnte, was eine

angespannte Stimmungslage im Betrieb verursachte. Sie berichtete auch von

Westunternehmern, die die Region besuchten. Am Beispiel der Baumwollspinnerei, einem

vergleichsweise modernen Betrieb, erläuterte sie, dass diese Unternehmer nur an den

60 Glasnost (russ.): Öffnung 61 Perestroika (russ.): Umbau/Umgestaltung

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Kundendateien, nicht an den Betrieben interessiert gewesen seien. Die Kundendateien

eröffneten den bundesdeutschen Firmen neue Absatzmärkte.

Heym war Mitglied des Runden Tisches in Riesa. Sie bemerkte, dass in den Beratungen alles

bisher Geltende in Frage gestellt wurde und sich meist über kleinste und unwichtigste Sachen

aufgeregt wurde. Sie schätzt ein, dass auch diese Diskussionen nicht immer sachlich, zum

Teil persönlich geführt wurden. Es wurden keine substanziellen Fragen angesprochen.

Insgesamt schätzt sie die Arbeit des Runden Tisches als nicht effektiv ein. Diese schwierige

Arbeit hat auch ihre Bereitschaft gelähmt, immer wieder an anderen, neuen Diskussionen

teilzunehmen.

Die Wahlen zur Volkskammer der DDR am 18. März 1990 und vor allem der vorhergehende

Wahlkampf waren ihren Berichten zufolge eine lehrreiche Zeit für die im Dezember 1989 von

der SED in SED-PDS umgebildete Partei. Sie hatte noch keinerlei Erfahrungen über die

Gestaltung eines Wahlkampfes. Das Wahlergebnis für Riesa gibt sie mit 46% für die CDU an,

darauf folgte die SED-PDS, dann die SPD, für diese beiden Parteien konnte sie allerdings

keine konkreten Zahlenangaben machen. Ihr zufolge war der Wahlsieg der CDU zu erwarten,

denn viele Bürger wollten so leben wie die Menschen im Westen, und da in der

Bundesrepublik die CDU gewählt wurde, machten die Menschen hier das auch. Sie selbst

kandidierte für den Kreistag in Riesa für die PDS und bekam schließlich die meisten Stimmen

aller Kandidaten aller Parteien. Das wertet sie als Anerkennung ihrer geleisteten

überzeugenden authentischen Arbeit in den letzten Jahren der DDR.

Zum Schluss formulierte sie als Botschaft, dass das politische System in der DDR nicht in

Ordnung war, dass das heutige aber auch nicht fehlerfrei sei. Es sei die Aufgabe der folgenden

Generationen, auch meiner Generation, die bestehende demokratische Gesellschaft hin zu

einer lebenswürdigen Gesellschaft weiterzuentwickeln.

Analyse der Darstellungsweise

Heym war während des Gespräches sehr konzentriert. Sie fokussierte auf die

Wendeereignisse, an die sie sich noch gut erinnern konnte; bis auf wenige Nebengeschichten

blieb sie stets beim Thema.

Sie hinterlegte ihre Ausführungen mit einer Chronik der Wendezeit, aus der sie die genauen

Daten- und Zahlenangaben entnahm. Ansonsten berichtete sie nur aus ihrem Gedächtnis.

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Während des Gespräches entstanden kaum Pausen, der Gesprächsfluss wurde nicht

unterbrochen. Bei einigen wenigen Fragen überlegte Heym kurz nach einer passenden

Antwort, fand dann aber schnell wieder in das Interview hinein. An Stellen, wo sie mir

Botschaften mitgeben wollte, war zu beobachten, dass sie den Blickkontakt zu mir gesucht

hat. Zudem ist sie keiner meiner Fragen ausgewichen, sondern hat alle ihrem Kenntnisstand

entsprechend mehr oder weniger ausführlich beantwortet.

4.2.4 Zeitzeuge 3

Der dritte Zeitzeuge, den ich zur Wendezeit in Riesa interviewt habe, ist Andreas Näther. Zu

jener Zeit war er in der Jugendarbeit der Kirche tätig und aktives Mitglied des Neuen Forums

in Riesa. Als Mitorganisator von Friedensgebeten, Demonstrationen und

Podiumsdiskussionen hat er diese Zeit aktiv erlebt und mitgestaltet. Aus diesem Grund habe

ich ihn als Zeitzeugen gewählt.

Als Jugenddiakon kam er 1982 nach Riesa und arbeitete seitdem in der Kirchgemeinde Riesa-

Gröba. Der Frieden und eine gesunde Umwelt seien für ihn grundsätzlich die wichtigsten

Ziele gewesen, für die er sich schon in der DDR längere Zeit engagierte, sagte er mir.

Analyse des Gesprächsinhaltes

Während des Gespräches sprach Näther folgende Aspekte an:

Im Jahr 1987 begann er sich in einer „Umweltgruppe“ der Kirchgemeinde Riesa-Gröba zu

engagieren. Diese Gruppe wurde regelmäßig von 15 bis 20 Personen besucht. Als wichtige

Diskussionsthemen in der damaligen Zeit benannte er umweltpolitische Themen, die

Aufrüstung und den Wehrkundeunterricht in Schulen. Dabei lud die Gemeinde mehrmals im

Jahr zumeist gesellschaftskritische Liedermacher in der DDR ein, die in Großstädten zum Teil

schon mit Auftrittsverbot belegt wurden. Aufmerksamkeit konnte die Gruppe über sogenannte

Liedermacherveranstaltungen erreichen. Ihre Auftritte wurden auch jedesmal mit politischen

Diskussionen um die o. g. Probleme verbunden. Bei jeder dieser Veranstaltungen kamen

immer ca. 100 Besucher zusammen.

Am 2. Oktober 1989 fand das erste Friedensgebet in Riesa-Gröba statt, welches im Rahmen

mehrerer anderer Aktionen, wie Andachten, und in einer weiteren Liedermacherveranstaltung

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angekündigt wurde. Die Gemeinde gestaltete dafür die Plakate selbst. Angebracht wurden sie

in der Stadt, mit Erlaubnis der Betreiber in deren Privatgeschäften. Auf dem Plakat wurde

weiterhin angekündigt, dass der Gründungsaufruf des Neuen Forums verlesen werden sollte.

Diesen hatte Näther über Berliner Kontakte erhalten.

An jenem Abend war der Zulauf so groß, dass das Friedensgebet in Gröba vom

Gemeinderaum kurzfristig in die Kirche verlegt wurde, damit die rund 100 Interessierten alle

Platz finden konnten. Näther zeigte sich überrascht – mit einem solchen Zuspruch hatte er als

Mitorganisator nicht gerechnet. Immer mehr Menschen fühlten sich von den Vorstellungen

des Neuen Forums angesprochen, sodass Näther im Laufe der darauffolgenden Woche vor

rund 3000 bis 3500 Menschen in Riesa sprach. All diese Besucher seiner Veranstaltungen

unterschrieben den Gründungsaufruf des Neuen Forums.

Im Vorfeld des Friedensgebetes am 2. Oktober 1989 wurde er von zwei Mitarbeitern des

Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) aufgesucht, die von im forderten, das Friedensgebet

abzusetzen. Näther berief sich jedoch auf die Religionsfreiheit und lehnte diese Forderung ab.

Er bot jedoch an, mit der Vorsitzenden des Rates des Kreises, Heym, über das Neue Forum

und dessen Forderungen zu sprechen. Auch sie zeigte sich gesprächsbereit und willigte in

einen öffentlichen Dialog ein, welcher einige Wochen später stattfinden sollte.

Bereits im ersten und auch in den darauffolgenden Friedensgebeten sowie den in dieser

Woche täglich veranstalteten Aktionen im Gemeindezentrum Gröba wurde dieser Dialog

angekündigt. Die Besucher wurden aufgefordert, Themenvorschläge für die Diskussion zu

sammeln, damit sie entsprechend den Vorstellungen der Bevölkerung gestaltet werden

konnte.

Ein Abend ist Näther besonders in Erinnerung geblieben. Es war eine dieser

Liedermacherveranstaltungen, am 11. Oktober 1989, die unter dem Thema „Bach und Blues“

stand. Eingeladen waren der Saxophonist Friwi Sternberger und Ulrich Kiehn62. Das

Rahmenprogramm sah eigentlich die Thematisierung von Umweltproblemen vor. Doch U.

Kiehn berichtete letztendlich unter Tränen von seinen Erlebnissen am 8. Oktober in Dresden,

als Truppen der Deutschen Volkspolizei auf die Demonstranten einschlug und einige von

ihnen in das Gefängnis nach Bautzen abtransportierte. Näther berichtete, dass diese

Schilderungen allen Zuhörern verdeutlichten, an welche Grenzen das politische System der

DDR gelangt war, da es nur noch mit Gewalt zu reagieren vermochte.

62 Beide waren freischaffende Künstler in Dresden.

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In den folgenden Wochen fanden jeden Montag Gebete statt63, bei denen stets die Kirche in

Gröba mit interessierten Bürgern gefüllt war. An diesen Tagen wurden auch weiterhin

Unterschriften für das Neue Forum gesammelt.

Als eine weitere wichtige Aktion nannte Näther den bereits oben kurz angesprochenen Dialog

mit dem ganzen Rat des Kreises, auch mit Bärbel Heym, am 30. Oktober. Es war der erste

öffentliche Dialog in Riesa mit den bisherigen politischen Entscheidungsträgern, der in der

Kirche Gröba stattfand. Diese Veranstaltung fand großen Zuspruch, die Kirche war wieder bis

auf den letzten Platz gefüllt. Die Menschen wollten Antworten auf ihre Fragen haben, wie es

politisch und wirtschaftlich weitergehen soll und welche Veränderungen kommen werden.

Gleichzeitig wurde der Dialog vor die Kirche übertragen, da nicht alle Platz fanden. Er spricht

von ca. 2500 bis 3000 Menschen, die die Diskussion in und vor der Kirche verfolgten.

Am 2. November 1989 fand die erste Demonstration in Riesa statt, der ein Friedensgebet

voranging. Das Gebet wurde aufgrund des immer größer werdenden Zuspruchs in Riesas

größte Kirche, die Trinitatiskirche, verlegt. Danach formierte sich ein Demonstrationszug von

etwa 3500 Menschen zum Rathaus, der in einer kurzen Kundgebung endete. An diesem Tag

hat es noch keine Spruchbänder oder Plakate gegeben.

In den folgenden Wochen fanden regelmäßig Friedensgebete in der Trinitatis- oder der

Klosterkirche, danach Demonstrationen entlang der heutigen Hauptstraße, statt. Nach der

Öffnung der innerdeutschen Grenzen am 9. November 1989 nahm der Zuspruch der Riesaer

Bürger jedoch immer weiter ab, die Kirchen wurden wieder leerer.

Am 6. November 1989 fand ein Dialog im Club der Jugend und Sportler, der heutigen

Stadthalle „Stern“, statt, der vom Rat des Kreises initiiert wurde. Es nahmen Vertreter von

Bürgerbewegungen, so auch Näther, sowie vom Rat des Kreises und auch die damalige

Riesaer Bürgermeisterin teil. In der Diskussion wurden verschiedenste Themen angesprochen:

- Bildung, die vielen Bürgern zu sehr politisch belastet war (z. B. Wehrkundeunterricht)

- Versorgung der Bevölkerung/wirtschaftliche Lage

- Wahlfälschungen in Bezug auf die Kommunalwahlen im Mai 1989

- Forderung nach freien Wahlen

- Abschaffung der Führungsrolle der SED, die in der Verfassung verankert war

- Reisefreiheit

63 16. und 23. Oktober 1989.

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Auch dieser Dialog wurde von den Riesaer Bürgern im überfüllten Lokal sehr gut

angenommen; wieder fanden nicht alle Besucher einen Platz, sodass viele von ihnen stehen

mussten.

Die Verkündigung der Grenzöffnung am Abend des 9. Novembers 1989 verfolgte Näther bei

Bekannten aus dem Neuen Forum im Fernsehen. Die Bedeutung und die ganze Tragweite

dieser Maßnahme habe er allerdings erst am nächsten Tag erfasst, als er darauf angesprochen

wurde. In Riesa machte sich dieser Tag auf verschiedene Art und Weise bemerkbar. Zum

einen war dieses Ereignis wie eine Ventilöffnung, nach der immer weniger Menschen

Friedensgebete besuchten und an Demonstrationen teilnahmen. Zum anderen bildeten sich in

den folgenden Tagen lange Warteschlangen vor dem Gebäude der Volkspolizei und der Bank,

wo die Menschen ihren Pass und das Begrüßungsgeld holten. Generell, so sagte Näther, löste

die Grenzöffnung aber keine große Euphorie in Riesa aus. Sie war auch kein erklärtes Ziel des

Neuen Forums, Näther und die anderen Mitglieder wollten einen besseren Sozialismus,

besonders in wirtschaftlicher Hinsicht, mitgestalten.

Das letzte Ereignis im Jahr 1989, von dem Näther berichtete, war die Versiegelung der

Kreisdienststelle des MfS in Riesa am 5. Dezember 1989, die er persönlich begleitete. Auch

an diesem Tag gab es eine Kundgebung vor dem Gebäude der „Stasi“ in Riesa.

Neben dem Neuen Forum als Bürgerbewegung in Riesa war vor allem noch die „AG

Friedensgebet“ aktiv, die, dem Namen entsprechend, maßgeblich an der Organisation der

Friedensgebete in Riesa beteiligt war. Diese Bewegung begann mit ihrer Arbeit ca. einen

Monat vor dem Entstehen des Neuen Forums. Kurzzeitig gab es auch eine Gruppe des

„Demokratischen Aufbruchs“, die aber bald in der CDU Riesa aufging. Anfang des Jahres

1990 wurde die Ortsgruppe der SDP, später SPD, in Riesa gegründet, zu der auch Näther

gehörte.

Näther sieht das Neue Forum als Bürgerbewegung, welche die Forderungen von vielen

Menschen widerspiegelte. Die Anzahl der aktiven Mitglieder beziffert er auf ca. 80

Menschen. Dazu zählten auch einige SED-Mitglieder, die, so Näther, „die Nase voll hatten“.

Er schließt aber nicht aus, dass sie auch durch Inoffizielle Mitarbeiter (IM) des MfS bespitzelt

worden sind. Die Aktivität des Neuen Forums war nach den nächsten Wahlen beendet, auch

wenn ein Teil der Gruppe unter dem Namen noch kurzzeitig im Stadtrat saß.

Die Kirche bot Näther zufolge als Einzige Raum für Opposition in der DDR. Die

evangelischen Kirchentage seien z. B. besonders in den 80er Jahren für die SED-Spitze der

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DDR grenzwertige kirchliche Veranstaltungen gewesen, auf denen fast nur politische Themen

angesprochen und diskutiert wurden. Die Chance, die die Kirche auf diese Art und Weise

Andersdenkenden bot, schätzt er als sehr positiv ein.

Für Näther waren sowohl die ältere als auch die jüngere Generation Träger der friedlichen

Revolution. Vor allem in Großstädten bei Veranstaltungen wurde die Vermischung von

Jugend/Studenten mit der älteren Generation durch gemeinsames Agieren sichtbar. In Riesa

betraf dies größtenteils die Generation mittleren Alters, die Anteil an den

Veränderungen/Umbrüchen hatte.

In den Riesaer Betrieben, vor allem im Stahl- und Walzwerk als dem damals größten

Arbeitgeber der Region, blieb die Stimmung anfangs zunächst ruhig. Gegen Ende des Jahres

1989 wurden Betriebsräte gegründet und auch einige innerbetriebliche Demonstrationen und

Arbeitsniederlegungen durchgeführt. Die Arbeiter beklagten vor allem schlechte

Arbeitsbedingungen. Näther selbst sorgte sich um den Industriestandort Riesa, da Tausende

Arbeitsplätze mit der Stahlproduktion verbunden waren. Die schließlich eingetretene hohe

Arbeitslosigkeit in der Region wurde ihm zufolge im Laufe des Jahres 1990 immer deutlicher.

Die Neuvermittlung von Arbeitsplätzen und Neustrukturierung der Region in den kommenden

Jahren sieht er als große Leistung der Verantwortlichen an.

Der Runde Tisch in Riesa war vom Rat des Kreises initiiert worden und setzte sich aus allen

bekannten, aktiven Organisationen zusammen. Näther bemängelt im Interview, dass von

diesem Gremium keine Impulse ausgingen, dass es sich mehr um eine offene

Diskussionsrunde handelte, die zu keinen nennenswerten Ergebnissen führte. Er wurde

größtenteils zur Absicherung von Entscheidungen genutzt. Den Runden Tisch in Berlin

betrachtete Näther als interessant, weil dort auch gute Diskussionspunkte aufkamen.

Den Ausgang der Volkskammerwahlen am 18.03.1990 schätzt Näther als voraussehbar ein.

Die meisten Menschen wollten nichts mehr mit dem Sozialismus zu tun haben. Damals hoffte

er jedoch noch, dass die Forderungen des Neuen Forums verwirklicht und der Sozialismus

neu gestaltet würde.

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Den Beitritt der DDR zur BRD am 3. Oktober 1990 nach Artikel 23 des Grundgesetzes sieht

Näther als Fehler an. Die Wiedervereinigung hätte zu einer kompletten Neuentwicklung

genutzt werden müssen.64 Die „alten“ Probleme der BRD werden heute wieder sichtbar und

sind nach wie vor nicht gelöst. Seiner Meinung nach wurde mit dem Beitritt die Chance

verspielt, etwas gemeinschaftlich Neues zu gestalten.

Eine Botschaft, die Näther mir mit auf den Weg gegeben hat, bezieht sich auf das fehlende

Engagement vieler Menschen in unserer Gesellschaft. Er wünscht sich, dass sich mehr

Menschen, auch junge, aktiv in das öffentliche Leben in unserem Land einbringen.

Analyse der Darstellungsweise

Während des Gespräches wirkte Näther sehr aufgeschlossen und überlegt. Die

Wendeereignisse waren ihm noch sehr gut in Erinnerung, er berichtete sehr detailliert über die

Geschehnisse.

Seine Erläuterungen unterstützte er mit zahlreichen Materialien aus der Zeit, die er gesammelt

hatte, darunter Fotos, Zeitungsausschnitte und Handzettel. Das ermöglichte mir einen sehr

anschaulichen Blick in die Zeit. Diese Originaldokumente präzisierten zum Teil auch seine

Aussagen, zum Beispiel die Angabe von Personenzahlen.

Näthers Berichte basieren größtenteils auf synchronen Darstellungen, nach

Themenschwerpunkten geordnet, was allerdings auch durch die synchron geordneten

Fragestellungen bedingt ist. Zum Teil ging er auch in die diachrone Darstellung über,

besonders als er den Verlauf der Wendezeit in Riesa schilderte. Die Gesamtdarstellung der

Ereignisse war zu Beginn emotionaler als zum Ende des Gespräches hin, seine Ausführungen

wurden immer sachlicher. Das könnte daran liegen, dass das von mir zu Beginn gezeigte

Video sehr ergreifende Szenen beinhaltet.

Im Gespräch gab es oft Gesprächspausen, in denen er entweder den Wortlaut seiner nächsten

Antwort überlegte, was oft bei Fragen nach seiner eigenen Meinung geschah, die er dann aber

64 Eine andere Möglichkeit der Wiedervereinigung wird im Grundgesetz, Art. 146 angebracht: „ Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hgg.): Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Bonn, 2005.

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überzeugt vertrat, oder, wenn er nach passendem Material zu den Erläuterungen in seinen

Ordnern suchte.

Auffällig war, dass er oft zur Seite oder nach oben geschaut hat, meist beim Überlegen, zum

Teil aber auch während seiner Ausführungen. An anderen Stellen hat er wiederum

Blickkontakt gesucht, zum Beispiel wenn er mir eine Botschaft mitgeben wollte.

Auf alle Fragen, die ich ihm gestellt habe, ist er eingegangen und hat sie in mehr oder weniger

ausführlicher Form beantwortet. Er ist auch keiner Frage ausgewichen.

Insgesamt war es ein Gespräch, in welchem ich vor allem detaillierte Informationen zu

Friedensgebeten und Demonstrationen erhalten habe, an die sich andere Zeitzeugen nicht so

präzise erinnern konnten.

4.2.5 Vergleichende Analyse

Trotzdem alle Zeitzeugengespräche unabhängig voneinander stattfanden und es sich um

Personen aus damals und heute unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Gruppen

handelt, stimmen einige ihrer persönlichen Überzeugungen und Meinungen zu bestimmten

Themenbereichen ganz oder teilweise überein.

Analyse des Inhaltes (sachliche Triftigkeit)

So beschrieben alle drei Interviewpartner den Mauerfall als zwar bedeutendes Ereignis, an

welches sie aber keine weiteren, besonderen Erwartungen stellten. Auch stimmt ihre

Beschreibung überein, dass der Tag keine große Euphorie in Riesa auslöste, sich aber in den

folgenden Tagen durch Warteschlangen vor dem Gebäude der Volkspolizei und der Bank

bemerkbar machte. Letztere Beobachtung wurde von Heym und Näther geschildert, Klinger

ist darauf nicht eingegangen.

Eine weitere Übereinstimmung ist in der Beschreibung der Träger der Friedlichen Revolution

zu finden. Alle drei Zeitzeugen sehen eher die mittlere Generation als die aktive an: Sie seien

die Träger der friedlichen Revolution gewesen, indem sie in oppositionellen Gruppierungen

und Bürgerbewegungen mitarbeiteten, Gebete und Demonstrationen organisierten, daran

teilnahmen und aktiv in den Umgestaltungsprozess eingebunden waren. Die junge Generation

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wurde übereinstimmend in einer eher untergeordneten Rolle gesehen. Die Ursache dafür kann

darin liegen, dass diese jungen Menschen mit dem System der DDR aufgewachsen und

verwurzelt sind und keine Alternativen kannten oder selbst erlebt hatten. Sie arrangierten sich

mit dem System.

Ebenfalls identisch ist die Wahrnehmung der Rolle der Kirche in der DDR und konkret in

Riesa. Sie wird als Institution beschrieben, die Räume für Andersdenkende und für die

Opposition geboten hat. Ihr wird allerdings keine aktive, sondern eher eine passive Rolle

zugeschrieben, indem sie politische Veranstaltungen, wie die von Näther und seiner Gruppe

initiierte „Liedermacherveranstaltung“, tolerierte.

Die Arbeit des Runden Tisches in Riesa wird von allen Zeitzeugen aus verschiedenen

Gründen als ineffektiv betrachtet. Klinger, der kein Mitglied des Runden Tischs war,

begründet seine Einschätzung damit, dass nichts die Region Betreffendes diskutiert und

erreicht wurde. Die anderen beiden Zeitzeugen waren Mitglied des Runden Tisches. Während

Heym zum einen die Art der Diskussion kritisiert, die häufig auf persönliche

Anschuldigungen sowie Schuldzuweisungen führte, und zum anderen dass wenige

substanzielle Fragen diskutiert wurden, bemängelt Näther fehlende Impulse.

Alle Zeitzeugen erwähnten im Laufe des Gespräches, ohne dass ich konkret danach gefragt

habe, dass der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nicht die richtige Lösung gewesen sei.

Sie alle hätten sich eine Neugestaltung für ein vereintes Deutschland gewünscht. Mit dem

Beitritt, meinten sie übereinstimmend, sei die Chance verspielt worden, etwas ganzheitlich

Neues für das wiedervereinigte Deutschland zu gestalten.

Analyse der Darstellungsweise

In allen drei Gesprächen gab es kürzere und auch längere Gesprächspausen, die oft in der

genauen Überlegung der nächsten Antwort begründet lag. Näther und Heym unterstützen ihre

Erläuterungen durch Literatur oder Originaldokumente, während Klinger nur aus dem

Gedächtnis berichtete.

Die Erzählungen von Klinger waren sehr emotional, außerdem war er stets darauf bedacht,

dass ich ihm folgen kann und seine Botschaft, das Geschehen um mich herum stets zu

hinterfragen, verstehe. Bei den anderen beiden Zeitzeugen waren die Berichte sehr viel

weniger emotional, sondern eher sehr sachlich. Auch sie übermittelten mir Botschaften,

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machten die Wichtigkeit derer durch Mimik und Gestik deutlich, haben aber nicht öfter

nachgefragt.

Betrachtung der fachlichen Triftigkeit

Im Folgenden sind die Datierungen aufgelistet, die wenigstens zwei Zeitzeugen benannt

haben:

2. Oktober 1989: Erstes Friedensgebet in der Kirche Riesa-Gröba (Heym, Näther)

30. Oktober 1989: Erster öffentlicher Dialog in der Kirche Riesa-Gröba (Heym, Näther)

2. November 1989: Friedensgebet in der Trinitatiskirche und erste Demonstration (Heym,

Näther)

5. Dezember 1989: Versiegelung der Kreisdienststelle des MfS in Riesa, begleitet durch

Demonstration (Klinger, Heym, Näther)

Alle Daten werden in verschiedenen Dokumenten und in der Fachliteratur bestätigt. Diese

finden sich zum einen in der Chronik des Jahres 1989 der Stadt Riesa65, zum anderen in: „Die

Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90“ von Michael Richter.66

Der 5. Dezember 1989 wird nochmals im Beiheft zur Karte DV3 im „Atlas zur Geschichte

und Landeskunde von Sachsen“, S. 48, bestätigt. Somit können diese Aussagen als fachlich

triftig betrachtet werden.

Weiterhin wurden einige Ereignisse nur von jeweils einem der Zeitzeugen beschrieben:

11. Oktober 1989: Andacht und Liedermacherveranstaltung mit Friwi Sternberger und

Ulrich Kiehn (Näther)

16. und 23. Oktober 1989: Friedensgebet in der Kirche Riesa-Gröba (Näther)

11. November 1989: Erklärung des Neuen Forums zur Grenzöffnung (Heym)

15. Dezember 1989: Erster Runder Tisch in Riesa (Heym)

Die Liedermacherveranstaltung und die beiden Friedensgebete, deren Datenangaben jeweils

von Näther stammen, hat er mit Originaldokumenten (Handzettel) belegt, sodass auch diese 65 http://www.riesa.de/deu/leben_in_riesa/stadtgeschichte/chroniken/media_chroniken/chronik_1989.pdf, Aufruf am: 25.10.2012. 66 Richter, Michael: Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 301, 523, 636.

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als fachlich triftig angesehen werden können. Die anderen beiden Angaben machte Heym, die

diese aus einer Chronik des Jahres 1989, herausgegeben vom Staatsministerium für Kultus,

übernommen hat. Die Konstitution des Runden Tisches ist auch in der Chronik der Stadt

Riesa67 zu finden, während die Erklärung des Neuen Forums in keiner anderen mir bekannten

Fachliteratur erwähnt wird. Da die Angabe aber aus einer offiziellen Chronik stammt, kann

auch sie als fachlich triftig betrachtet werden.

Es gibt aber auch eine Datierung, die nicht übereinstimmt. Heym und Näther gaben für das

Datum des ersten Dialoges im Club der Jugend und Sportler den 13. November, bzw. den 6.

November 1989 an. In der Abhandlung von Michael Richter „Die Friedliche Revolution.

Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90“ und in der Chronik des Jahres 1989 der Stadt

Riesa wird davon gesprochen, dass ein wöchentlicher Dialog unter dem Motto „Worte –

Dialog – Taten“ im Club der Jugend und Sportler am 6. November 1989 angekündigt wurde,

nicht aber, dass er an diesem Tag bereits stattgefunden hat. Am 13. November, so wird in

beiden Darstellungen übereinstimmend berichtet, fand ein Dialog statt, ob dies der Erste war,

wird nicht näher erläutert. Somit kann die Angabe des 13. November als fachlich triftig, die

des 6. November allerdings nicht betrachtet werden.

Betrachtung der sprachlichen Triftigkeit

Alle drei Zeitzeugen bewegten sich während des Gespräches auf sprachlich gehobener Ebene.

Erkennbar war das an vor allem an der Benutzung verschiedener Fachtermini. Bei Klinger

waren dies vor allem landwirtschaftliche Fachbezeichnungen, wie z. B.

„Vollgenossenschaftlichkeit“ oder die genaue Angabe von damals geltenden Flächenmaßen.

Die Sprache von Heym und Näther, aber auch Klingers, zeichnete sich allgemein durch die

Verwendung von politisch-gesellschaftlicher Fachsprache aus, wie „absoluter

Führungsanspruch der SED“, „gesellschaftlicher Diskurs“ oder „Soziale Markwirtschaft“.

Näther verwendete zum Teil metaphorische Darstellungen zur Veranschaulichung der

Sachverhalte, z. B. „Ventilöffnung“ als Übertragung des Mauerfalls.

Die sprachlich korrekte und anspruchsvolle Darstellung bedeutet, dass alle drei

Zeitzeugenberichte auch als sprachlich triftig anzusehen sind.

67 http://www.riesa.de/deu/leben_in_riesa/stadtgeschichte/chroniken/media_chroniken/chronik_1989.pdf, Aufruf am: 25.10.2012.

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Betrachtung der normativen Triftigkeit

Bei allen drei Zeitzeugen war aus den Gesprächen eine demokratische Grundeinstellung

herauszufiltern, was durch Akzeptanz der parlamentarischen Demokratie und im Fall von

Heym und Näther im Engagement in Parteien deutlich wurde. Weiterhin wurden

demokratische Grundwerte, wie Engagement und Meinungsfreiheit, von allen Zeitzeugen als

wichtig angesehen. Engagement als wichtiger Bestandteil für das Zusammenleben in der

Gesellschaft wurde mir von Heym und Näther auch als Botschaft übermittelt.

Die von den Zeitzeugen angesetzten Normen und Werte sind alle Bestandteil unserer heutigen

Demokratieansichten. Die Gespräche sind somit auch als normativ triftig anzusehen.

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4.3 Fokussierung auf Geschichte (Fokus II)

4.3.1 Erläuterungen zur Fokussierung

Nachdem im Fokus I die einzelnen Vergangenheitspartikel herausgefiltert wurden, werden

nun im Fokus II die Art und Weise der Darstellung der Narration sowie die

Kontextualisierung der Vergangenheitspartikel untersucht. Jetzt werden auch Verbindungen

zwischen dem Inhalt der Narration und der Darstellungsweise gezogen, um die Wirkung auf

die Rezipienten zu analysieren.68

Der zunächst wichtigste Schritt im Fokus II ist die Gliederung des Interviews in thematische

Schwerpunkte. Dabei wird auch geprüft, inwieweit der Zeitzeuge auf die Fragestellungen

geantwortet hat, welche er nicht oder nur wenig ausgeführt hat und warum er dies getan hat.69

Ein weiterer Punkt ist die Analyse der Argumentationsstruktur der Narration. Dabei ist es für

das Erfassen der Tiefenstruktur des Gesagten wichtig, beschreibende, wertende und

belehrende Gesprächsteile zu unterscheiden, aber auch die Bedeutung von Gesprächspausen

und nicht oder nur teilweise beantworteter Fragen zu prüfen.70 Es wird untersucht, welchen

Einfluss über Biographisches hinaus äußere, gesellschaftliche und politische, Zustände auf die

Ansichten und Entscheidungen des Zeitzeugen haben.71

Es folgt die Erschließung der Position des Zeitzeugen gegenüber den entsprechenden

Geschehnissen. Dies geschieht durch die verbindende Analyse von Inhalt und seiner

Darstellungsweise/ seinem Verhalten. Dabei wird auch untersucht, ob, warum und in welcher

Weise sich der Standpunkt des Interviewpartners von der damaligen Position bis heute

verändert hat oder warum nicht.72

4.3.2 Zeitzeuge 1

Wie bereits im Fokus I festgestellt, erfolgte die Darstellung der Ereignisse primär synchron.

Das bedeutet, dass sie, nach thematischen Einheiten geordnet, sich an Zuständen orientiert,

68 vgl. Mebus, Sylvia: Anregungen zur Arbeit mit Zeitzeugen für die Hand von Lehrern und Schülern. a.a.O. S.69. 69 vgl. Mebus, Sylvia: a.a.O. S.67. 70 vgl. Mebus, Sylvia: a.a.O. S.68. 71 vgl. Mebus, Sylvia: a.a.O. S.69. 72 vgl. Mebus, Sylvia: a.a.O. S.68.

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die sich zeitgleich ereigneten. In diesem Fokus stehen Zeitverläufe nicht im Zentrum der

Analyse.

Die Themen entsprechen dabei den von mir für das Gespräch ausgewählten Kategorien73,

nach denen ich im Gespräch gezielt gefragt habe. In dieser von mir im Voraus der Gespräche

vorgenommenen Strukturierung folgt der synchronen Darstellungsweise.

Klinger konnte mir grundsätzlich zu allen Bereichen Informationen geben und seine

persönliche Wahrnehmung schildern. Zum „Runden Tisch“ in Riesa hat er am wenigsten

berichtet, er verfügte auch nicht über nähere Informationen, die Inhalte der Diskussionen und

Ergebnisse betreffend. In diesem Bereich waren auch die Gesprächspausen am längsten, er

hat nach den Fragen stets sehr lange gezögert, bis er mir geantwortet hat. Die Antworten

waren kurz; er driftete recht schnell von den von mir vorgelegten Fragestellungen ab. Der

Befragte ging dazu über, mir bereits seine Gesamteinschätzung zum Wendeprozess und der

deutschen Einheit zu schildern.

Im Fokus I bin ich bereits kurz darauf eingegangen, dass er stets die Verbindung zur

Landwirtschaft gesucht hat. Dabei hat er allerdings nicht nur bezogen auf den Wendeprozess

erzählt, sondern ist zum Teil sehr weit vom eigentlichen Thema abgewichen. So hat Klinger,

vermutlich um mir ein besseres Verständnis der Materie zu ermöglichen, die komplette

Entwicklung der Landwirtschaft und Landwirtschaftspolitik in der DDR und seine alltägliche

Arbeit beschrieben. In diesen Teilen des Gespräches gab es auch die wenigsten Pausen, die

Berichte darüber waren sehr flüssig. Die Ursache dafür sehe ich in der die Tatsache, dass er

sich sein ganzes Berufsleben lang mit der Landwirtschaft in der DDR, beschäftigt und sein

Lebenswerk somit sehr stark verinnerlicht hat.

Als Mitarbeiter für Ökonomie und Planung der Abteilung Landwirtschaft im Kreisamt Riesa

war er oft mit Mitgliedern und Funktionären der SED zusammen. Er selbst trat nicht in diese

Partei ein, doch schätzte er einige seiner Kollegen, die SED-Mitglieder waren, sehr.

Gleichzeitig betonte er aber auch, dass er trotzdem stets aufpassen musste, was er wem

erzählen konnte und was nicht, wahrscheinlich aufgrund der Angst, nach kritischen

Äußerungen von der Stasi bespitzelt zu werden. Darin scheint auch der Grund zu liegen, dass

er sich damals sehr passiv verhielt und viele Dinge einfach auf sich zukommen ließ. Im

Gespräch übermittelte er mir an mehreren Stellen, dass er die Tragweite der Geschehnisse im

73 siehe dazu nochmals Kapitel 3.3 Prinzip des Leitfadeninterviews – Struktur der Gespräche.

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Herbst 1989 damals noch nicht einschätzen konnte, so zum Beispiel die Folgen des Falls der

Berliner Mauer oder die Wirkungen der Friedensgebete/ Demonstrationen in Riesa.

Die politischen Veränderungen der Wendezeit 1989/90 schätzt er als notwendig ein. Es

musste etwas geschehen, da das System in der bestehenden Form marode war, besonders auf

wirtschaftlichem Gebiet. Dem Ergebnis des Wendeprozesses, der in die deutsche Einheit

durch Beitritt der DDR zur BRD mündete, stand und steht er jedoch kritisch gegenüber.

Grundsätzlich sei es die beste und einzige Lösung gewesen, betont er dennoch. Er sieht sich

durch seine Beobachtungen, die er in der heutigen Gesellschaft macht, z. B. die

„Ellenbogengesellschaft“, die er als Stichwort nannte, in seiner Meinung bestätigt, dass auch

die jetzige parlamentarische Demokratie nicht optimal ist und genauso Fehler hat, wie der

Sozialismus in der DDR. Auch dem Wirtschaftssystem in der Bundesrepublik, die soziale

Marktwirtschaft mit der nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik, weist er Schwächen zu. Er

erwähnte, dass ein Wirtschaftssystem, das ständiges Wachstum verlangt, auf Dauer, also über

mehrere Jahrzehnte und Jahrhunderte, nicht funktionieren kann. Dennoch sei die

Wiedervereinigung die einzige Lösung gewesen, da die DDR am Ende war.

4.3.3 Zeitzeuge 2

Auch die Erzählungen von Heym sind synchron kontextualisiert.

Mithilfe persönlicher Quellen und Dokumenten konnte sie mir sachlich triftig genaue Daten

übermitteln, die für Riesa in der Wendezeit relevant waren. Da sie in die damaligen

Veränderungen aktiv eingebunden war, hat sie einen umfassenden Blick auf die Zeit. Ihre

Berichte waren in sich schlüssig, auch deshalb, weil sie ihre Erläuterungen mit zusätzlichem

Material unterstützte.

Heym beantwortete mir alle Fragen; es entstanden auch kaum Gesprächspausen. Vor jeder

Antwort hat sie jedoch kurz überlegt, bevor sie mit ihren Erzählungen begann. Das ganze

Gespräch war sehr flüssig und geriet nie in eine längere Pause, die störend wirkte.

Während des Gespräches war sie sehr auf den Inhalt bedacht, sie fügte kaum

Nebengeschichten an. Sie stellte immer wieder Bezüge zu ihrer aktuellen Parteiarbeit her, das

war die einzige Abweichung vom eigentlichen Thema des Gespräches.

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Heyms Standpunkt zu den Ergebnissen der Wende unterscheidet sich kaum vom damaligen.

Sie war und ist der Meinung, dass der Sozialismus in der Form, wie er in der DDR praktiziert

wurde, nicht mehr tragbar war. Gleichzeitig empfindet sie das demokratische System der

BRD vor allem mit dem System der sozialen Marktwirtschaft als nicht effektiv. Die

Wirtschaft ist für sie momentan zu verschwenderisch und verbraucht zu viele Ressourcen. Die

soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftssystem verlangt für wirtschaftliches Gleichgewicht ein

permanentes Wirtschaftswachstum. Das ist ihrer Meinung nach nicht auf Dauer umsetzbar.

Darüber hinaus kritisiert sie auch das Überangebot an Waren, was aber eines der Kennzeichen

für den Kapitalismus und die Marktwirtschaft ist. Wenn man dieses Überangebot beseitigen

wöllte, müsste man auch die soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftssystem abschaffen.

Um für die Gestaltung einer lebenswürdigen Gesellschaft etwas beizutragen, engagiert sie

sich auch immer noch in der Partei „Die Linke“, für die sie im Kreistag Meißen sitzt.

4.3.4 Zeitzeuge 3

Wie die beiden anderen Zeitzeugenberichte sind auch die Berichte von Näther synchron

kontextualisiert.

Näther konnte mir die meisten konkreten Daten und Zahlen zu Friedensgebeten,

Demonstrationen und Podiumsdiskussionen/Dialogen von allen Zeitzeugen liefern. Er

erinnerte sich noch sehr gut an die damaligen Ereignisse. Der Grund dafür liegt nicht nur in

seinem intensiven Engagement damals, sondern auch darin, dass er schon oft als Zeitzeuge zu

diesem Thema befragt wurde. Seine Berichte wirken sehr plausibel, besonders dadurch, dass

er sie durch Fotos, Zeitungsausschnitte und Flugblätter aus der Zeit unterlegte. Dadurch

konnte er auch ziemlich genaue Angaben z. B. zur Anzahl an teilnehmenden Personen

machen.

Näther wich dabei weder vom Thema ab oder erzählte Nebengeschichten. Nur am Anfang des

Interviews berichtete er, zur Einordnung seines Lebens in Riesa, das er als Jugenddiakon 1982

begann. Er fokussierte seine Aussagen ganz auf die Wendezeit. Der Befragte ging auf alle

meine Fragen ein. Bei einigen Fragen zu seiner persönlichen Wahrnehmung und

Einschätzung der Geschehnisse entstanden Gesprächspausen, die allerdings nur von kurzer

Dauer waren. Er fand dann schnell wieder in das Gespräch hinein und stellte mir seine

Meinung umfassend und begründet dar.

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Im Gespräch sagte Näther, dass er schon seit seiner Kindheit durch die evangelisch-kirchliche

Arbeit geprägt war, was seine Ansichten besonders zu Frieden und Umwelt prägte. In dieser

Arbeit hat er sich auch zuerst politisch engagiert, da sich im Raum der Kirche ein wenig

Widerstand entfalten konnte. Da er schon vor 1989 mit kritischen Veranstaltungen, wie dem

Liedermacherabend, immer viele Menschen erreichen konnte, setzte er sein Engagement zur

Wendezeit fort. Nachdem das Informationsmonopol der SED nicht mehr existierte und die

freie Meinungsäußerung nun ohne Konsequenzen möglich war, konnte er dieser Arbeit mit

viel weniger Problemen als vorher nachgehen.

Er sieht das Ergebnis der Wendezeit in der Einheit als Bundesrepublik dennoch kritisch, denn

sein eigentliches Ziel mit dem „Neuen Forum“ war die Neugestaltung des politischen Systems

der DDR, die Umwandlung in einen ‚besseren‘ Sozialismus. Auch die Art und Weise des

Vollzugs der deutschen Einheit sieht er kritisch, denn der Beitritt der DDR zur BRD laut GG

Art. 23, ohne Veränderungen am gesamten System, sei kein Fortschritt gewesen. Damals

wurde ihm zufolge eine Chance vertan, etwas Neues, Ganzheitliches für das wiedervereinte

Deutschland zu gestalten, diese Variante ist auch im GG Art. 146 verankert. Diese Position

vertritt er noch heute.

4.3.5 Vergleichende Analyse

Ich habe allen drei Zeitzeugen in den Interviews die gleichen Fragen gestellt.

Ihre persönlichen Meinungen bildeten alle drei Zeitzeugen durch ihre individuellen

Entwicklungen aus. Während Klinger sich als zur DDR-Zeit politisch nicht gebundener

Zeitgenosse auf sein Berufsfeld, die Entwicklung Landwirtschaft im Kreis Riesa,

konzentrierte und aus dieser Sicht urteilte, stellte Heym ihre Erläuterungen vor allem aus

politisch links orientierter Sicht dar. Näther argumentierte als evangelischer Christ. Klinger

setzt den Beginn der Veränderungen in Riesa im November/Dezember 1989 an, Näther ordnet

ihn schon in den Oktober ein. Die Meinungen aller drei Zeitzeugen bezüglich der deutschen

Einheit stimmen aber, trotz ihrer verschiedenen Prägungen, überein – sie sehen den einfachen

Beitritt der DDR zur BRD kritisch an und hätten sich eine andere Lösung gewünscht.

Auch sind die politischen Grundpositionen bei allen drei Zeitzeugen über die Jahre hinweg

identisch geblieben. Bei Näther und Heym liegt das auch in der engagierten Mitarbeit in der

SPD bzw. „Die Linke“ begründet, die eine gewisse Konstanz in den persönlichen

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Einstellungen mit sich zieht. Klinger sagte selbst, dass er die Geschehnisse damals in ihrer

genauen Tragweite nicht genau einschätzen konnte und er seine Meinung erst im Laufe der

Jahre mit einem gewissen Abstand zu den Erlebnissen und mehr Erfahrungen mit dem neuen

politischen System herausbildete.

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4.4 Fokussierung auf Gegenwart/Zukunft (Fokus III)

4.4.1 Erläuterungen zur Fokussierung

Der Fokus III beschäftigt sich mit den Bezügen, die der Zeitzeuge zur eigenen Gegenwart und

Zukunft herstellt. Dabei wird untersucht, welche Bedeutung er dem Vergangenen für

Gegenwart und Zukunft gibt und wie er seine Bedeutungszuweisung dem Rezipienten

vermittelt.74 In diesem Teil der De-Konstruktion werden nun auch die Botschaften und

Orientierungsangebote erfasst, die der Zeitzeuge dem Zuhörer mit auf den Weg geben will.75

Zudem werden jetzt Bezüge zwischen dem Erzählten, den Deutungen und schließlich den

Weisungen und Orientierungsangeboten erörtert. Dabei wird auch die Darstellungsweise

(Mimik und Gestik, sprachliche Gestaltung) einbezogen. Damit wird die Wirkung der

Narration auf den Rezipienten untersucht. Zum Schluss werden die Chancen und Grenzen von

Zeitzeugengesprächen für das eigene Geschichtsverständnis und persönliche Orientierung

hinterfragt.76

4.4.2 Zeitzeuge 1

Während des Gespräches mit Klinger stellte er nur wenige Bezüge zur Gegenwart her. Erst

auf die Frage nach seiner heutigen Einschätzung der damaligen Ereignisse nahm er Bezug auf

die aktuelle Situation. Im restlichen Gespräch suchte er an keiner Stelle die Verbindung zur

Gegenwart, sondern konzentrierte sich nur auf das Vergangene.

Aus dem ganzen Gespräch konnte ich aber eine Botschaft herausfiltern, die er mehrfach

äußerte – man soll immer alles hinterfragen – hinterfragen, wer etwas entscheidet und

verantwortet, warum etwas geschehen ist, wer von bestimmten Entscheidungen profitieren

könnte usw. Die Art und Weise der Übermittlung verstärkte seine Botschaft. Durch die lauter

werdende Stimme und erhobenen Zeigefinger verdeutlichte er mir, dass das Folgende von

Bedeutung ist. Alles zu hinterfragen, ist auch eine Schlussfolgerung, die er für sich selbst aus

den Erfahrungen sowohl mit dem politischen System der DDR als auch mit dem heutigen der 74 Vgl. Leitfaden und Bausteine zur De-Konstruktion „fertiger Geschichten“ im Geschichtsunterricht. In: Mebus, Sylvia, Schreiber Waltraud: a. a. O. S.5. 75 vgl. Mebus, Sylvia: Anregungen zur Arbeit mit Zeitzeugen für die Hand von Lehrern und Schülern. a.a.O. S.69. 76 vgl. Mebus, Sylvia: a. a. O. S. 69.

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BRD gezogen hat. Klinger übermittelte mir hier eine Botschaft, die schon Jahrhunderte alt ist.

Bereits Immanuel Kant formulierte die Aufforderung: „Habe Mut, dich deinen eigenen

Verstandes zu bedienen“ im Rahmen der Aufklärung. Diese Botschaft ist meines Erachtens

sehr wichtig, denn das Hinterfragen hilft, Prozesse und Entwicklungen sowie deren

Hintergründe zu verstehen und ist alltäglich bedeutsam. Wenn man diese Prozesse verstanden

hat, die meist politischer Natur sind, kann man auch aktiv in das aktuelle Geschehen

eingreifen und seine eigene Meinung einbringen. Das ist in der parlamentarischen

Demokratie, in der wir leben, frei möglich und unbedingt notwendig. Denn nur wenn jeder

sich intensiv mit politischen Fragen auseinandersetzt und seine Forderungen deutlich macht,

können Veränderungen herbeigeführt werden.

Das Zeitzeugengespräch hat mir eine ganz neue Sicht auf die Geschehnisse der Wendezeit

eröffnet. Es war sehr interessant, das aus der Sicht des Sektors der Landwirtschaft geschildert

zu bekommen. Anhand dieses Bereiches konnte er mir die Wendezeit als Zeitzeuge vor

Augen führen. Er hat in fast jedem Themengebiet einen Bezug zur Landwirtschaft gefunden.

Aus diesem Blickwinkel habe ich die Geschehnisse vorher noch nicht betrachten können. In

Literatur wird meistens nur die politische und wirtschaftliche Sicht auf die Wendezeit

geschildert, oft auch aus Sicht der Stadtbevölkerung. Der Rest der Bevölkerung, hier speziell

aus der Landwirtschaft, der die Geschehnisse aus ihrer eigenen beruflichen und persönlichen

Perspektive beurteilt hat, wird meist außer Acht gelassen. Das Interview hat mir gezeigt, dass

eine multiperspektivische Betrachtung historischer Sachverhalte für eine umfassende

Beurteilung unbedingt notwendig ist.

4.4.3 Zeitzeuge 2

Heym stellte im Zeitzeugengespräch immer wieder den Bezug zur Gegenwart her. Sie zog

Parallelen vom damaligen System zum heutigen. So verglich sie zum Beispiel die Struktur der

SED mit jener der CDU. Dabei stellte Heym fest, dass die CDU der SED zum Teil sehr

ähnlich war und ist – eine sehr unbewegliche Partei mit festgefahrenen Strukturen und

vorgegebenen Karriereleitern. Dabei kritisierte sie vor allem, dass es schwierig ist, mit der

CDU zu diskutieren und Kompromisse zu finden. Sie selbst sieht in den Erlebnissen, die sie in

der DDR gemacht hat, einen großen Erfahrungsschatz, ebenso in ihren Erfahrungen im

politischen System der BRD. Sie sagte, dass man aus den Fehlern beider Staatssysteme lernen

müsste, um etwas Neues zu schaffen und stellte dabei den Bezug zu ihrer aktiven Arbeit in

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der Partei „Die Linke“ her. Das zeigt, dass sie der Vergangenheit eine wichtige Rolle für die

Gegenwart/ Zukunft zuweist. Sie gestand auch Fehler in ihrem eigenen Verhalten ein – so

wirft sie sich zum Beispiel vor, von der SED-Führung vorgegebene Beschlüsse und

Weisungen nicht ausreichend hinterfragt zu haben.

Auch sie formulierte vor allem am Ende des Gespräches ihre Botschaften an mich. So

kritisierte sie fehlendes Engagement der jungen, also meiner, Generation in der Politik und

betonte, dass es unsere Aufgabe sei, die demokratische Gesellschaft weiter zu gestalten. In

diesem Zusammenhang übermittelte sie mir weiter, dass es unsere Aufgabe sei, eine

lebenswürdige Gesellschaft zu gestalten. Kritik übte sie dabei vor allem an der

verschwenderischen Konsumgesellschaft. Sie betonte, dass sie sich in ihrer Parteiarbeit für die

Gestaltung eben dieser lebenswürdigen Gesellschaft einsetzt.

Heym äußerte, dass die eher ineffektive Arbeit des Runden Tisches in Riesa ihre stetige

Diskussionsbereitschaft gelähmt habe, da man zu keinem Ergebnis gekommen sei. Auch das

verstand ich als eine Botschaft an mich, dass ständige Diskussionen bei fehlender Zielklarheit

und mangelnder Stringenz Ergebnisse vermissen lassen.

Das Gespräch hat mir gezeigt, dass es in den Reihen der SED viele reformwillige Mitglieder

gab, die positive Veränderungen am System der DDR bewirken wollten, um ihr Land besser

zu gestalten. Mir wurde bewusst, dass sich hauptsächlich die Führungsebene gegen alle diese

Bemühungen stemmte und den Fortschritt blockierte. Sie berichtete, dass sie sich eine

positive Reaktion der Staats- und Parteiführung auf den Reformkurs (Glasnost und

Perestroika) Gorbatschows in der UdSSR gewünscht hätte. Dass sie sich damals sehr schnell

und trotz Kritik aus den Reihen der SED auf Podiumsdiskussionen einließ und mit dem Rat

des Kreises selbst einige Diskussionsforen inszenierte, empfinde ich im Kontext der Zeit

betrachtet als sehr beeindruckend, besonders, da sie stets mit persönlichen Angriffen rechnen

musste.

4.4.4 Zeitzeuge 3

Auch Näther weist der Vergangenheit eine wichtige Rolle für die Gegenwart und Zukunft zu.

So formulierte er, dass er es als wichtigen Erfahrungsschatz betrachtet, dass er beide Systeme,

das der DDR und das der BRD, durchleben darf. Aus den strukturellen und politischen

Fehlern, die in der DDR gemacht wurden, konnte man lernen und sollte diese in Zukunft

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vermeiden. Diese Erfahrungen helfen ihm auch in seiner politischen Aktivität als

Stadtratsabgeordneter für die SPD, da in dieser Funktion das Betrachten eines Sachverhaltes

aus verschiedenen Blickrichtungen von großer Bedeutung ist. Im Stadtrat als das Riesaer

demokratische Gremium kann Näther mit seiner Stimme und frei nach seinem Gewissen bzw.

mit seiner Partei gemeinsam über Beschlüsse entscheiden und diese mit beeinflussen.

Er formulierte während des Gespräches kaum Botschaften. Das Einzige, das er mir

übermittelte, war, dass nur mit Engagement Ziele erreicht werden können. Er kritisierte damit

auch die aktuell in unserer Gesellschaft immer mehr verbreitete Politikverdrossenheit.

Deshalb appelliert er an die junge Generation, sich mehr für ihre politischen Ziele und

Vorstellungen einzusetzen, die Möglichkeiten des Engagements und der freien

Meinungsäußerung in einer Demokratie auszunutzen. Diese Botschaft empfinde ich als sehr

wichtig, denn nur so kann der Willen der Bevölkerung umgesetzt werden. Nur aktive

Teilnahme am politischen Leben, wie sie viele Menschen zur Wendezeit unter Beweis

stellten, so Näther, verspreche Veränderungen.

Das Gespräch hat mir gezeigt, dass ohne solch engagierte Menschen wie Näther die

Wendezeit nicht die Veränderungen mit sich gebracht hätte, die schließlich in die deutsche

Einheit mündeten. Nur mit großem persönlichem Einsatz dieser Menschen, mit ihrem Mut

und ihrem Durchhaltevermögen, konnten Demonstrationen, Friedensgebete und Diskussionen

organisiert und durchgeführt werden.

4.4.5. Vergleichende Analyse

In allen drei Zeitzeugengesprächen habe ich Denkanstöße und Anregungen bekommen, die

unterschiedlicher Art waren und auf den persönlichen Erlebnissen der Zeitzeugen beruhten.

Auch die Botschaften waren unterschiedlich, doch gemeinsam betonten Näther und Heym, die

junge Generation sollte sich mehr für die Mitgestaltung und Weiterentwicklung unserer

demokratischen Gesellschaft engagieren. Dabei sprechen beide auch in ihrer politischen

Position als Kreistags- bzw. Stadtratsabgeordnete, aus der sie dieses Engagement erwarten.

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5. Chronologie der Wendezeit in Riesa

In den drei Zeitzeugenberichten habe ich viele Informationen zu unterschiedlichen

Ereignissen zur Wendezeit in Riesa erfahren können. Alle Informationen, die ich so erhalten

habe, sind in folgender Übersicht zu zusammengefasst:

Datum Ereignis

2. Oktober 1989 Erstes Friedensgebet in der Kirche Riesa-

Gröba

11. Oktober 1989 Andacht und Liedermacherveranstaltung mit

Friwi Sternberger und Ulrich Kiehn

16. Oktober 1989 Friedensgebet in Riesa-Gröba

23. Oktober 1989 Friedensgebet in Riesa-Gröba

30. Oktober 1989 Erster öffentlicher Dialog in der Kirche

Riesa-Gröba

2. November 1989 Friedensgebet in der Trinitatiskirche und

erste Demonstration

6. November 1989 Friedensgebet in der Klosterkirche Riesa

11. November 1989 Erklärung des Neuen Forums zur

Grenzöffnung

13. November Dialog im Club der Jugend und Sportler

5. Dezember 1989 Versiegelung der Kreisdienststelle des MfS

in Riesa, begleitet durch Demonstration

15. Dezember 1989 Erster Runder Tisch in Riesa

An dieser Chronik ist zu erkennen, dass die Aktivität bei Friedensgebeten und

Demonstrationen der Riesaer Bürger vor allem im Oktober und November sehr hoch war, im

Dezember nach Bildung des Runden Tisches dann abflachte. Im Jahr 1990 gab es keine

weiteren Ereignisse in Riesa, nur die regelmäßigen Treffen des Runden Tisches. Wie A.

Näther berichtete, nahm das Interesse der Bevölkerung an Demonstrationen und

Friedensgebeten nach dem Fall der Berliner Mauer und der damit verbundenen erreichten

Freiheit stetig ab. Dennoch wollten die Menschen ihre Meinung äußern, was schließlich in der

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hohen Wahlbeteiligung an den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 deutlich wurde.

Während der Jahre in der DDR wurde stets nach Einheitsliste gewählt, die Menschen hatten

keine Chance, wirklich mitzubestimmen. Deshalb war die erst zweite freie Wahl in der DDR

etwas Besonderes, viele nutzten deshalb die Chance, dass sie ihre Stimme bei den Wahlen

tatsächlich frei vergeben und damit etwas bewirken konnten.

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6. Vergleich der Ergebnisse mit Darstellungen in

wissenschaftlichen Publikationen

Wie in den meisten anderen Städten der DDR bildeten sich auch in Riesa oppositionelle

Bewegungen, die Friedensgebete, Demonstrationen und Diskussionen organisierten. Dennoch

ist die Wendezeit in Riesa im Vergleich zu anderen Regionen der DDR, insbesondere im

Vergleich mit den Großstädten, etwas anders verlaufen. Es fällt ins Auge, dass in Riesa erst

recht spät Aktionen, wie Friedensgebete, initiiert worden sind. Während in Leipzig schon

Anfang September 1989 das erste Gebet mit folgender Demonstration stattfand77, begann

diese Entwicklung in Riesa erst Anfang Oktober. Die erste Demonstration fand sogar erst

zwei Monate später als in Leipzig, nämlich Anfang November, statt. Die Ursache für die

spätere Entwicklung sieht Näther beispielsweise darin, dass in Riesa, begründet durch das

Stahl- und Walzwerk, eine hohe Anzahl an Arbeitern, also weniger an Intelektuellen, lebte.

Die Arbeiter wurden in der DDR sehr gefördert. Im „Arbeiter- und Bauernstaat“ bekamen

diese die besten Wohnungen, für deren Kinder gab es günstige Ferienprogramme. Sie hatten

also ein recht gutes Leben und Auskommen in der DDR, während Intelektuelle zumeist

benachteiligt waren und so den Staat eher kritisch betrachteten. Er berichtete weiterhin, dass

sich schließlich auch nur wenige Arbeiter bei Friedensgebeten und Demonstrationen

engagierten als z. B. die Ingenieure im Stahlwerk sich einbrachten.

Eine Besonderheit besteht auch darin, dass Riesa sehr stark von den wirtschaftlichen

Umbrüchen der Zeit betroffen war. Dass das Stahlwerk mit seinen ca. 11.000 Beschäftigten in

der bisherigen Form, mit der veralteten Technik, nicht weiter betrieben werden konnte, wurde

laut Heym und Klinger gegen Anfang des Jahres 1990 schnell bewusst. Dementsprechend

waren die Reaktionen gegenüber den wirtschaftlichen Veränderungen, die die Wende mit sich

brachte, unter den Arbeitern und damit einem Großteil der Riesaer Bevölkerung eher

verhalten, wenn nicht sogar negativer Art. Die Ursache dafür liegt darin, dass vielen

Menschen bewusst wurde, dass sie arbeitslos werden würden. Doch Arbeitslosigkeit, wie sie

in der Bundesrepublik auftrat, hat es in der DDR nicht gegeben. Die Bedrohung durch

Arbeitslosigkeit gab es sicherlich überall in Städten der DDR – Riesa war aber aufgrund der

einseitigen, auf Schwer- und Stahlindustrie ausgerichteten, Wirtschaftsstruktur besonders

davon betroffen.

77 vgl. J. Engelbrecht, W. Maron: Sechzig Jahre deutsche Geschichte 1949 – 2009. Aschendorff 2009, S.115.

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Die beschriebene ineffektive Arbeit des Runden Tisches in Riesa hat mich zunächst sehr

erstaunt, wurde doch die Etablierung dieser Diskussionsplattformen allgemein als eine

sinnvolle und effektiv arbeitende Institution zum Diskurs über die Fortentwicklung der DDR

betrachtet.78 Die Begründung von Heym und Näther dafür ist allerdings insofern

nachvollziehbar, als die Diskussionen zu keinem Ergebnis führten und sie mitunter sogar in

persönlichen Angriffen und Vorwürfen endeten. Alle drei Zeitzeugen betonten, dass sie die

Diskussionen am Runden Tisch in Berlin als sehr interessant empfunden haben, aber der

Runden Tisches konkret in Riesa ineffektiv arbeitete und deshalb zu keinen Ergebnissen

führte. Der Grund dafür liegt in der Bevölkerungsstruktur Riesas. Hier lebten vor allem

Arbeiter der Schwerindustrie und nur wenige Intelektuelle. Diese waren aber meist die

Mitglieder des Runden Tisches, sodass es schwierig war, geeignete Diskussionspartner zu

finden.

Die Entwicklungen in Riesa sind folglich insgesamt insofern typisch für die Wendezeit und

die friedliche Revolution, als sich oppositionelle Gruppen/ Bürgerbewegungen gründeten, die

für eine Reformierung der DDR einstanden und dies mithilfe von Friedensgebeten,

Demonstrationen und Dialogen/Diskussionen erreichen wollten. Auch die Auflösung der

Kreisdienststellen des Ministeriums für Staatssicherheit, die am 5. Dezember 1989 stattfand,

kann als eine zeittypische Aktion für die Zeit betrachtet werden. Untypisch im Vergleich zu

den Wendereignissen in den Großstädten, z. B. Berlin, Leipzig, Dresden, sind hingegen die

allgemein recht späte Entwicklung des Widerstandes und die recht kurze Arbeit des Runden

Tisches, die zu keinem Ergebnis führte.

78 vgl. Richter, Michael: Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 982f.

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7. Fazit

Die Zeitzeugengespräche zur Wendezeit haben mir einen vielschichtigen Blick auf diese

historisch bedeutsame Zeit bereitet, als die DDR sich als Staat nicht mehr behaupten konnte

und mit ihrem Beitritt zur Bundesrepublik verschwand. Ich habe Ereignisse aus verschiedenen

Blickwinkeln geschildert bekommen und drei teilweise ähnliche, teilweise ganz

unterschiedliche Wahrnehmungen erfahren können. Jeder Zeitzeuge verknüpft diese Zeit mit

persönlichen Erinnerungen und Erlebnissen und hat eine individuelle Sicht auf die

Geschehnisse, die abhängig von Herkunft, Prägung und Funktion des jeweiligen Zeitzeugen

und nicht pauschalisierbar ist.

Meine Arbeit hatte zum Ziel, zu aufzuzeigen, dass Zeitzeugengespräche eine effektive

Möglichkeit sind, um besonders die regionale Geschichte greifbar für andere zu machen. Das

Zeitzeugengespräch bietet eine hervorragende Möglichkeit, einen umfassenden Blick auf ein

historisches Ereignis zu erhalten, da in diesem nicht nur Tatsachen und Ereignisse, sondern

auch damit verbundene Emotionen und individuelle Beobachtungen vermittelt werden, deren

Authentizität in der Literatur nicht so treffend wiedergegeben werden kann und die uns

Quellen nicht so vermitteln können. In meinen Gesprächen habe ich viele Details erfahren, die

in der Literatur nicht zu finden sind – detaillierte Fakten, genaue Inhalte von Diskussionen

und Friedensgebeten und persönliche Meinungen, usw. die mein bisheriges Wissen über

dieses spannende Kapitel deutscher Geschichte erweiterte.

Die Befragung mehrerer Zeitzeugen zu einem Thema mit gleichen Strukturen, so wie ich sie

durchgeführt habe, ermöglicht eine multiperspektivische Betrachtung der Ereignisse. Da diese

mehrmals aus verschiedenen Blickwinkeln mit unterschiedlichen Begründungen dargestellt

werden, hilft es, eine eigene Meinung zum Thema zu entwickeln bzw. diese zu überdenken

und sich ein umfassendes Bild der Ereignisse zu schaffen.

Zum Schluss möchte ich noch sagen, dass mir die Besondere Lernleistung eine sehr gute

Chance geboten hat, die regionale Geschichte eines für mich sehr interessanten historischen

Zeitabschnittes zu untersuchen und die Geschehnisse in Riesa allgemein zu betrachten, wie

auch die Besonderheiten der Region herauszustellen. Die Besondere Lernleistung war eine

gute Möglichkeit, einen Einblick in das wissenschaftliche Arbeiten zu erhalten und

Fähigkeiten zu entwickeln, die für das spätere studierende Arbeiten von Vorteil sein können.

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Ich danke den drei Interviewpartnern, F. Klinger, B. Heym und A. Näther sehr herzlich für

ihre Bereitschaft, Zeit und Geduld, dieses Unterfangen mit mir gemeinsam zu wagen. Ich

habe sehr viel von ihnen lernen dürfen. Vor allem bedanke ich mich für ihre Offenheit und

Ehrlichkeit, all meinen Fragen gegenüber.

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8. Anhang

8.1 Grafiken

Anlage 1:

Kursbuch Geschichte. Neubearbeitung Sachsen. Von der Industriellen Revolution bis zur Gegenwart. Cornelsen Verlag: Berlin, 2009, S. 367f.

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Kursbuch Geschichte. Neubearbeitung Sachsen. Von der Industriellen Revolution bis zur Cornelsen Verlag: Berlin, 2009, S. 367f.

Kursbuch Geschichte. Neubearbeitung Sachsen. Von der Industriellen Revolution bis zur

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Anlage 2:

Anzahl und soziale Zuordnung der DDR

Kursbuch Geschichte. Neubearbeitung Sachsen. Von der Industriellen Revolution bis zur Gegenwart. Cornelsen Verlag: Berlin, 2009,

61

Anzahl und soziale Zuordnung der DDR-Flüchtlinge1 1949 - 1961

Kursbuch Geschichte. Neubearbeitung Sachsen. Von der Industriellen Revolution bis zur Gegenwart. Cornelsen Verlag: Berlin, 2009, S. 369. Kursbuch Geschichte. Neubearbeitung Sachsen. Von der Industriellen Revolution bis zur

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Anlage 3:

Prozessmodell und Kernkompetenzen „Historisches Denken; Ein Kompetenz(Forscherteam Prof. Schreiber)

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Prozessmodell und Kernkompetenzen „Historisches Denken; Ein Kompetenz(Forscherteam Prof. Schreiber) Prozessmodell und Kernkompetenzen „Historisches Denken; Ein Kompetenz-Strukturmodell“

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Anlage 4:

Sechsermatrix „Historisches Denken; Ein Kompetenz-Strukturmodell“ (Forscherteam Prof. Schreiber)

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8.2 Übersicht der Fragelandschaft

Aktivitäten und Veränderungen in Riesa im Sommer/Herbst 1989 bis zu den

Volkskammerwahlen am 18. März 1990

Wie haben Sie von den Friedensgebeten in Riesa erfahren? Haben Sie daran teilgenommen,

warum?

In Riesa fanden Anfang November und Dezember auch Demonstrationen mit bis zu 3000

Teilnehmern statt. Haben Sie daran teilgenommen?

Wenn ja: Wie sind Ihre Eindrücke gewesen. An welche Parolen/Spruchbänder können

Sie sich erinnern?

Wenn nein: Wussten Sie von dieser Veranstaltung? Welche Eindrücke haben

Menschen aus Ihrer Umgebung übermittelt?

Wussten Sie von weiteren Aktionen, wie z.B. Podiumsdiskussionen? Haben Sie daran teil

genommen? Welche Forderungen wurden dort deutlich? Was genau wurde diskutiert und

angesprochen? Konnte man konkrete Ergebnisse erzielen?

In diesen eineinhalb Jahren gab es zahlreiche Veränderungen. Welche waren konkret in Riesa

zu bemerken? Wie haben Sie diese Veränderungen erlebt und wahrgenommen?

Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989

Der Fall der Berliner Mauer war ein bedeutendes Ereignis für viele Menschen. Wie haben Sie

davon erfahren? Wie haben Sie sich gefühlt?

Welche neuen Erwartungen stellten Sie an die weiteren Entwicklungen?

Wie wirkte sich dieser Tag auf die Stimmung und Wahrnehmung in Riesa aus?

Entwicklung oppositioneller Gruppen/Neues Forum im Sommer/Herbst 1989 bis zu den

Volkskammerwahlen am 18. März 1990

Das „Neue Forum“ als oppositionelle Gruppe war in Riesa z.B. mit Kundgebungen aktiv.

Wann und wie haben Sie davon erfahren?

Welche anderen oppositionellen Gruppierungen haben Sie in Riesa wahrgenommen?

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Inwieweit konnten Sie sich selbst mit den Zielen des Neuen Forums oder einer anderen

oppositionellen Bewegung in Riesa identifizieren?

Kannten Sie Personen, die mit dem Neuen Forum von Anfang in Kontakt standen und dieses

unterstützten? Wenn ja, welche?

Wie schätzen Sie die Rolle des Neuen Forums auf dem Weg der Umgestaltung in Riesa ein?

Leisteten diese Leute einen Beitrag zur demokratischen Neugestaltung?

Rolle der evangelischen Kirche

Inwiefern waren Ihrer Meinung nach die Kirchen in den oppositionellen Prozess

eingebunden?

Wie schätzen Sie die Aktivitäten und Leistungen der Kirche damals ein? Waren Sie selbst

involviert?

Wie genau ging die Kirche mit dem Thema von Opposition und Neugestaltung um? Wurde

dies nur in den Friedensgebeten thematisiert oder auch in anderem Umfang?

Wussten Sie vom Engagement der Jungen Gemeinden? Wie beurteilen Sie dieses

Engagement?

Verhalten der Jugend

Wer war aus ihrer Sicht eher Träger der Revolution - die junge oder die ältere Generation?

Oder zog sich das durch alle Bevölkerungsschichten und Altersklassen?

Wie haben Sie das konkret in Riesa wahrgenommen?

Wissen Sie, welche Ziele die jungen Leute in Riesa hatten? Waren sie eher in oppositionellen

Gruppen organisiert als ältere Leute?

Probleme in der Wirtschaft Riesas

Riesa war und ist eine Industriestadt, besonders geprägt durch die Stahlindustrie. Was

wussten Sie über die Stimmung in den Betrieben?

Vor allem im November ’89 wurden vermehrt SED-Austritte in den Betrieben gemeldet.

Haben Sie davon erfahren? Wenn ja, auf welchem Wege?

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Hatten Sie Befürchtungen um den Industriestandort Riesa, als mehr und mehr deutlich wurde,

dass es tiefgreifende Veränderungen in der Betriebslandschaft geben würde?

Wirken des „Runden Tisches“ in Riesa

Im Januar 1990 trat der erste Runde Tisch in Riesa zusammen. Wie haben Sie davon

erfahren?

Welche Eindrücke hatten Sie von der Arbeit des Runden Tisches? Wie bewerten Sie diese?

Ergebnisse der Volkskammerwahlen am 18.03.1990

Die Volkskammerwahlen am 18.03.1990 sollten die Entscheidung über die Zukunft der DDR

bringen. Welche Stimmungen herrschten vor den Wahlen in Riesa?

Welche Hoffnungen hatten Sie für die Zukunft?

Wie schätzen Sie die Geschehnisse von damals aus heutiger Sicht ein? Denken Sie manchmal

darüber nach, was „hätte“ passieren können?

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8.3 Zusammenfassung der Antworten der Zeitzeugen

Frank Klinger

Welche Veränderungen waren im Herbst 1989 in Riesa spürbar?

- keine offiziellen Veränderungen, nur wenige Äußerungen von Seiten der SED

- kleinere Aktivitäten/Diskussionen im Zusammenhang mit Außenminister Genscher in

Prag

- keine große Welle in Riesa ausgelöst, Begründung:

o keine allzu große Unzufriedenheit

o Riesa ist in ländlicher Gegend gelegen, d. h. Herbst und Winter sind die

landwirtschaftlich traditionellen ruhigen Jahreszeiten, Menschen wollten

keinen Aufruhr

- zunächst keine Aktivität oppositioneller Gruppen/Bürgerbewegungen spürbar

- Aufdecken einiger Missstände z.B. das Westfirmen ihre Produkte im Osten

produzieren ließen

- DDR war wirtschaftlich am Ende

- herausgegebene Thesen des Politbüros waren offensichtlich falsch

- Landwirtschaft im Raum Riesa:

o 1960 kam die Vollgenossenschaftlichkeit, umgesetzt durch Druck von „oben“

o Genossenschaften schufen Gleichheit zwischen den Menschen, keine

unterschiedliche Landverteilung

o Zufriedenheit der Menschen mit der gemeinsamen Bewirtschaftung der Felder

o Erwartungshaltung vieler Menschen 1989: die Bauern wollten Grund und

Boden zurück, das geschah aber nicht, viele wollten die gemeinsame

Wirtschaft beibehalten

o Beispiel: Landwirtschaftsrat aus Baden-Württemberg wollte die

Privatwirtschaft im Aufbau unterstützen, seine Ratschläge wurden aber nicht

gebraucht, da der Genossenschaftsbetrieb als vorteilhafter angesehen wurde

o mehrere andere Unternehmer aus dem Westen versuchten, Land im Osten zu

erwerben um riesige Anbauflächen zu errichten

- insgesamt nur drei bis vier Wochen Euphorie

- Ärger bis heute über Vorwürfe der „Wessis“ und die Orientierung am Geld

Wann genau waren diese drei bis vier Wochen Euphorie?

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- um den Mauerfall am 9. November

- grundsätzlich keine größeren Wellen, teilweise sogar Desinteresse der Bevölkerung an

den Geschehnissen (Demonstrationen, Podiumsdiskussionen)

Wie bekannt waren Podiumsdiskussionen?

- waren bekannt

- Verbreitung geschah hauptsächlich über „Buschfunk“

- das Neue Forum verbreitete aktiv Informationen, ein Vertreter war auch in der

Dienststelle

Welche neuen Erwartungen hatten Sie nach dem Mauerfall an die Entwicklungen?

- zunächst Erstaunen, dass nichts Schlimmes passiert ist

- Überlegung, warum Schabowski die Änderung so schnell bekannt gab – Handelte er

im Auftrag, von sich aus oder war es doch nur ein Versehen?

- keine großen, neuen Erwartungen

- abwarten, was passiert, welche Entwicklungen folgen werden

Ab wann war das Neue Forum in Riesa zu spüren?

- ab Dezember 1989

Konnten Sie sich mit Zielen des Neuen Forums identifizieren?

- Ziele des Neuen Forums in Riesa wurden erst im Dezember bekannt

- Lob der guten Vorbereitungsarbeit des Neuen Forums auf die Geschehnisse

Welche Personen waren Ihnen bekannt, die mit dem Neuen Forum in Kontakt standen?

- Andreas Näther

Was haben Gruppen wie das Neue Forum zu Veränderungen beigetragen, was haben sie

erreicht?

- Forderungen waren konkreter als das erzielte Ergebnisse

- diese Forderungen kamen allerdings nicht bei der gesamten Bevölkerung an

Wie war die Rolle der Kirche als Teil der friedlichen Revolution einzuschätzen?

- zu geringe Aktivität, zu wenig Thematisierung der Probleme

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- die zu passive Haltung war zum Teil durch die allgemein untergeordnete Rolle der

Kirche in der DDR bedingt

Wie war der Zuspruch bei Friedensgebeten?

- keine genaue Angabe möglich

- Begeisterung für die Aktionen in den Großstädten wie Dresden und Leipzig

Welche Generation sehen Sie als den Träger der Revolution an?

- sowohl die jüngere, als auch die ältere Generation

- jüngere Generation: Emotionalität, Euphorie

- ältere Generation: Durchsetzung der Ziele, diese war in Riesa aktiver

- gute Mischung

Wie war die Stimmung in den Betrieben?

- Industrie unterstützte die Landwirtschaft stets mit Arbeitern

- ab 1985 wurde das immer weniger, das Stahlwerk Riesa konnte keine Arbeiter mehr

entbehren � Zeichen für die wirtschaftlich schlechte Lage der DDR

Welche Zukunftserwartungen hatten Sie für die Wirtschaft Riesas?

- Hoffnung, dass die Industriebetriebe bestehen bleiben

- viele offene Fragen: War die Zerschlagung der Industriebetriebe von Vorteil, auch

wenn die Produktionsanlagen veraltet waren? War die produzierte Arbeitslosigkeit

gewollt oder nicht vorhersehbar?

- Folgen sind bis heute spürbar

Was wurde von den Diskussionen am Runden Tisch in Riesa öffentlich?

- Informationen über die Zeitung

- zu wenig konkrete Diskussionen und Entscheidungen über die Zukunft des Raumes

Riesa, Übernahme der Diskussionen vom Zentralen Runden Tisch

- Beitritt der DDR zur BRD ist ein Fehler gewesen

- Vereinigung ja, aber die Art und Weise war nicht richtig und ideal

Welche Stimmungen herrschten vor und nach den Wahlen in Riesa?

- hohe Wahlbeteiligung zeigte den Willen der Menschen, ihre Meinung zu äußern

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- Zeit war zu kurz für einen richtigen Wahlkampf, es wurden zu wenige konkrete Ziele

bekannt

Wie schätzen Sie die Veränderungen aus heutiger Sicht ein?

- insgesamt gut

- Wiedervereinigung war die beste und einzige Lösung, da die DDR wirtschaftlich am

Ende war

Bärbel Heym

Welche grundsätzlichen Stimmungen herrschten in Riesa und besonders bei Ihnen?

- viele Probleme, breites Konfliktpotential

- Frust und Enttäuschung, da keine Reaktion der Staatsführung auf den Reformkurs der

UdSSR mit Glasnost und Perestroika

- war zum Teil verletzt, da sie nicht allein für Probleme verantwortlich war, für die sie

von Bürgern verantwortlich gemacht worden ist

- Unterschätzung der Entwicklung

- trotz der Nationalen Front gab es die Gleichschaltung, dadurch wurden tatsächliche

Widersprüche nicht diskutiert, sondern nur Randprobleme

- diese Gleichschaltung und Disziplination ist zu Hinterfragen � Selbstvorwürfe

- Versuche, etwas auf lokaler Ebene zu bewirken, wurden von höherer Instanz oft

abgelehnt

- absoluter Wahrheits- und Machtanspruch ist kritisch zu betrachten, dennoch gibt es

die Erscheinung auch noch heute in der BRD

Wann haben Sie bemerkt, dass sich etwas verändert?

- zuerst im Zusammenhang der Äußerung von Kurt Hager: „Wenn der Nachbar

tapeziert…“ � Erkenntnis, dass von der Führung keine Erneuerungen zu erwarten

waren

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Welche Veränderungen waren konkret in Riesa zu spüren? (Demonstrationen, Diskussionen,

Friedensgebete usw.)

- 2. Oktober 1989: Erstes Friedensgebet in der Kirche Riesa-Gröba

- 30. Oktober 1989: Erster öffentlicher Dialog in der Kirche Riesa-

- 2. November 1989: Friedensgebet in der Trinitatiskirche und erste Demonstration

- 11. November 1989 Erklärung des Neuen Forums zur Grenzöffnung: Die Menschen

sollten zurückkommen, nicht im Westen bleiben

- 13. November 1989 Erster Dialog im Club der Jugend und Sportler mit ca. 2000

Menschen � keine Lösung gefunden, persönliche Angriffe

- nach drei Diskussionen in dieser Form kam der Vorschlag von Seiten

des Rates des Kreises, Dialoge zu verschiedenen Themenbereichen zu

veranstalten

- 5. Dezember 1989: Versiegelung der Kreisdienststelle des MfS in Riesa, begleitet

durch Demonstration

- 15. Dezember 1989 Erster Runder Tisch in Riesa

Wie haben Sie vom Fall der Berliner Mauer erfahren?

- vor dem Fernseher in den Nachrichten

Was waren Ihre ersten Gedanken?

- Ungläubigkeit

- Angst, dass die Sicherheit der Menschen nicht mehr zu gewährleisten ist � Lob für

die hervorragende Reaktion der Menschen

- Slogan „Wir sind ein Volk“ war zu euphorisch

- beide Systeme zu vereinbaren wäre sehr schwer � ungutes Gefühl

Wie wirkte sich dieser Tag auf die Stimmung und Wahrnehmung in Riesa aus?

- viele Menschen holten Geld für einen Besuch im Westen, es bildeten sich lange

Warteschlangen vor der Sparkasse in Riesa

Wie haben Sie von oppositionellen Gruppierungen in Riesa, insbesondere dem Neuen Forum

erfahren?

- wenige allgemeine Informationen auf dem Dienstweg,

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- hauptsächlich durch ein persönliches Gespräch mit Andreas Näther und einem

weiteren Vertreter des Neuen Forums Riesa

Welche weiteren Gruppierungen waren Ihnen in Riesa bekannt?

- AG Friedensgebet, noch vor dem Neuen Forum aktiv

- neu gegründete Parteien, z.B. SPD

Inwieweit konnten Sie sich selbst mit Zielen des Neuen Forums identifizieren?

- Ziel nach mehr Offenheit und Transparenz

Welchen Beitrag leisteten oppositionelle Gruppierung wie das Neue Forum?

- Benennung der Themenschwerpunkte

Wie schätzen Sie die Rolle der Kirche im Wendeprozess ein?

- hat Räume für Opposition geboten, Auffangen der Bewegungen

- keine tragende Rolle

- trug zur Versachlichung des Dialoges bei

Wer war aus Ihrer Sicht eher der Träger der Revolution – die jüngere oder die ältere

Generation?

- die mittlere Generation, hat ihre Ziele sehr sinnvoll umgesetzt

Was wussten Sie über die Stimmung in den Betrieben?

- angeregte Stimmungslage, viele SED-Austritte, allerdings nicht nur unter den

Arbeitern

- kritisiert die teilweise Flucht der Arbeiter, dass sie sich nicht um Veränderungen

bemühten

Hatten Sie Befürchtungen um den Industriestandort Riesa?

- ja, da die Betriebe größtenteils veraltet waren

- Westunternehmer waren nur an den Kundendateien der Firmen interessiert, nicht an

der Unterstützung beim Wiederaufbau

- v. a. Sorge um das Stahlwerk in Riesa

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Welche Eindrücke haben Sie von der Arbeit des Runden Tisches?

- es wurde alles in Frage gestellt

- persönliche Diskussionsweise

- Arbeit war nicht effektiv � hat die Diskussionsbereitschaft für die Zukunft gelähmt

- es wurden keine substanziellen Fragen gestellt

Welche Stimmungen herrschten vor den Volkskammerwahlen in Riesa?

- Menschen wollten ihre Meinung äußern, vorrangig aber so leben wie der Westen �

im Westen wurde die CDU gewählt, also wählten auch die Menschen hier die CDU,

sodass das Wahlergebnis nicht verwunderlich war (46% CDU)

- kandidierte selbst für den Kreistag und erhielt von allen Kandidaten die meisten

Stimmen � Anerkennung für ihre jahrelange Arbeit

- Parteien waren ungeübt im Wahlkampf

Wie schätzen Sie die Geschehnisse von damals aus heutiger Sicht ein?

- Gestaltung einer lebenswürdigen Gesellschaft ist nach wie vor nicht erreicht � Ziel

ihrer Parteiarbeit

- weitere Bemerkung ihrerseits: im Oktober 1989 gab es oft Beschimpfungen am

Telefon, die erst nach einem Nummernwechsel aufhörten

Andreas Näther

Wann haben Sie zum ersten Mal wahrgenommen, dass sich etwas verändert?

- Eskalation in Dresden

- besonderes Ereignis: Mauerfall als Ventilöffnung

Welche grundsätzlichen Stimmungen herrschten in Riesa und besonders bei Ihnen?

- seit 1987 Beschäftigung mit Alternativen

- Wirtschaft war nicht mehr haltbar, Versorgung war nicht ausreichend gesichert

- geprägt durch die kirchliche Arbeit als Jugenddiakon, engagierte sich in einer

Umweltgruppe der Kirchgemeinde Riesa-Gröba (Diskussionen zur Aufrüstung,

Bildung, Umweltproblemen, Organisation der „Liedermacherveranstaltung“)

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Welche Veränderungen waren in Riesa zu spüren? (Friedensgebete, Demonstrationen,

Podiumsdiskussionen)

- 2. Oktober 1989: Erstes Friedensgebet in der Kirche Riesa-Gröba mit ca. 100

Besuchern, Gründungsaufruf des Neuen Forums verlesen, der in der nächsten Woche

von ca. 3000-3500 Menschen unterschrieben wurde

Stasi versuchte vergeblich, diese Veranstaltung zu verhindern

- 11. Oktober: friedliche Andacht mit Ulrich Kiehn und Friwi Sternberger, Berichte der

Erlebnisse in Dresden

- wöchentliche Friedensgebete in der Kirche Riesa-Gröba

- 30. Oktober 1989: Erster öffentlicher Dialog in der Kirche Riesa-Gröba, vorher

Gespräch mit Bärbel Heym über das Neue Forum, 2500 – 3000 Menschen,

Übertragung der Diskussion vor die Kirche

- 2. November 1989: Friedensgebet in der Trinitatiskirche und erste Demonstration

zum Rathaus, ca. 3500 Teilnehmer

- wöchentliche Gebete in der Trinitatiskirche mit anschließender Demonstration

- 6. November 1989: Dialog im Club der Jugend und Sportler

- 5. Dezember 1989: Versiegelung der Kreisdienststelle des MfS in Riesa, begleitet

durch Demonstration

An welche konkreten Themen, die diskutiert wurden, können Sie sich erinnern?

- Bildung, Versorgung, Umweltprobleme, Wahlen im Mai 1989

- Forderung nach freien Wahlen, Abschaffung der führenden Rolle der SED,

Reisefreiheit

Wie haben Sie vom Fall der Berliner Mauer erfahren?

- während Organisationsgesprächen des Neuen Forums

- erst am nächsten Tag bei Gesprächen mit verschiedenen Leuten realisiert

Welche Erwartungen stellten Sie an die weiteren Entwicklungen?

- Öffnung der Berliner Mauer war eigentlich kein Ziel des Neuen Forums, eigentlich

Kampf für einen besseren Sozialismus v. a. in wirtschaftlicher Hinsicht

Wie wirkte sich dieser Tag auf die Stimmung und Wahrnehmung in Riesa aus?

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- die „Luft war raus“

- keine größere Demo mehr, die Kirchen wurden wieder leerer

- Menschen wollten nun erstmal lieber in den Westen

Welche weiteren oppositionellen Gruppierungen außer dem Neuen Forum waren Ihnen in

Riesa bekannt?

- AG Friedensgebet, kurzzeitig der Demokratische Aufbruch, SPD als Partei

Wie schätzen Sie die Arbeit des Neuen Forums aus heutiger Sicht ein?

- Bürgerbewegung

- hat einen gesellschaftlichen Diskurs angestoßen, der für diese Zeit essentiell war

Welche Rolle weisen Sie der Kirche in diesem Prozess zu?

- Kirche hat Räume geboten, war der einzige Raum für Opposition in der DDR

- es gab oft grenzwertige kirchliche Veranstaltungen auf Kirchentagen etc. die eher

politisch waren

Welche Generation war Ihrer Meinung nach Träger der Revolution?

- mittlere Generation, dabei hauptsächlich die Intelligenz

- Jugendliche sorgten für die Verbreitung der Ideen

- bei Veranstaltungen war es sehr gemischt

Hatten Sie Befürchtungen um den Industriestandort Riesa?

- zunächst: Bevölkerung war versorgt, aber kein Vorwärtskommen in der Wirtschaft

- einige Bedenken

- hohe Arbeitslosigkeit war zeitig absehbar

- zeitige Vermittlung war gut und eine große Leistung

Wie schätzen Sie die Arbeit des Runden Tisches ein?

- es gab keine richtigen Impulse

- eher eine offene Diskussionsrunde, es wurden keine Ergebnisse erzielt

- diente der Absicherung von Entscheidungen

- Runder Tisch in Berlin war sehr interessant

Welche Stimmungen herrschten zu den Wahlen in Riesa?

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- keiner wollte mehr den Sozialismus � Einheit war vorherzusehen

- ein wenig Hoffnung, dass die Forderungen des Neuen Forums doch noch erfüllt

würden, war da

Wie schätzen Sie die Geschehnisse von damals aus heutiger Sicht ein?

- großer Erfahrungsschatz, beide Systeme zu erleben

- mit dem Beitritt der DDR zur BRD wurde eine einmalige Chance verspielt, etwas

ganzheitlich Neues für Deutschland zu schaffen

- Probleme, die schon vor Jahrzehnten in der BRD auftraten, kommen jetzt wieder

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8.4 Chronologie der Wendezeit 1989/90

02.05.1989 Ungarn beginnt mit dem Abbau der Grenzbefestigungen nach Österreich.

07.05.1989 Bei den Kommunalwahlen in der DDR können von Bürgerrechtlern

massive Fälschungen nachgewiesen werden.

ab Juli DDR-Bürger flüchten über Ungarn nach Österreich oder suchen Zuflucht in

der Ständigen Vertretung der BRD in Ostberlin und in den bundesdeutschen

Botschaften in Budapest und Prag.

08.08.1989 In Ostberlin muss die Ständige Vertretung der BRD wegen Überfüllung

vorübergehend geschlossen werden.

9./10.09.1989 Das Neue Forum veröffentlicht seinen Gründungsaufruf.

19.09.1989 Das Neue Forum beantragt seine Zulassung, die wegen

„Staatsfeindlichkeit“ abgelehnt wird.

25.09.1989 Erste Montagsdemonstration in Leipzig mit mehreren tausend Teilnehmern.

30.09.1989 5.500 DDR-Bürger, die sich in der überfüllten Prager Botschaft befinden,

erhalten die Genehmigung zur Ausreise. Sie werden ab dem 4. Oktober mit

DDR-Sonderzügen in die BRD gebracht.

4.-8.10.1989 In Dresden werden bei Auseinandersetzungen zwischen Ausreisewilligen,

Demonstranten und Sicherheitskräften über 1300 Personen festgenommen.

7./8.10.1989 In Ostberlin kommt es im Zusammenhang mit Demonstrationen gegen die

Feiern zum 40. Jahrestag der DDR zu zahlreichen Übergriffen von Polizei

und Staatssicherheit.

17./18.10.1989 Erich Honecker tritt als SED-Generalsekretär zurück, sein Nachfolger wird

Egon Krenz.

04.11.1989 Auf dem Alexanderplatz in Ostberlin demonstrieren etwa 500.000

Menschen.

06.11.1989 Erich Mielke gibt an die Dienststellen des MfS in den Bezirken die

Weisung, brisantes dienstliches Material zu vernichten oder auszulagern.

07.11.1989 Rücktritt des Ministerrates.

08.11.1989 Rücktritt des Politbüros.

09.11.1989 In der Nacht zum 10. November passieren die ersten Ostberliner die Grenze

nach Westberlin. Beginn der Maueröffnung.

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13.11.1989 Letzter Auftritt Erich Mielkes vor der Volkskammer.

17.11.1989 Die Volkskammer wählt einen neuen Ministerrat. Das MfS wird in Amt für

Nationale Sicherheit (AfNS) umbenannt, neuer Leiter wird Generalleutnant

Wolfgang Schwanitz, der vorher Stellvertreter Mielkes war.

22.11.1989 Das SED-Politbüro erklärt sich zu Verhandlungen mit Sprechern der

Opposition an einem zentralen „runden Tisch“ bereit.

29.11.1989 Der Leiter des AfNS, Schwanitz, setzt eine große Zahl dienstlicher

Bestimmungen und Weisungen außer Kraft.

03.12.1989 Erich Mielke wird aus der SED ausgeschlossen.

4./5.12.1989 Aufgebrachte Bürger, die die Vernichtung von Beweismaterial befürchten,

beginnen mit der Besetzung von Bezirksämtern und Kreisdienststellen der

Staatssicherheit.

4./5.12.1989 Das Kollegium des AfNS tritt zurück.

07.12.1989 Erich Mielke wird verhaftet.

14.12.1989 Der Ministerrat beschließt die Auflösung des AfNS und den Aufbau eines

Verfassungsschutzes und eines Nachrichtendienstes.

15.01.1990 Sturm der Bevölkerung auf die Stasi-Zentrale in Ost-Berlin.

29.01.1990 Nach Beschluss des „Runden Tisches“ treten die oppositionellen

Gruppierungen in eine „Regierung der nationalen Verantwortung“ ein.

18.03.1990 Wahlen zur Volkskammer. Erste freie, direkte und geheime Wahlen in der

DDR seit 58 Jahren.

01.07.1990 Die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zwischen der BRD und der

DDR tritt in Kraft.

23.08.1990 Volkskammer beschließt Beitritt der DDR zur BRD.

31.08.1990 Unterzeichnung des Einigungsvertrages.

03.10.1990 Beitritt der DDR zur BRD. Tag der Deutschen Einheit.

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8.5 Abkürzungsverzeichnis

AfNS Amt für Nationale Sicherheit

BeLL Besondere Lernleistung

BRD Bundesrepublik Deutschland

CDU Christdemokratische Union

DDR Deutsche Demokratische Republik

KPD Kommunistische Partei Deutschlands

KPdSU Kommunistische Partei der Sowjetunion

LPG Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften

MfS Ministerium für Staatssicherheit

PDS Partei des Demokratischen Sozialismus

SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands

SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands

UdSSR Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken

VEB Volkseigene Betriebe

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8.6 Literaturverzeichnis

Dr. Ute Essegern; Klaus Gertoberens (Hrsg.): Unser Herbst 1989. Die Ereignisse der

Friedlichen Revolution. Eine Chronik mit persönlichen Erinnerungen. Dresden: Verlag

edition Sächsische Zeitung, 2009.

Fraude, Andreas: Die friedliche Revolution in der DDR im Herbst 1989. Erfurt:

Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, 2009.

J. Engelbrecht; W. Maron: Sechzig Jahre Deutsche Geschichte. 1949 – 2009. Münster:

Aschendorff-Verlag, 2009.

Jesse, Eckhard: Friedliche Revolution und deutsche Einheit. Sächsische Bürgerrechtler ziehen

Bilanz. Berlin: Christoph Links Verlag, 2006.

Kabus, Sylvia: Neunzehnhundertneunundachtzig. Psychogramme einer deutschen Stadt.

Sonderausgabe der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Beucha/Dresden 2009.

Pötzsch, Horst: Deutsche Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart. Die Entwicklung der

beiden deutschen Staaten und das vereinte Deutschland. München: Olzog-Verlag, 2009.

Richter, Michael: Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90.

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009.

Rödder, Andreas: Deutschland, einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung.

München: C.H.Beck oHG, 2009.

Schreiber, Waltraud; Árkossy, Katalin: Zeitzeugengespräche führen und auswerten.

Historische Kompetenzen schulen. Themenhefte Geschichte 4. Neuried: arsuna 2009.

Schreiber, Waltraud; Mebus, Sylvia: Durchblicken. Dekonstruktion von Schulbüchern.

Themenhefte Geschichte 1. Neuried: arsuna 2006 (2. Auflage).

Ventzke, Markus; Mebus, Sylvia; Schreiber, Waltraud: Geschichte denken statt pauken in der

Sekundarstufe II. Dresden: Sächsisches Bildungsinstitut, 2010.

Vorländer, Hans (Hrsg.): Revolution und demokratische Neugründung. Dresden:

Landeszentrale für politische Bildung, 2011.

Wengst, Udo; Wentker, Hermann: Das doppelte Deutschland. 40 Jahre Systemkonkurrenz.

Berlin: Lizenzausgabe für die Landeszentralen für politische Bildung, 2009.

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Weitere Quellen:

http://www.riesa.de/deu/leben_in_riesa/stadtgeschichte/chroniken/media_chroniken/chronik_1989.pdf, Aufruf am: 27.11.2012 http://www.riesa.de/deu/leben_in_riesa/stadtgeschichte/chroniken/media_chroniken/chronik_

1990.pdf, Aufruf am: 27.11.2012.

http://www.geschichtsunterricht-anders.de/lehrerfortbildung/Zeitzeugen.pdf, Aufruf am 07.12.2012.

http://www.univie.ac.at/igl.geschichte/kaller-dietrich/WS%2006-07/MEXEX_06/061102Durchf%FChrung%20von%20Interviews.pdf, Aufruf am: 27.11.2012. Foto Titelseite:

http://haus-am-poppitzer-platz-riesa.de/images/stories/museum/wende.jpg, Aufruf am:

30.05.2013.

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Selbstständigkeitserklärung

Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe

verfasst und keine anderen Hilfsmittel als angegeben verwendet habe. Insbesondere

versichere ich, dass ich alle wörtlichen und sinngemäßen Übernahmen aus anderen Werken

als solche kenntlich gemacht habe.

Unterschrift: