ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte...

90
MAE2 Mathematik: Analysis für Ingenieure 2 Christoph Kirsch 30. Mai 2017 Inhaltsverzeichnis 0 Überblick 2 1 Einführung in die Integralrechnung 2 1.1 Integration als Umkehrung der Differenziation ........... 2 1.2 Das bestimmte Integral als Flächeninhalt ............. 6 1.2.1 Beschränktheit von Funktionen ............... 6 1.2.2 Das bestimmte Integral ................... 8 1.3 Unbestimmtes Integral und Flächenfunktion ............ 11 1.4 Der Hauptsatz der Differenzial- und Integralrechnung ...... 12 1.5 Berechnung bestimmter Integrale unter Verwendung einer Stamm- funktion ................................ 14 1.6 Elementare Integrationsregeln .................... 16 1.7 Integration durch Substitution ................... 18 2 Elementare Funktionen 20 2.1 Logarithmus- und Exponentialfunktionen ............. 21 2.2 Potenz- und Wurzelfunktionen ................... 28 2.2.1 Potenzfunktionen mit ganzzahligen Exponenten, r = n Z 28 2.2.2 Wurzelfunktionen ....................... 30 2.2.3 Potenzfunktionen mit rationalen Exponenten, r = q Q . 32 2.2.4 Potenzfunktionen mit reellen Exponenten, r R ..... 34 2.3 Trigonometrische Funktionen .................... 36 2.3.1 Definition am rechtwinkligen Dreieck ............ 37 2.3.2 Fortsetzung auf [0, 2π] .................... 38 2.3.3 Fortsetzung auf R ...................... 39 2.3.4 Eigenschaften von sin und cos ................ 39 2.3.5 Weitere trigonometrische Funktionen ............ 45 2.3.6 Umkehrfunktionen (Arkusfunktionen) ........... 50 2.3.7 Anwendungen ......................... 55 2.4 Hyperbelfunktionen ......................... 55 2.4.1 Weitere Hyperbelfunktionen ................. 61 1

Transcript of ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte...

Page 1: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

MAE2Mathematik: Analysis für Ingenieure 2

Christoph Kirsch

30. Mai 2017

Inhaltsverzeichnis0 Überblick 2

1 Einführung in die Integralrechnung 21.1 Integration als Umkehrung der Differenziation . . . . . . . . . . . 21.2 Das bestimmte Integral als Flächeninhalt . . . . . . . . . . . . . 6

1.2.1 Beschränktheit von Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . 61.2.2 Das bestimmte Integral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

1.3 Unbestimmtes Integral und Flächenfunktion . . . . . . . . . . . . 111.4 Der Hauptsatz der Differenzial- und Integralrechnung . . . . . . 121.5 Berechnung bestimmter Integrale unter Verwendung einer Stamm-

funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141.6 Elementare Integrationsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161.7 Integration durch Substitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

2 Elementare Funktionen 202.1 Logarithmus- und Exponentialfunktionen . . . . . . . . . . . . . 212.2 Potenz- und Wurzelfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

2.2.1 Potenzfunktionen mit ganzzahligen Exponenten, r = n ∈ Z 282.2.2 Wurzelfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302.2.3 Potenzfunktionen mit rationalen Exponenten, r = q ∈ Q . 322.2.4 Potenzfunktionen mit reellen Exponenten, r ∈ R . . . . . 34

2.3 Trigonometrische Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362.3.1 Definition am rechtwinkligen Dreieck . . . . . . . . . . . . 372.3.2 Fortsetzung auf [0, 2π] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382.3.3 Fortsetzung auf R . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392.3.4 Eigenschaften von sin und cos . . . . . . . . . . . . . . . . 392.3.5 Weitere trigonometrische Funktionen . . . . . . . . . . . . 452.3.6 Umkehrfunktionen (Arkusfunktionen) . . . . . . . . . . . 502.3.7 Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

2.4 Hyperbelfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552.4.1 Weitere Hyperbelfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

1

Page 2: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

0 ÜBERBLICK 2

2.4.2 Umkehrfunktionen (Areafunktionen) . . . . . . . . . . . . 65

3 Integralrechnung für elementare Funktionen 703.1 Grund- oder Stammintegrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 703.2 Integrationsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

3.2.1 Geeignete Substitutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723.2.2 Partielle Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 753.2.3 Integration rationaler Funktionen durch Partialbruchzer-

legung des Integranden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 793.3 Flächeninhalt zwischen zwei Kurven . . . . . . . . . . . . . . . . 85

0 ÜberblickIn diesem zweiten Teil einer zweisemestrigen Vorlesung über Analysis für Inge-nieure werden elementare Funktionen sowie die Differenzial- und Integralrech-nung reellwertiger Funktionen einer reellen Variablen behandelt.

Wir führen die Integralrechnung für Polynomfunktionen ein und lernen dieBegriffe der Stammfunktion sowie des unbestimmten und bestimmten Integralskennen. Letzteres hat eine geometrische Interpretation als Flächeninhalt. Wirbehandeln den Hauptsatz der Differenzial- und Integralrechnung (auch bekanntals Fundamentalsatz der Analysis), sowie die Rechenregeln für Integrale undIntegrationsmethoden.

Die Integration von gebrochenrationalen Funktionen führt unweigerlich aufdie Logarithmusfunktion. Ihre Umkehrfunktion ist die Exponentialfunktion, mitderen Hilfe wir Potenzfunktionen für beliebige reelle Exponenten definieren kön-nen. Zu diesen gehören auch die Wurzelfunktionen. Weitere elementare Funk-tionen sind die trigonometrischen und die Hyperbelfunktionen, sowie deren Um-kehrfunktionen. Für diese Funktionen werden wir u. a. Ableitungen und Stamm-funktionen angeben.

1 Einführung in die Integralrechnung

1.1 Integration als Umkehrung der DifferenziationSei F : D → R, D ⊆ R, eine differenzierbare Funktion. Durch Differenziationbestimmen wir die Ableitung von F :

Differenziation: F −→ F ′ =: f.

Die Funktion f : D → R heisst die Ableitungsfunktion (oder Ableitung) von F(vgl. MAE1, Kap. 4.1). Die Ableitungsregeln haben wir in der Vorlesung MAE1kennengelernt (Satz 14).

Bei der Integration sind wir daran interessiert, von einer gegebenen Ablei-tung auf die Funktion zu schliessen:

Integration: f = F ′ −→ F.

Page 3: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

1 EINFÜHRUNG IN DIE INTEGRALRECHNUNG 3

Die Funktion F ist eine Stammfunktion der Funktion f :

Definition 1 (Stammfunktion) Eine differenzierbare Funktion F : D → R,D ⊆ R, heisst Stammfunktion der Funktion f : D → R, wenn f die Ableitungvon F ist, d. h. wenn gilt: F ′(x) = f(x), ∀x ∈ D.

Bemerkung: Wenn ein x0 ∈ D existiert mit F ′(x0) 6= f(x0), dann kann F keineStammfunktion der Funktion f sein.Beispiele: (D = R)

1. Die Funktionen

F1(x) := 3x2 − 2x+ 3, F2(x) := 3x2 − 2x− 1, F3(x) := 3x2 − 2x,

sind Stammfunktionen der linearen Funktion f(x) := 6x−2, denn es gelten

F ′1(x) = F ′2(x) = F ′3(x) = 6x− 2 = f(x), ∀x ∈ R.

2. Die Funktion F (x) := 5x3 − 2x2 + 4x − 2 ist keine Stammfunktion derquadratischen Funktion f(x) := 10x2 − 4x+ 2, denn es gilt

F ′(x) = 15x2 − 4x+ 4

und damit z. B. (x0 := 0) F ′(0) = 4 6= 2 = f(0).

In MAE1, Kap. 4.2.1, hatten wir die Ableitungen von Polynomfunktionen (Def. 23)bestimmt (Satz 16). Hier bestimmen wir jetzt die Stammfunktionen:

Satz 1 (Stammfunktionen von Polynomfunktionen) Sei n ∈ N0, und seien ai ∈R, i = 0, 1, . . . , n, mit an 6= 0 falls n ≥ 1, die Koeffizienten der Polynomfunktionvom Grad n

p(x) =

n∑i=0

aixi = a0 + a1x+ a2x

2 + · · ·+ anxn.

Dann ist jede Funktion P von der Form

P (x) =

n∑i=0

aixi+1

i+ 1+ C = a0x+ a1

x2

2+ a2

x3

3+ · · ·+ an

xn+1

n+ 1+ C, (1)

mit C ∈ R, eine Stammfunktion von p.

Beweis: Die Aussage kann direkt durch Ableiten bewiesen werden. Dabei unter-scheiden wir drei Fälle:

• Im Fall n = 0, a0 = 0, ist p(x) = 0 die Nullfunktion, und P (x) = C isteine konstante Funktion. Für die Ableitung von P erhalten wir mit MAE1,Def. 35:

P ′(x0) = limx→x0

P (x)− P (x0)x− x0

= limx→x0

C − Cx− x0

= 0 = p(x0), ∀x0 ∈ R.

Also ist P eine Stammfunktion von p gemäss Def. 1.

Page 4: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

1 EINFÜHRUNG IN DIE INTEGRALRECHNUNG 4

• Im Fall n = 0, a0 6= 0, ist p(x) = a0 eine konstante Funktion (nicht dieNullfunktion), und P (x) = a0x + C ist eine lineare Funktion. Für dieAbleitung von P erhalten wir mit MAE1, Def. 35:

P ′(x0) = limx→x0

P (x)− P (x0)x− x0

= limx→x0

a0x+ C − (a0x0 + C)

x− x0

= limx→x0

a0(x− x0)x− x0

= a0 = p(x0), ∀x0 ∈ R.

Also ist P eine Stammfunktion von p gemäss Def. 1.

• Im Fall n ≥ 1 ist p eine Polynomfunktion vom Grad n, und wir erkennen,dass P eine Polynomfunktion vom Grad n+ 1 ist:

P (x)(1)= a0x+ a1

x2

2+ a2

x3

3+ · · ·+ an

xn+1

n+ 1+ C

= C + a0x+a12x2 +

a23x3 + · · ·+ an

n+ 1xn+1

= a0 + a1x+ a2x2 + a3x

3 + · · ·+ an+1xn+1 =

n+1∑i=0

aixi,

wobei wir

ai :=

{C, i = 0ai−1

i , i > 0, i ∈ {0, 1, . . . , n+ 1}, (2)

definieren. Die Ableitung von P ist nach MAE1, Satz 16 (m = 1), gegebendurch

P ′(x) =

n+1−1∑i=0

(i+1)ai+1xi (2)=

n∑i=0

(i+1)aii+ 1

xi =

n∑i=0

aixi = p(x), ∀x ∈ R.

Also ist P eine Stammfunktion von p gemäss Def. 1. �

Beispiel: Wir betrachten eine gleichmässig beschleunigte Bewegung mit a =

const. 6= 0 [ms−2]. Die zeitabhängige Geschwindigkeit v(t) [ms−1] und Posi-tion s(t) [m] sind über die Grundgleichungen der Kinematik einer Punktmassemit der Beschleunigung verknüpft:

dv

dt(t) = v(t) = a,

ds

dt(t) = s(t) = v(t), t > 0.

Also ist die Geschwindigkeit eine Stammfunktion der Beschleunigung, und diePosition ist eine Stammfunktion der Geschwindigkeit. Mit Satz 1 erhalten wireine lineare Funktion für die Geschwindigkeit:

v(t) = at+ C1, t ≥ 0, C1 ∈ R.

Page 5: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

1 EINFÜHRUNG IN DIE INTEGRALRECHNUNG 5

Der Wert der Konstanten C1 ist bestimmt durch die Anfangsgeschwindigkeit v0zum Zeitpunkt t = 0: C1 = v(0) = v0. Damit ist das Geschwindigkeits-Zeit-Gesetz der Bewegung gegeben durch

v(t) = at+ v0, t ≥ 0.

Die zeitabhängige Position s(t) ist eine Stammfunktion der Geschwindigkeit.Mit Satz 1 erhalten wir eine quadratische Funktion,

s(t) = at2

2+ v0t+ C2, t ≥ 0, C2 ∈ R.

Der Wert der Konstanten C2 ist bestimmt durch die Anfangsposition s0 zumZeitpunkt t = 0: C2 = s(0) = s0. Damit ist das Weg-Zeit-Gesetz der gleichmäs-sig beschleunigten Bewegung gegeben durch

s(t) =1

2at2 + v0t+ s0, t ≥ 0.

Dies ist auch die Lösung des sog. Anfangswertproblems

s(t) = a, t > 0,

s(0) = s0,

s(0) = v0,

mit Parametern a, s0, v0 ∈ R. Für a = 0 erhalten wir auf die gleiche Weise diegleichförmige Bewegung mit dem (linearen) Weg-Zeit-Gesetz s(t) = v0t + s0als Spezialfall. In der Vorlesung MND1 im 5. Semester werden Sie mehr übersog. gewöhnliche Differenzialgleichungen und Anfangswertprobleme hören.Bemerkungen:

• Zu jeder stetigen Funktion f gibt es unendlich viele Stammfunktionen.Das Aufsuchen sämtlicher Stammfunktionen F zu einer vorgegebenen,stetigen Funktion f wird als Integration bezeichnet.

• Zwei beliebige Stammfunktionen F1 und F2 einer Funktion f : D → R,D ⊆ R, unterscheiden sich um eine additive Konstante: Wir definieren dieFunktion G : D → R, G(x) := F1(x)− F2(x), x ∈ D, und wir rechnen

0 = f(x)− f(x) = F ′1(x)− F ′2(x)Summenregel

= G′(x), ∀x ∈ D.

Nach Def. 1 ist G eine Stammfunktion der Nullfunktion und daher (gemässSatz 1) eine konstante Funktion:

G(x) = F1(x)− F2(x) = C ∈ R, ∀x ∈ D.

Page 6: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

1 EINFÜHRUNG IN DIE INTEGRALRECHNUNG 6

1.2 Das bestimmte Integral als FlächeninhaltIn diesem Kapitel definieren wir Ausdrücke der Form

b∫a

f(x) dx

für geeignete Funktionen f . Als Vorbereitung definieren wir die Beschränktheitvon Funktionen.

1.2.1 Beschränktheit von Funktionen

Obere und untere Schranken einer Menge M ⊆ R wurden in MAE1, Def. 10,definiert.

Definition 2 (Supremum, Infimum) Sei M ⊆ R eine Menge.

1. Die kleinste obere Schranke von M heisst Supremum von M , sup(M).

2. Die grösste untere Schranke von M heisst Infimum von M , inf(M).

Beispiele:

1. Für die Menge M := {1, 2, 3, 4} gelten sup(M) = 4 und inf(M) = 1.

2. Für die Menge M := (0, 1] ∪ {2, 3} gelten sup(M) = 3 und inf(M) = 0.

Bemerkungen:

• Existenz:

– Jede nicht-leere, nach unten beschränkte Teilmenge der reellen Zahlenbesitzt ein Infimum.

– Jede nicht-leere, nach oben beschränkte Teilmenge der reellen Zahlenbesitzt ein Supremum.

Dies sind zwei äquivalente Formulierungen des sog. Vollständigkeitsaxiomsder reellen Zahlen. Wir folgern daraus:

– Jede nicht-leere beschränkte Teilmenge der reellen Zahlen besitzt einInfimum und ein Supremum.

• Eindeutigkeit: Jede Teilmenge der reellen Zahlen besitzt höchstens einSupremum und höchstens ein Infimum.

• Besitzt eine Menge M ⊆ R sowohl ein Infimum als auch ein Supremum,so gilt inf(M) ≤ sup(M).

• Das Infimum und das Supremum einer Menge M ⊆ R sind nicht notwen-digerweise Elemente von M ! Sei z. B. M ein halboffenes Intervall, etwaM := [1, 2), dann ist M beschränkt und es gilt inf(M) = 1 ∈ M abersup(M) = 2 6∈M .

Page 7: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

1 EINFÜHRUNG IN DIE INTEGRALRECHNUNG 7

• Falls inf(M) ∈ M , so heisst diese Zahl das Minimum von M , min(M).Falls sup(M) ∈ M , so heisst diese Zahl das Maximum von M , max(M).Für M = [1, 2) gilt min(M) = 1, aber das Maximum von M existiertnicht.

• Für unbeschränkte Mengen schreiben wir oft inf(M) = −∞ 6∈ R odersup(M) =∞ 6∈ R.

Die Beschränktheit von Funktionen wird auf die Beschränktheit ihres Bildes(MAE1, Def. 13) zurückgeführt:

Definition 3 (Beschränktheit von Funktionen) Sei f : D → R, D ⊆ R, eineFunktion, und sei M ⊆ D. Die Funktion f heisst beschränkt auf M , falls dasBild von M unter f ,

f(M) = {f(x) |x ∈M} ⊆ R,

beschränkt ist. Das Supremum und das Infimum von f auf M sind definiert als

infx∈M

f(x) := inf (f(M)) , supx∈M

f(x) := sup (f(M)) . (3)

Bemerkungen:

• Falls infx∈M

f(x) ∈ f(M) oder supx∈M

f(x) ∈ f(M) gilt, so heissen diese Zahlen

das Minimum bzw. Maximum von f auf M : minx∈M

f(x) bzw. maxx∈M

f(x).

• Falls die Funktion f : D → R beschränkt ist auf einer Menge M ⊆ D, soist f auch beschränkt auf jeder Teilmenge N ⊆M , denn es gilt

f(N) = {f(x) |x ∈ N} ⊆ {f(x) |x ∈M} = f(M).

Weil f(M) eine beschränkte Menge ist, so ist auch die Teilmenge f(N) ⊆f(M) beschränkt und damit f beschränkt auf N . Für die Infima undSuprema gelten die Ungleichungen

infx∈M

f(x) ≤ infx∈N

f(x) ≤ supx∈N

f(x) ≤ supx∈M

f(x).

Beispiele:

1. Die Funktion f(x) := x2 ist beschränkt auf dem Intervall M := [1, 2),denn es gilt f ([1, 2)) = [1, 4) (beschränkte Menge). Wir erhalten

infx∈[1,2)

x2 = minx∈[1,2)

x2 = 1 und supx∈[1,2)

x2 = 4.

Die Funktion f besitzt kein Maximum auf [1, 2).

Page 8: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

1 EINFÜHRUNG IN DIE INTEGRALRECHNUNG 8

2. Die Funktion f(x) := 1x ist beschränkt auf dem Intervall M := [1,∞),

denn es gilt f ([1,∞)) = (0, 1] (beschränkte Menge). Wir erhalten

infx∈[1,∞)

1

x= infx≥1

1

x= 0 und sup

x≥1

1

x= max

x≥1

1

x= 1.

Die Funktion f besitzt kein Minimum auf [1,∞).

3. Die Funktion f(x) = 1x ist unbeschränkt auf dem Intervall M := (0, 1),

denn es gilt f ((0, 1)) = (1,∞) (unbeschränkte Menge). Wir erhalten

infx∈(0,1)

1

x= inf

0<x<1

1

x= 1 und sup

0<x<1

1

x=∞.

Die Funktion f besitzt weder ein Maximum noch ein Minimum auf (0, 1).

Bemerkung: Eine stetige Funktion f : D → R, D ⊆ R, ist beschränkt auf jedemabgeschlossenen Intervall [a, b] ⊆ D. Eine solche Funktion nimmt ausserdemihre obere und untere Grenze an, d. h. ( max

x∈[a,b]f(x) =) sup

x∈[a,b]f(x) ∈ f ([a, b])

und ( minx∈[a,b]

f(x) =) infx∈[a,b]

f(x) ∈ f ([a, b]) (Satz vom Minimum und Maximum,

Extremwertsatz; nach K. T. W. Weierstrass, 1815–1897).

1.2.2 Das bestimmte Integral

Wir folgen hier J. G. Darboux (1842–1917).Die Funktion f : [a, b] → R, a < b, sei beschränkt auf [a, b]. Eine Zerlegung

Z des Intervalls [a, b] ist eine endliche Folge x0, x1, x2, . . . , xn ∈ [a, b] mit

a = x0 < x1 < x2 < · · · < xn = b.

Für eine Zerlegung Z von [a, b] definieren wir die Ober- und Untersummen vonf durch

O[f ](Z) :=

n∑k=1

(xk − xk−1) supxk−1<x<xk

f(x) ∈ R, (4)

U [f ](Z) :=

n∑k=1

(xk − xk−1) infxk−1<x<xk

f(x) ∈ R. (5)

Supremum und Infimum von f existieren auf jedem Teilintervall (xk−1, xk) ⊆[a, b], weil f als beschränkt vorausgesetzt war. Es gilt U [f ](Z) ≤ O[f ](Z). Seinun Z∗ eine Verfeinerung von Z mit N ≥ n Punkten, d. h. Z∗ enthält allePunkte von Z und N−n ≥ 0 zusätzliche Punkte. Dann gelten die Ungleichungen

U [f ](Z) ≤ U [f ](Z∗) ≤ O[f ](Z∗) ≤ O[f ](Z),

d. h. die Mengen

{O[f ](Z) |Z Zerlegung von [a, b]} ⊆ R,{U [f ](Z) |Z Zerlegung von [a, b]} ⊆ R

Page 9: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

1 EINFÜHRUNG IN DIE INTEGRALRECHNUNG 9

sind beschränkt. Wir definieren das obere bzw. das untere (darbouxsche) Integralvon f als Supremum bzw. Infimum dieser Mengen:

b∫a

f(x) dx := inf {O[f ](Z) |Z Zerlegung von [a, b]} ∈ R, (6)

(oberes Integral),b∫a

f(x) dx := sup {U [f ](Z) |Z Zerlegung von [a, b]} ∈ R (7)

(unteres Integral).

Es giltb∫a

f(x) dx ≤b∫a

f(x) dx.

Definition 4 (Integrierbarkeit) Eine Funktion f : [a, b]→ R heisst(Darboux-)integrierbar auf [a, b], wenn

b∫a

f(x) dx =

b∫a

f(x) dx.

Der gemeinsame Wert des oberen und unteren Integrals heisst dann das (be-stimmte) (Darboux-)Integral von f über dem Intervall [a, b], symbolisch

b∫a

f(x) dx.

Bemerkungen:

• Die reellen Zahlen a, b heissen Integrationsgrenzen, die zu integrierendeFunktion heisst Integrand. Die Integrationsvariable x kann am Differenzialdx abgelesen werden.

• Das bestimmte Integral von f über dem Intervall [a, b] entspricht – gemässder Konstruktion von oben – dem Flächeninhalt zwischen der x-Achse unddem Graphen von f , wobei Flächenanteile oberhalb der x-Achse positivund Flächenanteile unterhalb der x-Achse negativ beitragen.

• Es gibt weitere Integralbegriffe, allen voran das Riemann-Integral (B. Rie-mann, 1826–1866). Die beiden Definitionen sind äquivalent: Eine Funkti-on f : [a, b] → R ist Riemann-integrierbar auf [a, b] genau dann, wenn sieDarboux-integrierbar ist auf [a, b], und der Wert des Riemann-Integralsvon f über dem Intervall [a, b] ist gleich dem Wert des Darboux-Integralsvon f über dem Intervall [a, b].

Page 10: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

1 EINFÜHRUNG IN DIE INTEGRALRECHNUNG 10

• Die Klasse der integrierbaren Funktionen ist sehr gross. Eine nicht-integrierbareFunktion ist z. B. die Dirichlet-Funktion (vgl. MAE1, Kap. 3.5) auf demIntervall [0, 1]:

f(x) =

{1, x ∈ Q0, x 6∈ Q , x ∈ [0, 1].

Diese Funktion ist nicht integrierbar auf [0, 1], denn es gilt

1∫0

f(x) dx = 0 < 1 =

1∫0

f(x) dx.

Beispiel: Wir betrachten die quadratische Funktion f(x) = x2, x ∈ [1, 2], undeine äquidistante Zerlegung

xk := 1 +k

n, k = 0, 1, 2, . . . , n, n ∈ N,

mit xk − xk−1 = 1n , k = 1, . . . , n. Weil f im Intervall [1, 2] streng monoton

wachsend ist, liegen das Infimum und das Supremum jeweils an den Rändernder Teilintervalle:

infxk−1<x<xk

f(x) = f(xk−1) =

(1 +

k − 1

n

)2

,

supxk−1<x<xk

f(x) = f(xk) =

(1 +

k

n

)2

.

Daher sind die Ober- und Untersummen von f (4), (5) für diese Zerlegunggegeben durch

O[f ](Z) =

n∑k=1

1

n

(1 +

k

n

)2

=1

n

n∑k=1

(1 + 2

k

n+k2

n2

)

=1

n

n∑k=1

1 +2

n2

n∑k=1

k +1

n3

n∑k=1

k2

=1

nn+

2

n2n(n+ 1)

2+

1

n3n(n+ 1)(2n+ 1)

6=

7

3+

9n+ 1

6n2>

7

3,

U [f ](Z) =

n∑k=1

1

n

(1 +

k − 1

n

)2

= · · · = 7

3− 9n− 1

6n2<

7

3.

Dies gilt für jedes n ∈ N. Die oberen und unteren Integrale von f (6), (7) erfüllen(n→∞)

2∫1

f(x) dx =7

3=

2∫1

f(x) dx.

Page 11: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

1 EINFÜHRUNG IN DIE INTEGRALRECHNUNG 11

Also ist die Funktion f(x) = x2 integrierbar auf [1, 2] nach Def. 4, und der Wertdes Integrals ist gegeben durch

2∫1

x2 dx =7

3.

Die Berechnung des Integrals über Ober- und Untersummen ist umständlich.Wir werden später eine viel einfachere Auswertung von bestimmten Integralenmithilfe der Stammfunktion kennenlernen.

1.3 Unbestimmtes Integral und FlächenfunktionDefinition 5 (unbestimmtes Integral) Sei D ⊆ R ein Intervall, sei a ∈ D, undsei f : D → R eine beschränkte Funktion. Sei ausserdem f integrierbar aufjedem abgeschlossenen Teilintervall [a, x], x ∈ D, x ≥ a. Die Funktion

I[f ](x; a) :=

x∫a

f(t) dt, x ∈ D, x ≥ a, (8)

heisst ein unbestimmtes Integral der Funktion f (mit unterer Integrationsgrenzea).

Bemerkungen:

• Beachten Sie, dass die Integrationsvariable jetzt t heisst; x wird hier alsArgument der Funktion I[f ]( · ; a) verwendet.

• Der Funktionswert des unbestimmten Integrals an einer beliebigen Stellex ∈ D, x ≥ a, entspricht dem Wert des bestimmten Integrals von f überdem Intervall [a, x], also dem Flächeninhalt zwischen der x-Achse und demGraphen von f im Intervall [a, x], wobei Flächenanteile oberhalb der t-Achse positiv und Flächenanteile unterhalb der t-Achse negativ beitragen.Daher heisst das unbestimmte Integral I[f ]( · ; a) auch Flächenfunktion.

• Weil a ∈ D beliebig ist, gibt es zu einer Funktion unendlich viele unbe-stimmte Integrale, die sich in der unteren Integrationsgrenze voneinanderunterscheiden.

• Zwei beliebige unbestimmte Integrale von f unterscheiden sich durch eineadditive Konstante: Seien a1, a2 ∈ D mit a1 ≤ a2. Dann gilt

I[f ](x; a1)− I[f ](x; a2) =a2∫a1

f(t) dt ∈ R, x ∈ D, x ≥ a2,

d. h. die Differenz zweier unbestimmter Integrale mit unteren Integrati-onsgrenzen a1 bzw. a2 ist gleich dem bestimmten Integral von f über demIntervall [a1, a2].

Page 12: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

1 EINFÜHRUNG IN DIE INTEGRALRECHNUNG 12

• DieMenge aller unbestimmten Integrale einer Funktion f wird mit∫f(x) dx

bezeichnet.

• Das bestimmte Integral ist eine reelle Zahl. Das unbestimmte Integral isteine Funktion (die Flächenfunktion)!

1.4 Der Hauptsatz der Differenzial- und IntegralrechnungAus Kap. 1.1 wissen wir, dass es zu jeder stetigen Funktion unendlich vieleStammfunktionen gibt. Aus Kap. 1.3 wissen wir, dass es zu jeder beschränktenFunktion unendlich viele unbestimmte Integrale gibt. Zwei beliebige Stamm-funktionen oder unbestimmte Integrale unterscheiden sich durch eine additiveKonstante voneinander. In diesem Kapitel werden wir zeigen, dass jedes un-bestimmte Integral einer stetigen Funktion f auch eine Stammfunktion von fist.

Wir leiten dies hier für den Spezialfall einer stetigen und monoton wachsen-den Funktion her: Sei D ⊆ R ein Intervall, und sei f : D → R eine stetige undmonoton wachsende Funktion. Wir wählen ein a ∈ D (fest) und definieren dieFunktion

I(x) := I[f ](x; a)Def. 5=

x∫a

f(t) dt, x ∈ D, x ≥ a.

Für x0, x ∈ D mit a < x0 < x gelten f(x0) ≤ f(x) (f monoton wachsend;

MAE1, Def. 18) und I(x) − I(x0) =x∫

x0

f(t) dt (Differenz zweier unbestimmter

Integrale). Für diesen Flächeninhalt erhalten wir die Abschätzung (wähle dieZerlegung Z mit genau zwei Punkten x0 und x)

f(x0) (x− x0) ≤x∫

x0

f(t) dt

︸ ︷︷ ︸=I(x)−I(x0)

≤ f(x) (x− x0) .

Wir dividieren durch x− x0 > 0 und berechnen den Grenzwert für x→ x0:

f(x0) ≤ limx→x0

I(x)− I(x0)x− x0

≤ limx→x0

f(x) = f(x0),

weil f als stetig vorausgesetzt war (MAE1, Def. 34). Damit ist aber nach MAE1,Def. 35, die Funktion I differenzierbar an der Stelle x0 mit Ableitung I ′(x0) =f(x0). Dies gilt für jedes x0 ∈ D, x0 ≥ a, also ist I eine Stammfunktion von f .Dies gilt allgemein für stetige Funktionen f und deren unbestimmte Integrale:

Page 13: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

1 EINFÜHRUNG IN DIE INTEGRALRECHNUNG 13

Satz 2 (Hauptsatz der Differenzial- und Integralrechnung, Fundamentalsatz derAnalysis) Sei D ⊆ R ein Intervall, und sei f : D → R eine stetige Funktion.Dann ist jedes unbestimmte Integral von f eine Stammfunktion von f :

d

dx

x∫a

f(t) dt

︸ ︷︷ ︸=I[f ](x;a)

= f(x), ∀ x ∈ D, x ≥ a, (9)

für alle a ∈ D.

Bemerkungen/Folgerungen:

• Jedes unbestimmte Integral einer stetigen Funktion ist stetig differenzier-bar.

• Die Menge aller unbestimmten Integrale einer stetigen Funktion f lässtsich schreiben als∫

f(x) dx = F (x) + C, C ∈ R (= {F (x) + C |C ∈ R}), (10)

wobei F irgendeine Stammfunktion von f bezeichnet und C ∈ R die Inte-grationskonstante. Hierbei werden die Mengenklammern { · } üblicherweiseweggelassen.

• Für stetige Funktionen gibt es keinen Unterschied zwischen den Begriffen“Stammfunktion” und “unbestimmtes Integral”. Für unstetige Funktionenhingegen ist es möglich, dass das unbestimmte Integral (die Flächenfunk-tion) nicht differenzierbar ist und daher keine Stammfunktion sein kann.

Beispiele:

1. Die quadratische Funktion F (x) = x2 + x ist eine Stammfunktion derlinearen Funktion f(x) = 2x + 1 (Satz 1). Daher ist die Menge aller un-bestimmten Integrale von f gegeben durch∫

2x+ 1dx = x2 + x+ C, C ∈ R.

Mit Satz 1 können wir die Menge aller unbestimmten Integrale für jedebeliebige Polynomfunktion angeben.

2. Sei f die stückweise konstante Funktion

f(x) :=

{1, x < 12, x ≥ 1

, x ∈ [0, 2].

f ist beschränkt und unstetig an der Stelle x = 1 (Sprungstelle; MAE1,Def. 34). Wir betrachten das unbestimmte Integral (Def. 5)

I(x) := I[f ](x; 0) =

x∫0

f(t) dt, x ∈ [0, 2].

Page 14: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

1 EINFÜHRUNG IN DIE INTEGRALRECHNUNG 14

Mit der Interpretation des bestimmten Integrals als Flächeninhalt erken-nen wir sofort, dass I eine stückweise lineare Funktion ist:

I(x) =

{x, x < 12x− 1, x ≥ 1

, x ∈ [0, 2].

Die Funktion I ist zwar stetig an der Stelle x = 1, aber ihr Graph hat dorteine “Knickstelle”, und daher ist I nicht differenzierbar bei x = 1 (MAE1,Kap. 4.1). Deswegen ist die Funktion I keine Stammfunktion von f . Esgilt allerdings I ′(x) = f(x) für alle x 6= 1.

3. Aus dem Geschwindigkeits-Zeit-Gesetz v(t) = gt+ v0, t ≥ 0, erhalten wirwegen s = v durch Integration das folgende Zeitgesetz für den Fallweg seiner frei fallenden Punktmasse im Erdschwerefeld (g ' 9.81ms−2):

s(t) =

∫s(t) dt =

∫v(t) dt =

∫gt+ v0 dt

Satz 1= g

t2

2+ v0t+ C, C ∈ R.

Aus der vorgegebenen Anfangsposition s(0) = s0 können wir den Wertder Integrationskonstante bestimmen:

s(0) = C = s0 ⇒ s(t) =1

2gt2 + v0t+ s0

(vgl. Kap. 1.1).

1.5 Berechnung bestimmter Integrale unter Verwendungeiner Stammfunktion

Sei D ⊆ R ein Intervall, seien a, x ∈ D mit a ≤ x, und sei f : D → R einestetige Funktion. Nach dem Fundamentalsatz der Analysis (Satz 2) gilt

I(x) := I[f ](x; a) =

x∫a

f(x) dx = F (x) + C, C ∈ R,

wobei F irgendeine Stammfunktion von f bezeichnet. Der Wert der Integrati-onskonstanten C ∈ R wird aus der Gleichung

F (a) + C = I(a) =

a∫a

f(x) dx = 0

bestimmt: C = −F (a). Daher gilt

I(x) =

x∫a

f(x) dx = F (x)− F (a).

Page 15: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

1 EINFÜHRUNG IN DIE INTEGRALRECHNUNG 15

Dies gilt für jedes x ∈ D mit x ≥ a. Für x = b ∈ D, b ≥ a, erhalten wir das be-stimmte Integral von f über [a, b] (Kap. 1.2.2) als Differenz der Funktionswertevon F an der oberen und unteren Integrationsgrenze:

I(b) =

b∫a

f(x) dx = F (b)− F (a).

Die Wahl der Stammfunktion spielt dabei keine Rolle: Sei F eine weitere Stamm-funktion von f , so unterscheidet sie sich von F um eine additive Konstante,F (x) = F (x) + C, C ∈ R (Kap. 1.1). Dann gilt aber auch

F (b)− F (a) = F (b) + C − (F (a) + C) = F (b)− F (a) =b∫a

f(x) dx.

Zusammenfassung: Berechnung eines bestimmten Integrals:

1. Bestimmung irgendeiner Stammfunktion F des Integranden f (in der Re-gel wird die Integrationskonstante einfach auf 0 gesetzt),

2. Berechnung der Differenz der Funktionswerte von F an den Integrations-grenzen:

b∫a

f(x) dx = F (b)− F (a) =: F (x)|ba . (11)

Beispiele:

1.2∫

1

x2 dx =x3

3

∣∣∣∣21

=8

3− 1

3=

7

3(vgl. Kap. 1.2.2).

2.1∫

0

x3−2x2+5dx =

(x4

4− 2

x3

3+ 5x

)∣∣∣∣10

=1

4− 2

3+5− (0− 0 + 0) =

55

12.

3. Die Temperaturverteilung in einem Rohr der Länge L > 0 erfülle T ′′(x) =0, x ∈ (0, L), und die Temperaturen an den Rändern seien vorgegeben:T (0) = T1, T (L) = T2. Dies ist ein Randwertproblem für die unbekannteTemperaturverteilung T (x). Wir bestimmen T durch zweimalige unbe-stimmte Integration, wobei wir jeweils den Satz 1 verwenden:

T ′(x) =

∫T ′′(x) dx =

∫0 dx = C1 ∈ R,

T (x) =

∫T ′(x) dx =

∫C1 dx = C1x+ C2, C2 ∈ R.

Page 16: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

1 EINFÜHRUNG IN DIE INTEGRALRECHNUNG 16

Aus den Randbedingungen erhalten wir ein lineares Gleichungssystem fürdie beiden Integrationskonstanten C1, C2:

T (0) = C2 = T1,

T (L) = C1L+ C2 = T2.

Die Lösung ist C2 = T1 und C1 = (T2 − T1) /L, und damit erhalten wirdie Temperaturverteilung

T (x) =T2 − T1

Lx+ T1, 0 ≤ x ≤ L.

1.6 Elementare IntegrationsregelnWeil für stetige Funktionen f nach dem Hauptsatz (Satz 2) jedes unbestimmteIntegral von f eine Stammfunktion von f ist, erhalten wir die folgenden Inte-grationsregeln aus den Ableitungsregeln (MAE1, Satz 14):

Satz 3 (Integrationsregeln) Seien f und g stetige Funktionen. Dann gelten

1. Faktorregel:∫

(cf) (x) dx =

∫cf(x) dx = c

∫f(x) dx, c ∈ R,

2. Summenregel:∫

(f + g) (x) dx =

∫f(x)+g(x) dx =

∫f(x) dx+

∫g(x) dx.

Für bestimmte Integrale von f gelten die folgenden Regeln:

3. Vertauschungsregel:a∫b

f(x) dx = −b∫a

f(x) dx,

4.a∫a

f(x) dx = 0,

5.b∫a

f(x) dx =

c∫a

f(x) dx+

b∫c

f(x) dx, c ∈ [a, b].

Beweis: Die Faktor- und die Summenregel folgen mit Satz 2 aus den entspre-chenden Ableitungsregeln (MAE1, Satz 14):

1. Sei F eine Stammfunktion von f , und sei c ∈ R, dann gilt nach derFaktorregel für die Ableitung (cF )

′= cF ′ = cf . Nach Def. 1 ist also cF

eine Stammfunktion von cf .

2. Sei F eine Stammfunktion von f , und sei G eine Stammfunktion von g,dann gilt nach der Summenregel für die Ableitung (F +G)

′= F ′ +G′ =

f + g. Nach Def. 1 ist also F +G eine Stammfunktion von f + g.

Page 17: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

1 EINFÜHRUNG IN DIE INTEGRALRECHNUNG 17

Die restlichen Regeln erhalten wir mithilfe einer Stammfunktion F von f (Kap. 1.5):

3.a∫b

f(x) dx = F (a)− F (b) = − (F (b)− F (a)) = −b∫a

f(x) dx,

4.a∫a

f(x) dx = F (a)− F (a) = 0,

5.b∫a

f(x) dx = F (b)− F (a) = F (b)− F (c) + F (c)− F (a)

= F (c)−F (a)+F (b)−F (c) =c∫a

f(x) dx+

b∫c

f(x) dx. �

Bemerkung: Die 5. Integrationsregel ist nützlich bei der Integration von stück-weise definierten Funktionen: Sei

f(x) :=

{x2, 0 ≤ x ≤ 1−x+ 2, 1 < x ≤ 2

,

dann ist das bestimmte Integral von f über [0, 2] gegeben durch

2∫0

f(x) dxSatz 3, 5.

=

1∫0

f(x) dx+

2∫1

f(x) dx

=

1∫0

x2 dx+

2∫1

−x+ 2dx

=x3

3

∣∣∣∣10

+

(−x

2

2+ 2x

)∣∣∣∣21

=1

3− 0 + (−2 + 4)−

(−1

2+ 2

)=

1

3+

1

2=

5

6.

Aus der Potenzregel für die Ableitung (MAE1, Satz 15) folgt eine entsprechendeRegel für die Integration:

Satz 4 (Potenzregel) Für n ∈ N0 gilt∫xn dx =

xn+1

n+ 1+ C, C ∈ R.

Mit der Summen- und der Faktorregel können wir Polynomfunktionen auchtermweise integrieren: Sei n ∈ N0 und seien ai ∈ R, i = 0, . . . , n, mit an 6= 0falls n ≥ 1, die Koeffizienten der Polynomfunktion

p(x) =

n∑i=0

aixi = a0 + a1x+ a2x

2 + · · ·+ xnxn

Page 18: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

1 EINFÜHRUNG IN DIE INTEGRALRECHNUNG 18

vom Grad n. Dann gilt∫p(x) dx

Satz 3=

n∑i=0

ai

∫xi dx

Satz 4=

n∑i=0

ai

(xi+1

i+ 1+ Ci

)=

n∑i=0

aixi+1

i+ 1+ C,

(12)

mit C :=

n∑i=0

aiCi ∈ R. Nach Satz 2 ist jedes unbestimmte Integral von p eine

Stammfunktion von p, und tatsächlich hatten wir bereits in Satz 1 gezeigt, dassder Ausdruck auf der rechten Seite von (12) für C ∈ R eine Stammfunktion vonp ist.Bemerkung: In MAE1, Kap. 4.2.2, hatten wir mithilfe der Reziprokenregel ge-zeigt, dass die Potenzregel für die Ableitung auch für negative ganzzahlige Ex-ponenten gilt: (x−n)′ = −nx−n−1, n ∈ N. Damit gilt die Potenzregel für dieIntegration (Satz 4) sogar für alle ganzzahligen Exponenten ausser für n = −1:∫

xn dx =xn+1

n+ 1+ C, C ∈ R, n ∈ Z, n 6= −1. (13)

Beispiel: Für n = −2 gilt∫x−2 dx =

x−1

−1+ C, C ∈ R ⇔

∫1

x2dx = − 1

x+ C, C ∈ R.

Für n = −1 hingegen gilt die Formel (13) nicht, und das unbestimmte Integralvon 1

x = x−1 führt auf eine neue Funktion, die Logarithmusfunktion. Diesebehandeln wir zusammen mit weiteren elementaren Funktionen im Kap. 2.

1.7 Integration durch SubstitutionIn diesem Kapitel lernen wir die Integration durch Substitution als eine ersteIntegrationsmethode kennen.Beispiel: Als einführendes Beispiel betrachten wir die Aufgabe, die Stammfunk-tionen der Funktion y = (2x− 3)

8 zu bestimmen, also die unbestimmten Inte-grale ∫

(2x− 3)8dx

zu berechnen. Dafür könnten wir Satz 1 oder die Sätze 3 und 4 verwenden, aberwir müssten dazu erst den Integranden in die Standardform für eine Polynom-funktion vom Grad 8 bringen, was aufwändig ist. mithilfe einer Variablentrans-formation bringen wir den Integranden in eine einfachere Form:

t := 2x− 3 ⇒ y = t8.

Jetzt müssen wir noch das Differenzial dx transformieren. Dies ist einfach mitder Leibniz-Notation für Ableitungen:

dt

dx= 2 ⇒ dx =

1

2dt.

Page 19: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

1 EINFÜHRUNG IN DIE INTEGRALRECHNUNG 19

Damit erhalten wir∫(2x− 3)

8dx =

∫t81

2dt =

1

2

t9

9+ C =

1

18(2x− 3)

9+ C, C ∈ R.

In dieser Rechnung haben wir erst durch Substitution t = 2x−3 den Integrandenauf eine einfachere Form gebracht, für diese einfachere Form die Stammfunktio-nen berechnet und schliesslich durch Rücksubstitution wieder einen Ausdruckin der ursprünglichen Variable x erhalten.Vorgehen: Berechnung eines unbestimmten Integrals mittels geeigneter Substi-tution

1. Aufstellen der Substitutionsgleichungen:

x = ϕ(t), t = ϕ−1(x) ⇒ dx

dt= ϕ′(t) ⇒ dx = ϕ′(t) dt.

Die Funktion ϕ soll stetig differenzierbar und umkehrbar sein.

2. Integralsubstitution (x = ϕ(t)):∫f(x) dx =

∫f(ϕ(t))ϕ′(t)︸ ︷︷ ︸

=:g(t)

dt.

3. Berechnung des neuen Integrals (als Funktion von t):∫g(t) dt = G(t) + C, C ∈ R,

wobei G irgendeine Stammfunktion von g bezeichnet.

4. Rücksubstitution (t = ϕ−1(x)):∫f(x) dx = G

(ϕ−1(x)

)+ C, C ∈ R.

Bemerkungen:

• Im oben beschriebenen Vorgehen muss ϕ so gewählt werden, dass dieStammfunktionen von g = (f ◦ ϕ)ϕ′ einfacher zu bestimmen sind als dieStammfunktionen von f .

• Hintergrund für die Integration durch Substitution ist die Kettenregel derDifferenzialrechnung (MAE1, Satz 14, 5.): Sei f eine stetige Funktion,und sei F eine Stammfunktion von f . Sei ϕ stetig differenzierbar undumkehrbar. Dann gilt nach der Kettenregel:

(F ◦ ϕ)′ = (F ′ ◦ ϕ)ϕ′ = (f ◦ ϕ)ϕ′ = g,

d. h. F ◦ϕ ist eine Stammfunktion von g. Sei G eine weitere Stammfunkti-on von g, dann gilt G(t)−(F ◦ ϕ) (t) = C ∈ R (zwei Stammfunktionen von

Page 20: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 20

g unterscheiden sich um eine additive Konstante, s. Kap. 1.1). Die Ver-wendung von t = ϕ−1(x) führt schliesslich auf

(G ◦ ϕ−1

)(x) = F (x) +C,

C ∈ R. Damit gilt aber(G ◦ ϕ−1

)′(x) = F ′(x) = f(x), d. h. G ◦ ϕ−1 ist

eine Stammfunktion von f .

Bestimmte Integrale einer Funktion f über einem Intervall [a, b] können nunmithilfe der Stammfunktion G ◦ ϕ−1 von f berechnet werden:

ϕ(b)∫ϕ(a)

f(x) dx =(G ◦ ϕ−1

)(x)∣∣ϕ(b)ϕ(a)

= G(ϕ−1 (ϕ(b))

)−G

(ϕ−1 (ϕ(a))

)

= G(b)−G(a) = G(t)|ba =

b∫a

g(t) dt.

Mit g = (f ◦ ϕ)ϕ′ resultiert daraus die Formel

b∫a

f (ϕ(t))ϕ′(t) dt =

ϕ(b)∫ϕ(a)

f(x) dx, (14)

die Sie in vielen Formelsammlungen finden.Beispiel: (Forts.) Oben hatten wir für den Integranden f(x) = (2x− 3)

8 dieSubstitution t = ϕ−1(x) := 2x − 3 gewählt, mit Umkehrabbildung x = ϕ(t) =t+32 (MAE1, Satz 3, 1.) und ϕ′(t) = 1

2 . Es gilt (f ◦ ϕ) (t) = f (ϕ(t)) = t8

und damit g(t) = f (ϕ(t))ϕ′(t) = 12 t

8. Die Funktion G(t) = 12t9

9 = t9

18 isteine Stammfunktion von g, also ist

(G ◦ ϕ−1

)(x) = G

(ϕ−1(x)

)= (2x−3)9

18 eineStammfunktion von f . Wir erhalten für das bestimmte Integral von f übereinem beliebigen Intervall [a, b]:

b∫a

(2x− 3)8dx =

(2x− 3)9

18

∣∣∣∣ba

=(2b− 3)9 − (2a− 3)9

18.

2 Elementare FunktionenWir haben bisher mit rationalen Funktionen gearbeitet. In Kap. 1.6 haben wirfestgestellt, dass wir mit der Potenzregel keine Stammfunktion von y = 1/xbestimmen können. Diese Stammfunktionen sind keine rationalen Funktionen.Für die Integration durch Substitution (Kap. 1.7) müssen wir die Funktion ϕumkehren. Die Umkehrfunktionen von rationalen Funktionen sind aber nichtnotwendigerweise rationale Funktionen; so ist z. B. die Umkehrfunktion derquadratischen Funktion y = x2 keine rationale Funktion. In diesem Kapitelbehandeln wir weitere elementare Funktionen, mit denen auch diese Problemegelöst werden können.

Page 21: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 21

2.1 Logarithmus- und ExponentialfunktionenAus MAE1, Kap. 3.5, wissen wir, dass gebrochenrationale Funktionen an jederStelle ihres Definitionsbereichs stetig sind. Also ist die Funktion f(x) := 1/xstetig auf dem offenen Intervall (0,∞). Nach dem Fundamentalsatz der Analysis(Satz 2) ist jedes unbestimmte Integral von f eine Stammfunktion von f . Einesdieser unbestimmten Integrale von f ist der natürliche Logarithmus:

Definition 6 (natürlicher Logarithmus) Der natürliche Logarithmusln : (0,∞)→ R ist definiert als das unbestimmte Integral

ln(x) :=

x∫1

1

tdt, x > 0. (15)

Bemerkungen:

• Für x ≥ 1 ist ln(x) gleich dem Flächeninhalt zwischen der t-Achse unddem Graphen der Funktion 1/t im Intervall [1, x] (Kap. 1.3).

• Für x ∈ (0, 1) gilt nach der Vertauschungsregel (Satz 3, 3.):

ln(x) =

x∫1

1

tdt = −

1∫x

1

tdt

Also ist ln(x) in diesem Fall das Negative des Flächeninhalts zwischen dert-Achse und dem Graphen der Funktion 1/t im Intervall [x, 1].

Satz 5 (Eigenschaften des natürlichen Logarithmus)

1. Der natürliche Logarithmus ist eine differenzierbare Funktion, und die Ab-leitung ist gegeben durch

ln′(x) =1

x, x > 0, (16)

2. ln(1) = 0,

3. limx→0

ln(x) = −∞,

4. Für x, y > 0 gilt ln(xy) = ln(x) + ln(y),

5. Für x > 0 gilt ln(1

x

)= − ln(x).

Bemerkungen:

• Weil ln′(x) = 1x > 0 gilt für x > 0, so ist ln streng monoton wachsend

auf (0,∞) (MAE1, Korollar 2, 2.). Damit ist ln auch injektiv (MAE1,Kap. 3.2).

Page 22: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 22

• x0 = 1 ist die einzige Nullstelle von ln. Weil ln streng monoton wachsendist, muss für x ∈ (0, 1) ln(x) < 0 gelten.

• ln differenzierbar⇒ ln stetig (MAE1, Kap. 4.1). Weil die Ableitung ln′(x) =1/x beliebig oft differenzierbar ist auf (0,∞), so ist auch ln beliebig oftdifferenzierbar auf (0,∞).

• Aus Stetigkeit, strenger Monotonie und aus 3. folgt im (ln) = R. Damit istln auch surjektiv, also bijektiv und damit umkehrbar (MAE1, Kap. 3.2).

• Aus 4. und 5. folgt auch

ln

(x

y

)= ln

(x1

y

)4.= ln(x) + ln

(1

y

)5.= ln(x)− ln(y), x, y > 0.

• Aus 4. und 5. folgt auch ln (xn) = n ln(x), x > 0, n ∈ Z.

Beweis:

1. Nach dem Fundamentalsatz (Satz 2) ist ln eine Stammfunktion von 1/x.

2. folgt aus Satz 3, 4.

3. Der Grenzwert von ln an der Stelle x = 0 entspricht dem Negativen desFlächeninhalts zwischen dem Graphen von 1/x und der x-Achse im In-tervall (0, 1). Für diesen Flächeninhalt können wir eine untere Schrankeangeben:

− limx→0

ln(x) = limx→0

1∫x

1

tdt ≥ 1 +

1

2+

1

2+ · · · .

4. Mit Satz 3, 5., gilt für x, y > 1:

ln(xy) =

xy∫1

1

tdt =

x∫1

1

tdt

︸ ︷︷ ︸=ln(x)

+

xy∫x

1

tdt.

Das zweite Integral berechnen wir mittels Substitution t = ϕ(s) := sx,dt = x ds (14):

xy∫x

1

tdt =

ϕ(y)∫ϕ(1)

1

tdt =

y∫1

1

sxxds =

y∫1

1

sds = ln(y).

Zum Beweis der restlichen Fälle wird zusätzlich die Vertauschungsregel(Satz 3, 3.) verwendet (s. Serie 4, Aufgabe 4a).

Page 23: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 23

5. Sei x > 0. Wir verwenden die Substitution t = ϕ(s) := sx , dt =

1x ds (14),

und die Vertauschungsregel:

ln

(1

x

)=

1x∫

1

1

tdt =

ϕ(1)∫ϕ(x)

1

tdt =

1∫x

x

s

1

xds =

1∫x

1

sds = −

x∫1

1

sds = − ln(x).

Nach Satz 5, 1., ist ln(x) eine Stammfunktion von 1/x für x > 0, und ln(−x)ist eine Stammfunktion von 1/x für x < 0 (Kettenregel).

Satz 6 (Unbestimmte Integrale von 1/x) Die unbestimmten Integrale der Funk-tion y = 1/x sind gegeben durch∫

1

xdx = ln(|x|) + C =

{ln(−x) + C, x < 0ln(x) + C, x > 0

, C ∈ R. (17)

Diese Funktionen sind definiert auf R \ {0}.

Bemerkung: Oft schreiben wir ln |x| anstelle von ln(|x|).

Definition 7 (Logarithmus zur Basis b) Für b > 0, b 6= 1, ist der Logarithmuszur Basis b, logb : (0,∞)→ R, definiert durch

logb(x) :=ln(x)

ln(b), x > 0. (18)

Satz 7 (Eigenschaften von logb) Seien a, b > 0, a, b 6= 1.

1. Der Logarithmus zur Basis b ist eine differenzierbare Funktion, und dieAbleitung ist gegeben durch

log′b(x) =1

x ln(b), x > 0. (19)

2. logb(1) = 0, logb(b) = 1,

3. Für x, y > 0 gilt logb(xy) = logb(x) + logb(y),

4. Für x > 0 gilt logb

(1

x

)= − logb(x),

5. Basiswechselformel: loga(x) =logb(x)

logb(a).

Bemerkungen:

• Weil für b ∈ (0, 1) gilt: ln(b) < 0, so ist logb streng monoton fallend fürb ∈ (0, 1).

Page 24: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 24

• Die Funktionen logb sind bijektiv und damit umkehrbar für b > 0, b 6= 1.

• Zwei Logarithmusfunktionen zu unterschiedlichen Basen unterscheiden sichlediglich um eine multiplikative Konstante (Satz 7, 5.).

Beweis: Die Aussagen 1.–4. folgen aus Def. 7 zusammen mit Satz 5.

2. logb(b) =ln(b)

ln(b)= 1.

5. loga(x) =ln(x)

ln(a)=

ln(x)

ln(b)

ln(b)

ln(a)=

ln(x)ln(b)

ln(a)ln(b)

=logb(x)

logb(a). �

0 0.5 1 1.5 2 2.5 3

x

-2

-1.5

-1

-0.5

0

0.5

1

1.5

2

y

y = ln(x)y = log1/2(x)

y = log2(x)y = log3(x)y = log10(x)

Bemerkungen:

• DIN 1302 definiert lg := log10 und lb := log2.

• Im Ingenieurwesen und auf Taschenrechnern wird die Bezeichnung “ log”für log10 verwendet. In der Mathematik und in MATLAB hingegen wirddie Bezeichnung “log” für ln verwendet! Deshalb sollten Sie immer genauhinschauen, wenn zu einem Logarithmus keine Basis angegeben ist.

Definition 8 (Eulersche Zahl) Die Eulersche Zahl e ist definiert durch dieGleichung ln(e) = 1, d. h.

e∫1

1

tdt = 1. (20)

Bemerkungen:

• Die Eulersche Zahl ist die Basis des natürlichen Logarithmus:

loge(x) =ln(x)

ln(e)= ln(x), x > 0.

• Die Eulersche Zahl ist irrational, e 6∈ Q (L. Euler, 1737).

Page 25: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 25

• Die Eulersche Zahl ist die Nullstelle der stetigen und streng monoton wach-senden Funktion ln(x) − 1. Diese kann z. B. durch Bisektion im Intervall[2, 3] beliebig eingegrenzt werden (MAE1, Kap. 3.5), und wir erhaltene ' 2.718282. Am 29.8.2016 wurden 5 ·1012 Dezimalstellen der EulerschenZahl berechnet (aktueller Weltrekord).

Definition 9 ((natürliche) Exponentialfunktion) Die (natürliche) Exponential-funktion exp : R → (0,∞) ist definiert als die Umkehrfunktion des natürlichenLogarithmus, exp := ln−1.

Bemerkung: Nach dieser Definition gilt ln (exp(x)) = exp (ln(x)) = x, für allex ∈ R.

Satz 8 (Eigenschaften der (natürlichen) Exponentialfunktion)

1. Die (natürliche) Exponentialfunktion ist eine differenzierbare Funktion,und die Ableitung ist gegeben durch

exp′(x) = exp(x), x ∈ R. (21)

2. exp(0) = 1,

3. Für x, y ∈ R gilt exp(x+ y) = exp(x) exp(y),

4. Für x ∈ R gilt1

exp(x)= exp(−x).

Bemerkungen:

• Die (natürliche) Exponentialfunktion ist beliebig oft differenzierbar, strengmonoton wachsend und strikt positiv: exp(x) > 0, ∀x ∈ R.Es gilt im (exp) = (0,∞).

• Aus 3. und 4. folgt

exp(x− y) = exp (x+ (−y)) 3.= exp(x) exp(−y) 4.

=exp(x)

exp(y), x, y ∈ R.

Beweis:

1. Mit der Umkehrregel der Differenzialrechnung (MAE1, Satz 14, 6.) undmit Satz 5, 1., erhalten wir

exp′(x) =(ln−1

)′(x) =

1

ln′(ln−1(x)

) =11

ln−1(x)

=11

exp(x)

= exp(x).

Dies gilt für jedes x ∈ R.

2. Wegen exp = ln−1 gilt ln (exp(0)) = 0, also ist exp(0) eine Nullstelle desnatürlichen Logarithmus. Weil x0 = 1 die einzige Nullstelle von ln ist,muss exp(0) = 1 gelten.

Page 26: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 26

3. Nach Satz 5, 4., gilt

ln (exp(x) exp(y)) = ln (exp(x)) + ln (exp(y)) = x+ y.

Die Behauptung folgt durch Anwenden von exp auf beiden Seiten.

4. Nach Satz 5, 5., gilt

ln

(1

exp(x)

)= − ln (exp(x)) = −x.

Die Behauptung folgt durch Anwenden von exp auf beiden Seiten. �

Definition 10 (Exponentialfunktion zur Basis a) Für a > 0 ist die Exponen-tialfunktion zur Basis a definiert als

ax := exp (x ln(a)) , x ∈ R. (22)

Bemerkung: Aus exp = ln−1 folgt ln (ax) = x ln(a) für a > 0, x ∈ R.

Satz 9 (Eigenschaften der Exponentialfunktion zur Basis a) Seien a, b > 0.

1. Die Exponentialfunktion zur Basis a ist eine differenzierbare Funktion,und die Ableitung ist gegeben durch

(ax)′= ax ln(a), x ∈ R. (23)

2. a0 = 1, a1 = a,

3. Für x, y ∈ R gilt ax+y = axay,

4. Für x, y ∈ R gilt axy = (ax)y,

5. Für x ∈ R gilt1

ax= a−x =

(1

a

)x,

6. Für x ∈ R gilt (ab)x = axbx.

Bemerkungen:

• Weil für a ∈ (0, 1) gilt: ln(a) < 0, so ist ax streng monoton fallend füra ∈ (0, 1).

• Für a 6= 1 ist ax = log−1a (x) die Umkehrfunktion von loga:

loga (ax) =

ln (ax)

ln(a)=x ln(a)

ln(a)= x, ∀x ∈ R.

Für a = 1 ist die Funktion ax = 1x = 1, ∀x ∈ R, nicht injektiv, also auchnicht umkehrbar.

Page 27: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 27

• Die (natürliche) Exponentialfunktion ist die Exponentialfunktion zur Ba-sis e (Eulersche Zahl, Def. 8): exp(x) = exp(x ln(e)) = ex, x ∈ R. NachSatz 9, 2., gilt exp(1) = e1 = e.

• Aus 5. und 6. folgt(ab

)x=

(a1

b

)x6.= ax

(1

b

)x5.= ax

1

bx=ax

bx.

Beweis: Die Aussagen 1.–3. und 5. folgen aus Satz 8 zusammen mit Def. 10.

2. a1 = exp(1 · ln(a)) = exp(ln(a)) = a,

4. axy = exp (xy ln(a)) = exp (y ln (ax)) = (ax)y,

5. a−x = exp (−x ln(a)) = exp

(x ln

(1

a

))=

(1

a

)x,

6. (ab)x= exp (x ln(ab)) = exp (x (ln(a) + ln(b))) = exp (x ln(a) + x ln(b)) =

exp (x ln(a)) exp((x ln(b)) = axbx. �

-2 -1 0 1 2

x

0

0.5

1

1.5

2

2.5

3

y

y = ex

y = (1/2)x

y = 2x

y = 3x

y = 10x

Page 28: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 28

Satz 10 (Unbestimmte Integrale von ax) Für a > 0, a 6= 1, gilt∫ax dx =

ax

ln(a)+ C, C ∈ R. (24)

Bemerkung: Im Fall a = e (Eulersche Zahl) gilt wie erwartet∫ex dx =

ex

ln(e)+ C = ex + C, C ∈ R.

Beweis: Die Aussage folgt aus Def. 10 zusammen mit Satz 8, 1., mithilfe derSubstitution t = ϕ(x) := x ln(a), dx = 1

ln(a) dt:∫ax dx =

∫ex ln(a) dx =

∫et

1

ln(a)dt =

1

ln(a)

∫et dt =

1

ln(a)et + C

=ex ln(a)

ln(a)+ C =

ax

ln(a)+ C, C ∈ R. �

2.2 Potenz- und WurzelfunktionenIn diesem Kapitel betrachten wir Funktionen von der Form y = xr, r ∈ R(vgl. MAE1, Def. 22).

2.2.1 Potenzfunktionen mit ganzzahligen Exponenten, r = n ∈ Z

Potenzfunktionen mit natürlichen Exponenten haben wir bereits in MAE1 ken-nen gelernt, und solche mit negativen ganzzahligen Exponenten im Kap. 1.6.

Definition 11 (n-te Potenz) Für n ∈ Z definieren wir die n-te Potenz als

xn := x · x · x · · ·x︸ ︷︷ ︸n−mal

, n ∈ N, (25)

x0 := 1, (26)

x−n :=1

xn, n ∈ N. (27)

Satz 11 (Eigenschaften der Potenzfunktionen mit ganzzahligen Exponenten)

1. Für n ∈ Z ist der grösstmögliche Definitionsbereich der Potenzfunktiony = xn gegeben durch

D =

{R, n > 0R \ {0} , n ≤ 0

und das Bild durch

im(xn) =

R, n > 0 ungerade[0,∞) , n > 0 gerade{1} , n = 0R \ {0} , n < 0 ungerade(0,∞) , n < 0 gerade

.

Page 29: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 29

2. Für n ∈ Z gerade ist die Potenzfunktion y = xn gerade: (−x)n = xn. Fürn ∈ Z ungerade ist die Potenzfunktion y = xn ungerade: (−x)n = −xn.

3. Die Monotonie der Potenzfunktionen y = xn, n ∈ Z \ {0}, ist in derfolgenden Tabelle zusammengefasst:

n ungerade n geraden > 0 xn ↗ xn|(−∞,0] ↘ xn|[0,∞) ↗n < 0 xn|(−∞,0) ↘ xn|(0,∞) ↘ xn|(−∞,0) ↗ xn|(0,∞) ↘

wobei ↗ “streng monoton wachsend” bedeutet und ↘ “streng monotonfallend”.Die konstante Funktion y = x0 ist nur monoton (wachsend und fallend).

4. Für n ∈ Z, n ≤ 0, hat die Potenzfunktion y = xn keine reelle Nullstelle.Für n ∈ N hat die Potenzfunktion y = xn genau eine (n-fache) reelleNullstelle bei x = 0.

5. Für n ∈ Z ist die Potenzfunktion y = xn auf ihrem ganzen Definitionsbe-reich beliebig oft differenzierbar, und die Ableitung ist gegeben durch

(xn)′= nxn−1. (28)

6. Für n ∈ Z sind die unbestimmten Integrale der Potenzfunktion y = xn

gegeben durch∫xn dx =

{xn+1

n+1 + C, n 6= −1ln |x|+ C, n = −1

, C ∈ R. (29)

-5 0 5

x

-5

-4

-3

-2

-1

0

1

2

3

4

5

y

y = x1

y = x3

y = x5

y = x2

y = x4

y = x6

y = x0

y = x−1

y = x−3

y = x−5

y = x−2

y = x−4

y = x−6

Page 30: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 30

Bemerkungen:

• Die Potenzfunktion y = xn, n ∈ N, ist eine Polynomfunktion mit nur ei-nem Glied, ein sog.Monom. Für n ∈ N0 bilden die Monome 1, x, x2, . . . , xndie Standardbasis des Vektorraums Pn der Polynomfunktionen vom Grad≤ n (vgl. MLAE).

• Es gilt 0n = 0 für n ∈ N. Der Ausdruck 0−n, n ∈ N0, ist hingegen nichtdefiniert. Insbesondere ist 00 nicht definiert!

• Für n ∈ N ist x−n =1

xneine echt gebrochenrationale Funktion, die bei

x = 0 eine Definitionslücke hat. Die Funktion besitzt dort eine Polstelle derOrdnung n. Für n ungerade wechselt diese gebrochenrationale Funktionbei x = 0 das Vorzeichen (vgl. MAE1, Kap. 3.3.2).

2.2.2 Wurzelfunktionen

Definition 12 (n-te Wurzel) Für n ∈ N, n ≥ 2, ist die n-te Wurzel y = n√x

definiert als eine reelle Lösung der Gleichung yn = x, wobei wir für gerade ndie nichtnegative Lösung dieser Gleichung wählen.

Bemerkungen:

• Die n-te Wurzel ist also eine Umkehrfunktion der n-ten Potenz: ( n√x)n= x

für alle Werte von x im Definitionsbereich von n√x (s. Satz 12, 1.).

• Die Gleichung yn = x hat für x ∈ R höchstens zwei reelle Lösungen.

• Für n gerade und x < 0 hat die Gleichung yn = x keine reelle Lösung.Daher sind gerade Wurzeln nur für nichtnegative Zahlen definiert. Fürdiese gibt es genau eine nichtnegative Lösung der Gleichung yn = x.

• Für n ungerade hat die Gleichung yn = x für jedes x ∈ R genau eine reelleLösung, und daher können ungerade Wurzeln auch für negative Zahlendefiniert werden.

• Für den häufigsten Fall n = 2 (Quadratwurzel) wird die abgekürzte Schreib-weise

√· (anstatt 2

√· ) verwendet. 3

√· wird als Kubikwurzel bezeichnet.

-5 0 5

x

-2

-1

0

1

2

y

y =√

x

y =4√

x

y =6√

x

y =3√

x

y =5√

x

Page 31: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 31

Satz 12 (Eigenschaften der Wurzelfunktionen)

1. Für n ∈ N, n ≥ 2, ist der grösstmögliche Definitionsbereich der Wurzel-funktion y = n

√x gegeben durch

D =

{R, n ungerade[0,∞) , n gerade

und das Bild durch im ( n√x) = D.

2. Für n ungerade ist die Wurzelfunktion y = n√x ungerade: n

√−x = − n

√x.

3. Die Wurzelfunktionen y = n√x sind streng monoton wachsend.

4. Die Wurzelfunktionen y = n√x haben genau eine Nullstelle bei x = 0.

5. Für n ∈ N, n ≥ 2, ist die Wurzelfunktion n√x an jeder Stelle x ∈ D \ {0}

differenzierbar, und die Ableitung ist gegeben durch(n√x)′

=n√x

nx, x ∈ D \ {0} . (30)

Bemerkungen:

• zu 2.: Die meisten Taschenrechner geben für n√−x und − n

√x nicht dieselbe

Zahl aus.

• zu 5.: Die Steigung der Tangente an den Graphen von n√x wächst unbe-

schränkt für x→ 0.

Beispiele:

1.√2 ' 1.414, 3

√−2 = − 3

√2 ' −1.260

(MATLAB: 3√−2 ' 0.630 + 1.09i ∈ C \ R).

2. Für x > 0 ist die Ableitung der Quadratwurzel (n = 2) gegeben durch(vgl. MAE1, Kap. 4.1)(√

x)′

=(

2√x)′

=2√x

2x=

√x

2 (√x)

2 =1

2√x.

0 1 2 3 4 5

x

0

0.5

1

1.5

2

2.5

3

y

y =√

x

y = 1/(2√

x)

Page 32: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 32

Beweis von Satz 12:

2. y = n√−x ist die Lösung der Gleichung yn = −x. Weil n ungerade ist, gilt

x = −yn = (−y)n (Satz 11, 2.). Dann gilt aber −y = n√x, also y = − n

√x.

5. Wir definieren f(x) := xn. Dann gilt für x ∈ D \ {0}: f ′(x) = nxn−1 =nxx

n = nxf(x) und f

−1(x) = n√x. Nun gilt nach der Umkehrregel

(n√x)′

=(f−1

)′(x) =

1

f ′ (f−1(x))=

1n

f−1(x) f(f−1(x)

)︸ ︷︷ ︸=x

=1nxn√x

=n√x

nx.

2.2.3 Potenzfunktionen mit rationalen Exponenten, r = q ∈ Q

Für einen rationalen Exponenten q ∈ Q nehmen wir ohne Beschränkung derAllgemeinheit (o. B. d. A.) an, dass q = m

n mit m ∈ Z und n ∈ N (d. h. derNenner ist eine positive ganze Zahl).

Definition 13 (Potenzfunktion mit rationalen Exponenten) Für q = mn ∈ Q,

m ∈ Z, n ∈ N, definieren wir

xq = xmn :=

{xm, n = 1n√xm, n ≥ 2

.

Bemerkungen:

• Setzen wir m = 1 in Def. 13, so erhalten wir für n ∈ N, n ≥ 2: x1n = n

√x.

Die n-te Wurzel (Kap. 2.2.2) kann also auch als Potenzfunktion mit Ex-ponent 1

n geschrieben werden.

• Nach Def. 13 ist eine Potenzfunktion mit rationalem Exponenten entwedereine Potenzfunktion mit ganzzahligem Exponenten oder eine Hintereinan-derausführung einer n-ten Wurzel und einer Potenzfunktion mit ganzzah-ligem Exponenten. Daher können die Sätze aus den vorherigen Kapiteln2.2.1 und 2.2.2 angewendet werden. Damit erhalten wir z. B. die folgen-den grösstmöglichen Definitionsbereiche der Potenzfunktionen x

mn ,m ∈ Z,

n ∈ N:n gerade n ungerade

m > 0gerade R Rungerade [0,∞) R

m = 0 R \ {0} R \ {0}

m < 0gerade R \ {0} R \ {0}ungerade (0,∞) R \ {0}

(31)

Page 33: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 33

Satz 13 (Potenzregeln für rationale Exponenten)

1. Die Ableitung der Potenzfunktion y = xq, q ∈ Q, ist gegeben durch

(xq)′= qxq−1.

Die Potenzfunktion y = xq ist an den Stellen ihres Definitionsbereichsdifferenzierbar, für die der Ausdruck auf der rechten Seite definiert ist.

2. Die unbestimmten Integrale der Potenzfunktion y = xq, q ∈ Q, sind gege-ben durch ∫

xq dx =

{xq+1

q+1 + C, q 6= −1ln |x|+ C, q = −1

.

Beispiel: Sei q = 23 (m = 2, n = 3), dann ist x

23 =

3√x2 auf ganz R definiert.

Die Ableitung ist gegeben durch(x

23

)′=

2

3x−

13 =

2

3x13

=2

3 3√x

und definiert auf R \ {0}. Die unbestimmten Integrale sind gegeben durch∫x

23 dx =

x53

53

+ C =3

5

3√x5 + C, C ∈ R.

Dies sind ungerade Wurzeln und daher auf ganz R definiert.

-5 0 5

x

-3

-2

-1

0

1

2

3

y

y =3√

x2

y = 2/(3 3√

x)

y =3

5

3√

x5

Beweis von Satz 13:

1. Für q ∈ Z ist nichts mehr zu zeigen. Für q ∈ Q\Z nehmen wir o. B. d. A. an,dass q = m

n , m ∈ Z \ {0}, n ∈ N, n ≥ 2. Wir definieren f(x) := n√x und

Page 34: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 34

g(x) := xm. Nun gilt nach der Kettenregel (MAE1, Satz 14, 5.):

(xq)′

=(xmn

)′ Def. 13=

(n√xm)′

= (f ◦ g)′ (x) = (f ′ ◦ g) (x)g′(x)

Satz 12=

n√g(x)

ng(x)g′(x) =

n√xm

nxmmxm−1

Def. 13=

xmn

nxmmxm−1

=m

nxmn +m−1−m =

m

nxmn −1 = qxq−1.

2. Für q = −1 ist nichts mehr zu zeigen. Für q 6= −1 gilt mit 1.(xq+1

q + 1+ C

)′=

(q + 1)xq

q + 1= xq. �

Beispiel: Wir betrachten die Funktion f(x) =5

√(2x+ 3)

3= (2x+ 3)

35 . Die

Ableitung ist nach der Kettenregel gegeben durch

f ′(x) =3

5(2x+ 3)

− 25 · 2 =

6

5 (2x+ 3)25

=6

55

√(2x+ 3)

2.

Die unbestimmten Integrale von f berechnen wir mit der Substitution t = 2x+3,x = 1

2 (t− 3), dx = 12dt:∫

f(x) dx =

∫t351

2dt =

1

2

t85

85

+ C =5

16t85 + C

=5

16(2x+ 3)

85 + C =

5

165

√(2x+ 3)

8+ C, C ∈ R.

2.2.4 Potenzfunktionen mit reellen Exponenten, r ∈ R

Definition 14 (Potenzfunktion mit reellen Exponenten) Für r ∈ R definierenwir

xr := exp (r ln(x)) , x > 0.

Bemerkungen:

• Die allgemeine Potenzfunktion ist also nur für x > 0 definiert. Für r ∈ Qkann aber der Definitionsbereich in einigen Fällen erweitert werden: Seir = m

n , m ∈ Z, n ∈ N. Dann gilt für n = 1:

xr = exp (m ln(x)) = exp (ln(xm)) = xm,

und für n ≥ 2:

xr = exp(mn

ln(x))= exp

(ln(xm)

n

)= e

ln(xm)n =

(eln(x

m)) 1n

= (xm)1n = n

√xm.

Page 35: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 35

Wir erhalten also dieselben Ausdrücke wie in Def. 13, und diese sindz. T. auch für x ≤ 0 definiert (31).

• Für r > 0 ergänzen wir: 0r := 0.

• Für x im grösstmöglichen Definitionsbereich und r ∈ R, gilt:ln (xr) = r ln(x).

0 1 2 3

x

0

0.5

1

1.5

2

2.5

3

y

y = x

2

y = x

3

y = xe

y = xπ

Satz 14 (Potenzregeln für reelle Exponenten)

1. Die Ableitung der Potenzfunktion y = xr, r ∈ R, ist gegeben durch

(xr)′= rxr−1.

Die Potenzfunktion y = xr ist an den Stellen ihres Definitionsbereichsdifferenzierbar, für die der Ausdruck auf der rechten Seite definiert ist.

2. Die unbestimmten Integrale der Potenzfunktion y = xr, r ∈ R, sind gege-ben durch ∫

xr dx =

{xr+1

r+1 + C, r 6= −1ln |x|+ C, r = −1

.

Beweis:

1. Für r ∈ Q ist nichts mehr zu zeigen. Sei also r ∈ R \ Q und x > 0, danngilt nach der Ketten- und nach der Faktorregel:

(xr)′

= (exp (r ln(x)))′= exp′ (r ln(x)) (r ln(x))

′= exp (r ln(x)) r ln′(x)

= exp (r ln(x))r

x= xr

r

x= rxr−1.

2. Für r = −1 ist nichts mehr zu zeigen. Sei also r 6= −1, dann gilt mit 1.(xr+1

r + 1+ C

)′=

(r + 1)xr

r + 1= xr. �

Page 36: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 36

2.3 Trigonometrische FunktionenIn diesem Kapitel geht es um die trigonometrischen Funktionen (Winkelfunk-tionen, Kreisfunktionen) wie die Sinus- oder die Kosinusfunktion, sowie derenUmkehrfunktionen. Wir verwenden eine geometrische Definition dieser Funktio-nen.

Definition 15 ((ebener) Winkel) Ein (ebener) Winkel ist ein Teil der Ebene,der von zwei in der Ebene liegenden Strahlen mit gemeinsamem Anfangspunktbegrenzt wird.

Man kann einen der beiden Strahlen als gegenüber dem anderen um den ge-meinsamen Anfangspunkt gedrehtes Objekt auffassen. Der Drehwinkel im ma-thematisch positiven Sinn (Gegenuhrzeigersinn) ist dann gleich der Winkelweite.Diese wird ebenfalls abgekürzt als “Winkel” bezeichnet, und um sie quantitativzu erfassen, führen wir Winkelmasse ein.

Definition 16 (Vollwinkel) Der Vollwinkel ist der kleinste Winkel, um den einStrahl um seinen Anfangspunkt gedreht werden muss, damit er seine ursprüng-liche Lage erreicht.

Die Winkelweite kann nun als Verhältnis zum Vollwinkel angegeben werden, soentspricht z. B. 1/4 Vollwinkel einem rechten Winkel. In der Praxis verwendetman aber lineare Unterteilungen des Vollwinkels als Einheit.

Definition 17 (Winkelmasse)

• Im Bogenmass gilt 1Vollwinkel = 2π rad, mit der Masseinheit Radiant.

• Im Gradmass gilt 1Vollwinkel = 360◦, mit der Masseinheit Grad.

Bemerkungen:

• Der Winkel im Bogenmass ist das Verhältnis der Bogenlänge des demWinkel gegenüberliegenden Kreisbogens zum Kreisradius. Daher sind dieWinkel-Masseinheiten dimensionslos [m/m].

• In der Differenzial- und Integralrechnung wird für die Angabe von Winkel-weiten üblicherweise das Bogenmass verwendet. Es gibt je nach Anwen-dungsgebiet weitere gebräuchliche Masseinheiten, z. B. das geodätischeWinkelmass (1Vollwinkel = 400 gon) (früher “Neugrad” genannt) oder dieArtilleristischen Striche (1Vollwinkel = 6400 Strich).

• Da diese Winkelmasse lineare Unterteilungen des Vollwinkels sind, ist dieUmrechnung zwischen verschiedenen Winkelmassen sehr einfach:

1 rad =1

2πVollwinkel =

1

2π360◦ ' 57.3◦,

1◦ =1

360Vollwinkel =

1

3602π rad ' 0.0175 rad.

• Negative Winkel entsprechen Drehungen im mathematisch negativen Sinn(Uhrzeigersinn), z. B. −π3 rad = −60◦.

Page 37: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 37

2.3.1 Definition am rechtwinkligen Dreieck

Wir betrachten ein rechtwinkliges Dreieck mit Eckpunkten A, B, C in einerEbene, Seitenlängen a = BC, b = AC, c = AB und Winkeln α = ∠BAC,β = ∠CBA. Für den dritten Winkel gilt ∠ACB = π

2 .

α β

·

ab

cA B

C

Definition 18 (Sinus und Kosinus eines Winkels) Wir definieren den Sinusund Kosinus des Winkels α ∈

[0, π2

]als

sin(α) :=a

c=

GegenkatheteHypotenuse

, cos(α) :=b

c=

AnkatheteHypotenuse

.

Weil die Winkelsumme in jedem Dreieck π beträgt (hier α + β + π2 = π), gilt

für den sog. Komplementärwinkel β = π − π2 − α = π

2 − α, und wir erhalten

sin(π2− α

)= sin(β)

Def. 18=

b

c

Def. 18= cos(α),

cos(π2− α

)= cos(β)

Def. 18=

a

c

Def. 18= sin(α).

Dies erklärt die Bezeichnung “complementi sinus” ( “Kosinus”) für den Sinusdes Komplementärwinkels. Aus dem Satz des Pythagoras (ca. 570–495 v. Chr.)folgt der Trigonometrische Pythagoras

a2 + b2 = c2 ⇒ a2

c2+b2

c2= 1 ⇒ sin2(α) + cos2(α) = 1. (32)

Bemerkung: Hier verwenden wir die bequeme Schreibweise sin2(α) = (sin(α))2.Für α ∈

{0, π2

}erhalten wir degenerierte Dreiecke:

α = 0 ⇒ a = 0, b = c ⇒ sin(0) = 0, cos(0) = 1,

α =π

2⇒ b = 0, a = c ⇒ sin

(π2

)= 1, cos

(π2

)= 0.

0 0.05 0.1 0.15 0.2 0.25 0.3 0.35 0.4 0.45 0.5

x/π

0

0.2

0.4

0.6

0.8

1

y

y = sin(x)

y = cos(x)

Page 38: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 38

2.3.2 Fortsetzung auf [0, 2π]

Die Def. 18 kann auf das Intervall [0, 2π] fortgesetzt werden:

Definition 19 Die Funktionen sin und cos aus Def. 18 werden wie folgt aufdas Intervall [0, 2π] fortgesetzt:

sin(α) :=

sin(π − α), α ∈(π2 , π

]− sin(α− π), α ∈

(π, 3π2

]− sin(2π − α), α ∈

(3π2 , 2π

] ,

cos(α) :=

− cos(π − α), α ∈(π2 , π

]− cos(α− π), α ∈

(π, 3π2

]cos(2π − α), α ∈

(3π2 , 2π

] ,

wobei die Ausdrücke auf der rechten Seite in Def. 18 definiert sind.

0 0.5 1 1.5 2

x/π

-1

-0.8

-0.6

-0.4

-0.2

0

0.2

0.4

0.6

0.8

1

y

y = sin(x)

y = cos(x)

Die Def. 19 kann am Einheitskreis S1 :={(x, y) ∈ R2 |x2 + y2 = 1

}⊆ R2 illus-

triert werden:

I : sin(α) = y, cos(α) = x,II : sin(π − α) = y, cos(π − α) = −x,III : sin(α− π) = −y, cos(α− π) = −x,IV : sin(2π − α) = −y, cos(2π − α) = x.

Page 39: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 39

α

π − α

α− π

2π − α

(x, y)(−x, y)

(−x,−y) (x,−y)

R2S1

III

III IV

1−1

−1

1

2.3.3 Fortsetzung auf R

Die Def. 19 kann auf R fortgesetzt werden:

Definition 20 Die Funktionen sin und cos aus Def. 19 werden wie folgt auf Rfortgesetzt:

sin (α+ 2kπ) := sin(α), cos (α+ 2kπ) := cos(α), α ∈ [0, 2π) , k ∈ Z,

wobei die Ausdrücke auf der rechten Seite in Def. 19 definiert sind.

-5 -4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4 5

x/π

-1

-0.5

0

0.5

1

y

y = sin(x)

y = cos(x)

Für die Sinus- und Kosinusfunktionen werden wir ab jetzt als Argument x an-statt α verwenden.

2.3.4 Eigenschaften von sin und cos

Satz 15 (Eigenschaften von sin und cos)

1. Die Sinus- und die Kosinusfunktion sind auf ganz R definiert, und esgelten im(sin) = im(cos) = [−1, 1].

2. Die Sinus- und die Kosinusfunktion sind 2π-periodisch.

3. Die Sinusfunktion ist ungerade, sin(−x) = − sin(x). Die Kosinusfunktionist gerade, cos(−x) = cos(x).

Page 40: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 40

4. sin(π2− x)= cos(x) und cos

(π2− x)= sin(x).

5. Die Nullstellen der Sinus- und der Kosinusfunktion erfüllen

sin(x) = 0 ⇔ x = kπ, k ∈ Z,

cos(x) = 0 ⇔ x =π

2+ kπ, k ∈ Z.

6. sin2(x) + cos2(x) = 1.

7. Additionstheoreme:

sin (x+ y) = sin(x) cos(y) + cos(x) sin(y),

cos (x+ y) = cos(x) cos(y)− sin(x) sin(y).

8. Die Sinus- und die Kosinusfunktion sind stetig.

Beweis:

3. Für ein gegebenes x ∈ R schreiben wir x = α+2kπ, wobei α ∈ [0, 2π) undk ∈ Z eindeutig bestimmt sind (Division mit Rest durch 2π). Dann gilt

sin(−x) = sin(−α− 2kπ)2.= sin(−α+ 2π)

Def. 19= − sin(α)

2.= − sin(α+ 2kπ) = − sin(x),

cos(−x) = cos(−α− 2kπ)2.= cos(−α+ 2π)

Def. 19= cos(α)

2.= cos(α+ 2kπ) = cos(x).

7. Wir nehmen an, dass x+y < π2 und betrachten die folgende Konstruktion:

1

·

·

xy

x

O

A

B

C

D

Page 41: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 41

Nach Def. 18 gelten

sin(x) =BD

BC, cos(x) =

OA

OB=CD

BC,

sin(y) =CD

1= CD, cos(y) =

OD

1= OD,

cos(x+ y) =OA

1= OA.

Daraus folgern wir

cos(y) =OD

1= OB+BD =

OAOAOB

+BDBC

CDBC

CD =cos(x+ y)

cos(x)+

sin(x)

cos(x)sin(y),

und damitcos(x) cos(y) = cos(x+ y) + sin(x) sin(y). (33)

Das Additionstheorem für die Sinusfunktion folgt mit 3. und 4.:

sin(x+ y)4.= cos

(π2− x− y

)(33)= cos

(π2− x)cos(−y)− sin

(π2− x)sin(−y)

3., 4.= sin(x) cos(y) + cos(x) sin(y).

8. Wir zeigen zuerst die Stetigkeit bei x = 0: Für ein festes x ∈(0, π2

)betrachten wir die folgende Konstruktion:

1

sin(x)

xA B

C

Die Fläche des Dreiecks 4ABC ist gegeben durch 12 sin(x) > 0 und die

Fläche des Kreissektors ABC ist gegeben durch x2ππ = x

2 . Es gilt also

0 <1

2sin(x) <

x

2⇒ 0 < sin(x) < x.

Weil limx→0

x = 0, so muss auch limx→0x>0

sin(x) = 0 gelten. Für x ∈(−π2 , 0

)gilt

limx→0x<0

sin(x) = limx→0x>0

sin(−x) 3.= − lim

x→0x>0

sin(x) = 0.

Page 42: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 42

Also gilt limx→0

sin(x) = 0 = sin(0), und damit ist die Sinusfunktion stetigbei x = 0 (MAE1, Def. 34). Für die Stetigkeit des Kosinus an der Stellex = 0 verwenden wir den Trigonometrischen Pythagoras, 6.:

cos(x) =

√1− sin2(x), x ∈

(−π2,π

2

).

Weil die Quadratwurzel in einer Umgebung von x = 1 stetig ist, gilt

limx→0

cos(x) = limx→0

√1− sin2(x) =

√1− lim

x→0sin2(x) = 1 = cos(0),

also ist auch cos stetig bei x = 0. Für ein beliebiges x0 ∈ R verwenden wirdie Additionstheoreme, 7.:

limx→x0

sin(x) = limh→0

sin(x0 + h) = limh→0

(sin(x0) cos(h) + cos(x0) sin(h))

= sin(x0) limh→0

cos(h)︸ ︷︷ ︸=1

+cos(x0) limh→0

sin(h)︸ ︷︷ ︸=0

= sin(x0),

limx→x0

cos(x) = limh→0

cos(x0 + h) = limh→0

(cos(x0) cos(h)− sin(x0) sin(h))

= cos(x0) limh→0

cos(h)︸ ︷︷ ︸=1

− sin(x0) limh→0

sin(h)︸ ︷︷ ︸=0

= cos(x0). �

Für die Berechnung der Ableitungen von sin und cos benötigen wir einen Hilfs-satz.

Lemma 1 Für die Sinus- und Kosinusfunktion gelten

1. limx→0

sin(x)

x= 1,

2. limx→0

cos(x)− 1

x= 0.

Bemerkung: Die beiden Grenzwerte sind von der Form “ 00 ”, d. h. der Satz 12 ausMAE1 (Rechenregeln für Grenzwerte von Funktionen) kann nicht angewendetwerden.

-2 -1.5 -1 -0.5 0 0.5 1 1.5 2

x/π

-1

-0.5

0

0.5

1

y

y =sin(x)

x

y =cos(x)− 1

x

Page 43: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 43

Beweis: Wir nehmen an, dass x ∈(0, π2

)und betrachten die folgende Konstruk-

tion:

1

1

cos(x) · ·

sin(x)

xO A

B

C

sin(x)

cos(x)

1. Das Dreieck 4OAB hat die Fläche 12 sin(x), der Kreissektor OAB hat die

Fläche x2 , und das Dreieck 4OAC hat die Fläche sin(x)

2 cos(x) . Wir erhaltendie Ungleichung

1

2sin(x) <

x

2<

sin(x)

2 cos(x)

· 2sin(x)⇒ 1 <

x

sin(x)<

1

cos(x)

Kehrwert⇒ cos(x) <sin(x)

x< 1.

Wegen limx→0

cos(x) = 1 muss auch limx→0x>0

sin(x)

x= 1 gelten.

Für x ∈(−π2 , 0

)erhalten wir mit Satz 15, 3.:

limx→0x<0

sin(x)

x= lim

x→0x>0

sin(−x)−x

= limx→0x>0

− sin(x)

−x= lim

x→0x>0

sin(x)

x= 1.

2. Durch Erweiterung mit cos(x) + 1 erhalten wir

limx→0

cos(x)− 1

x= lim

x→0

(cos(x)− 1) (cos(x) + 1)

x (cos(x) + 1)

= limx→0

cos2(x)− 1

x (cos(x) + 1)

Satz 15, 6.= lim

x→0

− sin2(x)

x (cos(x) + 1)

MAE1, Satz 12, 3.= lim

x→0

sin(x)

xlimx→0

− sin(x)

cos(x) + 1

MAE1, Satz 12, 4.= lim

x→0

sin(x)

x

− limx→0

sin(x)

limx→0

cos(x) + 1

1.= 1 · 0

2= 0. �

Satz 16 (Ableitungen und Stammfunktionen von sin und cos)

Page 44: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 44

1. Die Sinus- und die Kosinusfunktion sind auf ganz R differenzierbar, unddie Ableitungen sind gegeben durch

sin′(x) = cos(x), cos′(x) = − sin(x), x ∈ R.

2. Die Stammfunktionen der Sinus- und der Kosinusfunktion sind gegebendurch ∫

sin(x) dx = − cos(x) + C,

∫cos(x) dx = sin(x) + C,

mit Integrationskonstante C ∈ R.

Beweis:

1. Sei x0 ∈ R. Wir verwenden die Definition 35 aus MAE1 für die Ableitung:

sin′(x0) = limx→x0

sin(x)− sin(x0)

x− x0= limh→0

sin(x0 + h)− sin(x0)

h

Satz 15, 7.= lim

h→0

sin(x0) cos(h) + cos(x0) sin(h)− sin(x0)

h

= limh→0

(sin(x0)

cos(h)− 1

h+ cos(x0)

sin(h)

h

)= sin(x0) lim

h→0

cos(h)− 1

h+ cos(x0) lim

h→0

sin(h)

hLemma 1

= cos(x0),

cos′(x0) = limx→x0

cos(x)− cos(x0)

x− x0= limh→0

cos(x0 + h)− cos(x0)

h

Satz 15, 7.= lim

h→0

cos(x0) cos(h)− sin(x0) sin(h)− cos(x0)

h

= limh→0

(cos(x0)

cos(h)− 1

h− sin(x0)

sin(h)

h

)= cos(x0) lim

h→0

cos(h)− 1

h− sin(x0) lim

h→0

sin(h)

hLemma 1

= − sin(x0).

Dies gilt für jedes x0 ∈ R.

2. Mit 1. gilt

(− cos(x) + C)′

= − cos′(x) = − (− sin(x)) = sin(x),

(sin(x) + C)′

= sin′(x) = cos(x). �

Beispiel: Mithilfe der Substitution t = 2x−1, x = 12 (t+1), dx = 1

2 dt, berechnen

Page 45: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 45

wir:

π/2∫0

cos (2x− 1) dx =

π−1∫−1

cos(t)1

2dt =

1

2sin(t)

∣∣∣∣π−1−1

=1

2(sin(π − 1)− sin(−1)) ' 0.842.

2.3.5 Weitere trigonometrische Funktionen

Definition 21 Wir definieren die folgenden Funktionen mithilfe der Sinus- undder Kosinusfunktion:

• Tangensfunktion tan(x) :=sin(x)

cos(x), x ∈ R \

{π2 + kπ

∣∣ k ∈ Z}.

• Kosekansfunktion csc(x) :=1

sin(x), x ∈ R \ {kπ | k ∈ Z}.

• Sekansfunktion sec(x) :=1

cos(x), x ∈ R \

{π2 + kπ

∣∣ k ∈ Z}.

• Kotangensfunktion cot(x) :=1

tan(x), x ∈ R \ {kπ | k ∈ Z}.

Für Argumente x = α ∈[0, π2

]können die Funktionswerte wie folgt dargestellt

werden:

1

α

·

cos(α)sec(α)

sin(α)

tan(α)

cot(α)

csc(α)

·

Page 46: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 46

-5 -4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4 5

x/π

-5

0

5

y

y = tan(x)

y = cot(x)

-5 -4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4 5

x/π

-5

0

5y

y = sec(x)

y = csc(x)

Die Eigenschaften der Tangens-, Kosekans-, Sekans- und Kotangensfunktionenfolgen aus Def. 21 und aus Satz 15:

Satz 17 (Eigenschaften von tan, csc, sec, cot)

1. Die Bilder der Funktionen tan, csc, sec, cot sind gegeben durch

im (tan) = im (cot) = R, im (sec) = im (csc) = (−∞,−1] ∪ [1,∞) .

2. Die Tangens- und die Kotangensfunktion sind π-periodisch (!).Die Sekans- und die Kosekansfunktion sind 2π-periodisch.

3. Die Tangens-, Kotangens- und die Kosekansfunktionen sind ungerade,tan(−x) = − tan(x), cot(−x) = − cot(x), csc(−x) = − csc(x). Die Se-kansfunktion ist gerade, sec(−x) = sec(x).

4. tan(π2− x)= cot(x), cot

(π2− x)= tan(x), csc

(π2− x)= sec(x) und

sec(π2− x)= csc(x).

5. Die Sekans- und die Kosekansfunktion haben keine Nullstellen. Die Null-stellen der Tangens- und der Kotangensfunktion erfüllen

tan(x) = 0 ⇔ x = kπ, k ∈ Z,

cot(x) = 0 ⇔ x =π

2+ kπ, k ∈ Z.

6. sec2(x)− tan2(x) = 1 und csc2(x)− cot2(x) = 1.

7. Additionstheoreme:

tan(x+ y) =tan(x) + tan(y)

1− tan(x) tan(y),

cot(x+ y) =cot(x) cot(y)− 1

cot(x) + cot(y).

8. Die Tangens-, Kotangens-, Sekans- und Kosekansfunktion sind an jederStelle ihres Definitionsbereichs stetig.

Page 47: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 47

Beweis: Wir beweisen hier nur eine kleine Auswahl der Aussagen.

1. | sin(x)| ≤ 1 ∀x ∈ R (Satz 15, 1.) ⇒ | csc(x)| = 1| sin(x)| ≥ 1, ∀x ∈ R.

2. tan(x+ π)Def. 21=

sin(x+ π)

cos(x+ π)

Def. 19=

− sin(x)

− cos(x)=

sin(x)

cos(x)

Def. 21= tan(x).

3. cot(−x) Def. 21=

1

tan(−x)Def. 21=

cos(−x)sin(−x)

Satz 15, 3.=

cos(x)

− sin(x)Def. 21= − 1

tan(x)

Def. 21= − cot(x).

4. sec(π2− x)

Def. 21=

1

cos(π2 − x

) Satz 15, 4.=

1

sin(x)

Def. 21= csc(x).

5. Nach Def. 21 sind die Nullstellen der Tangensfunktion gleich den Nullstel-len der Sinusfunktion. Diese sind in Satz 15, 5., angegeben.

6. sec2(x) − tan2(x)Def. 21= 1

cos2(x) −sin2(x)cos2(x) = 1−sin2(x)

cos2(x)

Satz 15, 6.= cos2(x)

cos2(x) = 1,für x ∈ R \

{π2 + kπ

∣∣ k ∈ Z}.

7. tan(x+ y)Def. 21= sin(x+y)

cos(x+y)

Satz 15, 7.= sin(x) cos(y)+cos(x) sin(y)

cos(x) cos(y)−sin(x) sin(y) =sin(x)cos(x)

+sin(y)cos(y)

1− sin(x)cos(x)

sin(y)cos(y)

Def. 21= tan(x)+tan(y)

1−tan(x) tan(y) .

8. Für x0 ∈ R \{π2 + kπ

∣∣ k ∈ Z}gilt

limx→x0

sec(x)Def. 21= lim

x→x0

1

cos(x)

MAE1, Satz 12, 4.=

1

limx→x0

cos(x)

Satz 15, 8.=

1

cos(x0)

Def. 21= sec(x0). �

Satz 18 (Ableitungen und Stammfunktionen von tan, csc, sec, cot)

1. Die Tangens-, Kosekans-, Sekans- und Kotangensfunktionen sind an jederStelle ihres Definitionsbereichs differenzierbar, und ihre Ableitungen sindgegeben durch

tan′(x) = sec2(x) = 1 + tan2(x),

csc′(x) = − csc(x) cot(x) = −csc2(x)

sec(x),

sec′(x) = sec(x) tan(x) =sec2(x)

csc(x),

cot′(x) = − csc2(x) = −1− cot2(x).

Page 48: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 48

2. Die unbestimmten Integrale der Tangens-, Kosekans-, Sekans- und Kotan-gensfunktionen sind gegeben durch∫

tan(x) dx = ln |sec(x)|+ C = − ln |cos(x)|+ C,∫csc(x) dx = ln |csc(x)− cot(x)|+ C,∫sec(x) dx = ln |sec(x) + tan(x)|+ C,∫cot(x) dx = − ln |csc(x)|+ C = ln |sin(x)|+ C,

mit Integrationskonstanten C ∈ R.

Beispiel: Die Ableitung der Funktion f(x) := tan2 (sin(x)) ist nach der Ketten-regel gegeben durch

f ′(x) = 2 tan (sin(x)) tan′ (sin(x)) sin′(x) = 2 tan (sin(x)) sec2 (sin(x)) cos(x)

= 2 tan (sin(x)) cos(x)(1 + tan2 (sin(x))

).

Für den Beweis von 2. benötigen wir einen Hilfssatz:

Lemma 2 Für eine differenzierbare Funktion f gilt

(ln |f(x)|)′ = f ′(x)

f(x),

für alle x im Definitionsbereich von f mit f(x) 6= 0.

Bemerkungen:

• Die Funktion auf der rechten Seite heisst die logarithmische Ableitung derFunktion f .

• Die unbestimmten Integrale der logarithmischen Ableitung sind daher ge-

geben durch∫f ′(x)

f(x)dx = ln |f(x)|+C, C ∈ R. Den Spezialfall f(x) := x

haben wir bereits in Satz 6 gesehen.

Beispiel: Die echt gebrochenrationale Funktion9x2 − 4x+ 4

3x3 − 2x2 + 4x− 1ist von der

Formf ′(x)

f(x). Daher gilt

∫9x2 − 4x+ 4

3x3 − 2x2 + 4x− 1dx = ln

∣∣3x3 − 2x2 + 4x− 1∣∣+ C, C ∈ R.

Beweis von Lemma 2: Sei x im Definitionsbereich von f mit f(x) > 0. Danngilt |f(x)| = f(x) > 0 und nach der Kettenregel:

(ln |f(x)|)′ = (ln (f(x)))′= ln′ (f(x)) f ′(x) =

f ′(x)

f(x).

Page 49: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 49

Sei x im Definitionsbereich von f mit f(x) < 0. Dann gilt |f(x)| = −f(x) > 0und nach der Kettenregel:

(ln |f(x)|)′ = (ln (−f(x)))′ = ln′ (−f(x)) (−f(x))′ = 1

−f(x)(−f ′(x)) = f ′(x)

f(x).

Beweis von Satz 18:

1. Wir verwenden die Def. 21 und die Quotientenregel (MAE1, Satz 14, 4.):

tan′(x) =

(sin(x)

cos(x)

)′=

sin′(x) cos(x)− sin(x) cos′(x)

cos2(x)

Satz 16, 1.=

cos2(x) + sin2(x)

cos2(x)

Satz 15, 6.=

1

cos2(x)= sec2(x).

csc′(x) =

(1

sin(x)

)′=− sin′(x)

sin2(x)= − cos(x)

sin2(x)= − 1

sin(x)

cos(x)

sin(x)

= − csc(x) cot(x).

sec′(x) =

(1

cos(x)

)′=− cos′(x)

cos2(x)=

sin(x)

cos2(x)=

1

cos(x)

sin(x)

cos(x)

= sec(x) tan(x).

cot′(x) =

(1

tan(x)

)′=− tan′(x)

tan2(x)=− sec2(x)

tan2(x)=− 1

cos2(x)

sin2(x)cos2(x)

= − 1

sin2(x)= − csc2(x).

2. Wir verwenden Lemma 2 und 1.:

(ln |sec(x)|+ C)′

=sec′(x)

sec(x)=

sec(x) tan(x)

sec(x)= tan(x).

Alternativ lassen sich die unbestimmten Integrale von tan auch direkt mitder Substitution t = cos(x), dt = − sin(x) dx, dx = − 1

sin(x) dt berechnen:∫tan(x) dx

Def. 21=

∫sin(x)

cos(x)dx =

∫sin(x)

t

(− 1

sin(x)

)dt

= −∫

1

tdt = − ln |t|+ C = − ln | cos(x)|+ C.

Page 50: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 50

(ln |csc(x)− cot(x)|+ C)′

=csc′(x)− cot′(x)

csc(x)− cot(x)

=− csc(x) cot(x) + csc2(x)

csc(x)− cot(x)

=(csc(x)− cot(x)) csc(x)

csc(x)− cot(x)= csc(x).

(ln |sec(x) + tan(x)|+ C)′

=sec′(x) + tan′(x)

sec(x) + tan(x)

=sec(x) tan(x) + sec2(x)

sec(x) + tan(x)

=sec(x) (tan(x) + sec(x))

sec(x) + tan(x)= sec(x).

(− ln |csc(x)|+ C)′

= −csc′(x)

csc(x)= −− csc(x) cot(x)

csc(x)= cot(x).

2.3.6 Umkehrfunktionen (Arkusfunktionen)

Die Sinus- und die Kosinusfunktion sind surjektiv auf [−1, 1], aber wegen der Pe-riodizität nicht injektiv. Die Einschränkungen sin|[−π2 ,π2 ] und cos|[0,π] sind aberstreng monoton und damit injektiv. Diese Einschränkungen sind also bijektivund damit umkehrbar. Auch gewisse Einschränkungen der weiteren trigonome-trischen Funktionen sind streng monoton und damit umkehrbar.

-0.5 0 0.5 1

x/π

-1

-0.5

0

0.5

1

sin|[− π

2 ,π

2 ]cos|[0,π]

-0.5 0 0.5 1

x/π

-4

-2

0

2

4

tan|(− π

2 ,π

2 )cot|(0,π)

-0.5 0 0.5 1

x/π

-4

-2

0

2

4

csc|[− π

2 ,π

2 ]sec|[0,π]

Definition 22 (Arkusfunktionen)

1. Die Arkussinusfunktion arcsin : [−1, 1] →[−π2 ,

π2

]ist definiert als die

Umkehrfunktion der Einschränkung sin|[−π2 ,π2 ].

2. Die Arkuskosinusfunktion arccos : [−1, 1] → [0, π] ist definiert als dieUmkehrfunktion der Einschränkung cos|[0,π].

3. Die Arkustangensfunktion arctan : R →(−π2 ,

π2

)ist definiert als die

Umkehrfunktion der Einschränkung tan|(−π2 ,π2 ).

Page 51: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 51

4. Die Arkuskotangensfunktion arccot : R→ (0, π) ist definiert als die Um-kehrfunktion der Einschränkung cot|(0,π).

5. Die Arkuskosekansfunktion arccsc : (−∞,−1] ∪ [1,∞)→[−π2 ,

π2

]ist de-

finiert als die Umkehrfunktion der Einschränkung csc|[−π2 ,π2 ].

6. Die Arkussekansfunktion arcsec : (−∞,−1] ∪ [1,∞) → [0, π] ist definiertals die Umkehrfunktion der Einschränkung sec|[0,π].

Bemerkungen:

• Alternative Bezeichnungen für die Arkusfunktionen sind sin−1, cos−1,tan−1, cot−1, csc−1 und sec−1. Dies sind Umkehrfunktionen, keine Kehr-werte!

• Für y ∈[−π2 ,

π2

]gilt y = arcsin(x) ⇔ x = sin(y), und analog für die

anderen Arkusfunktionen.

• Für den Arkuskotangens wird auch die Definition

arccot :=(cot|(−π2 ,π2 )

)−1anstatt wie hier

(cot|(0,π)

)−1verwendet. Beachten Sie, dass einige der folgenden Eigenschaften für diesealternative Definition der Arkuskotangensfunktion falsch sind.

-1 0 1

x

-0.5

0

0.5

1

y/π

y = arcsin(x)y = arccos(x)

-4 -2 0 2 4

x

-0.5

0

0.5

1

y/π

y = arctan(x)y = arccot(x)

-4 -2 0 2 4

x

-0.5

0

0.5

1

y/π

y = arccsc(x)

y = arcsec(x)

Satz 19 (Eigenschaften der Arkusfunktionen)

1. Die Arkussinus-, Arkustangens- und Arkuskosekansfunktionen sind unge-rade, arcsin(−x) = − arcsin(x), arctan(−x) = − arctan(x), arccsc(−x) =− arccsc(x).

2. arcsin(x) + arccos(x) =π

2, arctan(x) + arccot(x) =

π

2und arcsec(x) + arccsc(x) =

π

2.

3. Die Arkuskotangens- und Arkuskosekansfunktionen haben keine reellenNullstellen. Die Nullstellen der übrigen Arkusfunktionen sind gegeben durch

arcsin(x) = 0, arctan(x) = 0 ⇔ x = 0,

arccos(x) = 0, arcsec(x) = 0 ⇔ x = 1.

Page 52: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 52

4. sin (arccos(x)) = cos (arcsin(x)) =√1− x2, x ∈ [−1, 1],

sec (arctan(x)) = csc (arccot(x)) =√1 + x2,

tan (arcsec(x)) = cot (arccsc(x)) =

{ √x2 − 1, x ≥ 1

−√x2 − 1, x ≤ −1 .

5. arcsin(x) + arcsin(y) = arcsin(x√

1− y2 + y√1− x2

),

arccos(x) + arccos(y) = arccos(xy −

√1− x2

√1− y2

),

arctan(x) + arctan(y) = arctan

(x+ y

1− xy

),

arccot(x) + arccot(y) = arccot

(xy − 1

x+ y

).

6. arccsc(x) = arcsin

(1

x

), arcsec(x) = arccos

(1

x

), arccot(x) = arctan

(1

x

).

Beweis: Wir beweisen nur eine kleine Auswahl dieser Aussagen.

1. Aus sin(−t) = − sin(t), t ∈ R, folgt mit t := arcsin(x), x ∈ [−1, 1]:sin (− arcsin(x)) = − sin (arcsin(x)) = −x. Durch Anwenden von arcsinauf beiden Seiten folgt − arcsin(x) = arcsin(−x).

2. Aus tan(π2 − t

)= cot(t) folgt mit t := arccot(x): tan

(π2 − arccot(x)

)=

cot (arccot(x)) = x. Durch Anwenden von arctan auf beiden Seiten folgtπ2 − arccot(x) = arctan(x).

3. arccos(x) = 0 ⇔ x = cos(0) = 1.

4. Weil arccos(x) ∈ [0, π] und sin(y) ≥ 0, y ∈ [0, π], gilt sin (arccos(x)) =√1− cos2 (arccos(x)) =

√1− (cos (arccos(x)))

2=√1− x2 für x ∈ [−1, 1].

5. Aus dem Additionstheorem für die Kosinusfunktion folgt

cos (arccos(x) + arccos(y)) = cos (arccos(x)) cos (arccos(y)) +

− sin (arccos(x)) sin (arccos(y))4.= xy −

√1− x2

√1− y2.

Die Behauptung folgt durch Anwenden von arccos auf beiden Seiten.

6. Aus cot(x) = 1tan(x) folgt cot

(arctan

(1x

))= 1

tan(arctan( 1x ))

= 11x

= x. Die

Behauptung folgt durch Anwenden von arccot auf beiden Seiten.

Page 53: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 53

Satz 20 (Ableitungen und Stammfunktionen der Arkusfunktionen)

1. Die Ableitungen der Arkusfunktionen sind gegeben durch

arcsin′(x) =1√

1− x2, x ∈ (−1, 1),

arccos′(x) = − 1√1− x2

, x ∈ (−1, 1),

arctan′(x) =1

1 + x2, x ∈ R,

arccot′(x) = − 1

1 + x2, x ∈ R,

arccsc′(x) = − 1

|x|√x2 − 1

, |x| > 1,

arcsec′(x) =1

|x|√x2 − 1

, |x| > 1.

2. Die unbestimmten Integrale der Arkusfunktionen sind gegeben durch∫arcsin(x) dx = x arcsin(x) +

√1− x2 + C,∫

arccos(x) dx = x arccos(x)−√1− x2 + C,∫

arctan(x) dx = x arctan(x)− 1

2ln(1 + x2

)+ C,∫

arccot(x) dx = x arccot(x) +1

2ln(1 + x2

)+ C,∫

arccsc(x) dx =

{x arccsc(x) + ln

∣∣x+√x2 − 1

∣∣+ C, x ≥ 1

x arccsc(x)− ln∣∣x+

√x2 − 1

∣∣+ C, x ≤ −1 ,∫arcsec(x) dx =

{x arcsec(x)− ln

∣∣x+√x2 − 1

∣∣+ C, x ≥ 1

x arcsec(x) + ln∣∣x+

√x2 − 1

∣∣+ C, x ≤ −1 ,

mit Integrationskonstanten C ∈ R.

Bemerkung: Ähnlich wie bei den Wurzelfunktionen (Kap. 2.2.2) wachsen auchdie Steigungen der Tangenten an die Graphen von arcsin, arccos, arccsc undarcsec unbeschränkt an den Rändern ihrer Definitionsbereiche. Die Ableitungenvon arctan und arccot sind hingegen beschränkt.

Page 54: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 54

-1 -0.5 0 0.5 1

x

-0.5

0

0.5

1y/π

y = arcsin(x)

y =1

1− x2

y = x arcsin(x) +√

1− x2− 1

-4 -2 0 2 4

x

-0.5

0

0.5

1

y/π

y = arctan(x)

y =1

1 + x2

y = x arctan(x)−1

2ln

(

1 + x2)

Beweis von Satz 20: Wir beweisen nur jeweils eine Aussage.

1. Mit der Umkehrregel ((f−1

)′= 1

f ′◦f−1 , MAE1, Satz 15, 6.) folgt

arcsin′(x) =1

sin′ (arcsin(x))=

1

cos (arcsin(x))

Satz 19, 4=

1√1− x2

.

2. Nach der Summen-, Produkt- und Kettenregel gilt(x arctan(x)− 1

2ln(1 + x2

)+ C

)′= arctan(x) + x arctan′(x) +

−1

2ln′(1 + x2

) (1 + x2

)′1.= arctan(x) +

x

1 + x2+

−1

2

1

1 + x2· 2x

= arctan(x).

Die übrigen Aussagen lassen sich analog beweisen. �

Page 55: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 55

2.3.7 Anwendungen

Schwingungsgleichung Für ein gegebenes ω > 0 hat die Schwingungsglei-chung y′′+ω2y (eine sog. lineare gewöhnliche Differenzialgleichung 2. Ordnung)die allgemeine Lösung

y(x) = A sin(ωx+ ϕ), A, ϕ ∈ R,

d. h. jede derartige Funktion ist eine Lösung der Schwingungsgleichung. Wirprüfen dies nach:

y′(x) = Aω cos(ωx+ ϕ), y′′(x) = −Aω2 sin(ωx+ ϕ) = −ω2y(x) X

O. B. d. A. können wir annehmen, dass A ≥ 0 (Amplitude der Schwingung) undϕ ∈ [0, 2π) (Nullphasenwinkel der Schwingung). Die Werte dieser Parametermüssen aus gegebenen Anfangs- oder Randbedingungen bestimmt werden.

Trigonometrische Gleichungen Sei y ∈ R gegeben. Falls |y| > 1, so hat dieGleichung sin(x) = y keine Lösung (weil dann y 6∈ im(sin), vgl. Satz 15). Gilthingegen |y| ≤ 1, so hat die Gleichung sin(x) = y unendlich viele Lösungen.Die Zahl x1 := arcsin(y) ∈

[−π2 ,

π2

]ist nur eine dieser Lösungen. Eine weitere

Lösung ist x2 := π − arcsin(y) ∈[π2 ,

3π2

], denn es gilt mit Satz 15, 7.:

sin(x2) = sin(π − arcsin(y)) = sin(π)︸ ︷︷ ︸=0

cos(arcsin(y))− cos(π)︸ ︷︷ ︸=−1

sin(arcsin(y))

= sin(arcsin(y)) = y X

Die Lösungsmenge der Gleichung sin(x) = y enthält sämtliche Lösungen dieserGleichung. Sie ist gegeben durch

L = {x1 + 2kπ | k ∈ Z} ∪ {x2 + 2kπ | k ∈ Z} .

Speziell für y = 0 erhalten wir x1 = arcsin(0) = 0, x2 = π − arcsin(0) = π, unddamit

L = {2kπ | k ∈ Z} ∪ {π + 2kπ | k ∈ Z}= {2kπ | k ∈ Z} ∪ {(2k + 1)π | k ∈ Z} = {`π | ` ∈ Z} .

Die sind die Nullstellen der Sinusfunktion gemäss Satz 15, 5.

2.4 HyperbelfunktionenDie letzte Klasse von elementaren Funktionen, die wir in dieser Vorlesung be-handeln, sind die Hyperbelfunktionen. Während wir die Kreisfunktionen geo-metrisch definiert haben (Kap. 2.3), definieren wir die Hyperbelfunktionen ana-lytisch, und zwar mithilfe der natürlichen Exponentialfunktion (Kap. 2.1).

Page 56: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 56

Definition 23 (Sinus Hyperbolicus, Kosinus Hyperbolicus) Die Funktionen Si-nus Hyperbolicus und Kosinus Hyperbolicus sind definiert durch

sinh(x) :=ex − e−x

2, cosh(x) :=

ex + e−x

2.

-5 0 5

x

-5

0

5

y

y = sinh(x)

y = cosh(x)

Bemerkungen:

• Nach Def. 10 gilt e±x = exp (±x), wobei exp die natürliche Exponential-funktion bezeichnet (Kap. 2.1).

• Nach Def. 23 gilt

sinh(x) + cosh(x) =ex − e−x

2+ex + e−x

2= ex. (34)

Daraus folgt die De-Moivre-Formel (A. De Moivre, 1667–1754) für sinhund cosh:

(sinh(x) + cosh(x))n= (ex)

n Satz 9, 4.= enx

(34)= sinh(nx) + cosh(nx),

für alle n ∈ Z.

Satz 21 (Eigenschaften von sinh und cosh)

1. Die Funktionen Sinus Hyperbolicus und Kosinus Hyperbolicus sind aufganz R definiert und im(sinh) = R, im(cosh) = [1,∞).

2. Der Sinus Hyperbolicus ist eine ungerade Funktion, sinh(−x) = − sinh(x).Der Kosinus Hyperbolicus ist eine gerade Funktion, cosh(−x) = cosh(x).

3. Die einzige reelle Nullstelle der Funktion Sinus Hyperbolicus liegt bei x =0. Die Funktion Kosinus Hyperbolicus hat keine reelle Nullstelle.

Page 57: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 57

4. cosh2(x)− sinh2(x) = 1.

5. Additionstheoreme:

sinh(x+ y) = sinh(x) cosh(y) + cosh(x) sinh(y),

cosh(x+ y) = cosh(x) cosh(y) + sinh(x) sinh(y).

6. Die Funktionen Sinus Hyperbolicus und Kosinus Hyperbolicus sind stetig.

Beweis:

1. Weil die natürliche Exponentialfunktion auf ganz R definiert ist, sind auchsinh und cosh auf ganz R definiert. Wir beweisen noch die Bilder:

• Sei y ∈ R gegeben. Wir müssen zeigen, dass die Gleichung sinh(x) = yeine reelle Lösung hat. Dazu rechnen wir

sinh(x) = y |Def. 23ex − e−x

2= y | · 2

ex − e−x = 2y |u := ex > 0 (Kap. 2.1)

u− 1

u= 2y | · u

u2 − 1 = 2yu | − 2yu

u2 − 2yu− 1 = 0 |MAE1, Kap. 3.3.1

u1,2 =2y ±

√4y2 + 4

2= y ±

√y2 + 1

Wegen y2 + 1 > y2 gilt√y2 + 1 > |y|, und damit ist nur die Lösung

mit “+” positiv: u = y+√y2 + 1. Durch Anwenden von ln auf beiden

Seiten finden wir die Lösung x = ln(u) = ln(y +

√y2 + 1

)∈ R. Also

gilt y ∈ im (sinh).• Sei y ≥ 1 gegeben. Wir müssen zeigen, dass die Gleichung cosh(x) = y

eine reelle Lösung hat. Dazu rechnen wir

cosh(x) = y |Def. 23ex + e−x

2= y | · 2

ex + e−x = 2y |u := ex > 0 (Kap. 2.1)

u+1

u= 2y | · u

u2 + 1 = 2yu | − 2yu

u2 − 2yu+ 1 = 0 |MAE1, Kap. 3.3.1

u1,2 =2y ±

√4y2 − 4

2= y ±

√y2 − 1

Page 58: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 58

Wegen√y2 − 1 < y sind beide Lösungen positiv. Durch Anwenden

von ln auf beiden Seiten finden wir die Lösungen x1,2 = ln(u) =

ln(y ±

√y2 − 1

). Also gilt y ∈ im (cosh).

• Sei y < 1 gegeben. Wir müssen zeigen, dass die Gleichung cosh(x) = ykeine reelle Lösung hat. Mit derselben Rechnung wie vorher findenwir u1,2 = y ±

√y2 − 1.

– Für y ∈ (−1, 1) gilt y2 − 1 < 0 und damit u1,2 6∈ R.– Für y ≤ −1 gilt 0 ≤

√y2 − 1 < −y und damit

u1 = y +√y2 − 1 < 0 und u2 = y −

√y2 − 1 ≤ y ≤ −1 < 0.

Es gilt also y 6∈ im (cosh).

2. Wir rechnen

sinh(−x) =e−x − e−(−x)

2=e−x − ex

2= −e

x − e−x

2= − sinh(x),

cosh(−x) =e−x + e−(−x)

2=e−x + ex

2=ex + e−x

2= cosh(x).

3. Gemäss dem Beweis von 1. ist die Lösung von sinh(x) = 0 gegeben durchx = ln

(0 +√02 + 1

)= ln(1) = 0. Nach 1. gilt 0 6∈ im (cosh).

4. Wir rechnen

cosh2(x)− sinh2(x) =

(ex + e−x

2

)2

−(ex − e−x

2

)2

=(ex)

2+ 2exe−x + (e−x)

2

4− (ex)

2 − 2exe−x + (e−x)2

4

=e2x + 2 + e−2x −

(e2x − 2 + e−2x

)4

=4

4= 1.

5. Wir rechnen von rechts nach links

sinh(x) cosh(y) + cosh(x) sinh(y) =ex − e−x

2

ey + e−y

2+ex + e−x

2

ey − e−y

2

=exey + exe−y − e−xey − e−xe−y

4+

+exey − exe−y + e−xey − e−xe−y

4

=ex+y + ex−y − ey−x − e−(x+y)

4+

+ex+y − ex−y + ey−x − e−(x+y)

4

=2ex+y − 2e−(x+y)

4=ex+y − e−(x+y)

2= sinh(x+ y),

Page 59: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 59

cosh(x) cosh(y) + sinh(x) sinh(y) =ex + e−x

2

ey + e−y

2+ex − e−x

2

ey − e−y

2

=exey + exe−y + e−xey + e−xe−y

4+

+exey − exe−y − e−xey + e−xe−y

4

=ex+y + ex−y + ey−x + e−(x+y)

4+

+ex+y − ex−y − ey−x + e−(x+y)

4

=2ex+y + 2e−(x+y)

4=ex+y + e−(x+y)

2= cosh(x+ y).

6. Sei x0 ∈ R. Wir berechnen die Grenzwerte von sinh und cosh an der Stellex0:

limx→x0

sinh(x) = limx→x0

ex − e−x

2

MAE1, Satz 12=

limx→x0

ex − limx→x0

e−x

2

=ex0 − e−x0

2= sinh(x0),

limx→x0

cosh(x) = limx→x0

ex + e−x

2

MAE1, Satz 12=

limx→x0

ex + limx→x0

e−x

2

=ex0 − e−x0

2= cosh(x0),

wobei wir die Stetigkeit der natürlichen Exponentialfunktion verwendethaben (Satz 8, 1.). �

Satz 22 (Ableitungen und Stammfunktionen von sinh und cosh)

1. Die Funktionen sinh und cosh sind differenzierbar, und die Ableitungensind gegeben durch

sinh′(x) = cosh(x),

cosh′(x) = sinh(x),

für x ∈ R.

2. Die unbestimmten Integrale von sinh und cosh sind gegeben durch∫sinh(x) dx = cosh(x) + C,∫cosh(x) dx = sinh(x) + C,

mit Integrationskonstanten C ∈ R.

Page 60: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 60

Bemerkung: Anders als bei den Kreisfunktionen gibt es bei den Hyperbelfunktio-nen keine Vorzeichenwechsel bei der Ableitung oder Integration. Insbesonderegilt also sinh′′ ≡ sinh und cosh′′ ≡ cosh, aber sin′′ ≡ − sin und cos′′ ≡ − cos.Beweis:

1. Nach der Kettenregel gilt mit Satz 8, 1.:(e±x

)′= (exp (±x))′ = exp′ (±x) (±x)′ = exp (±x) (±1) = ± exp (±x)= ±e±x, x ∈ R,

d. h. (ex)′ = ex und (e−x)′= −e−x. Nun gilt nach der Summenregel

sinh′(x) =

(ex − e−x

2

)′=

(ex)′ − (e−x)

2=ex − (−e−x)

2

=ex + e−x

2= cosh(x),

cosh′(x) =

(ex + e−x

2

)′=

(ex)′+ (e−x)

2=ex + (−e−x)

2

=ex − e−x

2= sinh(x).

2. Nach der Summenregel gilt

(cosh(x) + C)′

= cosh′(x)1.= sinh(x),

(sinh(x) + C)′

= sinh′(x)1.= cosh(x).

Die Werte der trigonometrischen und der Hyperbelfunktionen lassen sich geo-metrisch mithilfe von Flächeninhalten veranschaulichen. Wir zeigen dies zu-erst für Sinus und Kosinus: Sei (x, y) ∈ R2 ein Punkt auf dem Einheitskreis(d. h. x2 + y2 = 1) und x, y > 0 (1. Quadrant). Es gilt x = cos(α), y = sin(α)mit α = arcsin(y) ∈

(0, π2

). Wir betrachten den Kreissektor mit den Eckpunk-

ten (0, 0), (x,−y) und (x, y). Der Flächeninhalt dieses Kreissektors ist gegebendurch A = 2α

2ππ = α, und daher gilt auch x = cos(A), y = sin(A).Sei nun (x, y) ∈ R2 ein Punkt auf der Einheitshyperbel in 1. Hauptlage

(d. h. x2−y2 = 1) und x, y > 0 (1. Quadrant). Gemäss dem Beweis von Satz 21gilt y = sinh(A) mit A = ln

(y +

√y2 + 1

). Weil y +

√y2 + 1 > 1 für y > 0,

gilt auch A > 0. Weiter gilt x2 = 1 + y2 = 1 + sinh2(A) = cosh2(A) und, weilcosh(A) ≥ 1 > 0: x = cosh(A). Schliesslich werden wir im Kap. 3 zeigen, dassder Inhalt der rot markierten Fläche gerade gleich A ist.

Page 61: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 61

x2 + y2 = 1

A

cos(A)

sin(A

)

A

cosh(A)

sinh(A

)

x2 − y2 = 1

y

x

y

x0 0

2.4.1 Weitere Hyperbelfunktionen

Ähnlich wie bei den trigonometrischen Funktionen definieren wir weitere Hy-perbelfunktionen mithilfe von sinh und cosh:

Definition 24 Wir definieren die folgenden Funktionen mithilfe des Sinus Hy-perbolicus und des Kosinus Hyperbolicus:

• Tangens Hyperbolicus tanh(x) :=sinh(x)

cosh(x), x ∈ R,

• Kosekans Hyperbolicus csch(x) :=1

sinh(x), x ∈ R \ {0},

• Sekans Hyperbolicus sech(x) :=1

cosh(x), x ∈ R,

• Kotangens Hyperbolicus coth(x) :=1

tanh(x), x ∈ R \ {0}.

-5 0 5

x

-5

0

5

y

y = tanh(x)y = coth(x)y = sech(x)y = csch(x)

Page 62: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 62

Satz 23 (Eigenschaften von tanh, csch, sech, coth)

1. Der grösstmögliche Definitionsbereich der weiteren Hyperbelfunktionen istgegeben durch

D =

{R, für tanh, sechR \ {0} , für csch, coth

und die Bilder durch im(tanh) = (−1, 1), im(csch) = R \ {0}, im(sech) =(0, 1] und im(coth) = (−∞,−1) ∪ (1,∞).

2. tanh, csch und coth sind ungerade Funktionen, tanh(−x) = − tanh(x),csch(−x) = − csch(x), coth(−x) = − coth(x). sech ist eine gerade Funk-tion, sech(−x) = sech(x).

3. Die einzige Nullstelle der Funktion tanh ist x = 0. Die Funktionen csch,sech und coth haben keine rellen Nullstellen.

4. tanh2(x) + sech2(x) = 1, coth2(x)− csch2(x) = 1.

5. Additionstheoreme:

tanh(x+ y) =tanh(x) + tanh(y)

1 + tanh(x) tanh(y),

coth(x+ y) =coth(x) coth(y) + 1

coth(x) + coth(y).

6. Die Funktionen tanh, csch, sech und coth sind in jedem Punkt ihres De-finitionsbereichs stetig.

Beweis: Wir beweisen nur eine kleine Auswahl der Aussagen.

1. cosh(x) ∈ [1,∞), x ∈ R ⇒ sech(x) =1

cosh(x)∈ (0, 1], x ∈ R.

2. csch(−x) = 1

sinh(−x)=

1

− sinh(x)= − 1

sinh(x)= − csch(x).

3. Die Nullstellen von tanh sind gegeben durch die Nullstellen von sinh, alsox = 0.

4. coth2(x)− csch2(x) =cosh2(x)

sinh2(x)− 1

sinh2(x)=

cosh2(x)− 1

sinh2(x)=

sinh2(x)

sinh2(x)=

1, x 6= 0.

5. coth(x+y) =cosh(x+ y)

sinh(x+ y)=

cosh(x) cosh(y) + sinh(x) sinh(y)

sinh(x) cosh(y) + cosh(x) sinh(y)=

cosh(x)sinh(x)

cosh(y)sinh(y) + 1

cosh(y)sinh(y) +

cosh(x)sinh(x)

=

coth(x) coth(y) + 1

coth(y) + coth(x).

Page 63: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 63

6. Sei x0 ∈ R, dann gilt mit der Stetigkeit von sinh und cosh:

limx→x0

tanh(x) = limx→x0

sinh(x)

cosh(x)=

limx→x0

sinh(x)

limx→x0

cosh(x)=

sinh(x0)

cosh(x0)= tanh(x0).

Satz 24 (Ableitungen und Stammfunktionen von tanh, csch, sech, coth)

1. Die Funktionen tanh, csch, sech, coth sind in jedem Punkt ihres Definiti-onsbereichs differenzierbar, und die Ableitungen sind gegeben durch

tanh′(x) = sech2(x) = 1− tanh2(x),

csch′(x) = − csch(x) coth(x),

sech′(x) = − sech(x) tanh(x),

coth′(x) = − csch2(x) = 1− coth2(x).

2. Die unbestimmten Integrale der Funktionen tanh, csch, sech, coth sindgegeben durch ∫

tanh(x) dx = ln |cosh(x)|+ C,∫csch(x) dx = ln

∣∣∣tanh(x2

)∣∣∣+ C,∫sech(x) dx = arctan (sinh(x)) + C,∫coth(x) dx = ln |sinh(x)|+ C,

mit Integrationskonstanten C ∈ R.

Beweis:

1. Nach der Quotientenregel gilt

tanh′(x) =

(sinh(x)

cosh(x)

)′=

sinh′(x) cosh(x)− sinh(x) cosh′(x)

cosh2(x)

=cosh2(x)− sinh2(x)

cosh2(x)=

1

cosh2(x)= sech2(x)

Satz 23, 4.= 1− tanh2(x).

Die übrigen Ableitungen werden analog berechnet.

Page 64: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 64

2. Nach der Summenregel, Lemma 2 und der Kettenregel gilt(ln∣∣∣tanh(x

2

)∣∣∣+ C)′

=(ln∣∣∣tanh(x

2

)∣∣∣)′ = (tanh

(x2

))′tanh

(x2

) (35)

=tanh′

(x2

)· 12

tanh(x2

) =1

2

sech2(x2

)tanh

(x2

) (36)

=1

2

1

cosh2( x2 )sinh( x2 )cosh( x2 )

=1

2 sinh(x2

)cosh

(x2

) (37)

=1

sinh(x)= csch(x), (38)

wobei wir die Doppelwinkelformel für sinh verwendet haben: sinh(2x) =2 sinh(x) cosh(x).

Für die Stammfunktion von sech verwenden wir die Substitutiont = sinh(x), dt = cosh(x) dx =

√1 + sinh2(x) dx =

√1 + t2 dx:∫

sech(x) dx =

∫1

cosh(x)dx =

∫1√

1 + t21√

1 + t2dt (39)

=

∫1

1 + t2dt = arctan(t) + C = arctan(sinh(x)) + C,

mit Integrationskonstante C ∈ R.Die unbestimmten Integrale für tanh und coth werden ebenfalls mit derKettenregel und mit Lemma 2 bewiesen. �

Eine spezielle Stammfunktion des Sekans Hyperbolicus ist die sog. Gudermann-funktion (C. Gudermann, 1798–1852):

gd(x) :=

x∫0

sech(t) dt = arctan (sinh(x)) , x ∈ R,

mit im (gd) = im (arctan) =(−π2 ,

π2

). Mit ihrer Hilfe lassen sich die Kreis- und

Hyperbelfunktionen verbinden. Es gelten nämlich die Beziehungen

sinh(x) = tan (gd(x)) ,

cosh(x) = sec (gd(x)) ,

tanh(x) = sin (gd(x)) ,

sech(x) = cos (gd(x)) ,

csch(x) = cot (gd(x)) ,

coth(x) = csc (gd(x)) .

Page 65: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 65

2.4.2 Umkehrfunktionen (Areafunktionen)

Ähnlich wie bei den Arkusfunktionen müssen wir einige Hyperbelfunktioneneinschränken, damit sie umkehrbar sind.

Definition 25 (Areafunktionen)

1. Der Areasinus Hyperbolicus arsinh ist definiert als die Umkehrfunktionvon sinh.

2. Der Areakosinus Hyperbolicus arcosh ist definiert als die Umkehrfunktionder Einschränkung cosh|[0,∞).

3. Der Areatangens Hyperbolicus artanh ist definiert als die Umkehrfunktionvon tanh.

4. Der Areakotangens Hyperbolicus arcoth ist definiert als die Umkehrfunk-tion von coth.

5. Der Areasekans Hyperbolicus arsech ist definiert als die Umkehrfunktionder Einschränkgung sech|[0,∞).

6. Der Areakosekans Hyperbolicus arcsch ist definiert als die Umkehrfunkti-on von csch.

-5 0 5

x

-5

0

5

y

y = arsinh(x)

y = arcosh(x)

-5 0 5

x

-5

0

5

y

y = artanh(x)y = arcoth(x)

-5 0 5

x

-5

0

5

y

y = arsech(x)y = arcsch(x)

Bemerkungen:

• Für y ∈ R gilt sinh(x) = y ⇔ x = arsinh(y) und analog für die anderenAreafunktionen.

• arsinh(A) ist der Flächeninhalt des Sektors der Einheitshyperbel in 1. Haupt-lage (s. S. 60). Daher die Vorsilbe “Area” in den Umkehrfunktionen.

Satz 25 Die Areafunktionen lassen sich wie folgt mithilfe des natürlichen Lo-garithmus ln darstellen:

1. arsinh(x) = ln(x+√x2 + 1

), x ∈ R,

2. arcosh(x) = ln(x+√x2 − 1

), x ≥ 1,

3. artanh(x) = 12 ln

(1+x1−x

), |x| < 1,

Page 66: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 66

4. arcoth(x) = 12 ln

(x+1x−1

), |x| > 1,

5. arcsch(x) = ln(

1x +

√1x2 + 1

), x 6= 0,

6. arsech(x) = ln(

1x +

√1x2 − 1

), x ∈ (0, 1].

Bemerkung:

• Diese Darstellungen werden manchmal auch zur Definition der Areafunk-tionen verwendet.

• Nach diesem Satz ist z. B.

exp (2 artanh(x)) =1 + x

1− xeine unecht gebrochenrationale Funktion.

Beweis:

1. x = ln(y +

√y2 + 1

)ist die eindeutige Lösung der Gleichung sinh(x) =

y, also x = arsinh(y),

2. Für y ≥ 1 ist die nichtnegative Lösung der Gleichung cosh(x) = y gegebendurch x = ln

(y +

√y2 − 1

), also x = arcosh(y),

3. Sei y ∈ [0, 1). Zur Lösung der Gleichung tanh(x) = y rechnen wir

y = tanh(x) =sinh(x)

cosh(x)=

sinh(x)√1 + sinh2(x)

y2(1 + sinh2(x)

)= sinh2(x)

y2 + y2 sinh2(x) = sinh2(x)

y2 = (1− y2) sinh2(x)

sinh(x) =

√y2

1− y2

x = arsinh

(√y2

1− y2

)

1.= ln

(√y2

1− y2+

√y2

1− y2+ 1

)

= ln

(√y2

1− y2+

√1

1− y2

)

= ln

(y + 1√1− y2

)= ln

(y + 1√

(1− y)(1 + y)

)

Page 67: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 67

= ln

(√1 + y

1− y

)=

1

2ln

(1 + y

1− y

),

also artanh(y) = x =1

2ln

(1 + y

1− y

). Für y ∈ (−1, 0) benutzen wir, dass

tanh eine ungerade Funktion ist: tanh(x) = y ⇔ tanh(−x) = −y ∈ (0, 1).

Dann gilt x = − artanh(−y) = −1

2ln

(1− y1 + y

)=

1

2ln

(1 + y

1− y

).

4. Die Gleichung coth(x) = y formen wir um zu tanh(x) =1

y. Dann ist

x = artanh

(1

y

)=

1

2ln

(1 + 1

y

1− 1y

)=

1

2ln

(y + 1

y − 1

)und damit

arcoth(y) =1

2ln

(y + 1

y − 1

).

5. Die Gleichung csch(x) = y formen wir um zu sinh(x) =1

y. Dann ist

x = arsinh

(1

y

)= ln

(1

y+

√1

y2+ 1

).

6. Die Gleichung sech(x) = y formen wir um zu cosh(x) =1

y. Dann ist x =

arcosh

(1

y

)= ln

(1

y+

√1

y2− 1

). �

Satz 26 (Eigenschaften der Areafunktionen)

1. Die grösstmöglichen Definitionsbereiche der Areafunktionen sind gegebendurch

D =

R, für arsinh[1,∞) , für arcosh(−1, 1) , für artanh(−∞,−1) ∪ (1,∞) , für arcoth(0, 1] , für arsechR \ {0} , für arcsch

und die Bilder durch

im (arsinh) = im (artanh) = R,im (arcosh) = im (arsech) = [0,∞) ,

im (arcoth) = im (arcsch) = R \ {0} .

2. arsinh, artanh, arcoth und arcsch sind ungerade Funktionen.

3. Die Funktionen arcoth und arcsch haben keine reelle Nullstelle. Die Null-stellen der übrigen Areafunktionen sind gegeben durch

arsinh(x) = 0, artanh(x) = 0 ⇔ x = 0,

arcosh(x) = 0, arsech(x) = 0 ⇔ x = 1.

Page 68: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 68

4. sinh (arcosh(x)) = csch (arcoth(x)) =√x2 − 1,

cosh (arsinh(x)) = coth (arcsch(x)) =√1 + x2,

tanh (arsech(x)) = sech (artanh(x)) =√1− x2.

5. arsinh(x) + arsinh(y) = arsinh(x√1 + y2 + y

√1 + x2

),

arcosh(x) + arcosh(y) = arcosh(xy +

√(x2 − 1) (y2 − 1)

),

artanh(x) + artanh(y) = artanh

(x+ y

1 + xy

),

arcoth(x) + arcoth(y) = arcoth

(xy + 1

x+ y

).

6. arcsch(x) = arsinh

(1

x

), arsech(x) = arcosh

(1

x

), arcoth(x) = artanh

(1

x

).

Beweis: Wir beweisen nur eine kleine Auswahl der Aussagen.

1. Die grösstmöglichen Definitionsbereiche der Umkehrfunktionen sind dieBilder der ursprünglichen Funktionen. Die Bilder der Umkehrfunktionensind dann gegeben durch die grösstmöglichen Definitionsbereiche der ur-sprünglichen Funktionen bzw. ihre Einschränkungen. Diese sind in denSätzen 21, 23 und in Def. 25 gegeben.

2. Aus coth(−t) = − coth(t) folgt mit t := arcoth(x): coth (− arcoth(x)) =− coth (arcoth(x)) = −x. Durch Anwenden von arcoth auf beiden Seitenfolgt − arcoth(x) = arcoth(−x).

3. arsech(x) = 0 ⇔ x = sech(0) = 1.

4. sinh (arcosh(x)) =√

cosh2 (arcosh(x))− 1 =√x2 − 1.

5. Aus dem Additionstheorem für den Tangens Hyperbolicus folgt

tanh (artanh(x) + artanh(y)) =tanh (artanh(x)) + tanh (artanh(y))

1 + tanh (artanh(x)) tanh (artanh(y))

=x+ y

1 + xy.

Die Behauptung folgt durch Anwenden von artanh auf beiden Seiten.

6. Aus csch(x) =1

sinh(x)folgt csch

(arsinh

(1

x

))=

1

sinh(arsinh

(1x

)) =

11x

= x. Die Behauptung folgt durch Anwenden von arcsch auf beiden Sei-

ten. �

Page 69: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

2 ELEMENTARE FUNKTIONEN 69

Satz 27 (Ableitungen und Stammfunktionen der Areafunktionen)

1. Die Ableitungen der Areafunktionen sind gegeben durch

arsinh′(x) =1√

1 + x2, x ∈ R,

arcosh′(x) =1√

x2 − 1, x > 1,

artanh′(x) =1

1− x2, x ∈ (−1, 1) ,

arcoth′(x) =1

1− x2, x ∈ (−∞,−1) ∪ (1,∞) ,

arsech′(x) = − 1

x√1− x2

, x ∈ (0, 1) ,

arcsch′(x) = − 1

|x|√1 + x2

, x ∈ R \ {0} .

2. Die unbestimmten Integrale der Areafunktionen sind gegeben durch∫arsinh(x) dx = x arsinh(x)−

√1 + x2 + C,∫

arcosh(x) dx = x arcosh(x)−√x2 − 1 + C,∫

artanh(x) dx = x artanh(x) +1

2ln(1− x2

)+ C,∫

arcoth(x) dx = x arcoth(x) +1

2ln(x2 − 1

)+ C,∫

arsech(x) dx = x arsech(x) + arcsin(x) + C,∫arcsch(x) dx =

{x arcsch(x) + arsinh(x), x > 0x arcsch(x)− arsinh(x), x < 0

+ C,

mit Integrationskonstanten C ∈ R.

Beweis:

1. Mit der Umkehrregel erhalten wir

arsinh′(x) =1

sinh′ (arsinh(x))=

1

cosh (arsinh(x))=

1√1 + x2

.

2. Mit den Summen-, Produkt- und Kettenregeln erhalten wir(x artanh(x) +

1

2ln(1− x2

))′= artanh(x) + x artanh′(x) +

+1

2ln′(1− x2

)(−2x)

Page 70: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

3 INTEGRALRECHNUNG FÜR ELEMENTARE FUNKTIONEN 70

= artanh(x) + x1

1− x2− 1

2

2x

1− x2= artanh(x).

Die übrigen Aussagen lassen sich analog beweisen. �

3 Integralrechnung für elementare FunktionenIn diesem Kapitel lernen wir die Grundintegrale und zwei weitere Integrations-methoden kennen und behandeln danach einige Anwendungen.

3.1 Grund- oder StammintegraleIm Kap. 2 haben wir u. a. die Ableitungen aller elementaren Funktionen be-stimmt. Mit dem Fundamentalsatz der Analysis (Satz 2) erhalten wir darausauch sofort die Stammfunktionen für viele Funktionen, denn es gilt∫f ′(x) dx = f(x) + C, C ∈ R. Diese sog. Grund- oder Stammintegrale sind in

der folgenden Tabelle aufgelistet:

Page 71: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

3 INTEGRALRECHNUNG FÜR ELEMENTARE FUNKTIONEN 71

∫0 dx = C∫xr dx =

xr+1

r + 1+ C, r 6= −1

∫1

xdx = ln |x|+ C∫

ax dx =ax

ln(a)+ C, a > 0, a 6= 1∫

sin(x) dx = − cos(x) + C

∫cos(x) dx = sin(x) + C∫

sec2(x) dx = tan(x) + C

∫csc2(x) dx = − cot(x) + C∫

sec(x) tan(x) dx = sec(x) + C

∫csc(x) cot(x) dx = − csc(x) + C∫

1√1− x2

dx= arcsin(x) + C

= − arccos(x) + C

∫1

1 + x2dx

= arctan(x) + C

= − arccot(x) + C∫1

|x|√x2 − 1

dx= arcsec(x) + C

= − arcsc(x) + C∫sinh(x) dx = cosh(x) + C

∫cosh(x) dx = sinh(x) + C∫

sech2(x) dx = tanh(x) + C

∫csch2(x) dx = − coth(x) + C∫

sech(x) tanh(x) dx = − sech(x) + C

∫csch(x) coth(x) dx = − csch(x) + C∫

1√1 + x2

dx = arsinh(x) + C∫1√

x2 − 1dx =

arcosh(x) + C, x > 1

− arcosh(−x) + C, x < −1∫1

1− x2dx =

artanh(x) + C, |x| < 1

arcoth(x) + C, |x| > 1∫1

x√1− x2

dx = − arsech |x|+ C

∫1

|x|√1 + x2

dx = − arcsch(x) + C

Bei komplizierteren Integralen versucht man, diese z. B. mittels Substitutionauf die Grundintegrale zurückzuführen.Beispiel: Zur Berechnung des Integrals∫

1√a2 + x2

dx, a > 0,

verwenden wir die Substitution x = at, dx = a dt:∫1√

a2 + x2dx =

∫1√

a2 + a2t2adt =

∫a

a√1 + t2

dt =

∫1√

1 + t2dt

= arsinh(t) + C = arsinh(xa

)+ C, C ∈ R.

Page 72: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

3 INTEGRALRECHNUNG FÜR ELEMENTARE FUNKTIONEN 72

3.2 IntegrationsmethodenDie Integration durch Substitution haben wir bereits im Kap. 1.7 kennen gelernt.In diesem Kapitel geben wir einige Substitutionen an, die sich für bestimmteTypen von Integralen bewährt haben. Ausserdem lernen wir die Methode derpartiellen Integration sowie die Integration durch Partialbruchzerlegung kennen.

3.2.1 Geeignete Substitutionen

Die folgende Tabelle gibt eine Übersicht über besonders häufig auftretende In-tegraltypen und dafür geeignete Substitutionen:

A∫f (ax+ b) dx t = ax+ b,

dx =1

adt

B∫f(x)f ′(x) dx t = f(x),

dx =1

f ′(x)dt

C∫f ′(x)

f(x)dx t = f(x),

dx =1

f ′(x)dt

D∫f(x;√a2 − x2

)dx x = a sin(t),

dx = a cos(t) dt

E∫f(x;√a2 + x2

)dx x = a sinh(t), x = a tan(t),

dx = a cosh(t) dt dx = a sec2(t) dt

F∫f(x;√x2 − a2

)dx x = a cosh(t), x = a sec(t),

dx = a sinh(t) dt dx = a sec(t) tan(t) dt

Für die Integraltypen D, E, F werden zusätzlich die Identitäten cosh2(x) −sinh2(x) = 1, sin2(x) + cos2(x) = 1 und sec2(x) − tan2(x) = 1 verwendet, umdie Wurzelausdrücke zu eliminieren.Beispiele:

1.∫

3x2

(2x+ 3)3/2

dx. Das Integral ist vom Typ A, also verwenden wir die

Page 73: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

3 INTEGRALRECHNUNG FÜR ELEMENTARE FUNKTIONEN 73

Substitution t = 2x+ 3, x = 12 (t− 3), dx = 1

2 dt:∫3x2

(2x+ 3)3/2

dx =

∫3 · 14 (t− 3)2

t3/21

2dt =

3

8

∫t2 − 6t+ 9

t3/2dt

=3

8

∫t1/2 − 6t−1/2 + 9t−3/2 dt

=3

8

(t3/2

3/2− 6

t1/2

1/2+ 9

t−1/2

−1/2

)+ C

=1

4t3/2 − 9

2t1/2 − 27

4t−1/2 + C

=14 t

2 − 92 t−

274

t1/2+ C =

14 t

2 − 92 t−

274

tt1/2 + C

=14

(4x2 + 12x+ 9

)− 9

2 (2x+ 3)− 274

2x+ 3(2x+ 3)

1/2+ C

=x2 − 6x− 18

2x+ 3

√2x+ 3 + C, C ∈ R.

2.∫

sin(x) cos(x) dx. Das Integral ist vom Typ B mit f(x) = sin(x), also

verwenden wir die Substitution t = sin(x), dx = 1cos(x) dt:∫

sin(x) cos(x) dx =

∫t cos(x)

1

cos(x)dt =

∫tdt =

t2

2+ C =

1

2sin2(x) + C,

mit Integrationskonstante C ∈ R.

3.∫

ln(x)

xdx. Das Integral ist vom Typ B mit f(x) = ln(x), also verwenden

wir die Substitution t = ln(x), dx = x dt:∫ln(x)

xdx =

∫t

xxdt =

∫tdt =

t2

2+ C =

(ln(x))2

2+ C, C ∈ R.

4.∫

1√x2 − 1 arcosh(x)

dx. Das Integral ist vom Typ C mit f(x) = arcosh(x),

also verwenden wir die Substitution t = arcosh(x), dx =√x2 − 1 dt:∫

1√x2 − 1 arcosh(x)

dx =

∫1√

x2 − 1t

√x2 − 1 dt =

∫1

tdt = ln |t|+ C

= ln |arcosh(x)|+ C, C ∈ R.

5.∫

1

x ln(x)dx. Das Integral ist vom Typ C mit f(x) = ln(x), also verwen-

den wir die Substitution t = ln(x), dx = x dt:∫1

x ln(x)dx =

∫1

xtx dt =

∫1

tdt = ln |t|+ C = ln |ln(x)|+ C, C ∈ R.

Page 74: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

3 INTEGRALRECHNUNG FÜR ELEMENTARE FUNKTIONEN 74

6.∫ √

1− x2 dx. Das Integral ist vom Typ D mit a = 1, also verwenden wir

die Substitution x = sin(t), t = arcsin(x), dx = cos(t) dt:∫ √1− x2 dx =

∫ √1− sin2(t) cos(t) dt =

∫cos2(t) dt.

Mit dem Additionstheorem für die Kosinusfunktion (Satz 15, 7.) erhaltenwir cos(2x) = cos2(x)− sin2(x) = cos2(x)−

(1− cos2(x)

)= 2 cos2(x)− 1,

und damit cos2(x) = 12 cos(2x) +

12 . Also gilt∫ √

1− x2 dx =

∫cos2(t) dt =

∫1

2cos(2t)+

1

2dt =

1

2

∫cos(2t) dt+

1

2t.

Das verbleibende Integral auf der rechten Seite ist vom Typ A, also ver-wenden wir die Substitution s = 2t, dt = 1

2 ds:∫ √1− x2 dx =

∫cos2(t) dt =

1

2

∫cos(2t) dt+

1

2t =

1

4

∫cos(s) ds+

1

4s

=1

4sin(s) +

1

4s+ C =

1

4sin(2t) +

1

2t+ C.

Mit dem Additionstheorem für die Sinusfunktion (Satz 15, 7.) erhalten wirsin(2x) = 2 sin(x) cos(x), und damit schliesslich∫ √

1− x2 dx =1

2sin(t) cos(t) +

1

2t+ C

=1

2sin(arcsin(x)) cos(arcsin(x)) +

1

2arcsin(x) + C

=1

2

(x√1− x2 + arcsin(x)

)+ C, C ∈ R,

wobei wir im letzten Schritt Satz 19, 4., verwendet haben.Bemerkung: Das Integral

∫cos2(t) dt kann auch mit partieller Integration

berechnet werden (s. Kap. 3.2.2).

7.∫

1

x√4 + x2

dx. Das Integral ist vom Typ E mit a = 2, also verwenden

wir die Substitution x = 2 sinh(t), dx = 2 cosh(t) dt:∫1

x√4 + x2

dx =

∫1

2 sinh(t)√4 + 4 sinh2(t)

· 2 cosh(t) dt

=

∫cosh(t)

2 sinh(t)√1 + sinh2(t)

dt

=

∫cosh(t)

2 sinh(t) cosh(t)dt =

1

2

∫csch(t) dt

Satz 24, 2.=

1

2ln

∣∣∣∣tanh( t2)∣∣∣∣+ C . . .

Page 75: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

3 INTEGRALRECHNUNG FÜR ELEMENTARE FUNKTIONEN 75

Vor der Rücksubstitution verwenden wir∣∣tanh ( t2)∣∣ = √ cosh(t)−1

cosh(t)+1 – dieseFormel lässt sich mithilfe der Additionstheoreme für sinh und cosh bewei-sen. Ausserdem gilt cosh(t) =

√1 + sinh2(t) = 1

2

√4 + x2. Damit erhalten

wir∫1

x√4 + x2

dx =1

2ln

(√cosh(t)− 1

cosh(t) + 1

)+ C =

1

4ln

(cosh(t)− 1

cosh(t) + 1

)+ C

=1

4ln

(√4 + x2 − 2√4 + x2 + 2

)+ C, C ∈ R.

8. Das Integral aus Bsp. 4 ist auch vom Typ F mit a = 1, also verwenden wiralternativ die Substitution x = cosh(t), t = arcosh(x) ≥ 0, dx = sinh(t) dt:∫

1√x2 − 1 arcosh(x)

dx =

∫1√

cosh2(t)− 1tsinh(t) dt

=

∫sinh(t)

|sinh(t)| tdt

t≥0=

∫1

tdt

= ln |t|+ C = ln |arcosh(x)|+ C, C ∈ R.

3.2.2 Partielle Integration

Während der Integration durch Substitution (Kap. 1.7) die Kettenregel der Dif-ferenzialrechnung zugrunde liegt, ist es bei der partiellen Integration die Pro-duktregel der Differenzialrechnung (MAE1, Satz 14, 3.). Gemäss dieser gilt fürdas Produkt zweier differenzierbarer Funktionen u und v: (uv)′ = u′v + uv′.Dies schreiben wir um zu uv′ = (uv)′ − u′v und integrieren auf beiden Seitenunter Verwendung der Summenregel:∫

u(x)v′(x) dx =

∫(uv)

′(x) dx−

∫u′(x)v(x) dx

= u(x)v(x)−∫u′(x)v(x) dx, (40)

wobei wir im zweiten Schritt den Fundamentalsatz der Analysis (Satz 2) ver-wendet haben. Alle Integrale existieren, falls die Funktionen u und v stetigdifferenzierbar sind. Wenn sich nun der Integrand in der Form f(x) = u(x)v′(x)darstellen lässt, dann können wir (40) zur Berechnung des Integrals verwenden.Zusammenfassung: Berechnung eines Integrals mittels partieller Integration

1. Zerlegung des Integranden f(x) = u(x)v′(x), mit u, v stetig differenzier-bar.

2. Verwendung der Formel∫f(x) dx =

∫u(x)↓v′(x)↑

dx = u(x)v(x)−∫u′(x)v(x) dx.

Page 76: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

3 INTEGRALRECHNUNG FÜR ELEMENTARE FUNKTIONEN 76

Für bestimmte Integrale erhalten wir

2’.b∫a

f(x) dx =

b∫a

u(x)↓v′(x)↑

dx = (u(x)v(x))|ba −b∫a

u′(x)v(x) dx.

Bemerkungen:

• Die Anwendung der partiellen Integration ist sinnvoll, wenn

– sich die Stammfunktionen v zu v′ problemlos bestimmen lassen undwenn

– das Integral∫u′(x)v(x) dx auf der rechten Seite einfach zu berech-

nen ist (im Idealfall ein Grundintegral).

• Manchmal muss die partielle Integration mehrmals nacheinander ausge-führt werden, bis man auf ein Grundintegral stösst (s. Bsp. 3 unten).

• Im 2. Schritt kann eine beliebige Stammfunktion v von v′ verwendet wer-den. Man setzt daher in der Regel die Integrationskonstante gleich 0.

• Für die Berechnung des Integrals∫u′(x)v(x) dx können natürlich auch

andere Integrationsmethoden (z. B. Substitution) verwendet werden.

Beispiele:

1.∫xex dx. Wir zerlegen den Integranden f(x) = u(x)v′(x), u(x) = x,

v′(x) = ex, dann gilt u′(x) = 1 und v(x) = ex (Integrationskonstante 0).Nach der Formel für die partielle Integration erhalten wir∫

x↓ex↑dx =

∫u(x)v′(x) dx = u(x)v(x)−

∫u′(x)v(x) dx

= xex −∫

1 · ex dx = xex −∫ex dx = xex − ex + C

= (x− 1) ex + C, C ∈ R.

Wählen wir hingegen die Zerlegung f(x) = u(x)v′(x) mit u(x) = ex,v′(x) = x, so erhalten wir u′(x) = ex, v(x) = x2

2 und damit∫x↑ex↓dx =

∫u(x)v′(x) dx = u(x)v(x)−

∫u′(x)v(x) dx

= exx2

2−∫exx2

2dx =

1

2x2ex − 1

2

∫x2ex dx.

Das Integral auf der rechten Seite ist komplizierter als das Ausgangsinte-gral; daher war diese Zerlegung des Integranden ungeeignet.

Page 77: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

3 INTEGRALRECHNUNG FÜR ELEMENTARE FUNKTIONEN 77

2.∫

ln(x) dx. Wir zerlegen den Integranden: f(x) = u(x)v′(x) mit u(x) =

ln(x), v′(x) = 1. Dann gilt u′(x) = 1x und v(x) = x. Nach der Formel für

die partielle Integration erhalten wir∫ln(x) dx =

∫ln(x)↓· 1↑dx = ln(x) · x−

∫1

xxdx

= x ln(x)−∫

1 dx = x ln(x)− x+ C

= x (ln(x)− 1) + C, C ∈ R. (41)

0 0.5 1 1.5 2 2.5 3 3.5 4 4.5 5

x

-5

-4

-3

-2

-1

0

1

2

3

4

y

y = ln(x)

y = x(ln(x)− 1)

Bemerkung: Damit kennen wir endlich auch die Stammfunktionen des(natürlichen) Logarithmus! Daraus folgern wir leicht∫

logb(x) dx =

∫ln(x)

ln(b)dx =

1

ln(b)

∫ln(x) dx =

x(ln(x)− 1)

ln(b)+ C, (42)

C ∈ R, für eine beliebige Basis b > 0, b 6= 1.

3.∫x2 cos(x) dx. Wir zerlegen den Integranden: f(x) = u(x)v′(x)mit u(x) =

x2, v′(x) = cos(x). Dann gilt u′(x) = 2x, v(x) = sin(x) und∫x2↓cos(x)↑

dx = x2 sin(x)−∫

2x sin(x) dx

= x2 sin(x)− 2

∫x sin(x) dx.

Page 78: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

3 INTEGRALRECHNUNG FÜR ELEMENTARE FUNKTIONEN 78

Zur Bestimmung des Integrals∫x sin(x) dx integrieren wir ein weiteres

Mal partiell, diesmal mit u(x) = x, v′(x) = sin(x). Dann erhalten wiru′(x) = 1, v(x) = − cos(x) und∫

x↓sin(x)↑

dx = −x cos(x)−∫

1 · (− cos(x)) dx

= −x cos(x) +∫

cos(x) dx = −x cos(x) + sin(x) + C1,

mit Integrationskonstante C1 ∈ R. Damit erhalten wir∫x2 cos(x) dx = x2 sin(x)− 2 (−x cos(x) + sin(x) + C1)

= x2 sin(x) + 2x cos(x)− 2 sin(x)− 2C1

= x2 sin(x) + 2x cos(x)− 2 sin(x) + C, C := −2C1 ∈ R.

4.∫ √

x2 − 4 dx. Das Integral ist vom Typ F mit a = 2, also verwenden wir

die Substitution x = 2 sec(t), dx = 2 sec(t) tan(t) dt:∫ √x2 − 4 dx =

∫ √4 sec2(t)− 4 · 2 sec(t) tan(t) dt

= 4

∫ √sec2(t)− 1 · sec(t) tan(t) dt

= 4

∫sec(t) tan2(t) dt = 4

∫sec(t)

(sec2(t)− 1

)dt

= 4

∫sec3(t) dt− 4

∫sec(t) dt

Jetzt verwenden wir partielle Integration zur Berechnung des ersten Inte-grals (u(t) = sec(t), u′(t) = sec(t) tan(t), v′(t) = sec2(t), v(t) = tan(t)):∫

sec3(t) dt =

∫sec2(t)↑

sec(t)↓

dt

= tan(t) sec(t)−∫

tan(t) sec(t) tan(t) dt

= tan(t) sec(t)−∫

tan2(t) sec(t) dt

= tan(t) sec(t)−∫ (

sec2(t)− 1)sec(t) dt

= tan(t) sec(t)−∫

sec3(t) dt+

∫sec(t) dt.

Wir folgern daraus, dass

2

∫sec3(t) dt = tan(t) sec(t) +

∫sec(t) dt,

Page 79: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

3 INTEGRALRECHNUNG FÜR ELEMENTARE FUNKTIONEN 79

also ∫sec3(t) dt =

1

2tan(t) sec(t) +

1

2

∫sec(t) dt.

Damit gilt∫ √x2 − 4 dx = 2 tan(t) sec(t) + 2

∫sec(t) dt− 4

∫sec(t) dt

= 2 tan(t) sec(t)− 2

∫sec(t) dt

Satz 18, 2.= 2 tan(t) sec(t)− 2 ln |sec(t) + tan(t)|+ C,

mit Integrationskonstante C ∈ R. Für die Rückstubstitution verwendenwir sec(t) = x

2 , tan(t) =√sec2(t)− 1 =

√x2

4 − 1 = 12

√x2 − 4:∫ √

x2 − 4 dx = 2 · 12

√x2 − 4 · x

2− 2 ln

∣∣∣∣x2 +1

2

√x2 − 4

∣∣∣∣+ C

=1

2x√x2 − 4− 2 ln

(∣∣x+√x2 − 4

∣∣2

)+ C

=1

2x√x2 − 4− 2 ln

∣∣∣x+√x2 − 4

∣∣∣+ 2 ln(2) + C

=1

2x√x2 − 4− 2 ln

∣∣∣x+√x2 − 4

∣∣∣+ C,

mit Integrationskonstante C := 2 ln(2) + C ∈ R.

3.2.3 Integration rationaler Funktionen durch Partialbruchzerlegungdes Integranden

Eine rationale Funktion ist nach MAE1, Def. 24, von der Form

f(x) =Z(x)

N(x),

wobei Z bzw. N Polynomfunktionen vom Grad deg(Z),deg(N) ∈ N0 sind, undN 6≡ 0. Im Fall Z ≡ N ′ können wir die Integration durch Substitution (t = N(x),dt = N ′(x) dx) verwenden:∫N ′(x)

N(x)dx =

∫N ′(x)

t

1

N ′(x)dt =

∫1

tdt = ln |t|+C = ln |N(x)|+C, C ∈ R.

Für die Integration von allen anderen rationalen Funktionen können wir die Par-tialbruchzerlegung des Integranden verwenden, die im Folgenden erklärt wird.

Partialbruchzerlegung Wir nehmen o. B. d. A. an, dass der Leitkoeffizientdes Nennerpolynoms N(x) = a0 + a1x + · · · + anx

n der rationalen Funktion f

Page 80: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

3 INTEGRALRECHNUNG FÜR ELEMENTARE FUNKTIONEN 80

an = 1 ist (ggf. Kürzen!). Gemäss MAE1, Satz 7, existiert eine Zerlegung vonN in Linearfaktoren und über R irreduzible quadratische Faktoren:

N(x) = (x− x1)j1 · · · (x− x`)j`(x2 + b1x+ c1

)k1 · · · (x2 + bmx+ cm)km

=∏i=1

(x− xi)jim∏i=1

(x2 + bix+ ci

)ki, (43)

mit x1, . . . , x`, b1, . . . , bm, c1, . . . , cm ∈ R, b2i − 4ci < 0, i = 1, . . . ,m, und mitj1, . . . , j`, k1, . . . , km ∈ N. Wir weisen darauf hin, dass die Berechnung dieserZerlegung im Allgemeinen ein schwieriges Problem ist.

Die Partialbruchzerlegung einer rationalen Funktion f(x) = Z(x)N(x) , wobei N

in der Form (43) vorliegt, ist gegeben durch

f(x) = p(x) +∑i=1

ji∑r=1

Air(x− xi)r

+

m∑i=1

ki∑r=1

Birx+ Cir(x2 + bix+ ci)

r (44)

= p(x) +

+A11

x− x1+

A12

(x− x1)2+ · · ·+ A1,j1

(x− x1)j1+

+A21

x− x2+

A22

(x− x2)2+ · · ·+ A2,j2

(x− x2)j2+

+ · · ·+

+A`,1x− x`

+A`,2

(x− x`)2+ · · ·+ A`,j`

(x− x`)j`+

+B11x+ C11

x2 + b1x+ c1+

B12x+ C12

(x2 + b1x+ c1)2 + · · ·+ B1,k1x+ C1,k1

(x2 + b1x+ c1)k1

+

+ · · ·+

+Bm,1x+ Cm,1x2 + bmx+ cm

+Bm,2x+ Cm,2

(x2 + bmx+ cm)2 + · · ·+ Bm,kmx+ Cm,km

(x2 + bmx+ cm)km,

mit noch zu bestimmenden Koeffizienten Air, Bir, Cir ∈ R, wobei p eine ganzra-tionale Funktion ist (möglicherweise die Nullfunktion). Die Ausdrücke

Air(x− xi)r

heissen Partialbrüche 1. Art, und die AusdrückeBirx+ Cir

(x2 + bix+ ci)r heissen Par-

tialbrüche 2. Art.Beispiele:

1. f(x) =3x3 − 5x2 + 18x− 7

x2 − 2x+ 2. Die Zerlegung des Nennerpolynoms ist ge-

geben durch

N(x) := x2 − 2x+ 2 = (x2 − 2x+ 2)1 (` = 0, m = 1, k1 = 1).

Die Partialbruchzerlegung der Funktion f ist daher von der Form

f(x) = p(x) +B11x+ C11

x2 − 2x+ 2,

Page 81: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

3 INTEGRALRECHNUNG FÜR ELEMENTARE FUNKTIONEN 81

mit ganzrationalem Anteil p und mit noch zu bestimmenden KoeffizientenB11, C11 ∈ R.

2. f(x) =3x2 − 5

x4 − 3x3 + 3x2 − x. Die Zerlegung des Nennerpolynoms ist gege-

ben durch

N(x) := x4 − 3x3 + 3x2 − x = x(x− 1)3 (` = 2, j1 = 1, j2 = 3, m = 0).

Die Partialbruchzerlegung der Funktion f ist daher von der Form

f(x) = p(x) +A11

x+

A21

x− 1+

A22

(x− 1)2 +

A23

(x− 1)3 ,

mit ganzrationalem Anteil p und mit noch zu bestimmenden KoeffizientenA11, A21, A22, A23 ∈ R.

Integration mithilfe der Partialbruchzerlegung Bevor wir die Bestim-mung der unbekannten Koeffizienten Air, Bir, Cir ∈ R behandeln, wollen wiruns davon überzeugen, dass die Integration der rationalen Funktion f(x) = Z(x)

N(x)

nach der Partialbruchzerlegung tatsächlich leichter ist.Der Einfachheit halber betrachten wir hier nur Nennerpolynome N , die über

R vollständig in Linearfaktoren zerfallen, d. h. solche mit m = 0. Mit anderenWorten: wir betrachten ausschliesslich Partialbrüche 1. Art. Die rationale Funk-tion f(x) =

Z(x)

N(x)habe also die Partialbruchzerlegung

f(x) = p(x) +∑i=1

ji∑r=1

Air(x− xi)r

, (45)

mit Air ∈ R und mit einer Polynomfunktion p. Dann gilt für das Integral nachder Summen- und der Faktorregel:∫

f(x) dx =

∫p(x) +

∑i=1

ji∑r=1

Air(x− xi)r

dx

=

∫p(x) dx+

∑i=1

ji∑r=1

Air

∫1

(x− xi)rdx.

Das erste Integral (mit Integrand p(x)) können wir mit der Faktor- und der Po-tenzregel berechnen. Für die restlichen Integrale verwenden wir die Substitutiont = x− xi, dx = dt und dann ebenfalls die Potenzregel:∫

1

(x− xi)rdx =

∫1

trdt =

∫t−r dt =

{t−r+1

−r+1 + C, r > 1

ln |t|+ C, r = 1

=

{− 1

(r−1)(x−xi)r−1 + C, r > 1

ln |x− xi|+ C, r = 1, C ∈ R.

Page 82: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

3 INTEGRALRECHNUNG FÜR ELEMENTARE FUNKTIONEN 82

Das Integral ist also gegeben durch∫f(x) dx =

∫p(x) dx+

∑i=1

(Ai1 ln |x− xi| −

ji∑r=2

Air

(r − 1) (x− xi)r−1

).

Beispiele:

1. Die Partialbruchzerlegung der unecht gebrochenrationalen Funktion f(x) =3x3 − 5x2 + 18x− 7

x2 − 2x+ 2enthält Partialbrüche 2. Art, die wir hier nicht weiter

betrachten wollen.

2. Das Integral der echt gebrochenrationalen Funktion f(x) =3x2 − 5

x4 − 3x3 + 3x2 − xist gegeben durch∫

f(x) dx =

∫p(x) dx+A11 ln |x|+A21 ln |x− 1| − A22

x− 1− A23

2 (x− 1)2 ,

wobei die Koeffizienten A11, A21, A22, A23 ∈ R und die Polynomfunktionp noch zu bestimmen sind.

Bestimmung der Koeffizienten der Partialbruchzerlegung Zunächstwird mittels Polynomdivision mit Rest der ganzrationale Anteil p der rationalenFunktion f(x) = Z(x)

N(x) bestimmt:

Z(x)

N(x)= p(x) +

Z(x)

N(x), 0 ≤ deg(Z) < deg(N).

Der direkte Weg zur Bestimmung der Koeffizienten Air, Bir, Cir ist das Multi-plizieren mit dem Nennerpolynom auf beiden Seiten der Gleichung (44):

Z(x)

N(x)=∑i=1

ji∑r=1

Air(x− xi)r

+

m∑i=1

ki∑r=1

Birx+ Cir(x2 + bix+ ci)

r

∣∣∣ ·N(x)

Z(x) =∑i=1

ji∑r=1

N(x)Air(x− xi)r

+

m∑i=1

ki∑r=1

N(x) (Birx+ Cir)

(x2 + bix+ ci)r . (46)

Auf beiden Seiten der Gleichung (46) stehen Polynomfunktionen, die in Stan-dardform gebracht werden können. Durch Koeffizientenvergleich erhalten wirschliesslich ein lineares Gleichungssystem für die unbekannten Koeffizienten.Beispiele:

1. Für die unecht gebrochenrationale Funktion f(x) =3x3 − 5x2 + 18x− 7

x2 − 2x+ 2verwenden wir die Polynomdivision mit Rest, um den ganzrationalen An-

Page 83: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

3 INTEGRALRECHNUNG FÜR ELEMENTARE FUNKTIONEN 83

teil p zu bestimmen:

3x3 − 5x2 + 18x − 7 : x2 − 2x+ 2 = 3x+ 1 + 14x−9x2−2x+2

3x3 − 6x2 + 6xx2 + 12x − 7x2 − 2x + 2

14x − 9

Damit erhalten wir p(x) = 3x + 1 und Z(x) = 14x − 9. Mit der vorherberechneten Partialbruchzerlegung gilt also

14x− 9

x2 − 2x+ 2=B11x+ C11

x2 − 2x+ 2.

Die Werte der Koeffizienten B11 = 14 und C11 = −9 können wir jetztdirekt ablesen.

2. Für die echt gebrochenrationale Funktion f(x) =3x2 − 5

x4 − 3x3 + 3x2 − xgilt

p ≡ 0 und damit Z(x) = 3x2 − 5. Mit der vorher berechneten Partial-bruchzerlegung erhalten wir

3x2 − 5

x (x− 1)3 =

A11

x+

A21

x− 1+

A22

(x− 1)2 +

A23

(x− 1)3 .

Multiplizieren mit dem Nennerpolynom auf beiden Seiten führt auf

3x2 − 5 = A11 (x− 1)3+A21x (x− 1)

2+A22x (x− 1) +A23x

= (A11 +A21)x3 + (A22 − 2A21 − 3A11)x

2 +

+(3A11 +A21 −A22 +A23)x−A11.

Ein Koeffizientenvergleich führt auf das folgende lineare Gleichungssystemfür die unbekannten Koeffizienten:

1 1 0 0−3 −2 1 03 1 −1 1−1 0 0 0

A11

A21

A22

A23

=

030−5

,

mit Lösung A11 = 5, A21 = −5, A22 = 8, A23 = −2. Die Partialbruchzer-legung von f ist also gegeben durch

f(x) =3x2 − 5

x4 − 3x3 + 3x2 − x=

5

x− 5

x− 1+

8

(x− 1)2 −

2

(x− 1)3 .

Damit erhalten wir das unbestimmte Integral∫3x2 − 5

x4 − 3x3 + 3x2 − xdx = 5 ln |x| − 5 ln |x− 1| − 8

x− 1+

2

2 (x− 1)2 + C

= 5 ln

∣∣∣∣ x

x− 1

∣∣∣∣− 8

x− 1+

1

(x− 1)2 + C

= 5 ln

∣∣∣∣ x

x− 1

∣∣∣∣− 8x− 9

x2 − 2x+ 1+ C, C ∈ R.

Page 84: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

3 INTEGRALRECHNUNG FÜR ELEMENTARE FUNKTIONEN 84

Beispiele Wir rechnen noch zwei weitere Beispiele:

1.∫

22x− 26

2x2 − 8dx =

∫11x− 13

x2 − 4dx. Wir haben mit 2 gekürzt, damit der

Leitkoeffizient des Nennerpolynoms 1 ist.

(a) Zerlegung des Nennerpolynoms in Linearfaktoren:

N(x) := x2 − 4 = (x+ 2)(x− 2),

mit zwei Linearfaktoren, die jeweils Vielfachheit 1 haben.

(b) Allgemeine Form der Partialbruchzerlegung:

11x− 13

x2 − 4= p(x) +

A11

x+ 2+

A21

x− 2.

(c) Bestimmung von p und der Koeffizienten A11, A21:

• Die echt gebrochenrationale Funktion hat keinen ganzrationalenAnteil, p ≡ 0.

• Multiplizieren mit N führt auf

11x−13 = A11(x−2)+A21(x+2) = (A11 +A21)x−2A11+2A21.

Wir erhalten das folgende lineare Gleichungssystem für die un-bekannten Koeffizienten:(

1 1−2 2

)(A11

A21

)=

(11−13

),

mit Lösungen A11 = 354 , A21 = 9

4 . Also ist die Partialbruchzerle-gung des Integranden gegeben durch

11x− 13

x2 − 4=

35

4 (x+ 2)+

9

4 (x− 2).

(d) Integrieren der Partialbrüche: Wir erhalten∫11x− 13

x2 − 4dx =

35

4ln |x+ 2|+ 9

4ln |x− 2|+ C, C ∈ R.

2.∫

2x2 − x+ 4

x3 + 4x2 − 3x− 18dx.

(a) Zerlegung des Nennerpolynoms in Linearfaktoren:

N(x) := x3 + 4x2 − 3x− 18 = (x− 2)(x+ 3)2,

mit zwei Linearfaktoren, wobei einer Vielfachheit 1 und der andereVielfachheit 2 haben.

Page 85: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

3 INTEGRALRECHNUNG FÜR ELEMENTARE FUNKTIONEN 85

(b) Allgemeine Form der Partialbruchzerlegung:

2x2 − x+ 4

x3 + 4x2 − 3x− 18= p(x) +

A11

x− 2+

A21

x+ 3+

A22

(x+ 3)2 .

(c) Bestimmung von p und der Koeffizienten A11, A21, A22:• Die echt gebrochenrationale Funktion hat keinen ganzrationalen

Anteil, p ≡ 0.• Multiplizieren mit N führt auf

2x2 − x+ 4 = A11(x+ 3)2 +A21(x− 2)(x+ 3) +A22(x− 2)

= (A11 +A21)x2 + (6A11 +A21 +A22)x+

+9A11 − 6A21 − 2A22.

Durch Koeffizientenvergleich erhalten wir das folgende lineareGleichungssystem für die unbekannten Koeffizienten: 1 1 0

6 1 19 −6 −2

A11

A21

A22

=

2−14

,

mit Lösungen A11 = 25 , A21 = 8

5 , A22 = −5. Also ist die Partial-bruchzerlegung des Integranden gegeben durch

2x2 − x+ 4

x3 + 4x2 − 3x− 18=

2

5 (x− 2)+

8

5 (x+ 3)− 5

(x+ 3)2 .

(d) Integrieren der Partialbrüche: Wir erhalten∫2x2 − x+ 4

x3 + 4x2 − 3x− 18dx =

2

5ln |x− 2|+ 8

5ln |x+ 3|+ 5

x+ 3+ C,

mit Integrationskonstante C ∈ R.

3.3 Flächeninhalt zwischen zwei KurvenIm Kap. 1.2.2 haben wir das bestimmte Integral von f über dem Intervall [a, b]konstruiert als den Flächeninhalt zwischen der x-Achse und dem Graphen derFunktion f , wobei Flächenanteile oberhalb der x-Achse positiv und Flächenan-teile unterhalb der x-Achse negativ beitragen.

Beispiel:2π∫0

cos(x) dx = sin(x)|2π0 = sin(2π) − sin(0) = 0. Wir können dieses

Integral in drei Beiträge aufteilen:

2π∫0

cos(x) dx =

π/2∫0

cos(x) dx

︸ ︷︷ ︸=:A1

+

3π/2∫π/2

cos(x) dx

︸ ︷︷ ︸=:−A2

+

2π∫3π/2

cos(x) dx

︸ ︷︷ ︸=:A3

.

Page 86: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

3 INTEGRALRECHNUNG FÜR ELEMENTARE FUNKTIONEN 86

0 0.5 1 1.5 2

x/π

-1

-0.5

0

0.5

1

y

y = cos(x)

y = | cos(x)|

Mit den Stammfunktionen der Kosinusfunktion (Satz 16) berechnen wir

A1 = sin(x)|π/20 = sin(π2

)− sin(0) = 1,

A2 = − sin(x)|3π/2π/2 = −(sin

(3π

2

)− sin

(π2

))= 2,

A3 = sin(x)|2π3π/2 = sin(2π)− sin

(3π

2

)= 1,

und es gilt tatsächlich2π∫0

cos(x) dx = A1 −A2 +A3 = 0.

In diesem Beispiel trägt der Flächenanteil A2 = 2 negativ bei, weil er unter-halb der x-Achse liegt. Oft ist jedoch die zwischen dem Graphen einer Funktionund der x-Achse eingeschlossene Fläche von Interesse, d. h. für dieses Beispieldie Fläche A1 + A2 + A3 = 4. Hier trägt auch der Flächeninhalt unterhalb derx-Achse positiv bei, was wir schreiben können als

2π∫0

| cos(x)|dx = A1 +A2 +A3 = 4.

Im Allgemeinen ist der Inhalt der zwischen dem Graphen einer Funktion f undder x-Achse eingeschlossenen Fläche im Intervall [a, b] gegeben durch

A =

b∫a

|f(x)| dx. (47)

Für die Berechnung des Flächeninhalts A muss man die Schnittpunkte des Gra-phen mit der x-Achse (d. h. die Nullstellen von f) finden und das Integral inmehrere Beiträge aufteilen.

Page 87: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

3 INTEGRALRECHNUNG FÜR ELEMENTARE FUNKTIONEN 87

Die Verallgemeinerung auf den Inhalt der zwischen den Graphen zweierFunktionen f1 und f2 eingeschlossenen Fläche im Intervall [a, b] ist jetzt ein-fach: dieser ist gegeben durch

A =

b∫a

|f2(x)− f1(x)| dx. (48)

Für den Spezialfall f1(x) = 0 erhalten wir den Inhalt der zwischen dem Graphender Funktion f2 und der x-Achse eingeschlossenen Fläche.

Zur Berechnung von A muss man die Nullstellen der Funktion f2(x)− f1(x)finden, d. h. die Schnittpunkte der beiden Graphen bestimmen.Beispiele:

1. Flächeninhalt zwischen der Parabel y = f2(x) := − 12x

2 + 6 und der Ge-raden y = f1(x) =

32x + 2 im Bereich zwischen den Schnittpunkten. Wir

berechnen zuerst die Schnittpunkte aus der quadratischen Gleichung

f2(x)− f1(x) = −1

2x2 − 3

2x+ 4 = 0,

mit Lösungen x1,2 = − 32 ∓

√412 . Als nächstes müssen wir das Vorzeichen

von f2(x) − f1(x), x ∈ (x1, x2), bestimmen. Dazu werten wir die beidenFunktionen f1 und f2 an einer beliebigen Stelle im Intervall (x1, x2) aus,z. B. bei x = 0:

f1(0) = 2, f2(0) = 6 ⇒ f2(x)− f1(x) > 0, x ∈ (x1, x2) .

Der zwischen den Graphen eingeschlossene Flächeninhalt ist also gegebendurch

A =

x2∫x1

|f2(x)− f1(x)| dx =

− 32+√

412∫

− 32−√

412

−1

2x2 − 3

2x+ 4dx

=

(−1

6x3 − 3

4x2 + 4x

)∣∣∣∣− 32+√

412

− 32−√

412

=41√41

12' 21.9.

-5 -4 -3 -2 -1 0 1 2

x

-6

-4

-2

0

2

4

6

y

y = f1(x) =3

2x+ 2

y = f2(x) = −

1

2x2 + 6

Page 88: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

3 INTEGRALRECHNUNG FÜR ELEMENTARE FUNKTIONEN 88

2. Flächeninhalt eines Kreises mit Radius R > 0. Der Kreis ist gegebendurch die Punkte (x, y) ∈ R2 mit x2 + y2 = R2. Wir beschränken uns aufden 1. Quadranten, d. h. x, y > 0. Der Viertelkreis ist gegeben durch dieFunktion y =

√R2 − x2, x ∈ [0, R]. Der Flächeninhalt des Vollkreises ist

daher gegeben durch

A = 4

R∫0

√R2 − x2 dx.

Dies ist ein Integral vom Typ D mit a = R, also verwenden wir die Sub-stitution x = R sin(t), t = arcsin

(xR

), dx = R cos(t) dt:

A = 4

R∫0

√R2 − x2 dx = 4

arcsin(1)∫arcsin(0)

√R2 −R2 sin2(t)R cos(t) dt

= 4R2

π/2∫0

√1− sin2(t) cos(t) dt = 4R2

π/2∫0

cos2(t) dt

︸ ︷︷ ︸=:I

.

Das Integral I berechnen wir mit partieller Integration, u(t) = cos(t),u′(t) = − sin(t), v′(t) = cos(t), v(t) = sin(t) (Integrationskonstanten 0):

I =

π/2∫0

cos(t) cos(t) dt = (sin(t) cos(t))|π/20 +

π/2∫0

sin2(t) dt

Satz 15, 6.= 0 +

π/2∫0

1− cos2(t) dt = x|π/20 − I =π

2− I.

Daraus folgern wir, dass 2I = π2 oder I = π

4 . Für den Flächeninhalt desKreises mit Radius R > 0 erhalten wir also

A = 4R2I = 4R2π

4= πR2,

wie erwartet.

3. Flächeninhalt eines Sektors der Einheitshyperbel in 1. Hauptlage. Füreinen Punkt (x0, y0) mit x0, y0 > 0 und x20 − y20 = 1 definieren wir diefolgenden Funktionen, welche die obere Hälfte der gesuchten Fläche be-grenzen:

f1(x) :=y0x0x, f2(x) :=

{0, 0 ≤ x < 1√x2 − 1, x ≥ 1

.

Page 89: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

3 INTEGRALRECHNUNG FÜR ELEMENTARE FUNKTIONEN 89

0 1 x0

x

0

y0

y

y = f1(x) =y0

x0

x

y = f2(x) =

{

0, 0 ≤ x ≤ 1√

x2 − 1, x ≥ 1

Die Schnittpunkte der beiden Graphen sind gegeben durch (0, 0) und(x0, y0), und es gilt offensichtlich f1(x) > f2(x), x ∈ (0, x0). Der halbeFlächeninhalt des Hyperbelsektors ist also gegeben durch das Integral

A

2=

x0∫0

|f2(x)− f1(x)| dxSatz 3, 5.

=

1∫0

y0x0x− 0 dx+

x0∫1

y0x0x−

√x2 − 1 dx

=

1∫0

y0x0x dx+

x0∫1

y0x0x dx

︸ ︷︷ ︸=:I1

−x0∫1

√x2 − 1 dx

︸ ︷︷ ︸=:I2

.

Das Integral I1 berechnen wir mit den Faktor-, Summen- und Potenzre-geln:

I1 =y0x0

x0∫0

x dx =y0x0

x2

2

∣∣∣∣x0

0

=y0x0

(x202− 0

)=

1

2x0y0.

Zur Berechnung von I2 (Typ F mit a = 1) verwenden wir die Substitutionx = cosh(t), t = arcosh(x), dx = sinh(t) dt:

I2 =

x0∫1

√x2 − 1 dx =

arcosh(x0)∫0

√cosh2(t)− 1 sinh(t) dt

Satz 21, 4.=

arcosh(x0)∫0

sinh2(t) dt.

Page 90: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaftendublin.zhaw.ch/~kirs/MAE2/FS17/MAE2Notes.pdf · 2017. 5. 30. · 0 ÜBERBLICK 2 2.4.2 Umkehrfunktionen(Areafunktionen) . . .

LITERATUR 90

Jetzt verwenden wir partielle Integration mit u(t) = v′(t) = sinh(t),u′(t) = v(t) = cosh(t):

I2 =

arcosh(x0)∫0

sinh(t)↑

sinh(t)↓

dt

= (sinh(t) cosh(t))|arcosh(x0)0 −

arcosh(x0)∫0

cosh2(t) dt

Satz 21, 4.= sinh (arcosh(x0))x0 − 0−

arcosh(x0)∫0

1 + sinh2(t) dt

Satz 26, 4.=

√x20 − 1x0 −

arcosh(x0)∫0

1 dt− I2

x20−1=y

20= x0y0 − arcosh(x0)− I2.

Daraus folgern wir, dass 2I2 = x0y0 − arcosh(x0) oder

I2 =1

2x0y0 −

1

2arcosh(x0).

Jetzt erhalten wir den halben Flächeninhalt des Hyperbelsektors:

A

2= I1 − I2 =

1

2x0y0 −

(1

2x0y0 −

1

2arcosh(x0)

)=

1

2arcosh(x0).

Also ist die Fläche des vollen Hyperbelsektors gegeben durchA = arcosh(x0),und damit gilt tatsächlich

x0 = cosh(A), y0 =√x20 − 1 =

√cosh2(A)− 1 = sinh(A)

(vgl. S. 60).

Literatur[1] R. Courant: Vorlesungen über Differential- und Integralrechnung (2 Bände);

Springer

[2] K. Jänich: Mathematik (2 Bände); Springer

[3] K. Meyberg, P. Vachenauer: Höhere Mathematik (2 Bände); Springer

[4] L. Papula: Mathematik für Ingenieure und Naturwissenschaftler (3 Bände);Vieweg & Teubner