Zeitzeugenbrief April 2014.creator NHebstreit aus einem aktuellen Designlexikon, bevor er mit seinem...

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IV / 2014 -1 Zeit Zeugen Brief Wir organisieren und vernetzen Erinnerungsarbeit April 2014 Die Nacht von Prag Ein Augenzeugenbericht Von Andreas Gerstenberg, Historiker Eingangshalle der Deutschen Botschaft Prag 1989 (Foto: Privatbesitz Hans-Joachim Weber) Hans-Joachim Weber (Foto: Klaus Peschke) Ausreisewillige (Foto: dpa) Es gibt Sätze, die im kollektiven Gedächtnis eines Landes verankert bleiben. Dazu zählt in Deutschland unzweifelhaft jener von Hans- Dietrich Genscher, der mit „Wir sind zu Ihnen gekommen” begann und der im Jubel der Massen unterging. Die Hintergründe dieses Satzes, die Geschehnisse in der Prager Bot- schaft im Jahre 1989, werden nun, ein Viertel- jahrhundert später, von vielen Seiten beleuch- tet. Wie schön ist es, die Vorgänge von je- mandem veranschaulicht zu bekommen, der selbst mitgewirkt hat. Diese Chance ergibt sich den Zuhörern im Halbkreis am 11.03 mit einem Vortrag von Hans-Joachim Weber. Ausgehend von ersten Ausreisewilligen in der Prager Botschaft 1984, die fünf Monate dort bleiben, kommen mehr und mehr Menschen und wollen ebenfalls dort bleiben. Zwar kann eine Garantie zur direkten Ausreise nicht ge- geben werden, doch setzen sich über einige Monate hinweg etwa 100 Personen in Prag fest. Daraufhin wird von der Botschaft die Auf- nahme eines jeden an die entsprechenden Stellen weitergeleitet, schließlich vom Ver- trauensanwalt der BRD, Wolfgang Vogel, ver- handelt und de facto freigekauft. Als Hans- Joachim Weber im Januar 1989 in die Bot- schaft versetzt wird, ist gerade eine neue Aus- reiseverordnung in Kraft getreten, wonach ein neuer Ausreiseantrag gestellt werden kann, der verbindlich beantwortet wird. Viele Bürger der DDR sind nicht willens, einen neuen An- trag zu stellen und setzen sich ebenso in der Prager Botschaft fest, täglich bis zu 15 Per- sonen. Hans-Joachim Weber ist für die Be- treuung der Zufluchtsuchenden zuständig, von denen etwa 30 Prozent den „sicheren Weg” des Verbleibs wählen. Im März 1989 sind über 100 Menschen auf dem Gelände und der re- guläre Betrieb der Botschaft ist kaum mehr gewährleistet. Die Rechts- und Konsulatsabteilung wird aus- gegliedert und die Botschaft selbst dient nun- mehr der Betreuung der zufluchtsuchenden Menschen. Zelte werden errichtet, Betten auf- gebaut, Lebensmittel, Medizin und Toiletten- wagen werden angefordert. Inhalt Die Nacht von Prag 1 Sinn und Form 2 Treffen mit dänischen Schülern 3 Belgische Schülerinnen und Schüler... 4 „Präsentationsprüfungen“??? 4 Recycling und Kuba 5 Die rettende Backpfeife 6 Gedanken zu... „Ost-West-Denkstrukturen“ 8 In eigener Sache 9 Gratulationen 10 Zeitzeugen gesucht 10 Veranstaltungen 10 Impressum 12

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  • IV / 2014 -1

    Zeit Zeugen BriefWir organisieren und vernetzen Erinnerungsarbeit ���� April 2014

    Die Nacht von PragEin AugenzeugenberichtVon Andreas Gerstenberg, Historiker

    Eingangshalle der Deutschen Botschaft Prag 1989(Foto: Privatbesitz Hans-Joachim Weber)

    Hans-Joachim Weber (Foto: Klaus Peschke)Ausreisewillige (Foto: dpa)

    Es gibt Sätze, die im kollektiven Gedächtniseines Landes verankert bleiben. Dazu zählt inDeutschland unzweifelhaft jener von Hans-Dietrich Genscher, der mit „Wir sind zu Ihnengekommen” begann und der im Jubel derMassen unterging. Die Hintergründe diesesSatzes, die Geschehnisse in der Prager Bot-schaft im Jahre 1989, werden nun, ein Viertel-jahrhundert später, von vielen Seiten beleuch-tet. Wie schön ist es, die Vorgänge von je-mandem veranschaulicht zu bekommen, derselbst mitgewirkt hat. Diese Chance ergibtsich den Zuhörern im Halbkreis am 11.03 miteinem Vortrag von Hans-Joachim Weber.Ausgehend von ersten Ausreisewilligen in derPrager Botschaft 1984, die fünf Monate dort

    bleiben, kommen mehr und mehr Menschenund wollen ebenfalls dort bleiben. Zwar kanneine Garantie zur direkten Ausreise nicht ge-geben werden, doch setzen sich über einigeMonate hinweg etwa 100 Personen in Pragfest. Daraufhin wird von der Botschaft die Auf-nahme eines jeden an die entsprechendenStellen weitergeleitet, schließlich vom Ver-trauensanwalt der BRD, Wolfgang Vogel, ver-handelt und de facto freigekauft. Als Hans-Joachim Weber im Januar 1989 in die Bot-schaft versetzt wird, ist gerade eine neue Aus-reiseverordnung in Kraft getreten, wonach einneuer Ausreiseantrag gestellt werden kann,der verbindlich beantwortet wird. Viele Bürgerder DDR sind nicht willens, einen neuen An-trag zu stellen und setzen sich ebenso in derPrager Botschaft fest, täglich bis zu 15 Per-sonen. Hans-Joachim Weber ist für die Be-treuung der Zufluchtsuchenden zuständig, vondenen etwa 30 Prozent den „sicheren Weg”des Verbleibs wählen. Im März 1989 sind über100 Menschen auf dem Gelände und der re-guläre Betrieb der Botschaft ist kaum mehrgewährleistet.

    Die Rechts- und Konsulatsabteilung wird aus-gegliedert und die Botschaft selbst dient nun-mehr der Betreuung der zufluchtsuchendenMenschen. Zelte werden errichtet, Betten auf-gebaut, Lebensmittel, Medizin und Toiletten-wagen werden angefordert.

    Inhalt

    Die Nacht von Prag 1Sinn und Form 2Treffen mit dänischen Schülern 3Belgische Schülerinnen und Schüler... 4„Präsentationsprüfungen“??? 4Recycling und Kuba 5Die rettende Backpfeife 6Gedanken zu... „Ost-West-Denkstrukturen“ 8In eigener Sache 9Gratulationen 10Zeitzeugen gesucht 10Veranstaltungen 10Impressum 12

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    Die Nacht von Prag / Sinn und Form

    Am 23. August 1989 muss die Botschaft ge-schlossen werden. Durch Presseberichte undMundpropaganda werden aus den knapp 150Personen schließlich Ende September knapp5000. Noch heute spricht berechtigter Stolzaus Hans-Joachim Webers Worten, wenn erbeschreibt, wie die Organisation (Bestechungder Müllabfuhr u.a.) von den Botschaftsmitar-beitern durchgeführt wird: „Wir hätten auch10000 untergebracht”.Auf der Generalversammlung der Staatschefsund Außenminister in New York führt Gen-scher Gespräche mit den Außenministern derDDR, der Sowjetunion und Polens. Der Um-stand, dass mittlerweile 350 Kinder auf demGelände des Palais Lobkowitz leben, führtzum allgemeinen Konsens, dass etwas getanwerden muss. Lediglich die Tschechoslowa-ken, welche zuvor den Transfer von Lebens-mitteln aus Bayern nicht behindert hatten,stemmen sich dagegen. Auch die DDR stimmteiner Ausreise der Menschen in der Botschaftzu, unter der Bedingung, dass diese über dasTerritorium der DDR führt. Von New York ausfliegt Genscher zunächst nach Bonn und danndirekt nach Prag, wo er in der Botschaft dannin der „Nacht von Prag” die berühmten Sätzespricht. Die DDR stellt Züge zur Verfügung,die ab 21.00 Uhr bereit stehen. Insgesamtsind sechs Züge notwendig, um alle Men-schen von Prag nach Hof zu bringen. AlsHans-Joachim Weber am 01. Oktober zurück-kommt, stehen schon wieder einige Menschenauf dem Gelände. In der Nacht vom 4. aufden 5. Oktober wird der Botschafter darüberinformiert, dass alle DDR-Bürger auf dem Bot-schaftsgelände ausreisen dürfen. „Das war fürmich damals die Öffnung der Mauer”, so hältes Hans-Joachim Weber fest.In die abschließende Diskussionsrunde lässtHerr Weber auch einige Anekdoten mit einflie-ßen, wie jene der Zufluchtsuchenden, denendie Ähnlichkeit der Flaggen Belgiens und derBRD zum Verhängnis wird und die dann perBustransfer in die „richtige” Botschaft ge-bracht werden müssen. So kommt bei derSchilderung eines bewegenden Stückes Welt-geschichte auch der Humor nicht zu kurz.

    Sinn und FormEinblicke in die Geschichte des DDR-DesignsVon Sebastian Triesch, Journalist

    Seit Roland Barthes sein einflussreiches Buchüber die „Mythen des Alltags“ schrieb, in dem

    er Formsprache und kulturelle Praktiken aufihre verborgenen Ursprünge und Bedeutungs-inhalte hin untersuchte, ist der Blick derHistoriker für das wenig beachtete und schein-bar „Normale“ im täglichen Leben geschärft.Dass eine Beschäftigung mit Alltagsgegen-ständen nicht nur über Kultur aufklärt, sondernauch wirtschaftliche und politische Zusam-menhänge aufdecken kann, veranschaulichteder Vortrag von Richard Hebstreit in derHalbkreis-Veranstaltung am 25.Februar. Alsehemaliger Formgestalter, Ingenieur und Gut-achter im „Kombinat Wohnkultur“ referierte erdetailliert und reich bebildert über Eigenheiten desDesigns in der DDR.In einem kurzen historischen Abriss legteHebstreit dar, dass die Grundlagen desDesign in Ost- und Westdeutschland - geprägtbeispielsweise durch Bauhaus aber auch dieZeit des Nationalsozialismus - die gleichenwaren. Während der deutschen Teilung wardie Formgestaltung in der DDR, im Gegensatzzum politischen Willen mehr von westlichenEinflüssen bestimmt als vom Design andererOstblockstaaten. So verwundert es nicht, dassProdukte aus West- und Ostdeutschland eineähnliche Formensprache aufwiesen. Hebstreitillustrierte diesen Sachverhalt mit Bildernheutig kitschig wirkender Radioanlagen.Weiter war zu erfahren, dass Erzeugnisse ausDDR-Produktion in Sachen Ästhetik undFunktionalität durchaus Weltmarktniveauerreichten, Hebstreit sprach von einer„Formsprache auf Augenhöhe“. So ist das inder DDR entwickelte Regalsystem MKL 69noch heute als Regal „Besta“ im IKEA-Sorti-ment zu finden. Und ein Sportwagen wie derMelkus RS 1000 brauchte sich zumindestoptisch nicht vor zeitgleich gebauten Modellenvon zum Beispiel Porsche oder Jaguar zuverstecken. Dass dessen Motorleistung vomWartburg stammte, und damit nicht ansatz-weise konkurrenzfähig war, steht auf einemanderen Blatt.

    Deutlich wurde während Hebstreits Vortrag,dass eine Diskrepanz bestand zwischen ansich fortschrittlichem Design, und dem, wasdie DDR-Bürger kaufen konnten. Denngewagte Konzepte wie der Melkus RS 1000wurden kaum produziert oder hochwertigeProdukte wurden zwar hergestellt, dannaber, wie im Falle der Möbelherstellung,zwecks Devisenerwirtschaftung fast komplettin den Westexport gesteckt. So kam es,

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    Sinn und Form / Treffen mit dänischen Schülern

    dass von der formal gesehen gut aufgestelltenAusbildungsstruktur im Design, mit vielen bisheute noch aktiven Stätten, nur wenig in derBevölkerung ankam. Andererseits stießenmodernistische Ansätze in Gesellschaft und

    Richard Hebstreit (Foto: Klaus Peschke)(Unteres Foto: Schmuck-Design von Richard Hebstreit)

    Partei nicht unbedingt auf Gegenliebe. Sowurde 1962 der Designentwurf einer neuenRadioanlage in der Parteizeitung „NeuesDeutschland“ abgelehnt. Ein ähnliches Modell,das drei Jahre später als WEGA 3000 in derBundesrepublik auf den Markt kam, gilt da-gegen heute als Ikone des modernen Designsder Bundesrepublik. Die Geschichte der DDR-Formgestaltung war ein Stück weit auch dieGeschichte verpasster Gelegenheiten undstrategischer Fehlentscheidungen.Etwas unfair ist es deshalb, in der Re-zeptionsgeschichte des DDR-Designs voneinem „Versagen, das historisch seines-gleichen sucht“ zu sprechen. So zitierteHebstreit aus einem aktuellen Designlexikon,bevor er mit seinem Vortrag zur Ehrenrettungder DDR-Designer ansetzte und für ein ge-naueres Hinsehen plädierte.

    Die letzten zwanzig Minuten von Hebstreits Auftrittdrehten sich nicht mehr um Designgeschichte,sondern machten dessen Erfahrungen zumThema, die er sammelte, als er unmittelbar nachdem Mauerfall in der Stadtverwaltung von BadSalzungen Computer und eine Frühform desInternets einführte. So viel Pioniergeist und diedamit verbundenen Rationalisierungen kamenaber weder bei Angestellten, noch bei denpolitisch Verant-wortlichen an – obgleich diesesich dafür später gerne loben ließen. Nach diesemIntermezzo verschrieb er sich wieder demProduktdesign. In Anschluss an die aktiveTätigkeit verlegte er sich Ende der 1990er Jahreauf das Unterrichten und die Dar-stellung vonDesign. An seinen Fähigkeiten auf diesem Gebietherrschen nach Hebstreits Vortrag gewiss keineZweifel.

    Treffen mit dänischen SchülernVon Hubert Draegert, Zeitzeuge

    Vereinbarungsgemäß bin ich mit einer Schü-lergruppe des Herning-Gymnasiums, Däne-mark, zusammengetroffen. 7 Schüler im Altervon 16/17 Jahren sollten die Möglichkeit be-kommen, Fragen zur Lage Berlins vomKriegsende bis zur Wiedervereinigung 1990zu stellen. Im Vorfeld wurde geklärt, dass es

    sich um Schüler/innen handelt, die Deutschals Schulfach haben. Ob sie alles verstandenhaben, lasse ich offen. Eine Schülerin konnteaber im Zweifelsfall verständlich moderieren.Ich habe versucht, mit Hilfe einer schriftlichenÜbersicht der Großereignisse in und um BerlinSchwerpunkte zu setzten. Als da sind die Vier-sektorenstadt nach dem Londoner Abkommender drei Alliierten von 1944, die Luftbrücke, dieSpaltung der Stadt, die Verbindung Berlins mitdem Bund, die Mauer, das Transitabkommen.

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    Treffen mit dänischen Schülern / Belgische Schülerinnen.../ Präsentationsprüfungen

    Weiteres Kartenmaterial über die Lage der Stadtinnerhalb der DDR, über die Luftkorridore, über dieVerbindungswege mit Westdeutschland habe ichden Schülern zur bildlichen Verdeutlichung über-geben.Es gab eine Reihe von Rückfragen, die sich auchauf aktuelle Probleme bezogen, z.B. die Flüchtlin-ge vom Oranienplatz.Nach 1 1/2 Stunden schien mir der Zeitpunkt ge-kommen, die Schlussrunde einzuläuten. Es wärefür mich interessant gewesen, inwieweit unsereGesprächsrunde Akzente für die Nachbereitung inder Schule setzen könnte. Leider ergab sich keineMöglichkeit, ein diesbezügliches Gespräch mitdem leitenden Lehrer zu führen.

    Belgische Schülerinnen und Schülertreffen ZeitzeuginVon Marianne Wachtmann, Zeitzeugin

    Am 4.2.2014 hatte ich die Gelegenheit mit einerGruppe von ca. 25 belgischer Schülerinnen undSchüler sowie einer Lehrerin und vier Lehrern –Organisator Herr Jan Wilhelm Kulewein - aus demHeilige-Graf-Institut in Ternhout nahe Antwerpenüber das Leben in der DDR zu sprechen. Die Teil-nehmer waren schon eine Woche in Berlin und ha-ben Museen, Ausstellungen und Kinovorführun-gen bezüglich des Lebens in Berlin auch vor 1989gesehen. Sie hatten viele Fragen an eine Zeitzeu-gin, die aus eigenem Erleben etwas berichten undihre Fragen beantworten konnte. Es war ein breitgefächertes Spektrum aus der Zeit von 1945 undzum Aufbau Berlins bis zu den Problemen, die zudem Aufstand in der DDR und zum Mauerbauführten. Die Fragen betrafen hauptsächlich dieEntwicklungsmöglichkeiten der einzelnen Men-schen, die Bildungspolitik und deren Auswirkun-gen sowie das Arbeitsleben in der DDR und dieProbleme mit der geteilten Stadt Berlin. Es wurdenaber auch solche Fragen gestellt wie z. B.: HattenSie auch einen Trabant, gab es Mobbing in derDDR, vermissen Sie heute etwas aus DDR-Zei-ten, wie waren die beruflichen Entwicklungsmög-lichkeiten, um nur einiges zu nennen. Eine kleine-re Gruppe interessierte sich für die Machenschaf-ten der Stasi (ein Besuch der Gedenkstätte in Ho-henschönhausen war noch für diesen Tag vorge-sehen). Sie hatten auch den Film „Das Leben derAnderen“ gesehen und waren sichtlich bewegt.

    Diese Begegnung mit den Jugendlichen warvon gegenseitigem Interesse, obwohl mir ausAltersgründen nicht soviel aus dieser Zeit be-richtet werden konnte. Wir haben Adressen

    ausgetauscht und versichert, weiter im Kon-takt zu bleiben, um noch mehr aus unserer je-weiligen Heimat zu erfahren. Es war eine herz-liche Verabschiedung.

    „Präsentationsprüfungen“???Von Sabine Koch,

    Seit einigen Jahren erhält die Zeitzeugenbör-se vermehrt Anfragen von Schülern, die Zeit-zeugen für ihre „Präsentationsprüfung“ oderdie „fünfte Prüfungskomponente“ benötigen.Bereitwillig haben sich auch Zeitzeugen ge-funden, die sich für Interviews zur Verfügungstellten, aber mit diesen neuen Begriffen derBerliner Schule nicht wirklich etwas anfangenkonnten. Als Lehrerin, die noch bis vor dreiJahren im Schuldienst war, kann ich hoffent-lich etwas zur Erhellung beitragen.Im Schuljahr 2005/06 wurden erstmalig in den10. Klassen Prüfungen zur Erreichung desMittleren Schulabschlusses, kurz MSA, durch-geführt. Schriftliche Arbeiten müssen in denFächern Deutsch, Mathematik und der erstenFremdsprache geschrieben werden. Die Auf-gaben sind für alle Schularten gleich. In derersten Fremdsprache findet außerdem nocheine mündliche Prüfung statt.Um jedoch den Forderungen der Gesellschaftund Wirtschaft nach einer besseren Vorberei-tung auf das Alltags- und Berufsleben gerechtzu werden, wurde die Prüfung „in besondererForm“ geschaffen. Die Schüler bilden Grup-pen von 2 – 4 Personen, können sich einFach aussuchen und in Absprache mit demFachlehrer ein Thema festlegen. Nach mehr-wöchiger Vorbereitung, bei der die Schüler ih-re Fähigkeiten zum eigenständigen Arbeiten,Zeitmanagement und Verteilung von Aufga-ben beweisen müssen, findet die Prüfungstatt. Die Arbeitsergebnisse werden in derGruppe durch eine Präsentation, z.B. Plakateoder Powerpoint, vorgestellt. In dem an-schließenden Prüfungsgespräch haben dieKandidaten die Gelegenheit, ihre Lösungswe-ge und Entscheidungen zu erklären.

    Die Präsentationsprüfung in einem 4. Fachbietet Schülern die Möglichkeit, eine ‚subopti-male‘ Leistung in einer der schriftlichen Prü-fungen durch eine gute oder befriedigendeLeistung in der Präsentation auszugleichen.Beliebte Fächer für diese Prüfung sind meinerErfahrung nach Biologie, Geschichte und Ethik.Die Naturwissenschaften sind eher nicht die Sa-che der Berliner Schüler, die sich nach wie vor

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    Präsentationsprüfungen / Recycling und Kubabesonders mit Mathematik rumquälen. DieThemen müssen einen Lebenswelt-Bezug ha-ben und sollten eine Fragestellung beinhalten.Statt der unspezifischen Formulierung „DieBerliner Mauer 1961-1989“ könnte z. B. dasThema lauten: „Wie wurden in den Mauer-schützenprozessen nach 1989 vereitelteFluchtversuche durch die Rechtsprechung ge-ahndet?“Nun noch zu dem Begriff „fünfte Prüfungs-komponente“. Dahinter versteckt sich dasfünfte Prüfungsfach für Abiturienten. DiesePrüfung wird ebenfalls als Präsentationsprü-fung oder in Form einer besonderen Lernleis-tung, z.B. Darstellung der Ergebnisse bei derTeilnahme an einem Wettbewerb, durchge-führt.Im Vergleich zum MSA in der 10. Klasse wer-den für diese Prüfung Ansätze wissenschaftli-cher Arbeit und fachübergreifende Aspekte er-wartet. Ansonsten gelten die gleichen Bedin-gungen wie für den MSA: Auch in einer Grup-penprüfung muss die Leistung des Einzelnenerkennbar sein.Notwendig sind für die Schüler außerschuli-sche Kooperationspartner, die bei der Mate-rialsuche unterstützen, Zugang zu Laborenbieten oder wie die ZeitZeugenBörse Men-schen vermitteln, die ihre eigenen Lebenser-fahrungen einbringen können.

    Auch wenn wir zuweilen ungeduldig werden,weil die Schüler sich gar nicht mehr oder sehrspät bei uns melden, sollten wir daran den-ken, dass Schule gegenüber früher nicht leich-ter geworden ist und dass auch die großenKinder noch nicht so groß sind, dass sie unse-rer Unterstützung nicht mehr bedürfen.

    Recycling und KubaVon Manfred Omankowsky, Zeitzeuge

    Das Jahr fing ja gut an. Schon am 13.1. ruftmich Herr Ruths von der Geschäftsstelle derZZB an. Johanna Olausson, eine jungeSchwedin von Deutschland-Radio Kultur, willeine Sendung zum Thema „Recycling gesternund heute" vorbereiten. Schon drei Tage spä-ter war sie zum Gespräch bei mir. Diese Be-zeichnung Recycling gab es zwar vor fast 100Jahren noch nicht, das Verhalten der Men-schen aber schon. In der ersten Hälfte des vo-rigen Jahrhunderts war es für viele Menschennotwendig. Mein Großvater war z.B. als ge-lernter Schmied zufrieden, mit Frau und fünfKindern irgendwo eine Stelle als Hilfsarbeiter

    zu bekommen. An Anschaffungen, wie sieheute jedem Hartz-IV-Empfänger zustehen,war nicht zu denken. Alles musste wieder ver-wertet werden. Man war genügsam und den-noch zufrieden. Es wurde auch den Menschennoch nicht eingeredet was man alles braucht.Die Wegwerfgesellschaft ist eine Erfindungder Wirtschaftswunderzeit.Bei der Generation meiner Eltern war es nichtanders. Die erste Anschaffung meiner Mutternach der Hochzeit 1924 war eine Nähmaschi-ne. Sie kostete fast zwei Monatsgehälter.Aber es hat viel Geld und Rohstoffe gespart.Für mich hat sie von Geburt an jewede Klei-dung außer Schuhe meist aus Stoffresten her-gestellt. Mein Vater hat mit Gummiresten un-sere Schuhe selbst besohlt und allen die Haa-re geschnitten. Ich habe ihn bewundert, waser alles kann.So war auch die erste Phase meines Lebensdurch die Not und Armut geprägt, die durchAnspruchslosigkeit und WiederverwertungRohstoffe ersparte. In den Mülltonnen warüberwiegend Asche vom Heizen für etwasWärme und zum Kochen. Für Verpackungenund leere Flaschen waren Extratonnen nichtnotwendig. Kartoffelschalen wurden von ei-nem Kleinbauern der Umgebung für ein paarBündel Brennholz getauscht. Jede Wochemachte er mit seiner Glocke und lautem Ru-fen „Brennholz für Kartoffelschalen" auf sei-nen Pferdewagen aufmerksam. Zeitungen ha-be ich als Kind glattgestrichen und auf demWochenmarkt dem Fischhändler gegeben,der dafür eine saure Gurke spendierte.Während des Krieges wurde intensiv vielesgesammelt. „Lumpen, Flaschen, Knochen undPapier, - ausgeschlagene Zähne sammelnwir" haben wir gesungen. Natürlich auch alleArten von Metall. Man brachte es mit in dieSchule, die oft Sammelstelle war. Für Schall-platten musste man jeweils neben dem Kauf-preis zwei alte Platten abgeben. Die warenaus Schellack, und das war kriegswichtig. Fürverbotene amerikanische Swingplatten unterdem Ladentisch musste man dem Händlermeist vier oder sogar sechs Platten abgeben.Das war für die Swingjugend sehr verdrieß-lich. Für Eltern auch, deren alte Plattenbestän-de dadurch langsam kleiner wurden.Meine Freundin hat sich aus in Streifen ge-schnittenen Mullbinden einen zweiteiligen Ba-deanzug gestrickt.

    In der modernen Wegwerfgesellschaft ist es beiden knapper und damit wertvoller werdenden

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    Recycling und Kuba / Die rettende Backpfeife

    Rohstoffen zu einer Sortier- und Wiederver-wertungseuphorie gekommen. Viele Firmensind damit reich geworden. Glasflaschen wer-fe ich in Glascontainer für Weiß-, Grün- undBraunglas (wohin nun mit der lila oder gelbenFlasche?), für Papier gibt es eine Tonne, fürPlastik einen Sack. Für eine leere Selterfla-sche gibt es in den Supermärkten 25 Centfürs Zerdrücken. Das ist mehr als der Inhaltder Flasche gekostet hat. Viele gemeinnützigeOrganisationen sammeln alte Kleidung zurWiederverwendung. Meinen Smoking habeich zur Kirche gebracht: Am Verkaufstag warer schon nach kurzer Zeit für eine anschauli-che Spende weg. Ich bin glücklich, dass ernun von einem schlanken Mann auf Bällenoder zur Hochzeit getragen wird.Für viele alte Sachen gibt es heute Interes-senten. Als Zeitzeuge, der einen großen Be-stand an derartigen Sachen hat, könnte manmanchen EURO einnehmen. Nur meist findetman Interessenten erst dann, wenn man eskostenlos entsorgt hat. „Hättest Du mir dasnur vorher gesagt."

    Kurze Zeit später wurde mir von Frau Hertleinein Abiturient vermittelt, der für die Prüfung zuseinem selbst gewählten Thema: „Die Kuba-krise" einen Zeitzeugen suchte. An diese dra-matische Zeit kann ich mich gut erinnern. Die-se Krise war eingebettet in die Krise im Kampfum die Freiheit der West-Berliner. Als Mann,der politische Wissenschaften mit dem Haupt-fach Außenpolitik studiert hatte und in der poli-tischen Praxis engagiert war, habe ich das si-cherlich bewusster wahrgenommen als ande-re. Es war eine turbulente Zeit, die im Dezem-ber 1958 mit dem Berlin-Ultimatum einenneuen Höhepunkt erreichte. In sechs Monatensollte Westberlin eine freie Stadt sein. Sonstwürden die Rechte von den Sowjets auf dieDDR übertragen, drohte der Chef der Sowjets.Die Westberliner wussten, wie diese Freiheitaussehen würde. Viele siedelten nach West-deutschland um. Vietnam, Chaos in Laos, Ga-garin im Weltall, Machtübernahme von FidelCastro in Kuba, erfolglose Invasion der Exilku-baner in der Schweinebucht mit Unterstützungder USA im April 1961.

    Schließlich dann der Bau der Mauer im Au-gust 1961, und am 27. Oktober 1961 stehensich am Grenzübergang Check Point Charly,nur 200 Meter von meiner damaligen Dienst-stelle in der Puttkamerstraße entfernt, US-Panzer und Sowjet-Panzer bedrohlich gegen-

    über. Und dann im September 1962 beganndie eigentliche Kubakrise, als die Sowjetsnach einem Hafenausbau Raketen mit Atom-sprengköpfen nach Kuba transportierten. Vorder Haustür wollten die USA die Bedrohungnicht dulden. Ein großer Krieg stand vor derTür. Nach all dem, was die Westberliner in derZeit erlebt hatten, wurde diese Entwicklungmit großen Ängsten erlebt. Zwar hatten dieUSA für unsere Freiheit garantiert. Aber wür-den sie auch dazu stehen, falls es wegen derBedrohung durch die Sowjets von Kuba auszu Gegenmaßnahmen der USA kommt unddie Sowjets als Vergeltung in Westberlin ein-rücken würden? Oder würde man den Rück-zug der Sowjets in Kuba gegen die Freiheitder Westberliner tauschen, um einen Krieg zuverhindern?Jeder weiß, wie die Kubakrise überwundenwurde. Mein Gesprächspartner Sven Wald-heim war dankbar für meinen Bericht. Ich warzufrieden, dass sich junge Menschen freiwilligmit Themen beschäftigen, die abseits von denJubiläen 75 Jahre Kriegsausbruch oder 25Jahre Fall der Mauer liegen.Beide wollen mich vom Ergebnis ihrer Arbeitrechtzeitig unterrichten. Ich bin gespannt.

    Die rettende BackpfeifeVon Lutz Rackow, ZeitzeugeLektorat: Gert Keil, Zeitzeuge

    Der Zeitzeuge Lutz Rackow berichtet von sei-nen Erfahrungen in der Lichtenrader Grund-schule ,,Annedore Leber", wo er vor 12-Jähri-gen zum Thema ,,Widerstand im NS-Staat“sprach. (Lehrerin Frau Christel Weber; Schullei-terin Frau Tamara Adamzik, Gast Frau Heine-mann [Enkelin von Annedore Leber] München

    Wenig Widerstandschancen gab es unter ei-ner totalen Diktatur... Peng !!!- Die hatte ge-sessen! Ich hatte die kräftigste Ohrfeige mei-nes Lebens kassiert. Und das war gut so. Tä-ter war der Studienrat Patschkowski aus Neu-kölln, bekennender Nationalsozialist, also Na-zi-PG, unser Latein- und Klassen-Lehrer. Tat-ort: Gymnasium in Fichtenau, an der östlichenStadtgrenze von Berlin. Tatzeit: November1944. Lange her, verjährt. aber nicht verges-sen. Spät gewürdigt.Die Episode gehört zur persönlichen Ge-schichte von jugendlicher Distanz zum ab-stürzenden NS -Regime .Wenige Monate vordem Ende des zu diesem Zeitpunkt schon seit

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    Recycling und Kuba / Die rettende Backpfeife

    über eineinhalb Jahren deutlich erkennbar ver-lorenen Krieges. Und die Backpfeife mit an-schließendem Rausschmiss aus der Schule?Also die Schüler zweier 6. Klassen der Anne-dore-Leber-Schule in Berlin-Lichtenrade woll-ten gerne wissen, wie das war, mit ,,Wider-stand im NS-Staat“, ob und wie das überhauptfunktionieren konnte. Durch Jugendliche. Alsoerzählte ich in ihrer schönen Schule am südli-chen Stadtrand von Berlin, wie es mir, alsogleichaltrig zu meinen jetzigen Zuhörern, da-mals mit 12 Jahren im Herbst 1944, erging.Auch ich war ja natürlich, wie zunächst alle Ju-gendlichen in meinem Gesichtskreis, begeis-terter Jungvolk-Pimpf gewesen. Was andereswar gar nicht vorstellbar. Schließlich hatten wirbisher nur von deutschen Erfolgen, Ruhm undEhre für unsere Nation gehört..Wie sollte man nun in 90 Schulminuten imJahre 2013 mehr oder minder wissbegierigenJugendlichen, ohne sie zu langweilen, erklä-ren, dass aus dem Berliner Pimpf ein kleinerWiderständler werden konnte, der das NS-Weltverbrechen des Hitlertums der Deutschenerkannte und schließlich sogar eine Art Wider-stand leistete? Die Mädels und Jungen inLichtenrade wussten anscheinend bereits al-lerlei über Deutschland unter der NS Diktatur.Meinen ,,Altersgenossen" von heute sollte ichnun irgendwie begreiflich machen, wie ein Ju-gendlicher damals auf die Idee kommen konn-te, irgendeinen ,,Widerstand" zu leisten. EinJugendlicher, eigentlich noch Kind. Aberschon stolz und schick als Jungvolk-Pimpf uni-formiert. Zunächst total im Bann scheinbarerdeutscher Unbesiegbarkeit.

    Deshalb dachte ich an die Backpfeifen-Ge-schichte. Diesem gewalttätigen Übergriff - inBerlin auch Schelle, richtiger Maulschelle ge-nannt, folgte unmittelbar der Rausschmiss ausder ,,Penne".durch Klassenlehrer Patschkow-ski .Ohne Direktor und Brief an die Eltern. Ei-gentlich so gar nicht möglich !.Übrigens flog gleichzeitig mein damaligerFreund Harry, der sich auf die Frage „Und isthier noch einer, dem das nicht passt“ - solida-risch mutig und schulverdrossen gemeldethatte. Dem gefiel die ganze „kommandierendeSchule" sowieso überhaupt nicht. Deshalbwurden wir einige Jahre später wieder ge-meinsam aus einem Gymnasium gefeuert. Alsentschieden unangepasst. Aus demselben Ge-fühl, dass wir uns nun schon wieder im Sinne ei-nes allgewaltigen Bevormundungsregimes du-cken sollten. Inzwischen befreit vom Verbre-

    cherischen NS-Regime mit dem Hakenkreuz .Nunmehr unter dem Sowjetstern mit der Be-satzungsmacht überall. Praktiziert wurde dieneue Bevormundung vom diktatorischen SED-Regime für die Sowjetkolonie ,,DDR'..Aber zurück zur ,,Schelle" . Erwischt wurdeich dabei, wie ich englisch-amerikanischeFlugblätter mit Klassenkameraden tauschenwollte. Doubletten gegen andere Originale.Auf unserem bewaldeten Schulweg haben wirdiese nach jedem der immer häufigeren Luft-angriffe auf Berlin gefunden. Solche ,,Feind-nachrichten" aufzusammeln, womöglich zu le-sen, statt sie sofort wie Unrat zu beseitigen,das war als ,,Staatsverbrechen“ bedroht.Ebenso wie das ,,Schwarzhören feindlicherSender. Das betrieb ich außerdem inzwischenmittels eines selbst gebasteltem Detektor-Ap-parat . In einem Versteck an unserem Boots-schuppen. Einige meiner Originalaufzeichnun-gen aus 1945habe ich heute noch. Kopien da-von konnte ich kürzlich unserem- dafür dank-baren- Bundespräsidenten Dr. Joachim Gauckpersönlich überreichen.Erwischt wurde ich bei der Flugblatt-Tausche-rei durch die Denunziation einer ,,Petze".. Ab-lauf dieser Geschichte also: Flugblätter tau-schen , verpetzt und erwischt werden, Schelle,sofortiger Rausschmiss. Ohne Direktor unddann unvermeidlicher Meldung an die Schul-behörde. Das hätte unvermeidlich eine Anzei-ge bei der Geheimpolizei (Gestapo) bedeutet.Damit Ernstfall ! Also Gestapo- Haussuchungbei uns , unabsehbare Maßnahmen gegen dieEltern, die sowieso aus etlichen Gründen denNS-Schnüfflern bereits als verdächtig aufge-fallen waren.

    Meine Stammsammlung von Flugblättern mitüber 200 verschiedenen Exemplaren ( bisKriegsende) - in meiner Spielkiste unter denLineol-Soldaten ,,versteckt" - , mein Detektorsamt Notizen vom Empfang des ,,SendersHörby" , mein Brandpäckchen aus Fliegerab-wurf , gleich dem ich zuvor - erfolglos - dasAuto des mir persönlich höchst verhasstenNSDAP-Ortsgruppenleiters abzufackeln ver-suchte - alles blieb unentdeckt. Die Flugblätterverbrannte meine Mutter erst ,,kurz vorSchluss des Krieges Es war ja eindeutig kurzvor Kriegsende ! Dennoch hätte noch jedenTag die Militärpolizei in unserem Hause an derSpree eindringen können.. Sowieso plusHaussuchung . Alles so etwas funktioniertebei der Wehrmacht des NS-Regimes bis zurletzten Minute. Erbarmungslos. Also mussten

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    Die rettende Backpfeife / Gedanken zu dem Buch „Ost-West-Denkstrukturen

    auch die Flugblätter und der Detektorapparatverschwinden... Nur meine letzten Aufzeich-nungen von ,,Feindnachrichten" habe ich ge-rettet.War das „Widerstand“? Für mich ja. DenKrieg habe ich indessen damit so wenig ver-kürzen können, wie meine entschieden NS-distanzierten Eltern. Meine Ablehnung vonKrieg, Siegespropaganda, Jungvolkdienst, Alt-materialsammlung für den Endsieg, schließ-lich Verweigerung von Schanzarbeit an Schüt-zengräben und Panzersperren in unseremWald durch Abtauchen - mehr konnte ich nichttun.Die geretteten Aufzeichnungen über Nachrich-ten aus England, von denen ich Kopien auchunter den Lichtenrader Schülern gleichen Al-ters habe die Runde machen lassen, fandenInteresse. Dass diese Blätter sogar für diesowjetischen Nazi-Fahnder der ersten Nach-kriegstage (NKWD), die auch meine Elternverhörten, bedeutsam waren, habe ich erstspäter begriffen. Sie ließen von uns ab, nach-dem sie mein Nachrichten-Heftchen gelesenhatten...

    Ob es gelungen ist, den 12-Jährigen in Lich-tenrade einen Begriff von den engen Grenzenfür, ja der Unmöglichkeit von ,,Widerstand" imeigentlichen Sinne durch Jugendliche im NS-Regime eine Ahnung zu vermitteln, muss of-fen bleiben. Es blieb ja fast nur die Ablehnungund eine geheime Verweigerung übrig. EtlicheSchüler haben verständige Fragen gestelltund engagiertes Interesse vermuten lassen.Gerne würde ich mal mit Lehrern erörtern, wieman als ,,zeitzeugender" Nichtpädagoge zusolchen Themen am nützlichsten wirken könn-te. Koordiniert mit dem Unterricht.

    Gedanken zu dem Buch„Ost-West-Denkstrukturen“Von Edith Kiesewetter-Giese

    Dieses Buch ist ein Briefwechsel zwischen ei-nem ehemaligen Staatsanwalt aus Kottbus/Land Brandenburg und einem Lehrer ausDarmstadt/Land Hessen, der später nachSpeyer/Rheinlandpfalz zieht.

    Dieser Briefwechsel wurde ausgelöst durchGedanken, die Schüler einer Abiturklasseaus Darmstadt nach einem Besuch beiSchülern aus Magdeburg im Jahr 1996 auf-schrieben. Nachzulesen in der Zeitung„Neues Deutschland“(ND).

    Die Schüler aus Magdeburg empfinden dieDarmstädter als überheblich, diese wiederumkönnen die Argumentationen der Magdebur-ger, dass die DDR von der BRD annektiertwurde, nicht verstehen.Der Lehrer aus Darmstadt erhielt eine Flut vonLeserbriefen, die nicht immer sehr nett waren.Herr Christange aus Kottbus schrieb auch undhoffte, dass man mit jungen Leuten zu einemDialog kommen könnte. Das war sozusagendie Geburtsstunde des 12-jährigen Briefwech-sels, aus dem dieses o.g. Buch entstand. .Al-so meine persönliche Meinung zu den349 Seiten:

    Das Treffen der Abiturienten wurde von bei-den Seiten schlecht vorbereitet. Es trafen zweiGesellschaftsordnungen aufeinander. Auchnach sechs Jahren der Wiedervereinigunghatten einige Medien und Politiker den „KaltenKrieg“ noch nicht beendet (Ich denke da an„Rote Socken“, Ossi, Wessi u.Ä.). Diese Pro-paganda wirkte bei den Schülern von Darm-stadt. In den Familien der Magdeburger gabes z.T. schon gravierende Veränderungen, mitdenen im Jahr 1990 nicht gerechnet wurde(z.B. Abwicklung von Betrieben, verbun-den mit Arbeitslosigkeit).

    Bei dem Briefwechsel standen sich ungleichePartner gegenüber. Herr Christange, damals61 Jahre alt, hatte ein Arbeitsleben hinter sich,überzeugt von der Ideologie der SED, undHerr Stenzel, ein junger Lehrer (SPD), der amAnfang seiner Laufbahn stand und die Zeit1990 als spannend empfand.

    Die Abiturienten stehen neugierig da, sinddurch unterschiedliche Gesellschaftsordnun-gen geprägt, haben ein relatives, wenig gefes-tigtes Grundwissen für die andere Seite undkommen aus unterschiedlichem familiäremUmfeld. Sie wollen den Dialog zwischen Ostund West, um sich gegenseitig besser verste-hen zu können. Da man von Tagesproblemenausgeht, wird das kompliziert. Vorwürfe, dieman dem Staat machen könnte, treffen dieMenschen.

    Das führt dazu, dass der Schriftverkehr zwarinteressant ist , aber oft so provokativ, vor al-lem aus Kottbus, dass man ihn manchmalnicht ertragen kann. Damit entstehen Befind-lichkeiten, die ausgeräumt werden könnten,wenn man auf die Ursachen und Zusammen-hänge einginge. An dieser Stelle fehlt es an

  • IV / 2014 -9

    Gedanken zu dem Buch „Ost-West-Denkstrukturen / In eigener Sache

    einer guten Streitkultur. Meinungen desLehrers, der die Themen auch mit seinenSchülern diskutiert, wurden von HerrnChristange immer wieder in Frage ge-stellt, leider zu oft aus seiner individuel-len ideologischen Sicht. Dabei geht dasZiel - die innere Einigkeit zu erreichen -verloren.

    Das Ziel ist gut, nur sollte man nicht denVersuch unternehmen, die Geschichteumschreiben zu wollen.

    Ich finde es gut, dass ein Briefwechselstattfindet und in einer Schule der BRDdiskutiert wird. In der DDR wäre das si-cher nicht in jeder Schule möglich gewe-sen. Aus unterschiedlichen Meinungensollte ein Konsens und keine Aufoktroyie-rung entstehen.

    Herr Stenzel, so glaube ich, wird durchdieses Schreiben sehr gefordert. Eine ge-genseitige Aufklärung, die zum gegensei-tigen Verständnis führt, erfolgt kaum.Man erkennt die jeweiligen Sichtweisen,die z.T. sehr oberflächlich sind.

    Herr Christange spricht in vielen Fällenfür die DDR-Bürger. Das geht gar nicht.Gerade diese Art der Ideologie und ihreInterpretation hat viele DDR-Bürger vorden Kopf gestoßen.Wenn ihm Fragen nicht gefallen oder ihmdie Argumente ausgehen, dann will erden Briefwechsel beenden. Seine Argu-mente sollen akzeptiert werden nach demMotto:„Die Partei hat immer Recht“.

    Zu einigen diskutierten Problemen

    Bei der Frage Krieg sind sich beide einig- Krieg ist keine Lösung-. Dabei bleibt es

    leider nicht. Herr Christange spricht vonAggressionskriegen, die ohne UN-Auftraggeführt wurden (z.B.- Afghanistan).DieserKrieg wurde im Namen der NATO ge-führt, um Völkermord und grobe Men-schenrechtsverletzungen in EUROPA zuverhindern. Auch die SU ist ohne UN–Auftrag in Afghanistan einmarschiert, umdie strategische Macht in Südasien zu si-chern, sagt Herr Stenzel. Auch hier hätteman sich darauf einigen können, dennauch der Marxismus-Leninismus geht vongerechten und ungerechten Kriegen aus.

    „Das Lied der Deutschen kommt nichtüber meine Lippen“, sagt Herr Christan-ge. Auch hier sollte man junge Menschenaufklären. Hoffmann von Fallersleben(1798-1874) hat den Text unter ganz an-deren politischen Verhältnissen gedich-tet, ebenso wie Johannes R. Becher dieHymme der DDR. In der DDR wurde derText gar nicht mehr gesungen, da es kein„einig Vaterland“ gab.

    Das Verständnis, das auf Gegenseitigkeitberuhen sollte, habe ich selten in diesemBuch gefunden.Es gibt es aber eindeutig zu dem Thema„Fußball“. Der eine ist „Bayern-Fan“, derandere hält zu „Energie Cottbus“, hier be-steht Toleranz.Ein Buch zum gegenseitigen Verständnishätte ich mir anders gewünscht.

    Hans Christange und Klaus Stenzel: OST-WEST Denkstrukturen, NORA Verlag, EinBriefwechsel zwischen Brandenburg undRheinland-Pfalz2007 - 2010, 1996 - 2010 – Fünfzehn Jahredeutsch-deutscher Dialog - Band 2 Von denMühen des Zusammenwachsens, 2013(Im ZZB-Archiv vorhanden und ausleihbar)

    In eigener Sache

    Unsere Mitgliederversammlung

    Bitte nicht vergessen: Wir treffen uns am 8. April um 15 Uhr in der Landeszentrale.Voraussichtliche Dauer bis 17 Uhr.

    Wichtiger Aufruf

    Wir bitten alle, die noch Fotos oder DVDs von unserem Jubiläum bestellen möchten, sichumgehend im Büro zu melden. Dort liegt die Liste mit den ca. 700 Fotos und die DVD aus.

  • IV / 2014 -10

    In eigener Sache / Gratulationen / Zeitzeugen gesucht / Veranstaltungen

    ������������������������ Gratulationen ������������������������

    Wir gratulieren allen im April geborenen Zeitzeugen

    04.04. Dorit Ebert, 05.04. Wolfgang Eckstein, 05.04. Hartmut Topf, 07.04. Manfred Roseneit09.04. Gerda Steinke, 18.04. Otto-Ernst Duscheleit, 18.04. Günther Böhm, 18.04. Alexander Latotzky,23.04. Klaus Peschke, 27.04. Hanne-Lore Pretzsch, 29.04. Helmut Oertel, 30.04. Charlotte Oberberg

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    Zeitzeugen gesucht

    Nr. 44/14 Für das Audioprojekt mit dem Titel „Zwei/Land – Mehr Demokratie tragen!“ werden Zeitzeugin-nen und Zeitzeugen gesucht. Wer die „Wendezeit“, den Mauerfall und die Euphorie der friedlichen Revolu-tion erlebt hat und bereit ist, - auch kritisch - von den damit verbundenen Hoffnungen, Wünschen, Plänenoder Erwartungen zu sprechen, ist eingeladen, bei diesem Projekt von Hans Ferenz mitzumachen.Nr. 54/14 Für die RBB-Reihe „ Geheimnisvolle Orte " werden Zeitzeugen gesucht, die am Industriestand-ort Oberschöneweide im Kabelwerk Oberspree, im Werk für Fernsehelektronik oder im Transformatoren-werk gearbeitet haben. Nr. 67/14 Zeitzeugen gesucht, die gelegentlich - eventuell auch regelmäßig - kleinenBesuchergruppen gegen Honorar von ihren Erlebnissen, ihrem Leben in Berlin berichten. Dabei könneneinzelne, aber auch mehrere die Geschichte der Stadt prägende Themen wie Nationalsozialismus, Krieg,Zerstörung, Wiederaufbau, Kalter Krieg, Mauerbau und Teilung der Stadt aus der Sicht der persönlichen Er-fahrung "beleuchtet" werden. Ob dies nun in kurzen Stadtführungen zu den Schauplätzen des Erzählten, in Zeitzeugengesprächen an einem festen Ort oder in einer Kombination aus beidem realisiert wird - dasmüßte im Einzelnen besprochen werden. Nr. 70/14 Für die 5. Prüfungskomponente sucht eine AbiturientinZeitzeugen, die sich an die Architektur im Dritten Reich von Albert Speer und/oder an die Neue Reichs-kanzlei erinnern. Nr. 74/14 Für eine RBB-Dokumentation werden Zeitzeugen gesucht, die sich an die Jahre1950 - 1955 im heutigen Finanzministerium an der Leipziger Straße und an die Raumaufteilung zu DDR-Zeiten erinnern. Angeblich hatte Otto Grotewohl Stab seine Büros in einer Villa im Garten. Nr. XX714 DasHaus Birkholz sucht alte Kochbücher. Nr. XX/14 Noah-Film sucht Zeitzeug(inn)en.

    Weitere Informationen im Büro

    Veranstaltungen

    Halbkreis

    29. April 2014 um 15.00 Uhr

    Jährlicher Urlaub von der DDR

    Kaum zu glauben, aber das gab es. Lutz Baumann erzählt von seinen jährlichen Reisen in die so-zialistischen Bruderländer der DDR. Mit seinen langen Haaren bekam er unterwegs keine Schwie-rigkeiten, aber in der DDR wurde er 1972 bei der Rückkehr aus Polen als Gammler der Stadt Stral-sund verwiesen; außerdem musste er 10 Mark Ordnungsgeld wegen Störung des sozialistischenZusammenlebens zahlen. Nach der Armeezeit sehnte er sich nach fremden Ländern. Wenn dieUSA so unerreichbar waren wie der Mond, dann musste er wenigstens die Ebenen und Berge Ost-europas durchstreifen. 13 Jahre war er als Urlaubs-Tramp „on the road"."Meinhard Schröder stellt Fragen, Lutz Baumann erzählt.

    29. April 2014 um 15.00 Uhr

    Die Wiedervereinigung war nicht nur ein politisches Ereignis, sie sollte auch wirtschaftlich ein Er-folg werden. Kaspar-Matthias von Saldern (Jg. 36) seinerzeit im Bundesaufsichtsamt für dasKreditwesen tätig, berichtet über die Bemühungen, das Bankwesen der DDR/der neuen Bundes-länder den neuen Verhältnissen anzupassen.

    Moderation: Eva Geffers

  • IV / 2014 -11

    Veranstaltungen

    AnkündigungDienstag, 15. April 2014 um 15 Uhr

    Ballhaus-Saal in den Zwanziger Jahren

    BERLIN TANZT IN CLÄRCHENS BALLHAUSVortrag mit Digitalbildern

    Marion Kiesow nimmt Sie mit auf eine Zeitreise durch 100 Jahre deutscher und deutsch-deut-scher Kultur und Geschichte – Kulturgeschichte - erzählt am Beispiel von Clärchens Ballhaus inBerlin-Mitte. Das Ballhaus ist eines der letzten aktiven Tanzstätten dieser Art, ein Ort des Volks-vergnügens, an dem man seine Alltagssorgen für ein paar Stunden vergessen kann. Doch jedespolitisches System hinterließ auch hier seine Spuren, nahm Einfluss und machte Vorschriften. Sit-ten, Moden und Gebräuche kamen im Gefolge der Gäste mit in den Ballsaal. Der Vortrag wirddurch zahlreiche Fotos illustriert und mit Texten aus dem Buch »Berlin tanzt in Clärchens Ball-haus« angereichert.

    Moderation Eva Geffers

    Veranstaltungsort

    Landeszentrale für politische Bildungsarbeit10787 Berlin

    An der Urania 4-10, Ecke Kurfürstenstraße

    Verkehrsverbindungen

    U1, 2, 3 Wittenberg-/NollendorfplatzBus 100, M29, 187, bis Schillstraße

    Bus 106, M19, M46, bis An der Urania

  • IV / 2014 -12

    Impressum

    Impressum

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