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Arbeiten zur Praktischen Theologie Ina Schaede Bildung und Würde Religionspädagogische Reflexionen im interdisziplinären Kontext

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APrTh52

Arbeiten zur Praktischen Theologie

Ina Schaede

Bildung und Würde

Religionspädagogische Reflexionen im interdisziplinären Kontext

9 783374 031818EUR 68,00 [D]

ISBN 978-3-374-03181-8

Was verdient Würde genannt zu werden? Wie ist Bildung auf Würde zu beziehen? Es zeigt sich: Weder kann ein unmittelbarer Rechts-anspruch auf Bildung aus dem Menschenwürdeprinzip abgeleitet werden, noch kann die Gottebenbildlichkeitsfigur als Begründung von Würde und Bildung im interdisziplinären Diskurs überzeugen. Allerdings lassen sich für einen vermittelten Zusammenhang von Würde und Bildung drei Begründungsmodelle identifizieren. Vor diesem Hintergrund untersucht diese Studie kritisch den Umgang mit der Würdethematik unter anderem in der Schulbuchliteratur und im EKD-Kerncurriculum. Es werden Kriterien zur kompetenz-orientierten Auswahl von Inhalten entwickelt. Eine Synopse mit Auswertungsinterpretation dient der sachgerechten und didak-tischen Orientierung.

Bildung und Würde

Arbeiten zur Praktischen Theologie

Herausgegeben von Wilfried Engemann, Christian Grethlein und Jan Hermelink

Band 52

Ina Schaede

Bildung und WürdeReligionspädagogische Reflexionen im

interdisziplinären Kontext

Ina Schaede, Jahrgang 1979, studierte Evangelische Theologie und ist derzeit Vikarin der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. Von 2009 bis 2012 war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin mit den Forschungsschwerpunkten Menschenwürde, Bildung und Kindheitsforschung am Lehrstuhl für Religionspäd-agogik der Universität Heidelberg. Die Autorin wurde mit dieser Arbeit im Jahr 2012 von der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg promoviert.

Bibliographische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Datensind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2014 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · LeipzigPrinted in Germany · H 7731

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Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.

Cover: Jochen Busch, LeipzigSatz: Sabine Ufer, LeipzigDruck und Binden: Hubert & Co., Göttingen

ISBN 978-3-374-03181-8www.eva-leipzig.de

Danksagung

Die vorliegende Arbeit wurde von der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg im Sommersemester 2012 als Dissertationsschrift angenommen.

Mein herzlichster Dank gilt den beiden Gutachtern Prof. Dr. Ingrid Schoberth und Prof. Dr. Dr. Dres. h. c. Michael Welker für die Durchsicht der Arbeit. Ich danke Prof. Dr. Ingrid Schoberth für den inspirierenden Aus-tausch, der nicht zuletzt in einem Seminar mit Prof. Dr. Christoph Bizer in Heidelberg begonnen hatte. Die Anstellung als wissenschaftliche Mitarbeite-rin ermöglichte mir eine konzentrierte Auseinandersetzung mit dem Thema. Prof. Dr. Dr. Dres. h. c. Michael Welker verdanke ich bereits seit Studienzei-ten die Faszination für die Theologie als Wissenschaft. Prof. Dr. Gerhard Dannecker danke ich nicht nur für die fachliche Beratung aus rechtswissen-schaftlicher Perspektive, sondern auch freundschaftliche Unterstützung. Im Rahmen meiner Stipendiatenzeit in dem von der Deutschen Forschungsge-meinschaft geförderten Graduiertenkolleg »Menschenrechte und Menschen-würde« in Erfurt und Jena danke ich dem interdisziplinären Forschungsteam unter der Leitung von Prof. Dr. Dr. h. c. Hans Joas und Prof. Dr. mult. Niko-laus Knoepffler für den kritischen Diskurs und die vielfältigen Anregungen. Prof. Dr. Martin Leiner danke ich für die Beratung aus dem theologischen Fachbereich im Rahmen des Kollegs. Nicht nur in der Jenaer Zeit gilt mein Dank Prof. Dr. Michael Wermke für zahlreiche Hinweise, die unter anderem zur Schulbuchanalyse führten. Prof. Dr. Philipp Stoellger und Franziska Sto-ellger sowie Prof. Dr. Kumlehn danke ich für die Begleitung in der Endphase der Arbeit. Prof. Dr. Volker Küster und Prof. Dr. Dorothea Erbele-Küster danke ich für die Unterstützung insbesondere in der Anfangsphase der Arbeit. Den Herausgebern der Arbeiten zur Praktischen Theologie Prof. Dr. Jan Herme-link, Prof. Dr. Wilfried Engemann und insbesondere Prof. Dr. Christian Greth-lein verdanke ich die kritische Durchsicht der Arbeit und ihre Aufnahme.

Mein besonderer Dank lange über die Arbeit hinaus gilt Dr. Stephan Schaede.

Der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers verdanke ich die großzügige finanzielle Förderung dieses Buchs.

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

1 Das Problemfeld der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171.1 Die Orientierung an Kant im theologischen Diskurs

über Würde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171.2 Die Problematik der fehlenden Reaktion auf Kants

Würdeverständnis in der Theologie des 19. Jahrhunderts . . . . . 191.3 Die späte Rezeption der Würdefrage in der evangelischen

Theologie des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241.4 Würde zwischen rechtlichem Gehalt und theologisch-

philosophischen Traditionsbeständen. Ein interdisziplinäres Präzisierungsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . 31

2 Fragestellung, These und Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

Kapitel I: Rechtliche Bestimmungsversuche von »Menschenwürde« – kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Bildung. Erstes kritisches Ergebnis . . . . . . 37

1 Die fehlende religionspädagogische Rezeption von Menschenwürde als Rechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

2 Implikationen der Heterogenität des Ausdrucks Würde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

2.1 Der negative Würdebegriff: Die Bestimmung der Menschenwürde von Verletzungsvorgängen her in heuristischer Erprobung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

2.2 Der positiv bestimmte Ausdruck: Würde – was ist das? . . . . . . . 492.2.1 »Würdekonzeptionen« am Beispiel unterschiedlicher

juristischer Lesarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512.2.2 Die »dreifache Wurzel« der Menschenwürde als

rechtshistorische Konstruktionsfigur – erste Sichtungen . . . . . . 542.2.3 Die Mitgift-, Leistungs- und Kommunikationstheorie

von Würde – Vertiefungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

8 Inhalt

3 Menschenwürde als Rechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683.1 Rechtscharakter: wechselseitige Ausstrahlung statt

Deduktion von Menschenwürde und nachfolgenden Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

3.2 Schutzbereich und Trägerschaft der Menschenwürde . . . . . . . . . 724 Konkretisierungen der Menschenwürde

durch Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 774.1 (Religions-)Pädagogischer Irrtum: Keine Deduktion

eines »Grundrechts auf Bildung« aus Menschenwürde . . . . . . . . 774.2 Ausprägungen der Menschenwürdegarantie . . . . . . . . . . . . . . . . 795 Menschenwürde und Bildung – eine »kritische« Klärung . . . . . . 875.1 Das soziale Recht auf Bildung ausgehend von der

Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) . . . . . . . . . 875.2 Die Vorannahme eines Zusammenhangs von

Würde und Bildung – ein Konstruktionsversuch ausgehend von dem Prinzipien-Regel-Modell von Ronald Dworkin und Robert Alexy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

5.2.1 Das Prinzipien-Regel-Modell nach Dworkin . . . . . . . . . . . . . . . . . 895.2.2 Prinzipien als Optimierungsgebote nach Alexy . . . . . . . . . . . . . . 955.2.2.1 Zum Begriff der Grundrechtsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 955.2.2.2 Zur Struktur der Grundrechtsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 975.2.2.3 Die Menschenwürde-Norm als Prinzip und Regel –

ihr geschützter und schützender Doppelcharakter . . . . . . . . . . . 975.2.3 Menschenwürde als Optimierungsgebot und

die Frage nach Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 996 Zusammenfassung rechtlicher Bestimmungen und

Konsequenzen: Erste kritische Klärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

Kapitel II: Positive Bestimmungsversuche von »Bildung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

1 Hinführung: Die Begründung von Menschenwürde und Bildung durch Gottebenbildlichkeit – eine tautologische Figur als Beispiel für die Schwierigkeit von positiven Bestimmungsversuchen von Bildung . . . . . . . . . . 109

2 Zur Struktur positiver Bestimmungsversuche: der hermeneutische, empirische und »kritisch-konstruktive« Zugang in der interdisziplinären Bildungsforschung . . . . . . . . . . 113

9Inhalt

2.1 Drei Zugänge und das Verhältnis von allgemeiner und religiöser Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

2.2 Der historisch-hermeneutische Zugang: Die Verbindung von Gottebenbildlichkeit und Bildung und ihre Ausprägungen in der neueren Theologiegeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

2.2.1 Autarkieverhältnis: Im Diskurs mit der Theologie . . . . . . . . . . . . 1212.2.2 Gottebenbildlichkeit und Bildung in ihrer

religionspädagogischen Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1222.2.3 Die Verbindung von Gottebenbildlichkeit und Bildung

in der systematischen Theologie des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . 1252.2.4 Glaube und Bildung (Emil Brunner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1262.2.5 Evangelium und Bildung (Karl Barth) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1322.2.6 Religion und Bildung (Wolfhart Pannenberg) . . . . . . . . . . . . . . . . 1352.2.7 Person und Bildung (Ingolf U. Dalferth und

Eberhard Jüngel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

Exkurs: Die Ideen der »Ganzheit« und »Persönlich­keitsentfaltung« im Zusammenhang mit dem »klassischen« Bildungsbegriff bei Johann Amos Comenius und Wilhelm von Humboldt . . . . . 142

2.3 Der empirisch-analytische Zugang: Empirische Bildungsforschung in den neueren Erziehungswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

2.3.1 Dominanzverhältnis: Im Diskurs mit den Erziehungswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

2.3.2 Bildung als Zugang zu unterschiedlichen Modi der Welterfahrung (Jürgen Baumert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

2.3.3 Handlungsfähigkeit als Ausgangspunkt einer Allgemeinen Pädagogik: zur Theorie einer nicht-affirmativen Bildung (Dietrich Benner) . . . . . . . . . . . . . . . . 159

2.3.4 Weitgehender Verzicht auf positive Bestimmungsversuche von allgemeiner Bildung (Heinz-Elmar Tenorth) . . . . . . . . . . . . . 170

2.4 Der »kritisch-konstruktive Zugang«: Wolfgang Klafkis Theorie der Allgemeinbildung und ihre religions - päd agogische Weiterführung durch Karl Ernst Nipkow und Peter Biehl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

10 Inhalt

2.4.1 Konvergenzverhältnis: Das interdisziplinäre Streitgespräch zwischen Erziehungswissenschaften und Religionspädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

2.4.2 Bildung als Interaktion von Individuum und Gesellschaft im Anschluss an John Deweys Erziehungsphilosophie: Klafkis »kritisch- konstruktive« Bildungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

2.4.3 Allgemeine und religiöse Bildung vor der Herausforderung gemeinsamer Schlüssel- probleme (Karl Ernst Nipkow) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180

2.4.4 Theologisch bestimmte Bildung (Peter Biehl) . . . . . . . . . . . . . . . . 1843 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

Kapitel III: Würde und Bildung – drei »Begründungsmodelle« und zweites kritisches Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196

1 Ausdruck Würde und Bildung: Passepartout für subjektive Wertungen aller Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196

2 Konsequenzen: Systematisierung von Teilgehalten von Würde im Blick auf Bildung mit Hilfe von drei Modellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

2.1 Erstes Modell: Das mitgifttheoretische Verständnis von Würde und Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

2.1.1 Würde und Bildung und die Idee des Unverfügbaren im Horizont von Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

2.1.2 Die unverfügbare Würde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2052.1.2.1 Der Gedanke der Unverfügbarkeit des Menschen

in Luthers Freiheitsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2052.1.2.2 Der Gedanke der Unverfügbarkeit in Kants

Würdeverständnis: Die Ehrfurcht und Achtung der Würde in die Ausübung bringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

2.1.2.3 Zwischenresümee: Die unverfügbare Würde . . . . . . . . . . . . . . . . 2122.1.3 Die unverfügbare Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2122.1.3.1 Bildung als Praxis der Erinnerung (memoria) . . . . . . . . . . . . . . . 2122.1.3.2 Zwischenresümee: Die unverfügbare Bildung . . . . . . . . . . . . . . . 2222.2 Zweites Modell: Das leistungstheoretische

Verständnis von Würde und Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224

11Inhalt

2.2.1 Würde und Bildung und die Idee von Entwurfvermögen und Selbstdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224

2.2.2 Giovanni Pico della Mirandola und die »Erfindung« der Würde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

2.2.3 Niklas Luhmann: Würde als leistungsgebundene Selbstdarstellung im Kontext eines den leistungstheoretischen Ansatz irritierenden Doppelcharakters von Würde . . . . . . . . . . . 231

2.3 Drittes Modell: Das kommunikationstheoretische Verständnis von Würde und Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238

2.3.1 Würde und Bildung in sozialen Anerkennungsprozessen . . . . . . 2382.3.2 Jürgen Habermas: Gattungs- und Subjektwürde

in reziproken Anerkennungsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2382.3.3 Religionspädagogische Rezeption der

Kommunikationstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2402.3.4 Rezeption der Kommunikationstheorie im Blick auf Bildung . . . 2432.3.5 Kommunikation als Aufgabe der »Öffentlichen Theologie« . . . . . 2443 Zusammenfassung und Konsequenzen:

Zweite kritische Klärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

Kapitel IV: Würde in »Schulbüchern« – eine qualitative Inhaltsanalyse aus gewählter Lehr­ und Lernmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254

1 Die Dokumentationsasymmetrie zwischen behaupteter Relevanz der Würde und fehlender Würdethematik in den Schul- und Lehrerhandbüchern . . . . . . . 254

2 »Würde« in ev. Religionsbüchern der gym nasialen Oberstufe in Baden-Württemberg – Beispiel für ein reduktionistisches Würde- und Bildungsverständnis . . . . . . . . . 257

2.1 Die späte »Entdeckung« des Würdethemas in den Religionsbüchern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

2.2 Grundlegung zum methodischen Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2592.2.1 Qualitative Inhaltsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2592.2.2 Fragestellung und Auswahl des Materials . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2632.2.3 Zur Mischform der deduktiven und induktiven

Kategorienbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2683 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2704 Auswertung und Beurteilung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . 283

12 Inhalt

4.1 Einfache Häufigkeitsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2834.2 Qualitative Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2854.2.1 Das Begründungsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2854.2.2 Das Extensionsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2864.2.3 Das Extensionsproblem im Blick auf bioethische

Konfliktfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2874.2.4 Menschenbildformel als Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2894.2.5 Konsequenzen aus der Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2925 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294

Kapitel V: Ausgewählte »Inhalte« und »Kompetenzen« im Themenbereich Würde – religions­ pädagogische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

1 Zur Verbindung von Kompetenzen und ausgewählten Inhalten als grundlegende Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

2 Der Kompetenzbegriff in den Erziehungs wissenschaften . . . . . . 2992.1 Der gegenwärtige sozial- und erziehungswissen schaftliche

Kompetenzdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2992.2 »Klassischer« Kompetenzbegriff: zur Pädagogischen

Anthropologie Heinrich Roths . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3022.2.1 Die religionspädagogische Rezeption Roths durch

Hans-Bernhard Kaufmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3022.3 Menschenwürde und das Recht auf freie

Persönlichkeitsentfaltung als Begründung von Kompetenzen bei Roth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304

2.4 Der dreifache Kompetenzbegriff Roths: Selbst-, Sach- und Sozialkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309

2.4.1 Die Entwicklung zur Mündigkeit durch Selbstkompetenz . . . . . 3092.4.2 Die Entwicklung zur Mündigkeit durch Sachkompetenz . . . . . . 3102.4.3 Die Entwicklung der Mündigkeit durch Sozialkompetenz . . . . . 3113 Der Kompetenzbegriff in der

Religionspädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3134 Kompetenzen und Inhalte im Themenbereich »Würde«

nach dem EKD-Kerncurriculum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3184.1 Menschenwürde als eigener kerncurricularer

Themenbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3184.2 Kritische Beurteilung in fünf Aspekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319

13Inhalt

4.2.1 Überschriften: die «Anwendungsfalle» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3204.2.2 Thematischer Fokus: Die Absolutsetzung

der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3214.2.3 Auswahl von Basistexten: ein semantischer Konturverlust . . . . 3224.2.4 Kompetenzen: Kausalitätsdenken als Sackgasse . . . . . . . . . . . . . 3234.2.5 Situation und Herausforderungen: ein Selbstwiderspruch . . . . . 3255 Drei Kriterien zur kompetenzorientierten Auswahl

von Inhalten in der komplexen Würdethematik . . . . . . . . . . . . . . 3265.1 Didaktische Orientierung mit Hilfe der Kriterien . . . . . . . . . . . . 3265.2 Erstes Kriterium: Heterogenität des Ausdrucks Würde . . . . . . . 3275.3 Zweites Kriterium: Kontextualisierung

des Würdeanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3295.4 Drittes Kriterium: Systematisierung

der Leistungsfähigkeit der Würdegarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3306 Ausgewählte Inhalte, Beispiele und Kompetenzen

im Themenbereich Würde – Synopse zur didaktischen Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332

6.1 Was verdient Würde genannt zu werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3326.2 Synopse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3346.3 Auswertung der Synopse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3416.4 Der kritische Umgang mit Interdisziplinarität als

wissenschaftspropädeutische Bildungsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . 343

Zusammenfassung und Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363

Einleitung

»Bildung« und »Menschenwürde« werden insbesondere in religionspäda-gogischen und erziehungswissenschaftlichen Zusammenhängen häufig in einem Atemzug genannt. Oft und gerne wird so in allen möglichen Fragen menschlichen Lebens von der »Würde des Menschen« und der Aktualität und Dringlichkeit der damit verbundenen »Bildungsaufgabe« gesprochen. Ein unmittelbarer Zusammenhang von Menschenwürde und Bildung als »ak-tuelle Herausforderung« ist an prominenter Stelle jüngst erneut vertreten worden.1 Es scheint auf der Hand zu liegen, dass bei dem behaupteten Zu-sammenhang weniger mit der Begründungs- als mit einer »Realisierungs-problematik« zu rechnen ist: Menschenwürde solle dazu dienen, die prakti-sche Gewährleistung von Bildungsrechten im Sinne der Chancengleichheit zu garantieren, an der es laut Bildungsforschung in der Bundesrepublik Deutschland am meisten mangele.2 Dabei ist der behauptete Zusammenhang zwischen Würde und Bildung bisher kaum ernsthaft in Frage gestellt und geprüft worden. Dabei zeigt sich, dass Versuche einer überzeugenden Ex-plikation dieses Zusammenhangs beim genaueren Hinsehen schnell ins Sto-cken geraten.

Auch ist völlig in Vergessenheit geraten, dass »Würde« sowie »Bildung« zu den Ausdrücken gehören, die insbesondere in der evangelischen Theologie-geschichte längere Zeit recht fremd waren. Für Martin Luther gehören diese beiden Ausdrücke nicht zu den anthropologischen Ausgangsüberlegungen. Weder durch die Zuschreibung von Würde, noch durch Bildung kann nach Lu-ther der Mensch davon befreit werden, in lebensdestruktiver Weise um sich selbst zu kreisen. Auch wäre er weder durch die eigene Würde noch durch Bildung je in der Lage, die komplexen Beziehungen zu Gott, zu sich selbst und zur Welt adäquat beurteilen zu können. So schreibt Luther in De servo arbitrio im Jahr 1525: »Du glaubst jedoch, am weitesten damit zu kommen,

1 Schweitzer 2011, 7–16.2 Schweitzer 2011, 9.

16 Einleitung

daß Du wohl vorgibst zu zweifeln, um feierlich versichern zu können, daß Du die Wahrheit suchst und studierst, aber bis die Wahrheit ans Licht kommt, neigst Du vorläufig nach der Seite, die den freien Willen behauptet. Hierauf antworte ich: Das ist weder Fisch noch Fleisch. Denn die Geister werden wir nicht mit dem Argument der Bildung, der Lebenserfahrung, des Scharfsinns, der Menge, der Würde prüfen, und erst recht nicht mit dem Argument der Unwissenheit, der Unbildung, der geringen Zahl und der Niedrigkeit des Standes. Auch bin ich nicht mit denen einverstanden, die ihre Zuflucht dazu nehmen, sich ihres Geistes zu rühmen. Denn gerade in diesem Jahre hatte ich einen schweren Kampf und habe ihn noch mit jenen Fanatikern, welche die Auslegung der Schrift von ihrem eigenen Geiste abhängig machen.«3

Neben dieser skeptischen Haltung der reformatorischen Theologie gegenüber Bestimmungen von Würde und Bildung, die nicht von Gottes Wort ausgehen, ist insbesondere der Ausdruck »Würde« in der Theologie-geschichte darüber hinaus so gut wie kaum zu finden. Man mag an dieser Stelle einwenden, dass sich begriffshistorisch ein semantisches Spektrum von dignitas, auctoritas, honestas, honor, decus, gravitas, maiestas und nobili-tas in der Theologiegeschichte durchaus ausfindig machen lässt.4 Eine ausge-bildete Würdekonzeption, wie sie etwa Immanuel Kant entwickelt hat, wird jedoch in entsprechenden semantischen Traditionslinien kaum formuliert. Auch können die genannten lateinischen Vorläufer nicht mit dem moder-nen Würdeverständnis vermengt werden, das in der Formulierung des viel-zitierten Art. 1 Abs. 1 GG im Bundesdeutschen Grundgesetz Eingang fand. Da klassische theologische Texte rar sind, stellt sich das Problem, wie theo-logische Bestimmungen von Würde überhaupt erarbeitet werden können. Die theologische Forschung steht dabei noch am Anfang. Die Religionspädagogik ist auf entsprechende begriffshistorische Studien und ideengeschichtliche Annäherungen seitens der Systematischen Theologie angewiesen.

3 Luther 1961, 211–212 (Hervorhebung nicht i. O., I. S.); WA 18, 652–653: »Nisi quod tu omnium optime facis, qui sic te dubitare dicis, ut veritatem quaerere te et discere testeris, interim in eam partem inclinans, quae liberum arbitrium asserit, donec veritas elucescat. Hic respondeo: neque nihil, neque omnia dicis. Non enim eruditionis, vitae, ingenii, multitudinis, dignitatis, inscitiae, ruditatis, paucitatis humilitatisve argumentis spiritus explorabimus. Neque illos probo, qui refugium suum ponunt in iactantia spiritus. Nam satis acre mihi bellum isto anno fuit et adhuc est cum istis Phanaticis, qui scripturas suo spiritui subiiciunt interpretandas, […].«4 Schaede 2006, 20.

17Das Problemfeld der Arbeit

1 Das Problemfeld der Arbeit

1.1 Die Orientierung an Kant im theologischen Diskurs über Würde

Was ist unter »Würde« in der Perspektive der Theologie zu verstehen? Die ein-schlägige theologische Literatur beruft sich meist auf die Würdekonzeption Immanuel Kants. Die Menschenwürde ist dem Imperativ Kants zufolge dann getroffen, wenn der einzelne Mensch zu einem bloßen Mittel herabgewür-digt wird.5 Positiv formuliert, kommt jedem Menschen Würde als Person zu. Es entsteht der Eindruck, dass Kant die Bedeutung eines Brückenheiligen zugeschrieben wird, von dem sicheres Geleit in den Wogen des wirren gegen-wärtigen Würdediskurses erhofft wird. Dabei ist die Zuschreibung dieser Ge-leitfunktion nicht einmal historisch gut informiert, hatte sich doch schon ein Rezensent zu Kants Zeiten darüber mokiert, dass es seiner »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, in der der kategorische Imperativ in Rekurs auf einen die Würde explizit nennenden Kontext formuliert wird, an Originalität mangele.6 Ungeachtet dieser Kritik ist diese Schrift zur Primärquelle nicht nur für Philosophie und Rechtswissenschaft, sondern auch für die evangeli-sche und katholische Theologie geworden, wenn es um Würde geht.

Für die Philosophie mag diese Referenz – so sehr Kant auch zugunsten von Alternativen in Frage gestellt wird – erfreulich sein, da jeder interdiszi-plinär ausgerichtete Würdediskurs im Rahmen der eigenen Disziplin aus-gefochten werden kann. Die Theologie steht hier vor der Herausforderung, dass es um die Erforschung theologischer Primärquellen zum Ausdruck Würde weniger gut bestellt ist. So wird gerne die priesterschriftliche Figur der Gottebenbildlichkeit aus Gen 1,27 bemüht: »Und Gott schuf den Men-schen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Weib.«7 Vor dem Hintergrund dieses Zitats heißt es dann gern, dass die Würde des Menschen darin bestehe, dass sie ihm als Geschöpf von Gott her

5 Kant 1983, 61: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brau-chest.«6 In einer ironischen Replik Kants auf die Rezension heißt es, dass er »kein neues Prin-zip der Moralität, sondern nur eine neue Formel aufgestellt« habe. »Wer wollte aber auch einen neuen Grundsatz aller Sittlichkeit einführen und diese gleichsam zuerst erfinden? gleich als ob vor ihm die Welt in dem, was Pflicht sei, unwissend oder in durchgängigem Irrtume gewesen wäre«, in: KpV, AA V, 8 Fußnote; vgl. Bielefeldt 1998, 47.7 Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984 nach der Übersetzung Martin Luthers.

18 Einleitung

als unverfügbare Gabe zukomme. Weil nur er über die Gottebenbildlichkeit verfüge, sei Menschenwürde ein theologisches Adelsprädikat, das den Men-schen gegenüber allen anderen Geschöpfen heraushebe. Die theologische Deutung von Würde bewegt sich somit zwischen Kants kategorischem Impe-rativ und der priesterschriftlichen Figur der Gottebenbildlichkeit. Theologi-sche Primärtexte jenseits dieser beiden Quellen sind rar.

Man möge einwenden, dass es doch mit Cyprian, Ambrosius, Gregor dem Großen, Anselm von Canterbury oder insbesondere Thomas von Aquin eine reiche Geschichte der christlichen Rezeption des profanantiken Würde-verständnisses gegeben habe. Wesentliche Züge dieses Verständnisses seien etwa in Ciceros Schrift De officiis zuvor formuliert worden.8 Das ideenge-schichtlich Notierte bezieht sich jedoch auf lateinische Vorläufer, das sich nicht nur mit einer Analyse der Geschichte des Ausdrucks dignitas begnügen kann. Das semantische Spektrum von Würde umfasst, wie oben bereits no-tiert, neben dignitas, auch auctoritas, honestas, honor, decus, gravitas, maies-tas und nobilitas.9 Wie die mit diesen Ausdrücken verknüpften semantischen Bestände, die später in den Ausdruck »Würde« integriert wurden, begriffsge-schichtlich den Ausdruck Würde prägten, ist bisher nicht hinreichend expli-ziert worden.10 Wörterbuchanalysen zeigen jedoch, dass diese Ausdrücke der griechisch-römischen Antike durchaus als lateinische Vorläufer von Würde gehandelt werden können.11 Solange dieses terminologische Problem noch nicht hinreichend geklärt ist, steht die Religionspädagogik vor der Heraus-forderung, sich auf jene theologische Begründungsstränge beziehen zu müs-sen, die mit den im Grundgesetz fixierten Würdebestimmungen in einem Zusammenhang stehen. Die dignitas-Konzepte der Kirchenväter und von Thomas von Aquin, sowie streng genommen auch die priesterschriftliche Figur der Gottebenbildlichkeit können nicht ohne weiteres mit dem Würde-begriff der Moderne, der sich wesentlich auf Kant beruft und im Grundge-setz fixiert wurde, vermengt werden. Hinzu kommt die Schwierigkeit, dass in der Theologie des 19. Jahrhunderts das Konzept der Gottebenbildlichkeit äußerst kritisch diskutiert wurde.

8 Zur Umbildung des profanantiken Würdeverständnisses in der christlichen Rezep-tion und den genannten Quellen: Schaede 2006, 28 ff. Zu Cicero, De officiis (I) vgl. ebd., 20–28.9 Schaede 2006, 20.10 Schaede 2006, 26.11 Schaede 2006, 18 f.

19Das Problemfeld der Arbeit

1.2 Die Problematik der fehlenden Reaktion auf Kants Würdeverständnis in der Theologie des 19. Jahrhunderts

Um in praktisch-theologischer bzw. religionspädagogischer Perspektive zu klären, was unter »Würde« zu verstehen ist, wird man also schnell bei Kant fündig sowie in der systematisch-theologischen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, wo die Gottebenbildlichkeit die dominierende Begrün-dungsfigur darstellt. Zwischen dem ausgehenden 18. Jahrhundert und dem an-gehenden 20. Jahrhundert ist kaum etwas zur Würde aus theologischer Perspek-tive zu finden. Die einzelnen Befunde sind rar und marginal. Zugespitzt lässt sich sagen, dass die gegenwärtig so geläufige Verknüpfung von Würde und Gott-ebenbildlichkeit ein Topos der Theologie des 20. Jahrhunderts ist.12 Noch Fried-rich Schleiermacher kritisierte in seiner Glaubenslehre (1831) die Figur der Gottebenbildlichkeit, die in der Theologie des 20. Jahrhunderts scheinbar so selbstverständlich im Zusammenhang mit Würde geführt wird.13 In der reformatorischen Theologie wurde von dem vollständigen Verlust der Gott-ebenbildlichkeit gesprochen, die sodann in der Rechtfertigung wiederge-funden wird.14 Damit steht Schleiermacher nicht mit einer Sondermeinung allein in der dogmatischen Landschaft des 19. Jahrhunderts da. Dass sowohl in der einschlägigen Dogmatik als auch der einschlägigen Ethik des 19. Jahr-hunderts kaum etwas zur Würde zu finden ist, mögen zwei repräsentative Beispiele illustrieren: weder die Glaubenslehre Friedrich Schleiermachers noch die theologische Ethik Richard Rothes geben ein ausgearbeitetes Wür-dekonzept zu erkennen, das etwa dem Immanuel Kants mit gleichem Ge-wicht gegenübergestellt werden könnte.

Um das Ergebnis vorweg auf den Punkt zu bringen: In der Glaubens-lehre Friedrich Schleiermachers wird in der Anthropologie kein Wort zur Würdefrage verloren, wie es als Reaktion auf Kants zuvor formuliertes Wür-deverständnis etwa zu erwarten wäre. Auch im Zusammenhang seiner Aus-führungen zur Gottebenbildlichkeit wird man nicht fündig. Vielmehr äußert sich Schleiermacher äußerst kritisch zu ihr. Explizit von Würde spricht er hingegen in der Christologie. Würde taucht darin als eine Art christologi-

12 Diesen Hinweis verdanke ich Stephan Schaede.13 Schleiermacher 1960a, 323–332.14 Nach Luther verliert der Mensch mit dem Sündenfall alle wesentlichen Inhalte der Gottebenbildlichkeit wie die ursprüngliche Gerechtigkeit, das rechte Urteil oder die Fä-higkeit richtig über Gott zu urteilen, in: WA 40 II, 323 f. Vgl. auch Leiner 2008, 49–61. In-zwischen wird – ähnlich der Kritik Schleiermachers – die Figur der Gottebenbildlichkeit zunehmend kritisiert. Sie sei zu einer »Leerformel« erstarrt: vgl. Welker 2000, 258–262.

20 Einleitung

scher Hoheitstitel in einem sehr exklusiven Sinne auf. In der Würde Christi liege der Unterschied zwischen dem Erlöser und den Menschen. Der Ge-danke, dass jedem Menschen eine Würde kraft seines Menschseins zukomme, lag Schleiermacher fern.

Im Zusammenhang der Frage nach der Beschaffenheit der Welt spricht Schleiermacher im anthropologischen Kontext von der Bezeichnung »Eben-bild Gottes«.15 Darunter versteht er die Natur des Menschen in ihrem Vor-zug vor den anderen Geschöpfen. Die menschliche Natur wiederhole sich vermittelt durch die Abstammung in jedem einzelnen Menschen. Ihr sei eine ursprüngliche Vollkommenheit eigen. Diese bestehe in der Vereini-gung des Gattungsbewusstseins mit dem persönlichen Selbstbewusstsein. Die menschliche Gemeinschaft sei dabei die alleinige Voraussetzung dafür, dem einzelnen Menschen eine lebendige und kräftige Frömmigkeit zu geben, ohne die das Leben des Einzelnen gehemmt sei, weil sich das Gottes-bewusstsein im Selbstbewusstsein des Einzelnen nicht äußern könne. Die menschliche Natur sei jedoch durch die lebensfördernde Überlieferung in der Gemeinschaft auf das Gottesbewusstsein hin ausgerichtet, das sich im Selbstbewusstsein des Einzelnen Verwirklichung suche. In dieser Ausrich-tung der menschlichen Natur auf das Gottesbewusstsein unterscheide sich der Mensch vom Tier. Dies wäre bei den ersten Menschen nicht anders als bei den Menschen heute. Nach Schleiermacher müsse diese Ausrichtung der menschlichen Natur auf das Gottesbewusstsein empirisch und insbesondere historisch nachgewiesen werden. Allein es fehlten dazu die Quellen. Insbe-sondere die alttestamentliche Erzählung in Gen 1,26 f. (und Gen 2,7–3,24) sei weit entfernt davon, eine solche Geschichte aufzustellen. Die Erzählung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen eigne sich also nicht, die Ent-wicklung hin zum Gottesbewusstsein zu dokumentieren. Sie bleibe gänzlich unbestimmt und lasse die verschiedensten Auffassungen zu. Alle Versuche, mit Hilfe von Gen 1,26 f. und damit auch der Figur der Gottebenbildlichkeit ein geschichtliches Bild von den ersten Anfängen des menschlichen Daseins zu gestalten, müssten misslingen, weil es an aller Analogie fehle.

Die Gottesebenbildlichkeit ist für Schleiermachers Interesse an der Ent-wicklung des Gottesbewusstseins nur mit großen Einschränkungen weiter-führend. Er kritisiert sie darüber hinaus als eine Ähnlichkeit mit Gott, die weit hinter der Lebendigkeit des Gottesbewusstseins als einem Sein Gottes in den Menschen zurückbleibe. Ja sie könne gar durch unsachgemäße Rück-

15 Schleiermacher 1960a, 323–332, hier: 331.

21Das Problemfeld der Arbeit

schlüsse irreführen! Schleiermacher warnt deshalb ausdrücklich davor, bibli-sche Ausdrücke wie die Gottebenbildlichkeit ohne weiteres in die dogmatische Sprache aufzunehmen. Die Ebenbildlichkeitsfigur ist also weit davon entfernt, die für Schleiermacher wichtigste Frage nach der Verwirklichung des Gottes-bewusstseins im Selbstbewusstsein des Menschen zu klären. Dafür müsste ihr dogmatischer Gehalt allererst zeitgemäß formuliert werden.

Der Ausdruck »Würde« ist nun an ganz anderer Stelle bei Schleiermacher zu finden. Sein exklusiv soteriologisch-ekklesiologisches Würdeverständnis ist jedoch keineswegs mit den im Grundgesetz fixierten Würdebestimmungen vergleichbar. Im zweiten Band der Glaubenslehre spricht er von der eigen-tümlichen Würde des Erlösers, die darin bestehe, dass allein er die fromme Gemeinschaft stiften könne, ohne die das Leben des einzelnen Menschen ge-hemmt sei.16 Diese gemeinschaftsstiftende und lebensfördernde Wirksamkeit des Erlösers sei unmittelbar und ausschließend auf dessen Person bezogen. Die ausschließlich Christus zukommende Wirksamkeit mache seine Würde aus. Schleiermacher verknüpft Würde also mit der soteriologisch-ekklesio-logischen Wirksamkeit Jesu Christi, nicht mit der Gottebenbildlichkeit. Die Würde Christi erstrecke sich über den Gesamtverlauf seines Lebens und sei nicht auf einzelne Momente begrenzt oder nur stufenweise realisierbar. In der Stetigkeit des Gottesbewusstseins unterscheide sich Christus von den Menschen, die hingegen stets dem Wechselspiel von Lebensförderung und Hemmung ausgesetzt seien und nie vollkommen stetig für die Entwicklung des Gottesbewusstseins empfänglich sein könnten. Die Stetigkeit des Gottes-bewusstseins mache also die urbildliche Würde des Erlösers aus. Die urbild-liche Würde sei jedoch nicht als vorbildliche Würde zu missverstehen. Ver-gleichbar der Kritik an der Gottebenbildlichkeit geht Schleiermacher davon aus, dass auch die Rede von der ursprünglichen Würde Christi irrtümlich sein könne, indem nicht genügend zwischen einem wahren Urbild und einem Vorbild unterschieden würde. Die gemeinschaftsstiftende Wirksamkeit liege nur in dem Begriff des Urbildes, denn nur die Urbildlichkeit sei der angemes-sene Ausdruck für die ausschließliche persönliche Würde Christi.

In diesem explizit theologischen Sinn kann Würde schwerlich die Würde jedes Menschen sein, da sie eine exklusive Auszeichnung Jesu Christi ist. Der gegenwärtige Würdediskurs, der unter dem starken Einfluss von Kants Verständnis und den rechtswissenschaftlichen Auslegungen von Art. 1 Abs. 1 GG steht, lässt sich von Schleiermacher aus kaum positiv, bestenfalls

16 Schleiermacher 1960b, 34–36, hier: 34.

22 Einleitung

sehr kritisch aufarbeiten. Es müssen andere theologische Quellen unter Klä-rung der Quellenlage herangezogen werden.

Als zweiter exemplarischer Beleg für die Beobachtung der noch zu klä-renden Quellenlage in der Theologie sei die einschlägige theologische Ethik des 19. Jahrhunderts von Richard Rothe herangezogen. Vergleichbar der Sach lage in der Dogmatik Schleiermachers ist auch bei Rothe die Würde an-thropologisch nicht fundamental. Eher am Rande wird sie im Zusammen-hang der Frage nach den Tugenden erwähnt. Auch bei Rothe bleibt also eine Reaktion auf Kants Würdeverständnis aus. Im fünften Band der theologi-schen Ethik behandelt Rothe im Anschluss an Schleiermachers Verständnis von dem geselligen Leben die Frage nach den geselligen Pflichten. Zu den geselligen Tugenden zählt er die Bescheidenheit, die Anmut und die Wür-de.17 Er wendet sich damit gegen einen ungebundenen oder zügellosen sowie auch – wie er schreibt – steifen geselligen Ton, die »todte Formen« im gesel-ligen Leben seien.18 Diese Formen seien nach Rothe Surrogate der geselligen Tugenden der Bescheidenheit, Anmut und Würde, die überwunden werden müssten, weil sie dem eigentlich sittlichen Gehalt der Geselligkeit entgegen-stünden. Rothe erörtert sodann ihre die Gemeinschaft beschränkenden bzw. hemmenden und ihre sie fördernden Tendenzen. Er kommt zu dem Schluss, dass der Christ dazu verpflichtet sei, diesen Surrogaten allmählich entgegen zu treten, ohne sich jedoch von der Gemeinschaft separieren zu dürfen. Die Surrogate beförderten die konventionelle Steifheit, die die Gemeinschaft in ihrer Tendenz zum Standesdünkel weiter zementiere. Andere Menschen sollten durch »lächerliche Firlefanzereien« dieser Art nicht verletzt werden, da nur die einfachen Formen die natürlichen seien.19

Rothe lässt offen, was unter den eigentlich geselligen Tugenden der Be-scheidenheit, Anmut und Würde im Blick auf die geforderte Einfachheit und Frugalität zu verstehen ist. Würde als Tugend soll der vollständigen sittli-chen Vollendung dienen und das gesellige Leben von allem Widersittlichen – insbesondere von Sinnlichkeit, Trieb und Selbstsucht – reinigen. Das Ziel ist die zunehmende Christianisierung des geselligen Lebens, die die sittliche Vollkommenheit in dem sittlich Ganzen und in den Individuen schlechthin ist. Der Christ steht also in der Pflicht, im geselligen Leben den ihn beseelen-den christlichen Geist überall möglichst rein und klar zu offenbaren und das Gemeinbewusstsein seines geselligen Kreises mit dem christlichen Prinzip

17 Rothe 1871, 182–188, hier: 186.18 Rothe 1871, 186.19 Rothe 1871, 188.

23Das Problemfeld der Arbeit

in immer vollständigere Übereinstimmung zu bringen. Aus heutiger Sicht befremden Roths Ausführungen an dieser Stelle nicht nur dem Inhalt, son-dern auch der Sprache nach.20

Deutlich wird hier aber vor allem, dass aus noch zu klärenden Grün-den Kants so prominent gewordenes Würdeverständnis in dieser theologi-schen Ethik kaum auf Echo stößt. Warum kam der Frage nach der Würde des Menschen in den einschlägigen evangelisch-theologischen Konzeptionen des 19. Jahrhunderts eine solch marginale Stellung zu? Auch in der evan-gelischen Theologie des 20. Jahrhunderts – wie noch zu zeigen sein wird – wurde die Würdefrage in signifikanter Weise spät aufgegriffen. Erst in den 1980er Jahren setzte in der evangelischen Theologie – dann allerdings ein massives – Interesse an der Würde ein, als sie in der Rechtswissenschaft und katholischen Theologie schon längst diskutiert wurde.21

Die religionspädagogische Aufarbeitung der Würdethematik ist ange-sichts dieser Beobachtung im Blick auf kirchliche und schulische Hand-lungsfelder herausgefordert, in der Würdefrage entweder auf Kants Konzept zurückzugreifen oder aber die einschlägige, neuere Würdeliteratur zu Rate zu ziehen, die meist bio- und medizinethischen Fragen gewidmet ist. Bezieht man sich auf Kant als Referenz, so stellt sich das Problem, dass die theologi-sche Perspektive hierbei zunächst kaum eine Rolle spielt. Bezieht man sich auf die neuere theologische Würdeliteratur, so bringt dies die Schwierigkeit mit sich, dass aufgrund des mangelnden zeitlichen Abstands sich noch keine »klassischen« Würdekonzepte herauskristallisiert haben. In der religionspä-dagogischen Auseinandersetzung mit der Würdethematik stellen sich damit an die theologische Nachbardisziplin Systematische Theologie die beiden grundlegenden Fragen: Warum findet die Würdefrage in den einschlägigen evangelisch-theologischen Entwürfen zwischen dem ausgehenden 18. Jahrhun-dert und dem angehenden 20. Jahrhundert in Auseinandersetzung mit Kant kein Echo? Welche »klassischen« theologischen Konzeptionen der Moderne sind über die antik-christlichen dignitas-Konzeptionen der Kirchenväter hinaus zu berücksichtigen?

20 Zu untersuchen wäre insbesondere die Verwendung des Verbs »reinigen« im Kontext des Sprachgebrauchs im 19. Jahrhundert, die an die Wendung der »Säuberung« in anti-semitischen Hetzkampagnen erinnert.21 Der erste evangelische Theologe, der Würde in der Anthropologie an prominenter Stelle erneut führte, war immerhin Martin Kähler. Seine Ausführungen erfreuen sich je-doch keiner prominenten Rezeption. Vgl. dazu Schaede, Stephan, Ban on Anthropological Images (Maschinenmanuskript 2011).

24 Einleitung

Diese Rechercheaufgabe kann im religionspädagogischen Rahmen nicht hinreichend geklärt werden, da nicht nur fachwissenschaftliche, sondern ebenso bildungstheoretische und didaktische Fragen leitend sind. Aufgrund des beobachteten Mangels an »klassischen« theologischen Würdekonzep-tionen über die antike dignitas-Literatur hinaus muss verstärkt auf Erkennt-nisse jenseits der theologischen Binnendisziplinen zurückgegriffen werden. Erkenntnisse derjenigen Disziplinen sind also zu berücksichtigen, die bei der Klärung des Ausdrucks Würde und der damit einhergehenden Problem-felder eine Vorreiterrolle haben. Insbesondere der Hermeneutik der Rechts-wissenschaft kommt dabei eine herausragende Bedeutung zu. Dies wurde in der religionspädagogischen Würdeliteratur bisher kaum zur Kenntnis genommen.22 Die juristischen Grundgesetzkommentare zu Art. 1 Abs. 1 GG dienen spätestens seit Günter Dürigs Auslegung im Jahr 1958 grundlegend der sachgemäßen Klärung. Neben der terminologischen Klärung wird auch die mit den positiven Umschreibungsversuchen von Würde einhergehende typische Problematik vor Augen geführt. Insbesondere die erziehungswis-senschaftliche und religionspädagogische Literatur hat die Tendenz zu einer »erhabenen Würdelyrik«, die vermieden werden sollte, um den inflationären Gebrauch des Würdebegriffs nicht weiter zu befördern. Es bietet sich daher an, zunächst die rechtswissenschaftlichen Lesarten zu ermitteln. Sie ermög-lichen es, einen Überblick über diejenigen Elemente des Würdebegriffs zu gewinnen, die in interdisziplinär gestalteten Zusammenhängen allgemein anerkannt sind. Bei der Sichtung der juristischen Fachliteratur ist jedoch immer wieder zu fragen, was diese allgemein anerkannten Elemente der komplexen Würdethematik im theologischen und religionspädagogischen Interesse bedeuten.

1.3 Die späte Rezeption der Würdefrage in der evangelischen Theologie des 20. Jahrhunderts

Die Gründe für die späte Rezeption der Würdefrage in der deutschsprachi-gen evangelischen Theologie des 20. Jahrhunderts sind noch ungeklärt. Möglicherweise hängt dies mit der theologischen Quellenlage im 19. Jahr-hundert zusammen. In der Nachkriegszeit wurden wohl die naturrechtlichen Elemente der Menschenrechte in der evangelischen Theologie sehr kritisch

22 Es ist zwar unter Religionspädagoginnen und -pädagogen nicht ungewöhnlich, sich auf Rechtstexte (grundlegend: Art. 4 GG und Art. 7 Abs. 3 GG) zu beziehen. Meist spielt die rechtswissenschaftliche Hermeneutik – außer in Gastbeiträgen von den Rechtswis-senschaftlern selbst – dabei jedoch kaum eine Rolle.

25Das Problemfeld der Arbeit

gesehen,23 die eine Auseinandersetzung auch mit Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG hemmten. Was kann aber in einer groben Skizze immerhin gesagt werden?

Der Beginn der evangelisch-theologischen Rezeption von Art. 1 Abs. 1 GG – nahezu zwanzig Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes – ist nach bisherigem Forschungsstand mit dem Würdeverständnis des Juristen Gustav Heinemann anzusetzen.24 In seiner Rede »Der Rechtsstaat als theo-logisches Problem« im Jahr 1967 zeichnen sich erste Konturen einer evan-gelisch-theologischen Interpretation des im Grundgesetz fixierten Würdebe-griffs ab, die im Interesse der öffentlichen Theologie analysiert wurde.25 Die späte evangelisch-theologische Auseinandersetzung mit Würde und Würde-verletzungen werden von Heinemann selbst beklagt.26

Um dieses Dokument ist es inzwischen im Blick auf die Würdefrage so-wohl auf rechtswissenschaftlicher als auch theologischer Seite zu Unrecht still geworden. Im Zusammenhang der Frage nach dem rechtswissenschaft-lichen Deutungsprimat ist darauf anschließend noch einzugehen. An dieser Stelle ist zu notieren, dass Heinemann in seiner Rede nicht die Frage nach der Würde des Menschen in den Vordergrund rückt, sondern zunächst die nach der begründeten Würdigung der Garantien und Freiheiten des demo-kratischen Rechtsstaats. Nicht zufällig reagierte die EKD, deren Rat Heine-mann selbst bis 1967 angehörte, 1985 mit einer Denkschrift zum Problem des Verhältnisses von evangelischer Kirche und freiheitlicher Demokratie.27

Heinemann lehnt die zu seiner Zeit recht gängige naturrechtliche Be-gründung der Menschenwürde ab, die in der katholischen Interpretations-geschichte bis 1967 eine herausragende Rolle spielte und auf juristischer Seite zunehmend besorgte Fragen nach der »Katholisierung des Rechtes« aufwarf.28 Er kritisiert aber auch die protestantische Tradition und ihre For-

23 Vögele 2000, 396.24 Vögele 2000, 396–399.25 Heinemann 1989, 26–36 (gehalten am 22.12.1967 aus Anlass der Verleihung der Ehrendoktorwürde von der Theologischen Fakultät der Universität Bonn). Eine Analyse ist bei Vögele zu finden: ders. 2000, 396–399.26 »Freilich vermissen wir noch oft eine prompte christliche oder kirchliche Reaktion auf Freiheitsverletzungen, weil die Überzeugung von dem Wertcharakter der Grund-rechte und ihrer Unantastbarkeit um des Menschseins des Menschen willen noch nicht allgemein durchgedrungen ist«, in: Heinemann 1989, 34.27 Kirchenamt der EKD (Hg.) 1985.28 Zur Frage nach der »Katholisierung des Rechts« verweist Heinemann auf Helmut Simon (1962), in: Heinemann 1989, 32 Anm. 6.

26 Einleitung

derung nach Gehorsam gegenüber der Obrigkeit, die er in einer missverstan-denen Interpretation von Röm 13,1 begründet sieht.29 Die Würde des Men-schen versteht er von Günter Dürigs »Objektformel« her: Nicht der Mensch solle dem Staat dienen, sondern umgekehrt, der Staat dem Menschen, indem er ihn nicht zum Objekt staatlicher Macht machen dürfe.30 Der Staat stehe gegenüber der Menschenwürde in der Achtungspflicht. Die Demokratie des Grundgesetzes setze deshalb nicht auf den Bürger als Untertan, wenn ihr oberster Wert die Menschenwürde sein solle, sondern auf den Bürger.31 Die evangelische Theologie sei daher gefordert, ein neues Verhältnis zur Demo-kratie zu finden, dessen oberster Wert die Würde des Menschen sei.

Als weitere Etappen in der evangelisch-theologischen Würderezeption ist die genannte Demokratie-Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutsch-land (EKD) aus dem Jahr 1985 zu nennen sowie die von der EKD und dem Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz in ökumenischer Absicht her-ausgegebene Orientierungshilfe von 1989.32 Sie dokumentieren eine inten-sive systematisch-theologische Auseinandersetzung.33 Inzwischen liegt eine große Bandbreite an Würdeliteratur auch auf evangelischer Seite vor. Und in ihr ist Gottebenbildlichkeit die dominierende Explikationsfigur für genuin theologische Würdekonzeptionen.34

Bemerkenswerterweise kommt in einer der wichtigsten deutschsprachi-gen Dogmatik des 20. Jahrhunderts, der Kirchlichen Dogmatik Karl Barths, der Würdefrage ein nur marginaler Stellenwert zu. Auch das Ergebnis der Sichtung der Systematischen Theologie Paul Tillichs fällt negativ aus. Bei ihm ist Menschenwürde vereinzelt in den frühen Predigten (1909-1918) zu

29 Heinemann 1989, 27 und 35.30 Heinemann 1989, 30 und 34.31 Heinemann 1989, 30.32 Kirchenamt der EKD (Hg.) 1985 und Kirchenamt der EKD / Sekretariat der Deut-schen Bischofskonferenz (Hg.) 1989.33 Hervorzuheben sind in dieser Zeit etwa Honecker 1995, 219 f., Huber 1992, 577–602 oder Pannenberg 1980, 207–225. Vgl. dazu auch Vögele 2000, 401 f. Vögele berücksich-tigt nicht Dalferth und Jüngel 1981, 57–99 sowie Moltmann 1979, 18 ff.34 So auch Vögele 2000, 412. Wolfgang Vögele datiert die moderne evangelisch-theo-logische Auseinandersetzung mit Würde im Zusammenhang mit Heinemanns Rede auf das Jahr 1967 und zieht sodann die speziell für die Würdefrage relevante Literatur heran. Dadurch wird nicht deutlich vor Augen geführt, dass man in der einschlägigen theologi-schen Literatur des 20. Jahrhunderts vergleichbar dem Befund bei Schleiermacher und Rothe zur Würdefrage ebenso kaum fündig wird.

27Das Problemfeld der Arbeit

finden.35 Von einem ausgearbeiteten Würdekonzept kann keine Rede sein. Gerade bei Barth als »Zeitzeugen« wäre zu erwarten, dass die Reflexion der damals neuen grundgesetzlichen Fixierung der Menschenwürde Eingang in seine Dogmatik findet. Vereinzelt äußert sich Barth zur Menschenwürde in sehr unterschiedlichen Kontexten wie der Frage nach der Hybris, der Ehe oder dem Tötungsverbot. Bestimmungen des Würdetopos sind hier kaum zu finden.

In seiner Lehre von der Schöpfung in KD III / 1 in § 40 wird Würde in Verbindung mit der Erde genannt, die sich in ihrem von Gott her bestimm-ten und geordneten innerkreatürlichen Verhältnis zum Himmel von diesem unterscheide und darin wiederum mit ihm ein Ganzes bilde.36 Himmel und Erde seien in ihrem Gegensatz und in ihrer Zusammengehörigkeit dabei von Gott unterschieden. Als einem Wesen, das inmitten der übrigen Geschöpfe hervorgehoben und durch diese Sonderstellung ausgezeichnet sei, komme dem Menschen eine unvergleichliche Würde inmitten des Ganzen zu.37 In dieser Größe und Herrlichkeit sei er als Gottes ausgezeichnetes Geschöpf dazu bestimmt, dem Werk der Schöpfung Gottes Lobpreis entgegenzubrin-gen. Die Würde des Menschen entspreche der Würde der Erde, da die Erde in ihrer Unterscheidung und Zusammengehörigkeit mit dem Himmel nach Barth ein Ganzes bilde, wie auch der Mensch seelisch und leiblich für Gott als ein Ganzes und als Inbegriff eines größeren Ganzen aufzufassen sei, der sich zugleich von Gott unterscheide. In § 41 spricht Barth an einer Stelle von »Menschenwürde«, die durch nichts so wie gerade durch die menschliche Hybris bedroht würde, in ihrem Unterschied zum Rang der von Menschen zu beherrschenden, aber nicht nachzuahmenden Tierwelt.38 Der Mensch sei dabei in der Aufhebung oder Umkehrung der bestimmten Klassifikation des Lebensraums Erde in Gen 1,11–12 (»Und Gott sprach: Es lasse die Erde auf-gehen Gras und Kraut …«) inbegriffen, indem er aufrecht stehe und Früchte trage, dann jedoch ebenso wie sie vergehen müsse. An anderer Stelle greift Barth im Zusammenhang mit dem Herrschaftsauftrag über die Tierwelt die Frage auf, ob denn Würde auch Tieren zukomme, die er klar verneint.39 Die Tiere haben nach Barth im Unterschied zum Menschen in der geschöpflichen Welt keine selbstständige Würde und Funktion. Sie gehörten zum Menschen.

35 Tillich 1994, 456 f.36 Barth 1970, 18.37 Barth 1970, 21 und 22.38 Barth 1970, 172.39 Barth 1970, 231.

28 Einleitung

Im selben Kapitel im Zusammenhang des Verhältnisses von Mann und Frau, die sich ein Gegenüber seien, spricht Barth (im Anschluss an Kohlbrügge) von der hohen Würde des Ehestands.40 In einer Unterscheidung und Bezie-hung zwischen Mensch und Mensch als Mann und Frau, die vor Gott Eins seien, seien beide erschaffen als Bild Gottes. Das gottebenbildliche Wesen des Menschen bestehe somit in seiner Existenz als Mann und Frau. In jenem Ich und Du, das allererst in Gott selber Ereignis sei, werde das Wesen des Men-schen in der Zuordnung der analogia relationis als Mann und Frau bestimmt. An anderer Stelle im Zusammenhang der Frage »Wer ist die Frau?« versucht Barth die mit der heutigen Auslegung der im Grundgesetz formulierten Men-schenwürde zu vereinbarende »Suprematie des Mannes« als eine »Sache der Ordnung und nicht eine Sache des Wertes, der Würde, der Ehre« zu be-gründen.41 Im Anschluss an Zimmerli wird die gottgegebene Würde der Frau gegen eine »einseitige Auffassung von (ihrer) Dienstbarkeit«42 hervorgeho-ben. Dies bringt Barth jedoch nicht davon ab, den »Dienst der Frau« einseitig im Rahmen der Ehe und Mutterschaft zu sehen. Die Frage nach der Würde des Geschlechtsverhältnisses wird später auf die nach der im Alten Testa-ment erotisch beschriebenen »Beziehung von Jahve und Israel« ausgeweitet, die faktisch zerstört und wiederhergestellt worden wäre.43 Dies wird sodann ausgehend von der Würde des Geschlechtsverhältnisses christologisch weiter-geführt: die Würde des Geschlechtsverhältnisses sei in der Gottebenbildlich-keit als Mann und Frau begründet, die in Gottes Plan und Erwählung zuerst in dem Verhältnis zwischen Jesus Christus und seiner Gemeinde und dann in dem Verhältnis zwischen Jahve und Israel verankert sei.44

Im Zusammenhang des in der Gottebenbildlichkeit begründeten Tötungs-verbots unterscheidet Barth die dem Menschen immanente Würde der Gott-ähnlichkeit von der Würde Gottes, die der Mörder antaste.45 In der Tötung eines Menschen durch einen anderen werde Gott selbst in seinem Wirken, das in seiner Absicht und Tat in der Erschaffung des Menschen zum Aus-druck komme, zu nahe getreten. Bei der Tötung wendete sich somit das Ge-schöpf gegen seinen Schöpfer selbst und nicht nur gegen sein Mitgeschöpf. Bei der Frage des Dienens spricht Barth von Würde, bei der trotz des Hervor-

40 Barth 1970, 219.41 Barth 1970, 343 und 344–345.42 Barth 1970, 375.43 Barth 1970, 366 (Hervorhebung nicht i. O., I. S.).44 Barth 1970, 369.45 Barth 1970, 223.

29Das Problemfeld der Arbeit

gehobenseins inmitten der geschöpflichen Welt von keiner Überheblichkeit unter Berufung auf jene besondere Würde des Menschen die Rede sein kann.46 Durch die Beauftragung zum Dienst sei der Mensch trotz seiner be-sonderen Würde in den Rahmen des Ganzen der Geschöpfwelt eingeordnet. Im Dienen würde sich die notwendige Demut gerade der menschlichen Exis-tenz erweisen. Die Frage der Berufung in den Dienst wird später mit der Ständelehre verknüpft. Barth spricht hier von dem Nährstand und Wehr-stand, die ihren Zweck und ihre Würde in sich selber hätten und nicht in einer äußeren Bestimmung.47 In § 42 in der schöpfungstheologischen und trinitarischen Frage der Ökonomie Gottes unterscheidet Barth die mögliche Verwerfung der Schöpfung durch Gott, dem Nein Gottes, von ihrer Erwäh-lung und Annahme durch Gott, seinem Ja.48 Die Schöpfung sei zwar von Gott verschieden, von ihm jedoch gewollt und damit wirklich geworden. Der Set-zung des Nicht-Wirklichen im göttlichen Nein stehe Gottes gewollte Wirklich-keit, sein unbedingtes Ja, entgegen. Die Schöpfung habe Anteil an dem Recht, der Würde und der Güte des Ja, in welchem er durch sich selbst Gott und seine Schöpfung sein nach außen gewendetes Werk sei. Die Schöpfung sei damit in der göttlichen Bejahung Gottes Wohltat (und darin ihre Rechtferti-gung), außerhalb derer es keine Wirklichkeit geben würde, weil im Nein Got-tes auch nichts Wirkliches geschehen könne.

Die Frage der Schöpfung in Verbindung mit Gottes Selbstkundgebung und Rechtfertigung und im Unterschied zur menschlichen Beteuerung wird so-dann auf das einzelne Geschöpf bezogen und gefragt, wie denn das Geschöpf von sich aus zu dem gewissen Urteil kommen könne, dass es gerechtfertigt und also gut sei.49 Dabei grenzt sich Barth von einem Gottesgedanken ab, der der intendierten Kraft unseres Wertens, Begehrens und Meinens entlehnt wird. Gottes Wohltat sei von der Beteuerung im Selbstgespräch des geschöpf-lichen Geistes, »der auch in der Anrufung des Deus Optimus Maximus (…) sich selbst anruft, an das Recht, die Würde und Autorität seines eigenen Wertens, Begehrens und sicheren Meinens appelliert, der es, indem er das Sein zu rechtfertigen unternimmt, nicht unterlassen möchte, allererst sich selber zu rechtfertigen.«50 Dieser Gedanke wird in den Ausführungen zur Schöpfung als Rechtfertigung wieder aufgegriffen, wo die von Gott ge-

46 Barth 1970, 266.47 Barth 1970, 317.48 Barth 1970, 378.49 Barth 1970, 419–421.50 Barth 1970, 421.

30 Einleitung

schenkte Würde von der künstlichen Würde des Selbstvertrauens unter-schieden wird. Die dem christlichen Glauben (durch Gottes Selbstkundge-bung in der Erniedrigung und Erhöhung des Sohnes Gottes) geschenkte Erkenntnis von der Rechtfertigung sei eine unerschütterliche Erkenntnis, die sich von dem Maximum menschlichen Selbstvertrauens als künstliche Würde der Haltung eines auf diese Weise instruierten Menschen unterscheide.51 Die Würde des Menschen, wie auch Gerechtigkeit, Güte oder Vollkommenheit könnten somit nicht durch menschliches Wirken, sondern nur durch Gottes Wirken in Entsprechung zu dem Werk seines Sohnes geschehen.52 Im Zusam-menhang der doppelten Bestimmung der Schöpfung seien ihre Größe und ihr Elend, ihre unendliche Würde und ihre unendliche Gefährdung einander gegenübergestellt, die in diesem Spannungsverhältnis ihren Grund in der Erniedrigung und Erhöhung des Gottessohnes als Gottes Selbstkundgebung hätten.53 Die Hoheit und Niedrigkeit der Geschöpfe, ihre Würde und ihr Elend, entsprächen der Hoheit und Niedrigkeit Gottes in der Menschwer-dung Jesu Christi. Gott sei am diesseitigen Geschehen direkt beteiligt.

Das Ergebnis dieser Sichtung besteht darin, dass von Würde bei Barth vereinzelt insbesondere in der Schöpfungslehre die Rede ist. Sie wird jedoch nicht als eigenes Thema historisch-systematisch entfaltet. Es lassen sich dennoch drei Bedeutungsstränge in schöpfungstheologischer und christolo-gischer Absicht ausfindig machen: (1) Die Würde ist in der Gottebenbildlich-keit als Mann und Frau begründet, die (aufgrund Gottes Erwählung) zuerst in dem Verhältnis zwischen Jesus Christus und seiner Gemeinde und dann in dem Verhältnis zwischen Jahwe und Israel verankert ist, (2) die Würde kommt dem Menschen ausschließlich durch Gottes Wirken (in seiner Selbst-kundgebung in Jesus Christus) im Unterschied zum menschlichen Wirken zu, (3) die Würde ist im doppelten Sinne in ihrer Erniedrigung und Erhö-hung charakterisiert, da sie der Würde des Gottessohnes in dessen Erniedri-gung und Erhöhung entspricht. Ob Barths Würdeverständnis im gegenwär-tigen Würdediskurs als »klassische Quelle« herangezogen werden kann, ist im Blick auf die Rezeptionsgeschichte fraglich. Gegenwärtig wird im Würde-diskurs auf Barths Ausführungen speziell zur Würde kaum Bezug genom-men. Die grundlegende Frage bleibt also bestehen: Auf welche »klassischen« theologischen Quellen der Moderne sollte bei der Frage nach der Würde des Menschen Bezug genommen werden? Nicht zufällig setzt die Darstellung

51 Barth 1970, 472.52 Barth 1970, 423 (Hervorhebung nicht i. O.).53 Barth 1970, 432.

31Das Problemfeld der Arbeit

evangelischer Deutungen des Ausdrucks Würde also mit dem protestanti-schen Juristen Gustav Heinemann ein.54

1.4 Würde zwischen rechtlichem Gehalt und theologisch-philosophischen Traditionsbeständen. Ein interdisziplinäres Präzisierungsproblem

Es bestehen also deshalb schwierige Interpretationsprobleme im Zusammen-hang mit Würde, weil überall da, wo sich auf Würde berufen wird, der recht-liche Gehalt mit den theologisch-philosophischen Traditionssträngen ver-knüpft ist. Die unterschiedlichen ideengeschichtlichen Begründungsstränge konkurrieren miteinander und lassen sich konzeptionell nicht einfach im Sinne eines »overlapping consensus« (John Rawls) zusammenbringen. Nun wird Menschenwürde als Rechtsbegriff in Ansehung des Einzelfalls von den Würdeverletzungen her konkretisiert.

Die Komplexität des Würdebegriffs führt vereinzelt zu der Forderung, für die staatsrechtliche Betrachtung der Menschenwürde allein die Verankerung im Verfassungstext geltend zu machen und sie ausschließlich als Begriff des positiven Rechts aufzufassen – ohne »Befrachtung« mit Aufgaben der Theolo-gie.55 In dieser Forderung wird der Anspruch auf einen (rechtswissenschaft-lichen) Deutungsprimat des Würdebegriffs laut. Dem inflationären Gebrauch des Würdebegriffs soll damit Einhalt geboten werden. Dieser überspannte Wunsch, Menschenwürde als originären Rechtsbegriff aufzufassen und sich seiner ideengeschichtlichen Elemente entledigen zu wollen bzw. sie zu mar-ginalisieren, ist aus pragmatischen Gründen nachvollziehbar. Die Probleme der Schnittstelle, die der Würdebegriff zwischen Rechtswissenschaft und der Theologie- und Philosophiegeschichte bildet, lassen sich damit jedoch nicht einfach aus der Welt schaffen.

Neben diesem Wunsch nach semantischem Minimalismus gepaart mit disziplinärer begrifflicher Klarheit besteht umgekehrt die Tendenz, histori-sche Konstrukte als »Wurzeln« heraufzubeschwören, die den Würdebegriff und die Interpretationsgeschichte von Art. 1 Abs. 1 GG angeblich beeinflusst haben sollen. Aus den Protokollen des Parlamentarischen Rats geht nach Meinung vieler Grundgesetzinterpreten hervor, dass der Verfassungsgeber im Begriff der Menschenwürde insbesondere auf drei solcher »Wurzeln« zu-rückgegriffen habe: das Christentum, die antike Philosophie der Stoa und

54 Vögele 2000, 396.55 Herdegen 2009, Rn. 19.

32 Einleitung

die Aufklärungsphilosophie Kants.56 Andere nennen neben der christlichen Wurzel und der Aufklärungsphilosophie auch die Fixierung der Menschen-würde als Gegenbild der menschenfeindlichen Ideologie und Tyrannei des Nationalsozialismus.57

Geht man der Darstellung des »Christentums« in der juristischen Inter-pretation von Art. 1 Abs. 1 GG genauer nach, so stellt sich heraus, dass sie entweder sehr allgemein gehalten oder aber eine sehr zufällige Auswahl an Quellen getroffen wurde.58 Das grundlegende Problem der Auswahl von Quellen zur begrifflichen Klärung wird jedoch selten reflektiert. So notierte Dreier, dass grundverschiedene philosophische Systeme aus Antike, Mittel-alter und Neuzeit in eine fragwürdige Nähe rücken.59 Manche Interpreten greifen nur auf die antike Stoa, die Renaissance- und die Aufklärungsphi-losophie zurück, ohne die christlichen Wurzeln zu erwähnen.60 Es obliegt also der ideengeschichtlichen Erzählkunst des Interpreten, welches ideen-geschichtliche Element er in seiner Begründungsstrategie für seine Version der semantischen Narration herausnimmt.

Innerhalb der Rechtswissenschaft kann das grundsätzliche Problem der Quellenauswahl allein nicht gelöst werden. Anstatt die facettenreiche Ideen-geschichte des Würdebegriffs in ihrer Bedeutung als lästig anmutende »Um-schreibungsversuche«61 marginalisieren zu wollen, ist fachübergreifende Be-ratung gefragt. Sie dient dazu, das vermeintlich immer schon Bekannte zum Gegenstand ausdrücklicher Erkenntnisbemühungen zu machen. »Blinde Flecke« kommen so zum Vorschein, die den Blick zuvor verengt haben. Vor allem können so und wahrscheinlich nur so grundsätzlich Fragen der se-mantischen Bestimmtheit von Würde und ihres Referenzrahmens beantwor-tet werden.62

56 Dreier 2004, Rn. 2.57 Hufen 2009, Rn. 4.58 Dies kritisiert auch Vögele 2000, 302.59 Dreier 2004, Rn. 2.60 Stein 1993, 230; vgl. Vögele 2000, 306.61 Herdegen 2009, Rn. 34.62 Davon zeugen die zunehmend interdisziplinär ausgerichteten Sammelbände zur Wür-defrage. Exemplarisch: Bahr und Heinig 2006.

33Fragestellung, These und Vorgehen

2 Fragestellung, These und Vorgehen

Aufgrund der skizzierten Problemlage ist die religionspädagogische Refle-xion der Würdethematik vor besondere Herausforderungen gestellt. Diese Re-flexionsaufgabe ist trotz genannter Schwierigkeiten dennoch dringend gebo-ten. Zum Vorläufer der geforderten Reflexionsaufgabe gehört die sogenannte »Menschenrechtsbildung«. Im letzten Jahrzehnt rückte das Thema »Men-schenrechtsbildung« (human rights education) zunehmend ins öffentliche In-teresse. Inzwischen liegt umfangreiche Literatur dazu vor.63 Die vorliegende Untersuchung war anfangs in Anlehnung an die Idee einer »Menschenrechts-bildung« mit den beiden leitenden Fragen angetreten: Was ist unter »Men-schenwürdebildung« zu verstehen? Und wie kann eine »Menschenwürdebil-dung« in religiösen Bildungsprozessen initiiert werden? Als Arbeitshypothese wurde angenommen, dass es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Bildung, gar religiöser Bildung gibt.64

Der weitere Verlauf der Untersuchung ergab jedoch zunächst zwei kriti-sche Ergebnisse. Diese zwei kritischen Ergebnisse müssen zunächst berück-sichtigt werden, um anschließend den Würdetopos als Unterrichtsgegenstand in religiösen Bildungsprozessen explizieren zu können. Zum einen kann ins-besondere auf der rechtlichen Ebene kein solcher unmittelbarer Zusammen-hang zwischen Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG und dem sozialen Recht auf Bildung, das im Grundgesetz nicht formuliert ist, festgestellt werden (erstes Kapitel). Darüber hinaus kann die ungeprüfte Annahme eines Zusam-menhangs zwischen Menschenwürde und Bildung zu dem Missverständnis führen, dass nur dem gebildeten Menschen Würde zukomme. Um die Gefahr einer solchen irrtümlichen Interpretation zu vermeiden, muss die rechtswis-senschaftliche Auslegung von Art. 1 Abs. 1 GG berücksichtigt werden. In Re-ligionspädagogik und den Erziehungswissenschaften wird Menschenwürde als Rechtsbegriff bisher nur unzureichend berücksichtigt. Die religionspäd-agogische Rezeption der Menschenwürde als Rechtsbegriff verhindert, dass der Würdebegriff zum Sammelbecken interpretativer Werthaltungen wird, dessen Leistungsfähigkeit kaum noch erkennbar ist.

63 Vgl. Mahler 2004.64 So auch bei Schweitzer 2011, 9: »Der Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Bildung wird heute vielfach thematisiert. […] Eine rechtliche Begründung dafür, dass die Menschenwürde einen Anspruch auf Bildungsmöglichkeiten konstituiert, fällt in der Tat leicht.«

34 Einleitung

Ausgehend von dem genannten kritischen Ergebnis auf der rechtlichen Ebene ist zum anderen zu fragen, ob sich nun auf der ideengeschichtlichen Ebene ein Zusammenhang zwischen Würde und Bildung mit Hilfe von drei Modellen in heuristischer Absicht ermitteln lässt (drittes Kapitel). Die Sich-tung führt zu dem zweiten kritischen Ergebnis, dass es sich um völlig unter-schiedliche Sachverhalte handelt, so dass auch auf der ideengeschichtlichen Ebene zunächst nicht einfach ein unvermittelter Zusammenhang zwischen Würde und Bildung angenommen werden kann. Dieses Ergebnis darf jedoch wiederum nicht zu dem Missverständnis führen, dass sich die religionspä-dagogische Auseinandersetzung mit dem Würdetopos im Blick auf die Bil-dungsaufgabe nun erschöpft habe. Denn auf positive Bestimmungsversuche von Würde und Bildung, die sich insbesondere im gegenwärtigen Würdedis-kurs ideengeschichtlich herauskristallisiert haben, kann keinesfalls verzich-tet werden. Es wäre falsch zu behaupten, dass allein die rechtlichen Bestim-mungen dazu ausreichen, die Würdegarantie vom Verletzungsvorgang her in Ansehung des einzelnen Falls zu fixieren und den Würdebegriff damit auch inhaltlich zu definieren. Mit Hilfe dieser Vorgehensweise weiß man dann zwar, wann die Würde verletzt ist, aber nicht, was unter «Würde» nun positiv zu verstehen ist. Die funktionalen Erklärungsmuster der Rechtswissenschaft können nicht alle denkbaren Würdefragen lösen. Neben der rechtlichen ist auch die Perspektive der systematisch-theologischen Semantik von entschei-dender Bedeutung, um die komplexen Denktraditionen des Würdekonglome-rats zu beleuchten. Erst aus diesen beiden grundlegenden Differenzierungen heraus kann der Würdetopos als Unterrichtsgegenstand religiöser Bildungs-prozesse reflektiert werden.

Festzuhalten ist also: (1) Sowohl auf der rechtlichen als auch auf der ideengeschichtlichen Ebene gibt es keinen unvermittelten Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Bildung. Menschenwürde begründet nicht notwendig Bildung. Auch der »ungebildete« Mensch hat eine Würde. (2) Ein vermittelter Zusammenhang zwischen Würde und Bildung besteht darin, dass sich der Würdetopos durchaus als Unterrichtsgegenstand in allgemeinen und religiösen Bildungsprozessen reflektieren lässt. Allerdings ist ausgehend von den rechtlichen als auch ideengeschichtlichen Bestimmungsversuchen der Gegenstandsbereich des Würdetopos im Unterricht begrenzt. Würde als Unter-richtsgegenstand kann nicht beliebig mit interpretativen Werthaltungen aller Art in Zusammenhang gebracht werden. Vielmehr gilt es diesen Gegenstandsbe-reich zu ermitteln und kompetenzorientiert zu explizieren.

Ob in der Auseinandersetzung mit der komplexen Würdethematik als Sachgegenstand tatsächlich die Achtung der Würde im Umgang der Kinder

35Fragestellung, These und Vorgehen

und Jugendlichen untereinander implementiert werden kann, ist zwar wün-schenswert, jedoch fraglich. Dies müsste mit Mitteln der empirischen Unter-richtsforschung untersucht werden. Anschließend wäre zu überlegen, wel-che auch die Leiblichkeit betreffenden Lernwege sich eignen, die Achtung der Würde in Bildungsprozessen einzuüben. Die religionspädagogische For-schung ist jedoch noch nicht soweit, solche Lernwege zu entwickeln. Die vor-liegende Arbeit versucht dahingehend eine Lücke zu schließen, dass im Blick auf Unterricht überhaupt klar wird, was »Würde« genannt zu werden verdient.

Eine besondere Herausforderung stellt der Ausdruck Bildung selbst dar (zweites Kapitel). Er steht vor einem vergleichbaren Präzisierungsproblem wie der der Würde, so dass nur mit Vorsicht von einem »Begriff« im strengen Sinne gesprochen werden kann. Während im Würdediskurs zwischen einer Negativdefinition (Formulierung des Würdeschutzes vom Verletzungsvor-gang her) und positiven Bestimmungsversuchen von Würde unterschieden wird, ist der Bildungsdiskurs in eine Aporie geraten. Von den Bildungstheo-retikern (Tenorth) wird weitgehend ein Verzicht auf positive Bestimmungs-versuche gefordert. Ein behaupteter Verzicht auf Bestimmungsversuche führt jedoch dazu, dass interpretative Werthaltungen in den Bildungsdiskurs ein-geschleust werden. Der Ausdruck Bildung wird so zum »Trojanischen Pferd«, mit dem diese interpretativen Werthaltungen in die Diskussion hineintrans-portiert werden. Um das zu vermeiden, müssen vielmehr die entsprechen-den ideengeschichtlichen Begründungsstränge expliziert werden, die mit dem jeweiligen Bildungsverständnis verbunden sind.

Angesichts der beiden genannten kritischen Ergebnisse hat der Verlauf der Untersuchung die ursprüngliche Fragestellung entsprechend modifiziert. Ins Zentrum des Interesses rückte die Darstellung der Würdethematik in der Schul- und Lehrerhandbuchliteratur (viertes Kapitel). Zeitgleiche Bemühun-gen um die Konzipierung eines EKD-Kerncurriculums für den gymnasialen Evangelischen Religionsunterricht (EKD-Text 109) verstärkten dieses Inte-resse, da die Würdethematik als eigener Themenbereich in die Konzeption des Kerncurriculums aufgenommen wurde. »Würde« ist so zu einem unver-zichtbaren Thema religiöser und allgemeiner Bildungsprozesse geworden. Die Analyse ausgewählter Lehr- und Lernmittel in Baden-Württemberg führte zu dem Ergebnis, dass eine eklatante Diskrepanz zwischen der Darstellung der Würdethematik in der Schulbuchliteratur und dem interdisziplinären Fach-diskurs über Würde besteht. Die Diskrepanz zwischen fachwissenschaftlichen Erkenntnissen und der didaktischen Reflexion der Würdethematik braucht dringend eine sachgerechte Lösung, in der auch neuere Entwicklungen wie die der Kompetenzorientierten Religionspädagogik berücksichtig werden.

36 Einleitung

Das Erkenntnisinteresse galt nun der Aufgabe, Teilgehalte der komple-xen Würdethematik begründet auszuwählen und zu systematisieren sowie Qualitätskriterien dafür zu entwickeln, was in Bildungsprozessen »Würde« genannt zu werden verdient (fünftes Kapitel). Auf diesem Wege konnte auch eine Synopse entwickelt werden, die der fachwissenschaftlichen und didak-tischen Orientierung im Blick auf die zu fördernden Kompetenzen dient. Da die inhaltliche Auseinandersetzung im Bereich der Erziehungswissenschaf-ten und der Religionspädagogik jedoch inzwischen im Blick auf die Förde-rung von fachübergreifenden und fachbezogenen Kompetenzen religiöser Bildung erfolgen muss, wurden entsprechende Kompetenzen im Zusammen-hang mit Würde formuliert.

Das Ergebnis als Zwischenbilanz besteht darin, dass – um die beiden ers-ten Ebenen erneut aufzugreifen – kein unmittelbarer Zusammenhang zwi-schen Würde und Bildung ermittelt werden kann. Sehr wohl aber kann die Würdethematik zum Unterrichtsgegenstand religiöser und allgemeiner Bil-dungsprozesse gemacht werden. Aufgrund ihrer Komplexität kommt ihr eine wissenschaftspropädeutische Bildungsaufgabe zu. Diese Aufgabe besteht darin, Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu befähigen, die verwirrend heterogenen Begründungsstränge des Würdetopos in ihrer interdisziplinä-ren Ausrichtung unterscheiden und die Leistungsfähigkeit der Würdegaran-tie im Blick auf politische oder bioethische Konfliktsituationen sachgerecht beurteilen und exemplarisch entfalten zu können. So kann insbesondere der weitverbreitete Irrtum korrigiert werden, der mit dem normativen Urteil ein-hergeht, dass die Menschenwürde ein bestimmtes »Kriterium« sei (EKD-Text 109), das in nahezu allen möglichen Problembereichen »angewendet« wer-den könnte. »Es sollte der Eindruck vermieden werden, dass es sich bei der Verwendung des Menschenwürdekriteriums als einem regulativen Prinzip um eine, mathematisch ausgedrückt, 1 zu n Verknüpfung handelt, bei dem ein feststehendes Kriterium auf verschiedene Anwendungsbereiche appli-ziert würde.«65 Die Auseinandersetzung mit der Würdethematik dient nicht der Applikation auf verschiedene Anwendungsbereiche – vielmehr fördert sie die Fähigkeit zur Urteilskraft und zum Perspektivenwechsel ausgehend von begründeten Unterscheidungen dessen, was »Würde« genannt zu werden ver-dient, die insbesondere religiöse Bildung als Teil der Allgemein- und der all-gemeinen Bildung auszeichnet.

65 Anselm 2000, 221–226, hier: 221.