ZUKUNFTSDIALOG INHALT

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ARBEITEN IM DIGITALEN WANDEL Gute Arbeit ermöglichen

Selbstbestimmung und Schutz der Beschäftigten

Sozialpartnerschaft, Tarifbindung und Mitbestimmung

Arbeit in der Plattformökonomie

QUALIFIZIEREN FÜR DIE ARBEITSWELT VON MORGEN Fähigkeiten entwickeln

Betriebliche Weiterbildung

Individuelle Weiterbildung

Sicherung der Fachkräftebasis

KAPITEL 3

Orientierungen für den weiteren Dialog

Impressum

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Z U K U N F T S DI A LO G

Im März 2018 habe ich mein Amt als Arbeits- und Sozial-minister angetreten. Wenige Tage später konnte ich auf einer Pressekonferenz verkünden: „Die gute Entwicklung am Arbeitsmarkt hält an. Im Vergleich zum Vorjahr sind über 760.000 Menschen mehr in Arbeit. Und die Nachfrage nach neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bleibt hoch.“

Eine gute Nachricht, zumal Prognosen davon ausgehen, dass der Arbeitsmarkt robust bleibt. Dieser Beschäftigungs-Boom ist jedoch nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite gibt es auch Menschen, an denen der Aufschwung bislang vorbeigegangen ist. Und vor allem gibt es viel zu viele Men-schen, denen es zwar heute gut geht – die aber nicht darauf vertrauen, dass das so bleiben wird bzw. auch für ihre Kinder gelten wird.

Die Digitalisierung, die alle Lebensbereiche erfasst, eine rasant fortschreitende Globalisierung und eine älter werdende Gesellschaft – die Welt, in der wir leben, verändert sich grund-legend in einer noch nie da gewesenen Geschwindigkeit. 70 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik wird neuer Handlungsbedarf für unser Land spürbar, damit der soziale Zusammenhalt auch morgen eine Stärke unserer Gesellschaft bleibt.

Wir haben deshalb beschlossen, einen Zukunftsdialog „Neue Arbeit – Neue Sicherheit“ zu führen. Und zwar nicht nur mit den ExpertInnen, sondern vor allem mit den ‚norma-len Menschen‘ im Land. Wir wollten wissen: Wie sehen die BürgerInnen ihr Leben – auch jenseits von Hauptstadt und Regierungsviertel? Zum Beispiel in Städten wie Augsburg, Bremerhaven, Essen oder Jena? Was sind ihre Erwartungen? Welche Ideen für die Arbeit von morgen und den Sozialstaat der Zukunft haben sie ganz konkret?

VORWORT DES MINISTERS

Hubertus Heil (46) ist seit März

2018 Bundesminister für Arbeit

und Soziales. Bevor er zum Bundes-

minister ernannt wurde, war er

zwei Mal Generalsekretär der SPD.

Seit 1998 vertritt er den Wahlkreis

Gifhorn-Peine mit einem Direkt-

mandat im Deutschen Bundestag.

Er ist evangelisch, verheiratet und

hat zwei Kinder.

VO RWO RT

„Das Tempo und die Wucht des

Wandels, die wachsende Kom-plexität unseres

Alltags fordern, ja überfordern viele.“

Hubertus Heil

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Z U K U N F T S DI A LO G VO RWO RT

Hubertus HeilBundesminister für Arbeit und Soziales

Ich bin überzeugt: Damit die Menschen in Zeiten des Wandels zuversichtlich sein können, muss der Staat zeigen, dass er ihre konkreten Probleme versteht und vor allem auch, dass er sie mit den Betroffenen zusammen lösen kann – nicht über ihre Köpfe hinweg. Denn unsere Zukunft ist gestaltbar – durch konkrete Politik.

Wie diese moderne und zukunftsfähige Politik aussehen kann, darum ging – und geht – es im Zukunftsdialog.

Es sollen sich wieder mehr Menschen auf morgen freuen können. Dazu brauchen wir eine ehrliche Bestandsaufnahme und eine intensive Diskussion ohne Tabus. Wir brauchen die langen Linien für das nächste Jahrzehnt. Und wir brauchen praktisch umsetzbare Konzepte, die wir noch in dieser Legis-laturperiode auf den Weg bringen können.

Hier präsentieren wir einen Zwischenbericht. Er soll zeigen: Was haben wir bisher getan und gelernt? Bei einigen Fragen sind wir deutlich vorangekommen: Welche Optionen wir zum Beispiel haben, um Kinder und Jugendliche aus ein-kommensschwachen Familien besser zu unterstützen. Oder dass wir den wirtschaftlichen Strukturwandel aktiv begleiten müssen.

Zugleich haben sich durch den Zukunftsdialog neue Ge-sichtspunkte ergeben, die wir bis Herbst 2019 klären wollen: So wurde zum Beispiel deutlich, dass die stärkere Berücksich-tigung ihrer Lebensleistung ein Anliegen vieler Menschen bei der Gestaltung der sozialen Sicherungssysteme ist, auch über die Grundrente hinaus.

Insgesamt ist mein Eindruck: Wir sind schon jetzt ein gan-zes Stück vorangekommen. Überzeugen Sie sich selbst davon.

„Es geht um realistische Zuversicht und

den Mut zur Gestaltung.“

Hubertus Heil

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„Ich erlebe hier Leute, die kommen hierher, weil sie Probleme ansprechen wollen oder Ideen und Fragen haben. Auf jeden Fall eine sehr engagierte Debatte.“

DI A LO G

„Gerade hier im Ruhrgebiet, als Stahlindustrie, Bergbau und die großen Arbeitgeber noch da waren, war der Zusammenhalt, die Solidarität größer. Das ist heute leider nicht mehr so, aber ich hoffe, dass gerade durch solche Veranstaltungen wie den Zukunftsdialog der Zusammenhalt wieder gestärkt wird.“

„Dieses Forum und die Art und Weise, wie hier der Kontakt zum Bürger gelingt, finde ich gut. Oftmals hat man doch den Eindruck, dass Politiker in ihrer eigenen Blase leben, abseits der Realität der normalen Bürger. So ein Forum kann dem entgegenwirken.“

Stimmen zum Dialog

„Ich hoffe, dass die Ergebnisse des Zukunftsdialogs für die einzelnen Bürger auch spürbar werden. Dass man merkt, Minister Heil hat aus den Veranstaltungen was mitgenommen.“

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„Ich finde, der Zukunftsdialog ist ein gutes Format. Ich würde mir diese Art von Zuhören aus der Politik und Dialog mit denjenigen, die in der Praxis sind, öfter wünschen.“

„Ich halte den Dialog mit der Politik für wichtig und finde es super, dass man Politiker auch mal persönlich treffen kann – vor allem, weil ich oft das Gefühl habe, dass Politik an den Menschen vorbei entschieden wird und gerade die Menschen, die von den Auswirkungen politischer Entscheidungen betroffen sind, einfach aus den Augen verloren werden.“

DI A LO G

„Die Veranstaltung ist sehr gut organisiert und sollte regelmäßig fortgesetzt werden.“

„Ich hätte mir mehr Zeit und mehr Raum zur Diskussion gewünscht; der Ausblick, wie mit den Ergebnissen umgegangen wird, sollte bitte etwas konkreter sein!“

„Es wird immer viel geredet, aber es ändert sich nichts. Hier wird Geld aus dem Fenster geworfen.“

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Umbrüche in der Arbeitswelt und im Zusammenleben können Menschen beflügeln, ihnen aber auch Sorgen

bereiten. Hinter diesen Umbrüchen stehen technologische, wirtschaftliche, politische und soziale Veränderungen. Dazu gehören große und langfristige Entwicklungen, wie Digitali-sierung und Globalisierung, Migration und der demografische Wandel. Nicht zuletzt erleben wir einen Wandel der Werte, was Arbeit, Familie, Gemeinschaft und Politik für den Einzel-nen bedeuten.

Dies stellt alte Gewissheiten infrage und stellt uns vor die Herausforderungen des Neuen. Die damit verbundenen Verunsicherungen betreffen insbesondere auch die beiden zentralen Institutionen der sozialen Marktwirtschaft und der individuellen Lebenswelt: Arbeit und soziale Sicherheit.

GESELLSCHAFT IM UMBRUCH

Noch nie waren so viele Menschen in Deutschland erwerbs-tätig. Positiv ist auch, dass die Frühjahrsprognose 2019 des Ins-tituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zu dem Ergebnis kommt: Der Arbeitsmarkt bleibt trotz sich einer deutlich abflachenden Konjunktur robust.

Zugleich befinden wir uns mitten in einem großen Struk-turwandel. Digitalwirtschaft und Plattformökonomie machen aus technischen Innovationen neue Geschäftsmodelle, sie verändern die Art, wie wir arbeiten und fordern Unternehmen in klassischen Branchen heraus. Beschäftigte erleben viele Vorteile, die mit dem digitalen Arbeiten verbunden sind, einige sehen aber auch ihren Job durch neue Technologien bedroht, praktisch alle müssen ihr Wissen erweitern. Neue Erwerbsfor-

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Der Zukunftsdialog

Kapitel 1

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men verbinden sich bei den einen mit dem Wunsch nach weni-ger staatlichen Vorgaben, bei den anderen mit der Forderung nach mehr sozialem Schutz.

Bei allem Wohlstand sehen die Menschen in Deutschland hierbei auch erhebliche soziale Herausforderungen: Viele Menschen mit niedrigen Einkommen kommen trotz Arbeit nur mithilfe staatlicher Unterstützung über die Runden. Zu viele Langzeitarbeitslose finden trotz guter Situation am Arbeits-markt keinen Arbeitsplatz. Kinder aus einkommensschwachen Familien erleben schon früh, dass ihre Möglichkeiten einge-schränkt sind und dass es für sie schwer ist mitzuhalten.

Menschen, die bei der Bewältigung des Umbruchs auf staatliche Hilfen angewiesen sind, stellen fest: Es kann viel Kraft kosten herauszufinden, was einem zusteht und wo es konkrete Hilfen gibt. Viele bekommen die Unterstützung, die sie sich wünschen, andere fühlen sich in ihrer Situation nicht angemessen behandelt und in ihrer Lebensleistung nicht aus-reichend gewürdigt. Es geht dabei auch um die Haltung, mit der der Sozialstaat den BürgerInnen begegnet.

Der gesellschaftliche Zusammenhalt wird heute von vielen Menschen nicht mehr als selbstverständlich wahrge-nommen. Sie fühlen sich auf sich selbst gestellt statt von einer

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Gemeinschaft getragen. Sie fühlen sich zum Teil nicht aus-reichend unterstützt, in ihren Anstrengungen nicht gewürdigt. Sie sehen Armut als großes Problem; sie nehmen wachsende Unterschiede zwischen Arm und Reich wahr; sie sehen die Einkommensunterschiede und die soziale Ungleichheit als zu groß an. Gerechtigkeitsdefizite werden vor allem im Bereich niedriger Einkommen gesehen.

FÜR SOZIALE SICHERHEIT IN DER

ARBEITSGESELLSCHAFT VON MORGEN

Eine Arbeitsgesellschaft, die sich im Wandel befindet, braucht neue Sicherheit. Mit dem Zukunftsdialog „Neue Arbeit – Neue Sicherheit“ stellt das Bundesministerium für Arbeit und So-ziales (BMAS) zur Diskussion, wie die Arbeitswelt von morgen aussehen soll und welche sozialen Sicherheiten die Menschen künftig benötigen, damit sie zuversichtlich in ihre Zukunft blicken können.

Bei der Frage, was Menschen Halt und Sicherheit gibt, denken viele zuerst an ihre Familie und Freunde. Sicherheit geben aber auch gemeinsam ausgehandelte oder gesetzlich garantierte Regeln, zum Beispiel für gute Arbeit und faire Löhne. Schließlich gibt Sicherheit auch ein Sozialstaat, der Hilfe und Unterstützung zuverlässig bereitstellt, Perspektiven eröffnet und ein Leben in Würde für jeden Einzelnen sicher-stellt. Hierzu wirken viele einzelne Elemente zusammen: Sozialversicherungen und Sozialverwaltung, Arbeitsrecht und Arbeitsförderung, Sozialpartnerschaft und Mitbestimmung, die Grundsicherungssysteme, die Familienförderung und vieles mehr.

Mit dem Zukunftsdialog „Neue Arbeit – Neue Sicherheit“ möchte das BMAS gemeinsam mit den Menschen neue Ideen und Antworten entwickeln, wie wir auch in Zukunft gut in unserem Land zusammenleben, zusammen arbeiten und für-einander da sein können.

Es geht darum, die neue Arbeitswelt so zu gestalten und Sicherheiten so zu erneuern, dass das Vertrauen in die eigene

Das, was uns als Gesellschaft zu-

sammenhält und Sicherheit gibt,

beruht neben gelebter Gemein-

schaft auch auf Demokratie und

politischen Institutionen.

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Z U K U N F T S DI A LO G DI A LO G

Zukunft und in die politischen Institutionen wieder wachsen kann. Es geht darum, eine neue Balance zwischen Chancen und Schutz im Wandel zu finden, Unsicherheiten zu verrin-gern und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken.

Unsere Gesellschaft soll eine Arbeitsgesellschaft bleiben, in der Erwerbsarbeit auch ein Schlüssel für Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben ist. Ziel des Dialogs ist es, neue Wege zu gehen, um zusammen mit den Gestaltungspartnern in Politik und Zivilgesellschaft auch weiterhin gute Arbeits-bedingungen und Arbeit für alle zu gewährleisten. Menschen, die jahrzehntelang hart gearbeitet haben, dürfen auch auf die besondere Unterstützung der Gesellschaft zählen. Jeder Mensch hat das Recht, ein Leben in Würde zu führen. Die-ses muss der Staat sicherstellen. Es gilt hierbei, vorhandene

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Sorgen vor einem sozialen Abstieg aufzunehmen und ihnen entgegenzuwirken. Die Menschen sollen sich bei aller Ver-schiedenheit als Teil einer Gesellschaft erleben können, die Lebenschancen sowie wirtschaftlichen Wohlstand gerecht verteilt und auf gegenseitiger Hilfe statt sozialen Gegen-sätzen aufbaut. Wo Benachteiligungen drohen, braucht es spezielle Unterstützung.

VIER HANDLUNGSFELDER

Im Folgenden werden die vielfältigen Diskussionen aus den Veranstaltungen des Zukunftsdialogs sowie der Online- Beteiligung in vier Handlungsfelder gegliedert dargestellt.

Sozialstaat weiterdenken Hier werden Themen gebündelt, bei denen es um Fragen des gesellschaftlichen Ausgleichs und gerechter Zugänge zu staatlichen Leistungen geht.

Soziale Sicherheit gestaltenHier werden Themen rund um die Absicherung von Erwerbs-risiken in den Fokus genommen.

Arbeiten in der digitalen Welt Hier werden Themen rund um die Gestaltung guter Arbeit an-gesichts der digitalen Transformation mit ihren Chancen und Risiken betrachtet.

Qualifizieren für die Arbeit von morgen Hier werden Themen rund um Fragen der Aus- und Weiter-bildung in einer Arbeitswelt, in der der Wandel zur einzigen Konstante wird, behandelt.

Aus Sicht des BMAS sind diese vier Handlungsfelder von entscheidender Bedeutung dafür, neue Sicherheiten und Chan-cen im Wandel zu schaffen und den Zusammenhalt zu stärken.

Diese vier Handlungsfelder hat das

BMAS aktiv in den Dialog einge-

bracht. Der Dialog ist jedoch auch

offen für weitere Themen und

Anliegen, die an das BMAS heran-

getragen wurden.

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Z U K U N F T S DI A LO G DI A LO G

Die Konzentration auf diese vier Handlungsfelder ermög-licht einen zielgerichteten und konstruktiven Austausch. Das BMAS hat zu Beginn des Dialogs jedes Handlungsfeld durch zwei Leitfragen konkretisiert. Sie wurden bei den Veranstal-tungen immer wieder zur Diskussion gestellt und eröffneten den Austausch. Der Dialog war und ist aber auch für andere Themen offen.

• Wie kann der Sozialstaat noch besser ausgestaltet werden?

• Wie kann die wirtschaftliche Entwicklung genutzt werden, um die soziale Situation von z.B. prekär Beschäftigten, Selbstständigen und Crowdworkern zu verbessern?

• Wie können die Perspektiven von Menschen verbessert werden, die lange Zeit arbeitslos waren?

• Wie können bessere Chancen für Kinder und Familien mit niedrigem Einkommen geschaffen werden?

• Wie sieht gute Arbeit im digitalen Wandel aus?• Wo gibt es besondere Chancen für Erwerbstätige,

wo Unterstützungsbedarf?

• Wie kann Weiterbildung für alle organisiert werden?• Wie kann ein positives Lernklima entstehen, das

Menschen aller Qualifikations- und Altersstufen dazu motiviert, sich kontinuierlich Wissen und Fähigkeiten anzueignen?

Es hat wenig Sinn, über den Sozialstaat zu diskutieren, ohne auch die Arbeitsgesellschaft in den Blick zu nehmen. Bei der Themenauswahl war es deshalb wichtig, die Berei-che Arbeit und Soziales zusammenzudenken. Diese enge Verbindung greift auch der Dialogtitel „Neue Arbeit – Neue Sicherheit“ auf. Denn Sozialpolitik darf sich nicht darauf be-schränken, im Nachhinein das zu reparieren, was vorher bei Bildung, in Gesellschaft, Wirtschaft und Arbeitsmarkt schief-gelaufen ist.

Der Zukunftsdialog schließt an den

Dialog „Arbeiten 4.0“ des BMAS an.

Der Zukunftsdialog berücksichtigt

auf den bereits damals bearbeiteten

Feldern „Digitale Arbeitswelt“ und

„Weiterbildung“ die Fortschritte in

der technologischen und politischen

Debatte und zieht den Kreis der

Themen weiter.

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EssenJena

Augsburg

Bremerhaven

13. Oktober 201824. November 2018

9. März 2019

16. Februar 2019

Z U K U N F T S DI A LO G DI A LO G

Die Zukunftsforen fanden

am 13. Oktober 2018 in Essen, am

24. November 2018 in Jena, am

16. Februar 2019 in Augsburg und am

9. März 2019 in Bremerhaven statt.

An den Veranstaltungen nahmen

jeweils bis zu 200 Personen teil.

Vielmehr müssen Arbeits- und Sozialpolitik ganzheit-lich vorgehen: Sie müssen die vielfältigen Möglichkeiten zur Gestaltung der Arbeitswelt, der Arbeitsbeziehungen zwi-schen Unternehmen und Beschäftigten und der Instrumente der Arbeitsmarktpolitik von Anfang an einbeziehen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch zu einer fairen Verteilung von Chancen, Risiken und Wohlstandsgewinnen in unserer Gesellschaft beitragen.

Einzelne Themen hat das BMAS beim Zukunftsdialog bewusst nicht einbezogen, auch wenn das hohe Interesse vieler Menschen gut nachvollzogen werden kann. Dies betrifft insbesondere Themen wie die Rente oder gleichwertige Le-bensverhältnisse. Hierzu werden zurzeit in eigenen, von der Regierung eingesetzten Kommissionen neue Vorschläge er-arbeitet. Deren Ergebnissen sollte nicht vorgegriffen werden.

DER DIALOG: ZUHÖREN UND GESTALTEN

Der Zukunftsdialog „Neue Arbeit – Neue Sicherheit“ ist in zwei Phasen unterteilt. Mit der Auftaktkonferenz startete im Herbst 2018 die erste Phase des Zuhörens und Anliegen- Sammelns bei Bürgerveranstaltungen. Ziel der vier regionalen Zukunftsforen für das BMAS war es, Fragen zu stellen, auf-merksam zuzuhören, die Anliegen der Menschen im Land auf-zunehmen und zu verstehen, was sie in ihrem Alltag bewegt. Die BürgerInnen konnten ihre Probleme und Anliegen dabei direkt an Minister Heil richten.

Die Auftaktkonferenz fand am

10. September 2018 im Westhafen in

Berlin statt. Minister Heil erläuterte

den Dialog und seine Ziele. Danach

konnten die 450 TeilnehmerInnen

bei acht Dialoginseln ihre Anliegen

einbringen.

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In der Reihe Ortsgespräche besuchte Minister Heil Ein-richtungen und Unternehmen. Dabei tauschte er sich mit PraktikerInnen sozialer Einrichtungen und der Sozialverwal-tung, selbstständig Tätigen sowie Angestellten von kleinen und großen Unternehmen aus.

In zwölf Workshops zu Einzelthemen haben sich Fach-leute aus dem BMAS mit ExpertInnen aus der Wissenschaft und von Verbänden ausgetauscht.

In der zweiten Phase des Zukunftsdialogs wird das BMAS auf dieser Grundlage bis zum Herbst 2019 konkrete Gestal-tungsvorschläge entwickeln.

Den Auftakt dafür bildet ein Ministergespräch mit den Spitzen der Sozialpartner, Wohlfahrtsverbände und weiterer Gestaltungspartner am 29. April 2019.

In der zweiten Junihälfte wird das BMAS vier Hearings mit ExpertInnen aus Verbänden und der Wissenschaft durch-führen. Die dort leitenden Fragestellungen werden auch online zur Diskussion gestellt.

Z U K U N F T S DI A LO G DI A LO G

Ortsgespräche

13.11.2018 – Robert Bosch

07.12.2018 – Jobcenter Duisburg

07.12.2018 – thyssenkrupp

17. 01.2019 – WeTek

21.01.2019 – Siemens

14.02.2019 – Silicon Sanssouci

02.03.2019 – BLG Logistics Group

11.03.2019 – RheinFlanke

26.03.2019 – WeiberWirtschaft

Z U K U N F T S D I A L O G

POLITIK GESTALTENANLIEGEN UND IDEEN SAMMELN

4 REGIONALE ZUKUNFTSFORENBürgerperspektive

ORTSGESPRÄCHE

10. September 2018

AUFTAKTKONFERENZ

FACHDIALOG

September 2019

ERGEBNISBERICHT

ERGEBNISKONFERENZ

HEARINGS

BÜRGER-FEEDBACK

April 2019

ZWISCHENBERICHT

MINISTERGESPRÄCH

Soziale SicherheitSozialstaat

Quali�zierungDigitalisierung

Auswertung Orientierung

FACHDIALOG

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Z U K U N F T S DI A LO G DI A LO G

Die Einschätzungen aus den Hearings und der Online- Diskussion wertet das BMAS anschließend aus und verbindet sie mit eigenen Konzepten, die bis zum Sommer erarbeitet werden. Im Herbst 2019 wird Minister Heil die Ergebnisse des Dialogs im Rahmen einer Ergebniskonferenz am 20. Septem-ber 2019 in Berlin vorstellen. Zeitgleich wird ein Ergebnisbe-richt erscheinen.

ZWISCHENBERICHT: ORIENTIERUNG FÜR

DIE ZWEITE DIALOGPHASE

Der vorliegende Zwischenbericht fasst die bisherigen Diskus-sionen aus der ersten Phase des Dialogs zusammen und zieht aus Sicht des BMAS erste orientierende Schlussfolgerungen daraus. Er ist das Scharnier zwischen den beiden Phasen des Dialogs. Er leitet vom Zuhören zum Gestalten über.

In Kapitel 1 stellt das BMAS den Zukunftsdialog in seinen Grundzügen und Zielen vor.

Kapitel 2 besteht zum Großteil aus den Beiträgender WissenschaftlerInnen, die die Dialogveranstaltungen im Auftrag des BMAS begleitet und ausgewertet haben. Sie werten die Diskussionen aus dem Bürger- und Fachdialog aus. In diesem Kapitel berichtet das BMAS darüber hinaus von den Ortsgesprächen und Einrichtungen, die Minister Heil besucht hat und die zeigen, wie gute Lösungen aussehen können, aber auch welche Probleme sich in der Praxis stellen. Und das Kapitel enthält biografische Geschichten, die zeigen, wie sich behandelte Problemstellungen in einzelnen Biografien kon-kretisieren können. Die biografischen Geschichten sind in der Ich-Perspektive abgefasst. Sie geben die subjektive Perspek-tive der Personen wieder, die dort im Mittelpunkt stehen. Das BMAS hat deren Angaben nicht überprüft und erhebt auch nicht den Anspruch, dass die individuellen Geschichten den jeweiligen Abschnitt repräsentativ und vollständig darstellt.

In Kapitel 3 benennt das BMAS auf Grundlage dieser Aus-wertung zentrale Handlungsbedarfe und Ziele für die Politik-gestaltung und gibt so eine Orientierung für den Fortgang des

Große Teile des zweiten Kapitels

wurden durch WissenschaftlerInnen

des Instituts zur Zukunft der Arbeit

(IZA) und deren Projektpartner

verfasst. Bei der Darstellung der

Ortsgespräche und der Individualge-

schichten wurde das BMAS durch die

Agentur neues handeln unterstützt.

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Z U K U N F T S DI A LO G DI A LO G

Zukunftsdialogs. Wo der Zwischenbericht benennt, welche Probleme mit welchen Zielen angegangen werden sollen, wird der Ergebnisbericht Gestaltungsoptionen analysieren und gegeneinander abwägen.

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Z U K U N F T S DI A LO G

„Arbeit muss sich lohnen, wer 40 Stunden arbeitet, muss mehr Geld am Ende des Monats haben als ein Arbeitsloser inkl. Wohnungsgeld, Nebenkostenzuschuss …“

„Der soziale Zusammenhalt ist in Gefahr, aber noch vorhanden. Bildung und Ausbildung sind der Schlüssel für gesellschaftliche Weiterentwicklung, Teilhabe und Engagement.“

„Erwerbslose sollten mit ihren Möglichkeiten gesehen werden und ihre häufig selbst gewonnenen Fähigkeiten genutzt werden.“

DI A LO G

„Gute Arbeit im digitalen Wandel gibt es nur mit Schutz von Persönlichkeitsrechten, Mit- und Selbstbestimmung und Gesundheit (keine Prekarisierung von Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen).“

Stimmen aus dem Dialog

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Z U K U N F T S DI A LO G

„Wenn in einem Haushalt kurzfristig mehr Einkommen generiert wird und dadurch der ALG-II-Bezug entfällt, können Menschen in Qualifizierungsmaßnahmen aus diesen Maßnahmen rausfliegen. Das ist ein echtes Problem – für die Betroffenen, aber auch für die Bildungsträger.“

„Qualifizierung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, deren Finanzierung gemeinsam geschultert werden muss.“

„Das alte Maßnahmendenken bringt uns nicht weiter. Wir brauchen individuelle, passgenaue Angebote. Diese kosten mehr Geld, bringen aber auch mehr Erfolg. Gute Ansätze gibt es auf Bundesebene. Unsere Aufgabe ist es, hier ein lernendes System mit der Verwaltung hinzubekommen.“

DI A LO G

„Digital muss zum Nutzen der Menschen sein, aber die Geschwindigkeit darf nicht zu Lasten der Arbeitenden erhöht werden.“

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Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO NZ U K U N F T S DI A LO G

Diskutierte Themen- schwerpunkteWISSENSCHAFTLICHE AUSWERTUNG

DER DISKUSSIONEN

Die Anliegen, Kommentare und Ideen der Beteiligten wurden sorgfältig dokumentiert und ausgewertet. Dafür wurde das Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA) als unabhän­giger wissenschaftlicher Partner beauftragt. Das Forschungs­institut IZA war bei der Auftaktkonferenz, den Zukunftsforen und Fachworkshops zusammen mit dem Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) als weiterem Projektpartner vor Ort prä­sent, um die Diskussionen zu erfassen und auszuwerten.

Das nächste Kapitel enthält die Analyse und Auswertung der Institute IZA und des IAQ. Entlang der vier Handlungs­felder haben die WissenschaftlerInnen 14 Themenschwer­punkte identifiziert, die für die BürgerInnen im Dialog besonders wichtig waren. Die wissenschaftlichen Beiträge zu den einzelnen Themenschwerpunkten geben hierbei nicht zwingend auch die Auffassung des Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) wieder. Die wissenschaftliche Aufbereitung des IZA wurde durch das BMAS um Stimmen aus dem Dialog, Eindrücke von den Ortsgesprächen und per­sönliche Geschichten ergänzt.

Im Layout sind die Teile, die das Institut zur Zukunft der Arbeit unabhängig verfasst hat, deutlich zu unterscheiden von den Teilen, die das BMAS erstellt hat. Alle Teile in der Ver­antwortung des BMAS enthalten einen grünen Rand. Bei den IZA­Teilen fehlt dieser Rand.

Die Auswertungen in Kapitel 2

wurden vorgenommen durch ein

Team von WissenschaftlerInnen unter

der Leitung von Herrn Prof. Dr. Holger

Bonin vom Forschungsinstitut zur

Zukunft der Arbeit (IZA).

Kapitel 2

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Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO NZ U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

SOZIALSTAAT WEITERDENKEN Gesellschaftlichen Ausgleich stärken

• Soziale Teilhabe von Kindern und Jugendlichen• Situation von Geringverdienenden• Bürgerfreundliche Sozialverwaltung• Finanzierung des Sozialstaats

SOZIALE SICHERHEIT GESTALTEN Erwerbsrisiken absichern

• Absicherung vielfältiger Erwerbsformen• Lebensleistung bei Arbeitslosigkeit• Unterstützung von Menschen in der Grundsicherung• Das Soziale in Europa

ARBEITEN IM DIGITALEN WANDEL Gute Arbeit ermöglichen

• Selbstbestimmung und Schutz der Beschäftigten• Sozialpartnerschaft, Tarifbindung und Mitbestimmung• Arbeit in der Plattformökonomie

QUALIFIZIEREN FÜR DIE ARBEITSWELT VON MORGEN Fähigkeiten entwickeln

• Betriebliche Weiterbildung• Individuelle Weiterbildung • Sicherung der Fachkräftebasis

HANDLUNGSFELDER

UND THEMENSCHWERPUNKTE

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Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

Gesellschaftlichen Ausgleich stärken

22 – 29 Soziale Teilhabe von Kindern und Jugendlichen

30 – 37 Situation von Geringverdienenden

38 – 45 Bürgerfreundliche Sozialverwaltung

46 – 51 Finanzierung des Sozialstaats

SOZIALSTAAT WEITERDENKEN

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EINFÜHRUNG IN DAS HANDLUNGSFELD

Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

Der deutsche Sozialstaat kümmert sich mit einer Vielzahl von Leistungen um eine ange-messene Daseinsvorsorge und die Sicherung der BürgerInnen gegen zentrale Risiken in einer arbeitsteiligen Gesellschaft. Er setzt auch ver-teilungspolitische Instrumente ein, um Wohl-fahrtsdifferenzen entgegenzuwirken und die soziale Gerechtigkeit zu verbessern. Wie Umfra-gen zeigen, haben dennoch viele Menschen den Eindruck, dass es in Deutschland derzeit nicht gerecht genug zugeht, und machen sich Sorgen um den sozialen Zusammenhalt in der Gesell-schaft.

So wachsen hier nicht wenige Kinder und Jugendliche in einem von Armut geprägten Um-feld heran. Sie sind darum stärker von sozialer Ausgrenzung bedroht und haben von klein auf schlechtere Chancen auf Bildung und beruf-lichen Erfolg. Der deutsche Sozialstaat nimmt zwar mehr Geld zur Unterstützung von Familien in die Hand als andere Länder. Davon kommt bei den wirklich Bedürftigen aber offenbar häufig nicht genug an.

Das komplexe Unterstützungssystem für Fa-milien ist auch ein Beispiel dafür, dass Menschen teilweise nur schwer überblicken, was ihnen an Sozialleistungen zusteht. Manche Leistungen, wie etwa der Kinderzuschlag, werden von vielen Berechtigten nicht in Anspruch genommen, weil sie zu unübersichtlich gestaltet oder gar nicht

erst bekannt sind. Manchmal tragen die Stellen der Sozialverwaltung zu dieser mangelnden Inanspruchnahme bei, weil sie nicht umfassend informieren und Anliegen der BürgerInnen nicht auf Augenhöhe behandeln.

An der Einkommensungleichheit in Deutsch-land hat sich in den letzten Jahren alles in allem wenig geändert. Jedoch arbeitet ein internatio-nal gesehen hoher Anteil der Beschäftigten hier trotz bester Wirtschaftsdaten für Niedriglöhne. Zudem sind derzeit die impliziten Steuerbelas-tungen, die der Staat Hilfebedürftigen mit klei-nem Einkommen auferlegt, oftmals sehr hoch. Wer arbeitet, steht deshalb nicht immer deutlich besser da, als wer nicht arbeitet.

Die Finanzierung des deutschen Sozialstaats tragen zu einem Gutteil die Beschäftigten. Sie beruht auf einem gesellschaftlichen Generatio-nenvertrag, der infolge der Bevölkerungsent-wicklung und des globalen Wettbewerbs zuneh-mend unter Druck gerät. Gesellschaft und Politik stehen vor der Frage, wie eine nachhaltige – und auch als gerecht empfundene – Finanzierung der Sozialsysteme gesichert werden kann.

Darum wurde im Zukunftsdialog in unter-schiedlichen Themenfeldern diskutiert, wie sich der deutsche Sozialstaat so weiterentwickeln könnte, dass er für mehr gesellschaftlichen Aus-gleich sorgt.

IZA

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Z U K U N F T S DI A LO G

Soziale Teilhabe von Kindern und Jugendlichen

DI S K U S S IO N

T H E M E N S C H W E R P U N K T

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Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

In Deutschland erleben zahlreiche Heranwachsende Armut und leiden

dadurch unter sozialer Ausgrenzung. Mit Blick auf das Kindeswohl und die

Chancengerechtigkeit wünschen sich viele BürgerInnen eine bessere

materielle Absicherung sozial schwacher Kinder und Jugendlicher, aber

auch verstärkte Investitionen in die für mehr gesellschaftliche Teilhabe

notwendigen Infrastrukturen.

Auch wenn in Deutschland nur wenige junge Menschen unter erheblichen materiellen

Entbehrungen leiden, ist ein Teil der Kinder und Jugendlichen durch anhaltende Armutslagen gefährdet. Derzeit leben rund zwei Millionen der gut 13 Millionen Minderjährigen in einer Bedarfs­gemeinschaft, die auf Leistungen der Grundsi­cherung für Arbeitsuchende angewiesen ist. Laut jüngstem Armuts­ und Reichtumsbericht der Bundesregierung waren im Einkommensjahr 2014 zwischen 15 und 21 Prozent der unter 18­Jährigen einem Armutsrisiko ausgesetzt. Sie gehörten also zu einem Haushalt, der mit weniger als 60 Prozent des bedarfsgewichteten Nettoeinkommens aller Haushalte auskommen musste. Ohne das vorhan­dene umfangreiche System an Sozialtransfers und Familienleistungen wäre die Armutsrisikoquote von Kindern und Jugendlichen allerdings noch sehr viel höher. Nach Berechnungen, die für die Armuts­ und Reichtumsberichterstattung vorge­nommen wurden, sorgen die sozialen Geldleistun­gen des Staats in fast der Hälfte aller Fälle dafür,

dass Familien mit ihrem Einkommen die Armuts­risikoschwelle überwinden.

Inwieweit Kinder und Jugend­liche einem erhöhten Armuts­risiko ausgesetzt sind, hängt wesentlich von der Familienkon­stellation ab.

Gemäß den Daten des Mikrozensus für 2015 hatte nur jede zehnte Familie mit einem oder zwei Kindern ein Nettoeinkommen von weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens, bei Familien mit drei und mehr Kindern dagegen jede vierte. Die Armutsrisikoquote bei Ein­Eltern­ Familien lag sogar bei 44 Prozent. Dass Kinder und Jugendliche einem Armutsrisiko ausgesetzt sind, liegt zum ganz überwiegenden Teil daran, dass ihre Eltern wegen der im Familienkontext zu leis­tenden Sorgearbeit nicht oder nur eingeschränkt am Erwerbsleben teilhaben können oder aber

IZA

Wissenschaftlicher Bericht

K I N D E R U N D J U G E N D L IC H E

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Z U K U N F T S DI A LO G

Der Zukunftsdialog

steht unter der Über­

schrift „Neue Arbeit –

Neue Sicherheit“.

K I N D E R U N D J U G E N D L IC H E

DI S K U S S IO N

keine auskömmliche Erwerbsarbeit finden. Vor al­lem Mütter könnten von wirksamen Maßnahmen gegen Niedriglöhne profitieren (→ Schwerpunkt: Geringverdienende).

Auch wenn Kinderarmut häufig an unzureichenden finanziellen Ressourcen festgemacht wird, ist das Problem weit mehr als ein Mangel an Geld. Vor allem Kinder und Jugendliche, die über längere Zeit von Armut betroffen sind, erleben soziale Aus-grenzung und vielfältige strukturelle Benachteili­gungen, etwa im Hinblick auf die Menge und Güte der sozialen Kontakte, die physische und psychi­sche Gesundheit oder den Zugang zu allgemeiner und altersgemäßer Bildung. Deshalb kann diese prekäre Lebenslage zu einem zentralen Risiko-faktor für das Kindeswohl und ein gelingendes Heranwachsen werden. Oft bleiben biografische Narben zurück, die auch noch im Erwachsenen­alter – etwa bei der Arbeitsmarktintegration – spürbar bleiben.

Beim Auftakt des Zukunftsdialogs und in den Zu­kunftsforen zeigte sich, dass die ausreichende materielle Absicherung von einkommensschwa­chen Familien und eine gleichberechtigte gesell­schaftliche Teilhabe von Kindern und Jugendlichen unabhängig vom sozialen Hintergrund ein starkes Anliegen der BürgerInnen sind. Die diesbezüglich geäußerten Wünsche richteten sich vor allem auf

• eine bedarfsgerechte Existenzsicherung für Kinder und Jugendliche,

• niedrigschwellige und nicht stigmatisierende Zugänge zu Familienleistungen,

• unterstützende Infrastrukturen für Familien in guter Qualität,

• bessere Angebote für Familien in besonde­ren Problemlagen.

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Z U K U N F T S DI A LO G

Hubertus Heil im Gespräch mit Teil­

nehmenden beim Zukunftsforum in

Augsburg.

DI S K U S S IO N

Eine besonders häufig ausgesprochene Forde­rung war, bedürftige Familien materiell besser abzusichern. Offenbar haben viele Menschen in Deutschland den Eindruck, dass die für ein gutes Aufwachsen mit gesellschaftlicher Teilhabe be­nötigten Ressourcen Kindern und Jugendlichen derzeit nicht ausreichend zur Verfügung stehen. Viele erwarten von der Politik eine Überprüfung der Regelbedarfe mit dem Ziel, die Bedürfnisse von Heranwachsenden realitätsnäher abzubilden. In diesem Zusammenhang unterstützten nicht we­nige BürgerInnen Forderungen nach einer eigen­ständigen Kindergrundsicherung. Häufig wurde damit das Ziel verknüpft, Kinder und Jugendliche aus Familien mit niedrigem eigenen Einkommen oberhalb der bisherigen Regelbedarfe sozial abzu­sichern. Allerdings wurden im Dialogprozess ganz unterschiedliche Vorstellungen geäußert, wie hoch

eine Kindergrundsicherung sein müsste und ob sie vom Familieneinkommen abhängig oder unabhän­gig gestaltet werden sollte.

Nicht wenige BürgerInnen beklagten die Komple­xität des bestehenden Systems öffentlicher Hilfen für Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Familien. Sie äußerten die Erwartung, den Zugang zu Unterstützungsleistungen so niedrigschwellig zu gestalten, dass die Leistungen alle Anspruchs­berechtigten auch tatsächlich erreichen. Damit ver­bundene zentrale Anliegen sind Vereinfachungen im Regelwerk durch eine Zusammenführung oder Harmonisierung von Einzelleistungen, transpa­rente und leicht zu bewältigende Antragsprozesse sowie die Einrichtung von zentralen Anlaufstellen für Familien, die als Lotsen und Clearingstellen im Geflecht der Familienleistungen agieren.

K I N D E R U N D J U G E N D L IC H E

25

Ebenso deutlich wurde das Ziel artikuliert, dafür zu sorgen, dass bedürftige Eltern und ihre Kinder nicht aus Scham auf notwendige Hilfen verzichten. In diesem Zusammenhang wurde einerseits ein wertschätzenderer Umgang vonseiten der zustän­digen Stellen angemahnt, andererseits aber auch verlangt, Träger von Teilhabeleistungen mit mehr Ressourcen auszustatten.

Im Dialogprozess wurde auch der Wunsch erkennbar, dass Kinder und Jugendliche unabhängig von der finanziellen Lage ihrer Fami­lie gleichen Zugang zu Bildung sowie kulturellen und Freizeit­angeboten haben sollten.

Über eine ausreichende materielle Unterstützung zur Deckung der damit verbundenen Ausgaben hinaus richteten sich die Erwartungen auf den Ausbau von öffentlichen Infrastrukturen, die für ein gelingendes Aufwachsen armutsgefährde­ter junger Menschen zentral sind. BürgerInnen forderten ebenso wie angehörte ExpertInnen ein ausreichendes Angebot an verlässlichen und guten Betreuungsmöglichkeiten – auch für Schulkinder und zu Randzeiten, damit Eltern und insbesondere Alleinerziehende durch eigene Erwerbsarbeit die Familie wirtschaftlich besser absichern können.Im Hinblick auf die soziale Teilhabe und die

Förderung der Chancengerechtigkeit gab es breiten Konsens, dass Kitas, Schulen und Jugend­ämter besser ausgestattet und Personalschlüssel angepasst werden müssten, um sozial benachtei­ligte Kinder und Jugendliche noch besser fördern zu können. Im Rahmen eines Fachworkshops

„Mehr Chancen für armutsgefährdete Kinder und Jugendliche“ wurde allerdings auch deutlich, dass die Möglichkeiten des Bundes, die notwendige Infrastruktur stärker zu finanzieren, im föderalen System Deutschlands absehbar begrenzt bleiben werden.

Die BürgerInnen benannten im Zukunftsdialog auch das Anliegen, an Schnittstellen im Lebensver­lauf, die für die Entwicklung von Heranwachsen­den besonders kritisch sind, gezielt mehr Beratung und Orientierung anzubieten. Einerseits wurden diese Hilfen für Eltern gefordert, etwa an Bruch­stellen wie Scheidung und Arbeitsverlust, die häu­fig mit Erziehungs­ oder materiellen Problemen einhergehen. Andererseits richteten sich Wünsche auf eine intensivere Begleitung von Kindern und Jugendlichen an den Übergängen Kita – Schule – Ausbildung – Beruf, um Risiken eines Scheiterns infolge von Entwicklungs­ und Bildungsrückstän­den zu verringern.

Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

K I N D E R U N D J U G E N D L IC H E

26

Z U K U N F T S DI A LO G

Bundesminister Hubertus Heil im

Rahmen der Abschlussdiskussion

beim Zukunftsforum in Essen.

DI S K U S S IO N

K I N D E R U N D J U G E N D L IC H E

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Z U K U N F T S DI A LO G

Kindheit in Armut

Kein Kino, kein Ausflug, kein Geld, um mit anderen etwas zu unternehmen. Florian Schneider ist der Meinung, dass die Grundsicherung für Arbeitsuchende den Anliegen von Kindern zu wenig gerecht wird.

Ich bin Hartz­IV­Kind. Armut prägte meine Kindheit und Jugend. Sie sorgte dafür, dass ich keine Freunde hatte und zum Mobbingopfer wurde. Ich war schon in der Grundschule der Außenseiter, weil ich nie an Klassenfesten oder anderen Feiern teilnehmen konnte, denn das hätte Geld gekostet. Geld, das wir nicht hatten. Später auf der Realschule trug ich nicht die coolen Klamotten, konnte keine tollen Urlaubsgeschich­ten erzählen.

Wenn man als Familie von Hartz IV lebt, kann man sich eben nichts leisten, muss jeden Cent mehrmals umdrehen.

Bei uns ist das seit 14 Jahren so. Als ich drei Jahre alt war, meldete mein Vater mit seiner Firma – er verkaufte Haus­haltsgeräte – Insolvenz an. Seitdem leben wir von staatlicher Unterstützung.

Für meine Eltern – sie sind jetzt seit einigen Jahren ge­schieden – ist es natürlich auch schlimm, dass sie ihren drei Kindern nichts bieten konnten. Mein Vater versucht, uns so gut es geht zu unterstützen. Er selbst gönnt sich nichts, schläft auf der Couch, damit wir Kinder ein eigenes Zimmer haben. Aber natürlich kommt es auch immer wieder zu Strei­tereien wegen des Geldes.

Vor ein paar Monaten begann ich meine Ausbildung als Fachinformatiker. Endlich verdiene ich eigenes Geld. Weil ich aber immer noch Teil der Hartz­IV­Bedarfsgemeinschaft bin, bleibt nicht allzu viel übrig. Wie ich mir von dem Rest anstän­dige Kleidung für Kundenbesuche leisten soll, weiß ich nicht.

P E R S O N A

Florian Schneider (17) wusste

nach dem Realschulabschluss

genau, was er werden wollte:

Fachinformatiker. Die Ausbil­

dung in Jever macht ihm großen

Spaß. In seiner Freizeit ist er

politisch aktiv.

„Ich wurde immer ausgegrenzt. Erst seit ich in Ausbil­dung bin, fühle ich mich dazugehörig und habe Freunde.“

K I N D E R U N D J U G E N D L IC H E

28

Spielerisch zum Erfolg

O RT S G ES P R ÄC H

RHEINFLANKE gGmbH

Jugendarbeit und

Flüchtlingshilfe

Berlin,

Tempelhof­Schöneberg

11. März 2019

Wie benachteiligte Jugendliche und Geflüchtete ihren Platz in der Gesellschaft und ihren Weg in den Beruf finden kön-nen, stand im Fokus des Ortsgesprächs bei der RheinFlanke in Berlin. Die Erfolgsfaktoren: Spaß am Lernen wecken, Regeln vermitteln und individuelle Betreuung.

Die RheinFlanke gGmbH engagiert sich in Berlin und Nord­rhein­Westfalen in der Jugendsozial­ und Flüchtlingshilfe. Das Angebot richtet sich an Kinder und Jugendliche mit Lern­schwächen oder sozial auffälligem Verhalten. Das Besondere am Konzept: Die Trägerin für sportbezogene Jugend­ und Integrationsarbeit verbindet Jobcoaching und Trainings zur Sozialkompetenz mit Sport und Bewegung. Dadurch erreicht die RheinFlanke Jugendliche auf spielerische Weise, bindet sie längerfristig und stärkt ihre Persönlichkeit.

Am Gespräch nahmen nicht nur Beschäftigte der Rhein­Flanke teil, sondern auch Jugendliche, die betreut werden. So waren viele Erfolgsgeschichten zu hören, da die Projekte sehr gut angenommen würden. Nicht nur deswegen wünschten sich die Beschäftigten mehr Sicherheit und Kontinuität durch langfristigere Maßnahmen. Mehr „Kümmerer“ seien gefragt, also ausgebildete Menschen, die in Einzelfällen professionell unterstützen können. Ein Großteil der Arbeit finde ausschließ­lich ehrenamtlich statt.

Einig waren sich die TeilnehmerInnen darin, dass beim Jobcoaching noch viel Grundlagenarbeit geleistet werden müsse. Der Tenor: Je früher die Jugendlichen über die Anfor­derungen in der Arbeitswelt aufgeklärt werden, desto besser.

K I N D E R U N D J U G E N D L IC H E

Z U K U N F T S DI A LO G

„Schon früh im Leben werden ganz wichtige Weichen gestellt. Angebote für Bildung und Teilhabe tragen dazu bei, dass Kinder gleiche Chancen haben – unabhängig vom Einkommen der Eltern.“

Hubertus Heil

29

Z U K U N F T S DI A LO G

Situation von Geringverdienenden

DI S K U S S IO N

T H E M E N S C H W E R P U N K T

30

Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

Im internationalen Vergleich sind in Deutschland viele Menschen im Nied-

riglohnsektor beschäftigt und trotz einer starken Wirtschaft verfestigt sich

die Einkommensungleichheit. Viele BürgerInnen fordern höhere Lohnunter-

grenzen und dass die Schere zwischen Brutto- und Nettoeinkommen bei

geringen Verdiensten kleiner wird.

Der Fünfte Armuts­ und Reichtumsbericht der Bundesregierung zeigt, dass die Einkommens­

verteilung in Deutschland – gemessen an den bedarfsgewichteten Haushaltsnettoeinkommen – seit Längerem weitgehend stabil ist. Ende der 1990er­Jahre allerdings waren die Einkommen hier noch erheblich gleichmäßiger verteilt. Danach öff­nete sich bis zum Jahr 2005 die Schere zwischen hohen und niedrigen Einkommen deutlich. Seit­dem verharrt die Ungleichheit auf diesem höheren Niveau. Bei der Armutsrisikoquote, die den Anteil der Bevölkerung mit einem Einkommen unter 60 Prozent des mittleren Einkommens misst, ver­lief die Entwicklung ähnlich. Dies bedeutet auch: Weder das im letzten Jahrzehnt kräftige Wirt­schaftswachstum noch die starke Beschäftigungs­zunahme haben die Einkommensungleichheit und das Armutsrisiko verringern können.

Im Vergleich der EU­Staaten ist der Niedriglohn­sektor in Deutschland stark ausgeprägt. Berech­nungen des IAQ zufolge erhielten 2016 rund 23 Prozent der abhängig Beschäftigten einen Brutto lohn unterhalb der Schwelle von zwei Drit­

teln des mittleren Bruttostundenlohns. Besonders häufig von Niedriglöhnen betroffen sind junge Menschen unter 25 Jahren sowie Erwerbstätige ohne Berufsausbildung. Auch geringfügig Beschäf­tigte mit einem Minijob und befristet Beschäftigte beziehen weit häufiger als der Durchschnitt der Beschäftigten einen Niedriglohn. Zuletzt wuchs die Beschäftigung zu Niedriglöhnen in West­deutschland im Trend leicht, während sie in Ostdeutschland etwas zurückging. Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns hat die gezahlten Stundenlöhne am unteren Rand zwar deutlich er­höht. Diese Verbesserung hat den Niedriglohnsek­tor allerdings nicht spürbar verkleinert, denn der gesetzlich festgelegte Mindeststundenlohn liegt deutlich unter der Niedriglohnschwelle von derzeit um die elf Euro.

IZA

Wissenschaftlicher Bericht

G E R I N G V E R DI E N E N D E

31

Z U K U N F T S DI A LO G

Diskussion über die

Situation von Gering­

verdienenden bei der

Auftaktkonferenz in

Berlin am 10. Septem­

ber 2018.

G E R I N G V E R DI E N E N D E

DI S K U S S IO N

Internationale Erfahrungen legen nahe, dass vor allem eine hohe Tarifbindung beziehungs­weise die Allgemeinverbindlich­keit tariflicher Lohnuntergren­zen wirksame Instrumente zur Reduzierung des Niedriglohnsek­tors sein können.

Von niedrigen Bruttoeinkommen aus Erwerbstätig­keit behält der deutsche Staat im internationalen Vergleich relativ viel ein. Wie Beispielrechnungen zeigen, ist etwa der Abstand zwischen Brutto und Netto für einen Single mit zwei Dritteln des nationalen Durchschnittseinkommens in Deutsch­land im OECD­Vergleich mit am höchsten. Handelt es sich um sozialversicherungspflichtige Beschäf­tigung, fallen bei niedrigen Verdiensten vor allem die Sozialabgaben ins Gewicht. Ihnen steht zwar prinzipiell eine Versicherungsleistung gegenüber.

Sie können aber wie eine Steuer wirken, wenn etwa die erwartete Rente unter Grundsicherungsniveau liegt oder Eheleute in einer gesetzlichen Kranken­kasse auch beitragsfrei mitversichert sind. Für Menschen, die nur wenig Einkommen haben, lohnt es sich in bestimmten Fällen nicht, noch etwas mehr zu verdienen, weil die Bedarfsgemeinschaft dadurch Ansprüche an Sozialleistungen wie die Grundsicherung für Arbeitsuchende verliert.

Im Zukunftsdialog zeigte sich deutlich das Anliegen vieler BürgerInnen, dass Erwerbstätige möglichst mit dem Einkommen, das sie durch ihre Arbeit erzielen, ihre Existenz sichern können. Mit Blick darauf wurden häufig auch bestehende Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern beklagt, die eine eigenständige Absicherung vor allem von Müttern behindern. Entsprechend wurden Regelungen wie die Bevorzugung gering­fügiger Beschäftigungsverhältnisse oder das Ehegattensplitting kritisiert, weil sie Niedrigein­kommen infolge von Teilzeit begünstigen.

32

Z U K U N F T S DI A LO G

Der direkte Austausch mit den

BürgerInnen stand im Mittelpunkt der

regionalen Zukunftsforen.

DI S K U S S IO N

Darüber hinaus wurden im Dialogprozess vor allem folgende Forderungen thematisiert:

• angemessener Schutz vor Niedriglöhnen,• mehr Netto vom Brutto bei kleinen

Verdiensten,• aktive Umverteilung für weniger

Einkommensungleichheit.

Um einen besseren Schutz vor Niedriglöhnen zu erreichen, sahen TeilnehmerInnen der Zukunfts­foren sowohl die Sozialpartner als auch den Staat in der Verantwortung. Neben Wünschen nach einer wieder stärkeren Tarifbindung (→ Schwerpunkt: Sozialpartner) wurde das Anliegen formuliert, Maßnahmen gegen die Ausbreitung der besonders häufig gering entlohnten atypischen Beschäfti­gung zu ergreifen und vor allem befristete und Leiharbeitsverhältnisse einzudämmen. Ebenfalls

wurde an die Verantwortung der öffentlichen Hand appelliert, für auskömmliche Löhne des eigenen Personals und der mit öffentlichen Geldern mittel­bar finanzierten Erwerbstätigen zu sorgen, etwa in den Bereichen Pflege und Erziehung.

Im Dialogprozess wurden vielfach verstärkte Kontrollen gefordert, damit die Arbeitgeber die durch das Arbeitnehmer­Entsendegesetz oder den gesetzlichen Mindestlohn bestehenden Lohnun­tergrenzen weniger oft umgehen. Etliche Beiträge kritisierten zudem den eingeführten allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn als deutlich zu niedrig. Es wurde eine rasche Anhebung bis auf ein Niveau gefordert, das zumindest bei Vollzeittätigkeit ein Einkommen sichert, das heute zum Leben und zur sozialen Teilhabe reicht und auch zu einer gesetz­lichen Rente führt, die keine Inanspruchnahme von Leistungen der Grundsicherung im Alter

G E R I N G V E R DI E N E N D E

33

erforderlich macht. Dieses Anliegen passt zu dem in manchen EU­Ländern verfolgten Ziel, existenz­sichernde Mindestlöhne – sogenannte „Living Wages“ – zu erreichen. Ein Fachworkshop zu der Frage, wie sich die Lage von Geringverdienenden verbessern ließe, ergab allerdings Hinweise, dass mögliche unerwünschte Nebenwirkungen für die Beschäftigten und die Beschäftigung genau im Blick gehalten werden müssen, wenn der gesetzli­che Mindestlohn für dieses Ziel zumindest vorü­bergehend von der Tariflohnentwicklung abgekop­pelt wird.

Im Rahmen dieses Fachworkshops wurde auch er­örtert, wie das von den BürgerInnen meist sehr all­gemein formulierte Anliegen, dass sich Arbeit auch für Menschen mit kleinen Verdiensten lohnen soll, konkret verwirklicht werden könnte. Als Ansatz­punkte diskutiert wurden eine stärkere Entlastung kleiner Einkommen von den Sozialabgaben, als sie mit der inzwischen vorgenommenen Ausweitung der Gleitzone bei sogenannten Midijobs erreicht wird, die günstigere Anrechnung der Einkommen von erwerbstätigen Leistungsberechtigten im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende bei mehr als geringfügigen Verdiensten sowie eine Zusammenführung der verschiedenen für Geringverdienende infrage kommenden Transfer­leistungen, um die effektiven Abzüge bei Mehrver­diensten zu verringern. Im Ergebnis machten die Beiträge der ExpertInnen deutlich, dass das Ziel, bei kleinen Verdiensten mehr Netto vom Brutto zu bewahren, nicht ganz einfach zu erreichen ist.

Viele Ansätze stärken zwar die Erwerbsanreize, würden aber mehr Menschen von staatlichen Transferleistungen abhängig machen und den Staat erhebliche Summen kosten.

Allerdings ließen im Rahmen der Zukunftsforen nicht wenige BürgerInnen eine Bereitschaft er­kennen, dass zur Verbesserung der Situation von Geringverdienenden mehr öffentliche Gelder zur Verfügung gestellt werden sollten. Dies wurde vielfach auch mit dem Anliegen verbunden, durch umverteilende Maßnahmen aktiver gegen Einkom­mensungleichheit vorzugehen. Es gab Forderungen, Spitzengehälter zu deckeln, etwa mittels einer gesetzlichen Begrenzung der Lohnunterschiede in­nerhalb von Unternehmen. Häufig geäußert wurde die Erwartung, hohe Einkommen und Vermögen stärker zur Finanzierung des Gemeinwesens heran­zuziehen, etwa durch einen höheren Spitzensatz bei der Einkommensteuer, die stärkere Besteue­rung von Kapitaleinkommen und Erbschaften oder die Wiedereinführung einer Vermögensteuer.

Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

G E R I N G V E R DI E N E N D E

34

Z U K U N F T S DI A LO G

Die BürgerInnen konnten ihre Anliegen

im direkten Austausch, aber auch

über Fragekarten und Dialogwände

einbringen.

DI S K U S S IO N

G E R I N G V E R DI E N E N D E

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Z U K U N F T S DI A LO G

Wenig Geld für viel Arbeit

Beschäftigte im Niedriglohnbereich arbeiten hart, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Wie schwer dies für sie ist und wo sie sich mehr Unterstützung wünscht, sagt Ingrid Schlott.

„Mama, ich bin so stolz auf dich“, sagte meine Tochter kürz­lich zu mir. „Du gibst nie auf, kämpfst jeden Tag aufs Neue für deinen Lebensunterhalt.“ Was bleibt mir denn auch anderes übrig? Ich muss ja Geld verdienen.

Zurzeit arbeite ich als eine Art Tagelöhnerin am Hafen, wo ich Autos verlade. Gelernt habe ich Fischwerkerin, ich kann Fischprodukte aller Art herstellen. Weil es in meinem Beruf aber nicht mehr viel Arbeit gibt, habe ich auch andere Jobs gemacht. Zum Beispiel Pakete für den Versandhandel gepackt. Regelrecht verheizt wurde ich da.

Ich war auch lange bei Zeitarbeitsfirmen beschäftigt, arbeitete für 9,49 Euro die Stunde statt für 13 Euro, wie die Kollegen aus der Stammbelegschaft, die die gleiche Arbeit machten. Wenn nach neun Monaten, wie es gesetzlich vorge­schrieben ist, das Gehalt angepasst werden sollte, wurde ich jedes Mal für drei Monate zu einer anderen Firma geschickt. Danach fing ich bei der alten Firma wieder für 9,49 Euro an.

Bei der Jobsuche werde ich nicht unterstützt, die Arbeit suche ich mir meist selbst. Ich fühle mich von der Politik und vom Jobcenter im Stich gelassen. Dabei will ich ja gar nicht viel, nur das, was mir zusteht.

P E R S O N A

Ingrid Schlott (52) hatte als

Fischwerkerin einen guten Job,

bis die Produktion ins Ausland

verlagert wurde. Nun arbeitet sie

als Geringverdienerin. Sie lebt in

Bremerhaven.

„Ich bekomme für 35 Stunden harte körperliche Arbeit in der Woche am Ende des Monats nur etwa 1.050 Euro netto. Ist meine Arbeit denn so wenig wert?“

G E R I N G V E R DI E N E N D E

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Z U K U N F T S DI A LO G

G E R I N G V E R DI E N E N D E

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Z U K U N F T S DI A LO G

Bürgerfreundliche Sozialverwaltung

DI S K U S S IO N

T H E M E N S C H W E R P U N K T

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Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

Viele Menschen in Deutschland tun sich schwer damit, die ihnen zustehen-

den vielfältigen Leistungen des Sozialstaats in Anspruch zu nehmen.

Sie wünschen sich bessere Informationen, niedrigschwelligere Zugänge und

die Bereinigung komplexer Schnittstellen.

Der deutsche Sozialstaat bietet eine Vielzahl an Leistungen für unterschiedliche Risiken

und Lebenslagen. Damit kann die Sozialpolitik in vielen Fällen effektive Unterstützung leisten. In einer Befragung des Statistischen Bundesamts aus dem Jahr 2017 gaben die BürgerInnen jedoch den sozialstaatlichen Dienstleistungen, mit denen sie bei Arbeitslosigkeit oder finanziellen Problemen zu tun haben, nur vergleichsweise schlechte Noten. Ein Grund für die nur mäßige Zufriedenheit könnte sein, dass die Behördenkontakte in diesen persön­lich ohnehin belastenden Lebenslagen wegen der zergliederten Zuständigkeiten und der vielen nicht leicht zu durchschauenden Regeln im Sozialleis­tungsrecht kompliziert sind.

Schwierigkeiten, die richtigen Informationen zu bekommen, aber auch persönliche Scham und Furcht vor einer gesellschaft­lichen Stigmatisierung tragen dazu bei, dass mit einer Bedürf­tigkeitsprüfung verbundene

Leistungen der Grundsicherungs­systeme bei Weitem nicht von allen beantragt werden, die da­rauf einen Anspruch hätten.

Wie hoch die Zugangshürden sind, zeigt sich etwa beim Kinderzuschlag, durch den erwerbstätige Eltern mit niedrigem Einkommen eine zusätz­liche finanzielle Unterstützung erhalten können, um nicht auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeit suchende angewiesen zu sein. Schätzungs­weise beantragt nur jeder dritte anspruchsberech­tigte Haushalt diese Geldleistung, und zugleich werden viele Eltern, die einen Antrag auf Kinder­zuschlag stellen, abgelehnt.

IZA

Wissenschaftlicher Bericht

S OZ I A LV E RWA LT U N G

39

Z U K U N F T S DI A LO G

Die BürgerInnen

diskutierten bei den

Zukunftsforen auch in

Kleingruppen.

S OZ I A LV E RWA LT U N G

DI S K U S S IO N

Im Rahmen der Zukunftsforen wurden zahlreiche Erwartungen an eine bürgernahe Sozialverwaltung formuliert, die sich häufig auf die wahrgenomme­ne Praxis von Agenturen für Arbeit und Jobcentern bezogen. Den BürgerInnen sind hier vor allem folgende Anliegen wichtig:

• eine wertschätzende Haltung der Sozialver­waltung,

• flexibles Eingehen auf individuelle Bedarfs­lagen und Lebensumstände,

• klare Kommunikation und umfassende Information,

• gute Erreichbarkeit der Verwaltungsdienst­leister und schnelle Bearbeitung von An­liegen,

• aktive Unterstützung bei der Lösung von Schnittstellenproblemen.

Zu einem wertschätzenden Auftreten der Sozial­verwaltung gehört für die BürgerInnen, dass diese als Dienstleister ihren KundInnen unbürokratisch und auf Augenhöhe begegnen. Ein anderes für sie wesentliches Kennzeichen ist die ganzheitliche Erfassung und korrekte Berücksichtigung der indi-viduellen Bedarfs- und Lebenslagen. Als wichtiger Schlüssel sowohl zu einer angemessen differen­zierten Behandlung jedes Einzelfalls als auch zu mehr wertschätzender Kommunikation wurde eine bessere Ausstattung der Behörden mit qualifizier­tem Personal gesehen, das auch die für diese Auf­gaben unerlässlichen Soft Skills mitbringen muss. Der Ansatz, VerwaltungsmitarbeiterInnen größere Ermessensspielräume zu geben, um auf individu­elle Bedürfnisse eingehen zu können, stieß in den Zukunftsforen auf große Akzeptanz. Ebenso wur­den jedoch Rechtssicherheit und Verlässlichkeit erwartet. Hieraus resultiert, so wurde insbesondere im Fachworkshop deutlich, ein nicht einfach auf­zulösendes Spannungsverhältnis zwischen den Wünschen nach Transparenz und Vorhersagbarkeit einerseits und dem Ziel individueller Lösungen bei behördlichen Entscheidungen andererseits.

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Z U K U N F T S DI A LO G

Bundesminister Hubertus Heil nahm

bei den Zukunftsforen Stellung zu den

Anliegen der BürgerInnen.

DI S K U S S IO N

Im Zukunftsdialog skizzierten die TeilnehmerInnen häufig das Idealbild eines grundlegend vereinfach­ten und konsistenten Systems von Sozialleistungen.

Im Status quo wünschen sich die BürgerInnen von den Behörden angesichts oft schwer verständlicher Schnittstellen zwischen unterschiedlichen Leistungssystemen mehr neutrale Beratung und aktive Hinweise darauf, welche Leistungen ihnen zustehen.

Informationen sollen losgelöst von den jeweiligen formalen Zuständigkeiten der einzelnen sozial­staatlichen Instanzen gegeben werden. Zudem

wurde mehr praktische Unterstützung und Hilfe bei der Beantragung von Leistungen gefordert. Nach dem Urteil von ExpertInnen, die im Rahmen eines Fachworkshops zum Thema „Bürgerfreund­liche Sozialverwaltung“ angehört wurden, könnten integrierte Anlaufstellen diese Lotsenfunktionen

übernehmen und den Zugang zu sozialstaatlichen Leistungen erheblich erleichtern. Damit solche Stellen gut funktionieren können, sind allerdings eine reibungslose Zusammenarbeit und ein systematischer Informationsaustausch zwischen den im Hintergrund operierenden Sozialbehörden erforderlich. Ein Vorbild dafür könnte nach Exper­tenmeinung die Arbeit der kommunalen Versiche­rungsämter sein, die eine unabhängige Beratung in Fragen der Sozialversicherung bieten und Anträge zentral entgegennehmen.

S OZ I A LV E RWA LT U N G

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Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

Auch die digitale Verwaltung von Sozialleistungen könnte nach Einschätzung der BürgerInnen mehr Transparenz schaffen, Zugangshürden abbauen und die Behandlung von individuellen Anliegen beschleunigen. In den letzten Jahren sind viele barrierefreie Online­Angebote etwa im Bereich der Bundesagentur für Arbeit oder der gesetzlichen Rentenversicherung entstanden. Bisher werden solche Angebote in Deutschland allerdings auffal­lend weniger genutzt und akzeptiert als in anderen europäischen Ländern – nicht zuletzt aufgrund von Bedenken hinsichtlich Datensicherheit und Datenschutz. Die BürgerInnen wünschen sich wie bei anderen Online­Services eine hervorragende Benutzerfreundlichkeit bei gleichzeitigem Höchst­maß an Sicherheit und erwarten einheitliche Einstiegspunkte für ein breites Dienstleistungs­spektrum der Sozialverwaltung. Im Zukunftsdialog angehörte Experteneinschätzungen machten aber auch deutlich: Selbst wenn qualitativ hochwertige digitale Angebote stärker ausgebaut und genutzt werden, muss eine bürgerfreundlich ausgerichtete Sozialverwaltung genügend Möglichkeiten er­halten, individuelle Hilfestellungen und Beratung offline im persönlichen Kundenkontakt zu leisten.

An eine bürgernahe Sozialverwaltung wird der Anspruch gestellt, dass möglichst wenig recht­liche Unklarheit herrscht und dass Konfliktfälle mit den Behörden, wenn sie auftreten, rasch und im fairen Einvernehmen geklärt werden können. Im Zukunftsdialog formulierten BürgerInnen die Er­wartung, bereits im Vorfeld umfassend über ihre im Zusammenhang mit einer Leistung zu beachtenden Rechte und Pflichten aufgeklärt zu werden.

Viele BürgerInnen wünschten sich zudem Leistungs bescheide, die in für sie verständlicher Sprache formuliert sind und genügend nachvoll­ziehbare Erläuterungen enthalten. Um Konflikt fälle zufriedenstellender zu lösen, rieten im Dialog­prozess angehörte ExpertInnen dazu, noch mehr Möglichkeiten für einvernehmliche Klärungen im Widerspruchsverfahren zu schaffen, um langwie­rige sozialgerichtliche Auseinandersetzungen zu vermeiden. Sozialrechtliche Streitfragen ließen sich nach Meinung der angehörten ExpertInnen durch Einschaltung von Widerspruchsausschüssen, zen­tralen Beschwerdestellen, Schlichtungsstellen oder Ombudsleuten niedrigschwellig und zügig klären. Angeraten wurde auch die verstärkte Nutzung der gerichtlichen Mediation, die im Bereich des Sozial­rechts bislang noch wenig angewandt wird.

S OZ I A LV E RWA LT U N G

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Z U K U N F T S DI A LO G

Bei jedem Zukunftsforum konnten

sich die Teilnehmenden in Dialog­

inseln austauschen.

DI S K U S S IO N

S OZ I A LV E RWA LT U N G

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Z U K U N F T S DI A LO G

Wer hilft weiter?

Nicht immer ist Betroffenen klar, welches Amt für welche Leistung zuständig ist. Es kann einige Kraft kosten herauszu-finden, was genau einem zusteht, weiß Sarah N. aus eigener Erfahrung.

Mein Sohn ist Autist. Etwa 40 Kilometer fahre ich täglich, um ihn in die Schule zu bringen und abzuholen. Angeblich steht mir die Erstattung der Fahrtkosten zu. Aber wo beantrage ich das? Bei welcher Behörde? Beim Schulamt vielleicht oder beim Jugendamt? Wie sieht es mit den Kosten für das speziel­le Schulmaterial aus, das mein Sohn wegen seiner Entwick­lungsstörung benötigt? Wird mir das bezahlt? Und wenn ja, von wem? Mit diesen und vielen anderen Fragen verbringe ich ganze Nächte vor dem Computer und suche mühsam selbst nach Antworten.

Diese ständige Recherche ist extrem anstrengend und zeitaufwendig, zumal ich im Internet nicht immer die richti­gen Antworten finde. Eine Broschüre, die alles zusammenfasst, scheint es auch nirgends zu geben. Mein Eindruck ist: Keiner hat wirklich den Durchblick. Auch Behindertenbeauftragte sind oft ratlos, da sie nicht auf Kinder spezialisiert sind.

Hat man dann endlich die richtige Stelle gefunden, kann die Bearbeitung von Anträgen sehr lange dauern. Acht Mona­te musste ich zum Beispiel auf den Bescheid warten, dass die Kindergartenkosten übernommen werden. Bis dahin musste ich das Geld vorstrecken. Zum Glück haben mich meine Eltern unterstützt. Aber ich lasse nicht locker, ich mache alles für meinen Sohn, denn er ist mein Leben. Aber es wäre schön, wenn ich mehr Kraft und Zeit für ihn hätte – und sie nicht für die Ämter aufwenden müsste.

P E R S O N A

Sarah N.* (38) ist alleinerziehen­

de Mutter und lebt mit ihrem

neunjährigen Sohn in Ober­

bayern. Er ist Autist und hat

Pflegegrad drei. Da er nur kurz

beschult werden kann und öfter

ins Krankenhaus muss, kann sie

nicht arbeiten gehen.

*Name geändert

„Ich würde mich gerne an eine Stelle wenden, die mir schnell und unkompliziert Antworten geben kann. Stattdessen verweist mich ein Amt zum nächsten.“

S OZ I A LV E RWA LT U N G

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Z U K U N F T S DI A LO G O RT S G ES P R ÄC H

Engeres Zusammenwirken

Wie soziale Einrichtungen besser beraten können, diskutier-te Minister Heil mit Beschäftigten und Kooperationspartner-Innen der WeTeK Berlin gGmbH. Die WeTeK Berlin ist eine gemeinnützige Gesellschaft für Qualifizierung, Ausbildung und Jugendkultur sowie Mitglied des Paritätischen Wohl-fahrtsverbands.

Wichtige Erfolgsfaktoren seien individuelle Beratung und eine enge Vernetzung der Akteure. Es reiche nicht, wenn staatliche Behörden und private Träger jeweils nur den eigenen Bereich im Blick haben.

Als Bildungs­ und Jugendhilfeträger bietet WeTeK Berlin gGmbH zahlreiche Projekte zur Berufsorientierung sowie zur Aus­ und Weiterbildung und arbeitet hierfür intensiv mit ausbildenden Unternehmen zusammen.

Die PädagogInnen der Einrichtung unterstützen junge Menschen durch passgenaue Angebote. Wenig individuali­sierte Maßnahmen würden dagegen oft an den Interessen der Lernenden vorbeigehen und als Zwang empfunden werden.

Im Gespräch mit Bundesminister Heil betonten die Teil­nehmerInnen, dass individuelle Angebote zwar kosteninten­siver seien, sich aber am Ende auszahlten – durch Abschlüsse statt durch Abbrüche. Wichtig sei der Bezug zu Berufspraxis und Betrieben.

Eine enge Zusammenarbeit zwischen staatlichen Einrich­tungen und Bildungsträgern könne dazu beitragen, Schnitt­stellenprobleme zu überwinden. Wichtige Informationen dürften nicht verloren gehen, wenn junge Menschen von der Schule in den Beruf und damit aus der Zuständigkeit einer Behörde in die einer anderen wechseln. Nach Auffassung der TeilnehmerInnen könne eine einheitliche digitale Infrastruktur den Datenaustausch erleichtern. Hierfür seien befriedigende Lösungen für den Datenschutz zu finden.

WETEK gGmbH

Bildung und Jugendhilfe

Berlin, Pankow

17. Januar 2019

„Gute Sozialver­waltung orientiert sich nicht an Zu­ständigkeitsfragen, sondern an den Bedürfnissen der Menschen.“

Hubertus Heil

S OZ I A LV E RWA LT U N G

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Z U K U N F T S DI A LO G

Finanzierung des Sozialstaats

DI S K U S S IO N

T H E M E N S C H W E R P U N K T

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Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

Der Wandel der Arbeitswelt könnte eine Anpassung der Finanzierung des

Sozialstaats erfordern. Auch wenn seine traditionelle Einnahmenbasis nicht

erodiert, ist eine Modernisierung der bestehenden Einnahmenstrukturen

wichtig. Viele BürgerInnen möchten den Sozialstaat zudem auf eine breite

Finanzierungsbasis stellen und wünschen sich, dass alle einen fairen Beitrag

dazu leisten.

Angesichts fundamentaler Veränderungen in den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen –

Demografie, Digitalisierung, Globalisierung – gibt es Befürchtungen, dass die Finanzierungsbasis des Sozialstaats erodiert. Es stellt sich insbesondere die Frage, inwieweit es erforderlich ist, sie stärker von der bisherigen Orientierung an Einkommen aus Arbeit zu lösen, und welche neuen Finanzierungs­quellen für den Sozialstaat erschlossen werden können.

Diese Diskussion findet vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung statt. Die Bevölke­rung in Deutschland wird schrumpfen, vor allem aber altern. Aktuelle Vorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes prognostizieren bis zum Jahr 2060 einen Rückgang der Bevölkerungs­zahl auf 76,5 Millionen – insbesondere im erwerbs­fähigen Alter. Gleichzeitig nimmt die Anzahl der Personen im Rentenalter zu. So steigt einerseits der Altenquotient, und der Finanzbedarf der Sozial­versicherungen wächst, andererseits wird mit

hoher Wahrscheinlichkeit die Zahl der Beitrags­zahlerInnen kleiner werden.

Unterdessen schränkt die Zu­nahme des internationalen Wett­bewerbs im Rahmen der Globali­sierung die Möglichkeiten ein, hochmobiles Kapital und zuneh­mend mobilere Arbeit national zu besteuern und der Sozialabga­benpflicht zu unterwerfen.

Die Digitalisierung sorgt zudem für erhebliche strukturelle Veränderungen auf den Arbeits­märkten. Dabei entstehen etwa neue Formen der Selbstständigkeit und neue Geschäftsmodelle, die auf bisher kaum zur staatlichen Finanzierung herangezogenen Produktionsmitteln wie freien Daten, künstlicher Intelligenz oder neuen Formen des Teilens beruhen.

IZA

Wissenschaftlicher Bericht

F I N A N Z I E RU N G

47

Z U K U N F T S DI A LO G

Diskussionen in der

Dialoginsel zur

Zukunft des Sozial­

staats bei der Auftakt­

konferenz in Berlin.

DI S K U S S IO N

F I N A N Z I E RU N G

Im Zukunftsdialog wurde deutlich, dass diese Ent­wicklungen viele BürgerInnen durchaus verunsi­chern. Sie wünschen sich mehr Umverteilung und weniger Ungleichheit in der Gesellschaft.

Risiken wie Krankheit, Invalidität, Alter, Arbeitslo­sigkeit, Pflegebedürftigkeit, Unfall und Tod sollen weiterhin staatlich abgesichert werden können. Im Jahr 2017 beliefen sich die Beitragseinnahmen der Sozialversicherung insgesamt auf rund 500 Milliarden Euro, die Steuereinnahmen im Bundes­haushalt auf rund 310 Milliarden Euro. Während der Anteil der direkten und indirekten Steuern am Bruttoinlandsprodukt in Deutschland seit Mitte der 1950er­Jahre relativ konstant geblieben ist, ist der Anteil der Sozialversicherungsbeiträge gestiegen.

Im Zeitverlauf hat sich die Steuerstruktur ver­ändert. Indirekte Steuern wie etwa die Umsatz­ oder Mehrwertsteuer sowie Verbrauchssteuern haben heute eine größere Bedeutung als in der Vergangenheit. Da diese Steuern jedoch geringe

Einkommen verhältnismäßig stärker belasten, ist die Steuerbelastung heute insgesamt nur schwach progressiv. So zahlten im Jahr 2015 die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung zwar knapp 60 Pro­zent der Einkommensteuern, aber nur 20 Prozent der indirekten Steuern (→ Schwerpunkt: Geringver­dienende).

In der Sozialversicherung gilt das Solidarprinzip. Bis zur Beitragsbemessungsgrenze trägt jeder Versicherte mit einem festen Prozentsatz seines beitragspflichtigen Arbeitsentgelts zur Finanzie­rung des Solidarsystems bei. Bestimmte Grup­pen wie Selbstständige, FreiberuflerInnen und BeamtInnen sind allerdings von der Sozialversiche­rungspflicht ausgenommen. In der Alterssicherung und bei Entgeltersatzleistungen, bei denen das Äquivalenzprinzip gilt, werden mit höheren Beiträ­gen auch höhere Leistungsansprüche erworben.

48

Z U K U N F T S DI A LO G

Die Diskussionen wurden vom wissen­

schaftlichen Institut IZA dokumen­

tiert und bilden die Grundlage für das

vorliegende Kapitel.

DI S K U S S IO N

Im Rahmen des Zukunftsdialogs formulierten die BürgerInnen klare Erwartungen an eine nach­haltige Finanzierung des Sozialstaats. Folgende Anliegen sind ihnen wichtig:

• eine breite Finanzierungsbasis der Sozial­versicherung unter Einbeziehung sämtlicher Einkommen und Einkommensarten,

• eine stärkere Steuerfinanzierung des Sozial­staats,

• mehr Umverteilung, Steuererhöhungen und die Abschaffung von Steuerprivilegien,

• ein fairer Beitrag auch von multinationalen Unternehmen zum Sozialstaat,

• eine gerechte und effiziente Besteuerung von Wertschöpfung.

Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Vielfalt der Erwerbsformen halten es die BürgerInnen für

erforderlich, sämtliche Einkommen und Einkom­mensarten in die Sozialversicherung einzubeziehen. Damit wird die Erwartung verbunden, den Sozial­staat auch künftig auf eine breite Finanzierungs-basis zu stellen und für die breite Bevölkerung eine ausreichende soziale Absicherung zu gewähr­leisten. Thematisiert wurde, die Beitragsbemes­sungsgrenze auszuweiten, Selbstständige und BeamtInnen als BeitragszahlerInnen einzubezie­hen und Kapitaleinkünfte zu berücksichtigen.

Nach Einschätzung der bei einem Fachworkshop zu „Leitlinien einer künftigen Finanzierung des Sozialstaats“ gehörten ExpertInnnen, die ebenfalls ein Akzeptanzproblem der aktuellen Sozialstaats­finanzierung sahen, sind diese Optionen jedoch mit verschiedenen Nachteilen sowie Umsetzungs­ und Übergangsproblemen verbunden. So bringen in der gesetzlichen Rentenversicherung eine Ausweitung

F I N A N Z I E RU N G

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Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

des Versichertenkreises oder einer höheren Bemes­sungsgrenze keine nachhaltige Entlastung, da die zusätzlichen Beitragseinnahmen künftig höhere Leistungsansprüche nach sich ziehen.

Die BürgerInnen verbinden mit dem Anliegen, den Steuer­anteil bei der Finanzierung der Sozialversicherung zu erhöhen, die Erwartung einer stärkeren Umverteilung.

Auch könnte die gegenwärtig starke Orientie­rung an Einkommen aus Arbeit gelockert werden. Nach Einschätzung der ExpertInnen sollten vor allem versicherungsfremde Leistungen durch Steuern finanziert werden. Steuerfinanzierung ist bei solchen Sozialversicherungszweigen besser begründbar, die andere Sicherungsziele als eine Einkommensersatzfunktion verfolgen und deren Leistungen sich nicht am zu ersetzenden Einkom­men orientieren. So wurde etwa angeregt, Investi­tionskosten der Gesetzlichen Krankenversicherung durch Steuern zu finanzieren, um hier Beiträge senken zu können – und im Gegenzug bei unver­änderter Gesamtbelastung die Beiträge anderer Sozialversicherungszweige (etwa der Rentenver­sicherung) zu erhöhen.

Die von den BürgerInnen verlangte stärkere Um­verteilung könnte durch Steuererhöhungen und die Abschaffung von Steuerprivilegien erreicht werden. Im Rahmen des Fachworkshops wurden

in diesem Zusammenhang die Optionen von mehr vermögensbezogenen Steuern, der Erhöhung des Mehrwertsteuer­Regelsatzes, der Erhöhung der Energiesteuer, der Abschaffung von Steuerver­günstigungen und der Erhöhung der Einkommen­steuer für hohe Einkommen diskutiert.

Dass auch multinationale Unternehmen sowie Unternehmen mit innovativen Geschäftsmodellen in der digitalen Wirtschaft einen fairen Beitrag zum Sozialstaat leisten, wurde von vielen TeilnehmerIn­nen des Zukunftsdialogs als Erwartung formuliert. Die angehörten ExpertInnen mahnten hinsichtlich der Potenziale neuer Steuern zur Finanzierung des Sozialstaats, Zusatzkosten und Effizienzverluste durch Verzerrungen der Märkte zu vermeiden. Vor diesem Hintergrund wird von Expertenseite etwa eine „Robotersteuer“ als untauglich eingeschätzt, da Investitionsgüter bzw. Produktionsfaktoren be­steuert und so Wirtschafts­ und Innovationskraft reduziert werden.

Aus Sicht der ExpertInnen ist die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zentrale Voraussetzung, um auch künftig stabile staatliche Einnahmen sicherzustellen.

Ihrer Einschätzung nach ist eine faire Besteuerung multinationaler Unternehmen nur mit internatio­naler Koordination zu erreichen.

F I N A N Z I E RU N G

50

Z U K U N F T S DI A LO G

Reden Sie mit!

Der Zukunftsdialog bot den

Bürger Innen in der Zuhörphase

die Möglichkeit zur direkten

Beteiligung.

DI S K U S S IO N

F I N A N Z I E RU N G

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Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

Erwerbsrisiken absichern

54 – 61 Absicherung vielfältiger Erwerbsformen

62 – 69 Lebensleistung bei Arbeitslosigkeit

70 – 77 Unterstützung von Menschen in der Grundsicherung

78 – 83 Das Soziale in Europa

SOZIALE SICHERHEIT GESTALTEN

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Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

EINFÜHRUNG IN DAS HANDLUNGSFELD

In den letzten Jahren erlebte Deutschland einen lang anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung, und die Daten vom Arbeitsmarkt haben sich insgesamt sehr positiv entwickelt. Die Zahl der 15- bis 64-Jährigen, die sich nicht in Bildung und Ausbildung befinden, mit einem Normalarbeits-verhältnis ist seit einem Tiefststand im Jahre 2005 um über 3,5 Millionen gestiegen. Die positi-ve Entwicklung bei den Erwerbstätigen ging mit einem starken Abbau von Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung einher.

Dennoch bekommen nicht alle Gruppen durch die deutlich besseren Beschäftigungs-möglichkeiten auch deutlich mehr Sicherheit. So haben ArbeitnehmerInnen, wenn sie die 50 über-schritten haben, nach wie vor schlechte Chan-cen, nach einem Jobverlust wieder angemessene Arbeit zu finden. Eine verbesserte Teilhabe Älterer am Arbeitsmarkt ist umso wichtiger, als von ihnen infolge des steigenden Rentenein-trittsalters erwartet wird, dass sie länger als früher im Erwerbsleben aktiv bleiben. Ältere sind darum unter den Langzeitarbeitslosen, von denen ein hoher Anteil auf die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende angewiesen sind, besonders stark vertreten.

Unter den Langzeitarbeitslosen befindet sich eine substanzielle Gruppe von Menschen, die seit vielen Jahren Grundsicherungsleistun-gen bezieht. Sie haben offenbar selbst unter den derzeit sehr günstigen Verhältnissen am Arbeits-

markt nur äußerst geringe Aussichten, wieder in Beschäftigung zu kommen.

Um die Beschäftigungsfähigkeit und die Chancen auf Wiederbeschäftigung für Arbeit-suchende zu erhöhen, sind in den Sozialgesetz-büchern zahlreiche Instrumente der Arbeits-förderung verankert, die allerdings nicht immer wie gewünscht oder nicht nachhaltig genug wirken. Erst vor Kurzem sind mit dem Qualifizie-rungschancengesetz und dem Teilhabechancen-gesetz neue Möglichkeiten zur Weiterqualifizie-rung und zur Verbesserung der sozialen Teilhabe von Langzeitarbeitslosen dazugekommen.

Einige Beschäftigte sind vergleichswei-se schlecht sozial abgesichert. Dies gilt etwa für manche Angehörige der weiterhin starken Gruppe der atypisch Beschäftigten. Der struk-turelle Wandel bringt aber auch neue Erwerbs-formen hervor, die zu einer wachsenden Zahl von Kleinselbstständigen führen könnten, denen die traditionell privat vorzunehmende Absicherung gegen Einkommens- und Gesundheitsrisiken wegen geringer oder unsteter Einkünfte schwer-fällt.

Vor diesem Hintergrund sprachen die Teil-nehmerInnen des Zukunftsdialogs darüber, wie auf verschiedenen Feldern die soziale Sicherheit für alle, die im Erwerbsleben stehen, verbessert werden könnte.

IZA

53

Z U K U N F T S DI A LO G

Absicherung vielfältiger Erwerbsformen

DI S K U S S IO N

T H E M E N S C H W E R P U N K T

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Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

Der Wandel der Arbeitswelt wirft Fragen nach dem sozialen Schutz für Er-

werbsformen – wie Soloselbstständigkeit – auf, bei denen an das Normal-

arbeitsverhältnis geknüpfte Sicherungsmechanismen nicht greifen. Darauf

gründet der Wunsch, dass alle Erwerbstätigen Statussicherheit und Zugang

zu den sozialen Versicherungssystemen erhalten.

Das Normalarbeitsverhältnis verknüpft un­befristete Arbeitsverträge in Vollzeit mit

tariflichen Lohn­ und Arbeitsstandards sowie der Einbindung in die Sozialversicherungen. Diese institutionell abgesicherte Form der Beschäf­tigung gilt gerade in Deutschland nach wie vor häufig als Referenzpunkt dafür, was gute Arbeit ausmacht. Das Normalarbeitsverhältnis hat seit den 1980er­Jahren spürbar an Prägekraft verloren. Dazu haben Entwicklungstrends beigetragen, wie die zunehmende Erwerbsbeteiligung von Frauen, die oft in Teilzeit arbeiten, der Strukturwandel hin zum Dienstleistungssektor oder der Rückgang der Tarifbindung (→ Schwerpunkt: Sozialpartner­schaft). Auch arbeitsmarktpolitische Reformen und Deregulierung, etwa im Hinblick auf die Nutzung von Befristungen, geringfügige Beschäftigung oder die Leiharbeit, haben eine wachsende Vielfalt an Erwerbsformen begünstigt.

Über lange Zeit gesehen ist der Anteil dieser oft als „atypisch“ bezeichneten Beschäftigungsformen an der Gesamtbeschäftigung in Deutschland gestie­gen. Zugleich jedoch ist die Zahl an Beschäftigten in Normalarbeitsverhältnissen nicht nennenswert gesunken. Daraus ließe sich schließen, dass flexible Erwerbsformen zum Beschäftigungswachstum beigetragen haben – wenn man davon ausgeht, dass ein entsprechender Zuwachs im Rahmen des Normalarbeitsverhältnisses sonst nicht erfolgt wäre. Atypische Beschäftigung fördert aber auch eine Konkurrenz zwischen den Erwerbsformen und kann die in der Tendenz relativ besser sozial ge­sicherte Normalarbeit unter Druck bringen.

Die konkrete Arbeitssituation von atypisch Be­schäftigten hängt stark von ihrem Qualifikations­niveau ab und davon, wie stark ihre Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt gefragt sind.

IZA

Wissenschaftlicher Bericht

E RW E R B S F O R M E N

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Z U K U N F T S DI A LO G

Der Zukunftsdialog be­

gann am 10. September

2018 mit der Auftakt­

konferenz in Berlin.

DI S K U S S IO N

E RW E R B S F O R M E N

Generell verdienen die vielfälti­gen flexiblen Beschäftigungsfor­men besondere Aufmerksamkeit, denn sie sind häufiger als das traditionelle Normalarbeitsver­hältnis mit Risiken verbunden.

So hat die atypische Beschäftigung einen über­proportionalen Anteil an der Niedriglohnbeschäfti­gung in Deutschland.

Auch der Charakter der Selbstständigkeit hat sich gewandelt. Früher war diese Erwerbsform in der Regel mit hohen Qualifikationsanforderungen und wirtschaftlicher Sicherheit verbunden. Daten der EU­Arbeitskräfteerhebung aus dem Jahr 2017 be­legen: Heute bilden Selbstständige und Soloselbst­ständige eine sehr heterogene Gruppe, sowohl was das Einkommen als auch die Arbeitsbedingungen angeht. In Bereichen, wie etwa bei der Paketzu­stellung, erleben selbstständig Tätige öfter starke

wirtschaftliche Abhängigkeiten bis hin zur Schein­selbstständigkeit. Hier haben sie zu guten Teilen Beschäftigung substituiert, die zuvor im Normalarbeitsverhältnis angesiedelt war.

Im Rahmen des Zukunftsdialogs wurde das Thema der sozialen Absicherung unterschiedlicher Er­werbsformen vor allem mit Blick auf neue He­rausforderungen der Selbstständigkeit diskutiert. Dabei waren den BürgerInnen vor allem folgende Anliegen wichtig:

• besserer Zugang für Selbstständige zu den Sozialversicherungen,

• Rechts­ und Statussicherheit für Erwerbstä­tige im Spannungsfeld zwischen Selbststän­digkeit und abhängiger Beschäftigung,

• eine Vorbildrolle der öffentlichen Hand im Umgang mit Selbstständigen.

56

Z U K U N F T S DI A LO G

Hubertus Heil im Austausch mit

Sarah Jochmann, Oksana Yerchowa

und Moderatorin Andrea Thilo bei der

Auftaktkonferenz in Berlin.

DI S K U S S IO N

BürgerInnen bezeichneten es als unumgäng­lich, angesichts der Dynamik von Erwerbsformen wie Soloselbstständigkeit oder freier Mitarbeit („Freelancing“) die traditionelle Sichtweise zu überdenken, der zufolge Selbstständige prinzipiell weniger oder gar keine soziale Sicherung durch die öffentliche Hand benötigen. Insbesondere wurde die Erwartung an die Politik formuliert, ein einheit­liches, statusunabhängiges Alterssicherungssys-tem für alle Erwerbstätigen zu schaffen und auch ein System der Krankenversicherung zu etablieren, das die bestehende Trennung zwischen Pflicht­ und Privatversicherung aufhebt (→ Schwerpunkt: Finanzierung).

Allerdings waren in diesem Zusammenhang auch Stimmen zu hören, dass bei an sich wünschenswer­ten Schritten in Richtung einer besseren sozialen Absicherung von Selbstständigen eine Überlastung

und Bevormundung der selbstständig Erwerbs­tätigen vermieden werden sollte, um die von vielen geschätzten Vorteile einer Existenzgründung nicht zu verlieren.

Zur Verbesserung der sozialen Sicherung von Selbstständigen wurde im Zukunftsdialog ein Bei­tragsmodell ins Spiel gebracht, das Selbstständige dazu verpflichtet, bei jedem Auftrag einen pro­zentualen Anteil ihres Honorars, mindestens aber einen fixen Pauschalbetrag an die gesetzliche Sozialversicherung abzuführen. Damit könnte die Belastung mit Sozialbeiträgen flexibilisiert und zugleich Liquiditätsprobleme bei Auftrags­schwankungen vermieden werden. Im Hinblick auf die Kranken­ und Pflegeversicherung wurde das Ziel formuliert, Einkommen von selbstständig Tätigen prozentual nicht höher zu belasten als mit dem Arbeitgeber­ und Arbeitnehmeranteil bei

E RW E R B S F O R M E N

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Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

abhängig Beschäftigten. In diesem Zusammenhang traf die deutliche Absenkung des Mindestbeitrags von freiwillig gesetzlich krankenversicherten Selbstständigen, die Anfang 2019 in Kraft getreten ist, auf große Zustimmung, da sie dem Anliegen entgegenkommt, die Lage von Selbstständigen mit sehr niedrigen Einkommen zu verbessern. Im Hinblick auf Vorschläge einer Erwerbstätigenver­sicherung wurde betont, dass bei Verwirklichung dieses Konzepts auch sogenannte hybride Be­schäftigungsformen mit häufigen Statuswechseln zwischen abhängiger und selbstständiger Tätigkeit abgedeckt werden müssten.

Die BürgerInnen forderten zudem fast einmütig, Selbstständigen ausreichende Rechtssicherheit über ihren Status zu geben. Ein vielfach geteiltes Anliegen in diesem Zusammenhang waren Verbes­serungen im Statusfeststellungsverfahren.

Es wurde die Erwartung geäu­ßert, dass Kriterien für die Ab­grenzung zwischen abhängiger und selbstständiger Tätigkeit einfacher und transparenter aus­gestaltet werden können. Diese sollten auch auf die neuen, teil­weise hybriden Erwerbstätigkei­ten passen.

Allerdings wurde auch die Einschätzung geäußert, dass die Einkommensunterschiede zwischen den Selbstständigen hoch sind und dass es offensicht­lich unfreiwillige Formen der Selbstständigkeit gibt. Im Zukunftsdialog wurde in diesem Zusammen­hang der Vorschlag formuliert, die Honorarhöhe als Bewertungsfaktor einzuführen, um freiwillige von unfreiwilliger Selbstständigkeit zu unterschei­den. Zugleich wurde jedoch auch auf die Situation hingewiesen, dass Menschen sich aus eigenem Antrieb für eine echte Selbstständigkeit entschei­den, obwohl deren Ertrag in manchen Fällen zu gering ist, um eine ausreichende eigenständige soziale Sicherung aufzubauen. Hier wurde die Hoffnung formuliert, dass mit geeigneter Beratung und Unterstützung die Verdienstmöglichkeiten der ExistenzgründerInnen verbessert werden könnten.

Die am Zukunftsdialog beteiligten BürgerInnen sahen auch die öffentliche Hand in einer Vorbild-rolle. Sie sollte Standards im fairen Umgang mit freien MitarbeiterInnen sowie Selbstständigen setzen, die für die öffentliche Hand Leistungen er­bringen. Wo der Staat direkt oder indirekt als Auf­traggeber auftritt, etwa in den Bereichen Bildung und Gesundheit, so eine wiederholt geäußerte Forderung, sollten für die Leistungen von selbst­ständigen AuftragnehmerInnen angemessene und faire Honorare gezahlt werden.

E RW E R B S F O R M E N

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Z U K U N F T S DI A LO G

Diskussionen in der Dialog­

insel „Soziale Sicherheit“ beim

Zukunftsforum in Augsburg.

DI S K U S S IO N

E RW E R B S F O R M E N

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Z U K U N F T S DI A LO G

Wenn die Sicherheit fehlt

Selbstständig arbeiten – das klingt erst einmal nach Freiheit. Doch die hat ihren Preis, wenn für Rücklagen, Versiche-rungen und Altersvorsorge das Geld nicht reicht. Das weiß Antonia Minn aus eigener Erfahrung.

Vor einem Jahr habe ich damit begonnen, freiberuflich als Yogalehrerin zu arbeiten. Ich wollte unabhängig sein, mir aussuchen können, für welche Studios ich arbeite, welche Retreats ich anbiete und wann ich in den Urlaub fahre. Als alleinstehende Mutter mit kleinem Kind ist es für mich ohne­hin besser, flexibel zu sein. Doch mit der Zeit merkte ich, dass mir die Absicherung fehlt. Was, wenn ich krank werde oder einen Unfall habe und kein Geld reinkommt? Was, wenn ich für lange Zeit ausfalle?

Natürlich hätte ich eine Berufsunfähigkeits­, Arbeitslo­sen­ und Krankentagegeldversicherung abschließen können. Auch eine Altersvorsorge wäre wichtig. Doch dies kostet nun mal – es wäre nicht genug Geld übrig geblieben, um davon anständig leben und mit meinem Sohn auch mal verreisen zu können. Einen unverhältnismäßig großen Batzen Geld hat oh­nehin das Finanzamt einbehalten – obwohl mein Einkommen vergleichsweise niedrig ist.

Ich möchte nicht mehr länger mit Zahlen jonglieren und ausrechnen müssen, was ich mir und meinem Sohn leisten kann und was nicht. Deshalb gebe ich das Abenteuer Selbst­ständigkeit wieder auf. Ich trete demnächst eine feste Stelle in einem Yoga­Studio an. Es ist ein Teilzeitjob – aber ich bin endlich wieder sozialversichert. Nebenher werde ich weiter frei in anderen Studios arbeiten. Für mich die ideale Lösung.

Antonia Minn (32) ist gelern­

te Reiseverkehrskauffrau, hat

BWL studiert und arbeitet als

Yogalehrerin in Köln. Die Mutter

eines dreijährigen Sohnes arbei­

tet insgesamt etwa 25 Stunden

in der Woche.

„Mit dem, was ich als freiberufliche Yogalehrerin ver­diene, bleibt finan­ziell nicht genug übrig, um mich privat abzusichern und für das Alter vorzusorgen.“

P E R S O N A

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Selbstständig und sozial sicher

O RT S G ES P R ÄC HZ U K U N F T S DI A LO G

Immer mehr Frauen wagen den Schritt in die Selbstständig-keit. Sie können ihre Arbeit in Eigenverantwortung und fle-xibel an verschiedene Lebensphasen anpassen. Über daraus entstehende Herausforderungen bei der sozialen Absiche-rung berichteten die Teilnehmerinnen im Ortsgespräch mit Bundesminister Hubertus Heil bei der WeiberWirtschaft eG.

Die 1989 in Berlin gegründete Frauengenossenschaft mit mehr als 1.750 Mitgliedern bietet rund 70 Mietparteien in ei­nem Gewerbehof mit Kita, Kantine und Tagungsbereich einen Platz. Seit 2006 berät die aus der WeiberWirtschaft eG heraus entstandene Gründerinnenzentrale als unabhängiger Verein Frauen in der Gründungsphase. Die Frauen unterstützen sich auch gegenseitig und waren sich im Ortsgespräch einig: Es lohnt sich, das Wagnis Selbstständigkeit auf sich zu nehmen.

Im Gespräch mit Minister Heil wurde aber auch deutlich, dass die Selbstständigkeit für viele ein finanzielles Wagnis bleibt. Insbesondere für Soloselbstständige mit kleinem Einkommen kann es eine echte Herausforderung sein, für die soziale Sicherheit zu sorgen.

Viele waren der Meinung: Bei der Altersvorsorge können Privatversicherungen eine gesetzliche Lösung nicht ersetzen. Die Teilnehmerinnen diskutierten obligatorische Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung für Selbstständige, aber auch alternative Möglichkeiten wie das bedingungslose Grundeinkommen. Als positives Beispiel wurde die Öffnung der Krankenversicherung angeführt.

Zudem müssten bürokratische Hürden für Selbstständige schneller abgebaut werden. Der Zugang zu Unterstützungs­leistungen, beispielsweise für die Altersvorsorge oder den Kinderzuschlag, sollte einfacher werden.

WEIBERWIRTSCHAFT eG

Frauengenossenschaft

und Betreiberin einer

Gründerinnenzentrale

Berlin, Mitte

26. März 2019

E RW E R B S F O R M E N

„Die Menschen sollen ihr Leben selbstbestimmt führen können. Der Staat unter­stützt sie dabei.“

Hubertus Heil

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Z U K U N F T S DI A LO G

Lebensleistung bei Arbeitslosigkeit

DI S K U S S IO N

T H E M E N S C H W E R P U N K T

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Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

Mit den „Hartz-Reformen“ waren auch heute noch kontrovers diskutierte

Neuregelungen im Bereich der Arbeitslosenversicherung und Grundsiche-

rung für Arbeitsuchende verbunden. Viele Menschen erwarten, dass Arbeit-

suchende eine passgenaue und wirksame Förderung erhalten. Wer als älte-

rer Mensch arbeitslos wird, soll zudem den Lebensstandard halten können.

In Deutschland bietet die Arbeitslosenversiche­rung bei Eintritt des Versicherungsfalls vorüber­

gehend einen am bisherigen Nettolohn ausgerich­teten Entgeltersatz. Ansprüche auf diese Leistung werden entsprechend durch einkommensabhän­gige Beiträge in aktiven Beschäftigungsphasen erworben.

Das Arbeitslosengeld soll Arbeits­lose bei der Suche nach einer neuen Arbeit, die möglichst ihrem vorigen Status im Berufs­leben entspricht, finanzielle Sicherheit geben.

Jenseits der Höchstanspruchsdauer greift, falls die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind, die Grundsicherung für Arbeitsuchende. Erwerbsfä­hige Leistungsberechtigte können dann mit dem Arbeitslosengeld II je nach Einkommens­ und Ver­mögenssituation ihrer Bedarfsgemeinschaft eine Transferleistung erhalten, die das soziokulturelle Existenzminimum sichern soll.

Im Zusammenhang mit den Hartz­Gesetzen hat sich die materielle Absicherung bei Arbeitslosigkeit substanziell verändert. Zum einen sind heute die maximalen Anspruchsdauern beim Arbeitslosen­geld, insbesondere für Arbeitslose über 45 Jahre, deutlich kürzer als vor 2006. Zum anderen greift auch für Versicherte bei andauernder Arbeits­losigkeit seit Abschaffung der früheren Arbeits­losenhilfe nur noch ein System bedarfsgeprüfter Sozialleistungen. Dies kann mit erheblichen Ein­kommens­ und Vermögensrisiken verbunden sein. Viele Arbeitslose sind darum heute erkennbar eher bereit, kurz vor Auslaufen ihrer Versicherungsan­sprüche eine Arbeit anzunehmen, die für sie einen Statusverlust bedeutet.

Die Veränderungen bei der Absicherung von Anspruchsberechtigten in der Arbeitslosenversi­cherung betreffen die älteren Erwerbspersonen be­sonders – eine Personengruppe, die in den nächs­ten Jahren noch an Stärke zunimmt. Ältere werden zwar relativ selten aus Beschäftigung heraus arbeitslos. Bei Arbeitslosigkeit haben sie aber nach wie vor besonders schlechte Chancen, wieder eine

IZA

Wissenschaftlicher Bericht

L E B E N S L E I S T U N G

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Z U K U N F T S DI A LO G

Bei den Zukunftsforen

richteten die Bürger­

Innen ihre Anliegen an

den Minister.

DI S K U S S IO N

L E B E N S L E I S T U N G

reguläre Beschäftigung zu finden. Dabei verfügen sie über einen großen erhaltenswerten beruflichen Erfahrungsschatz.

Die Arbeitslosenversicherung leistet mehr als nur eine Entgeltsicherung. Die Arbeitsförderung zur Vermeidung und Beendigung von Arbeitslosigkeit ist eine weitere zentrale Aufgabe. Im Sozialgesetz­buch III ist dazu eine Vielzahl von Instrumenten verankert, darunter die Maßnahmen zur Aktivie­rung und beruflichen Eingliederung, die Förderung der beruflichen Weiterbildung, Leistungen zur Ausbildungsförderung oder Eingliederungszu­schüsse an Arbeitgeber. Die meisten Leistungen der Arbeitsförderung sind auch für Personen verfügbar, die Leistungen der Grundsicherung für Arbeit­suchende beziehen. Die Bundesagentur für Arbeit verzeichnet derzeit gut 850.000 Personen, die an Maßnahmen der Arbeitsförderung teilnehmen. Mit dem Qualifizierungschancengesetz hat der Bund die Weiterbildungsförderung vor Kurzem noch verstärkt.

Im Rahmen der Zukunftsforen wurden verschiede­ne Anliegen der BürgerInnen erkennbar, die finan­zielle Absicherung insbesondere von Menschen, die nach langen Jahren der Beschäftigung von Arbeits­losigkeit betroffen werden, zu verbessern und das System der Arbeitsförderung weiterzuentwickeln, damit es besser zu den Bedürfnissen der Betrof­fenen passt. Insbesondere wurden die folgenden Erwartungen geäußert:

• verstärkte Unterstützung für ältere Arbeits­lose,

• passgenauere und wirksamere Leistungen der Arbeitsförderung,

• chancenorientierte Vermittlung von Arbeit.

Im Zukunftsdialog wurde häufig beklagt, dass Menschen, die spät im Leben arbeitslos werden und altersbedingt nur noch schlechte Chancen auf Wiederbeschäftigung haben, nach dem Ende ihrer Ansprüche an die Arbeitslosenversicherung der­zeit unangemessen große Statusverluste erleiden.

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Z U K U N F T S DI A LO G

Hubertus Heil und Staatssekretärin

Leonie Gebers beim Zukunftsforum in

Augsburg.

DI S K U S S IO N

Insbesondere wurde in diesem Zusammenhang kritisiert, dass die Schonvermögen, die bei der Be­rechnung der Grundsicherung für Arbeitsuchende berücksichtigt werden, zu niedrig bemessen sind. Es wurde die Erwartung formuliert, dass ältere Arbeitslose, die während des Erwerbslebens vor­gesorgt haben, von ihren Ersparnissen so viel be­halten können, dass sie im Ruhestand den während ihres Erwerbslebens gewohnten Lebensstandard in angemessener Weise halten können. Ein anderes in diesem Zusammenhang öfter zu hörendes Anlie­gen war, die Kosten der Unterkunft so abzusichern, dass ältere Menschen, die den Job verlieren und in­folgedessen Leistungen der Grundsicherung bean­spruchen, nicht ihre lang angestammte Wohnung verlassen müssen. Vereinzelt gab es auch Stimmen, die sich für eine längere Höchstanspruchsdauer beim Arbeitslosengeld für ältere langjährig Ver­sicherte aussprachen.

Gefordert wurde auch ein gleichberechtigter Zu­gang älterer Arbeitsloser zu den Leistungen der Arbeitsförderung, um ihnen bessere Chancen auf eine Wiederbeschäftigung zu geben. Allgemein bemängelten allerdings viele BürgerInnen die nach ihrer Wahrnehmung oft fehlende Wirksamkeit und Passgenauigkeit von Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik. So wurde kritisiert, dass Agen­turen für Arbeit und Jobcenter Arbeitslosen nicht bedarfsgerechte Maßnahmen zuweisen, nur um die vorhandenen Angebote externer Träger auszu­lasten. Im Hinblick auf die Förderung der Aus­ und Weiterbildung wurden unter anderem eine bessere inhaltliche Qualität und individuelle Passgenau­igkeit von Kursangeboten, besser qualifiziertes und entlohntes Lehrpersonal, sowie kleinere und homogenere Klassen gefordert.

L E B E N S L E I S T U N G

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Etliche Stimmen sprachen sich dafür aus, von kurzen, standardisierten und in der Praxis häufig nur schematisch eingesetzten Instrumenten, wie Bewerbungstrainings oder Kurzzeitpraktika ohne Aussicht auf Übernahme, Abstand zu nehmen, die – so ein bei den Zukunftsforen häufig zu hörendes Urteil – kaum etwas zur Verbesserung der Beschäftigungschancen beitragen. Es wur­de gefordert, stattdessen verstärkt längere und umfassendere Maßnahmen der Arbeitsförderung einzusetzen. Damit wurde das Anliegen verbunden, auch Arbeitslosen größere berufliche Umstiege zu ermöglichen (→ Schwerpunkt: Individuelle Weiter­bildung), wie sie der digital basierte Strukturwandel aus Sicht vieler BürgerInnen zunehmend erforder­lich macht.

Sehr deutlich zeigte sich bei den Zukunftsforen die Erwartung, die Arbeitsuchenden im Rahmen der Arbeitsförderung in die Pla­nung ihrer weiteren beruflichen Zukunft aktiver einzubeziehen und dabei stärker an ihren per­sönlichen Stärken und Potenzia­len anzuknüpfen.

Wiederholt wurde das Anliegen formuliert, dass die Agenturen für Arbeit bei ihren Bemühungen, Arbeitslosen eine neue Arbeit zu vermitteln, vor­handene individuelle Qualifikationen, Arbeitserfah­rungen und Neigungen angemessen berücksichti­gen sollen. Gelegentlich wurde auch gefordert, bei

der Vermittlung weniger eine rasche Überwindung der Arbeitslosigkeit und mehr die Nachhaltigkeit der Beschäftigungsverhältnisse und der damit verbundenen beruflichen Entwicklungsperspek­tiven in den Blick zu nehmen. In diesem Zusam­menhang wurde insbesondere die Erwartung laut, Arbeitslose nicht bevorzugt in Leiharbeit oder andere atypische Beschäftigungsverhältnisse hineinzu vermitteln, um Arbeitslose nicht einem erhöhten Risiko der Entwertung vorhandener Qua­lifikationen und Kompetenzen auszusetzen.

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Wegweiser zu den Dialoginseln beim

Zukunftsforum in Augsburg.

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Z U K U N F T S DI A LO G

P E R S O N A

Zählt meine Lebensleistung?

Plötzlich arbeitslos – nachdem man in einem quali-fizierten Beruf lange und hart gearbeitet hat. Eine Weiterbildung könnte helfen, einen neuen Job zu finden. Doch die Chancen dafür stehen nicht gut.

Meinen ersten Job als Druckvorlagenherstellerin verlor ich an einen Computer. Das war schon in den 90er­Jahren. Das Arbeitsamt legte mir damals nahe, mich zum DTP­Operator bzw. zur Mediengestalterin fortbilden zu lassen. Etwa 20 Jahre habe ich in dem Beruf dann noch gearbeitet, bis die Firma 2013 von einem chinesischen Konzern übernommen wurde – und der baute Stellen ab. Binnen einer Stunde musste ich meinen Schreibtisch räumen, da war ich 50 Jahre alt. Seitdem schwebt die Angst vor Hartz IV und Altersarmut wie eine dunkle Wolke über mir. Dass es einmal so kommt, hätte ich mir nie träumen lassen.

Wie das Leben manchmal so spielt, bekam ich dann auch noch Brustkrebs, war lange krankgeschrieben. Seitdem kann ich nur noch 20 bis 30 Stunden die Woche arbeiten. Ab 2016 verdiente ich meinen Lebensunterhalt als Aushilfssekretärin, damit kam ich finanziell gerade so über die Runden. Als ich dann aber auch noch meine Eltern pflegen musste – mein Vater ist inzwischen verstorben –, hatte ich einen Zusam­menbruch, bin seitdem im Krankenstand. Vor ein paar Tagen habe ich mich bei der Arbeitsagentur erkundigt, ob ich eine Schulung oder Fortbildung bekomme, um meine Jobaussich­ten zu verbessern. Das sei aufgrund meines Alters und meiner Vorerkrankung sehr unwahrscheinlich, hieß es. Ich weiß also nicht, wie es weitergeht.

Meine größte Sorge ist, dass ich irgendwann das kleine Häuschen meiner Mutter verkaufen muss, wenn ich keine normal bezahlte Arbeit mehr finde. Denn mir wird nichts anderes übrig bleiben, um ihre Pflege bezahlen zu können.

Martina Weber (57) arbeitete

drei Jahrzehnte lang erfolgreich

im Bereich Mediengestaltung,

bis sie ihre Anstellung verlor.

Sie pflegt ihre Mutter.

„Ich habe ein solides Handwerk gelernt, immer Vollzeit gearbeitet, viele Überstunden gemacht, gut verdient. Doch das hilft mir heute alles nichts.“

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Unterstützung von Menschen in der Grundsicherung

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Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

Die Grundsicherung für Arbeitsuchende hilft fast sechs Millionen Menschen,

ein menschenwürdiges Leben zu sichern und bei der Eingliederung in Arbeit

zu unterstützen. Viele BürgerInnen wünschen sich aber, dass sie besser auf

individuelle Bedürfnisse eingeht und dazu befähigt, auf Dauer unabhängig

von staatlicher Unterstützung zu leben.

Die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II wurde im Jahr 2005 ein­

geführt. Damals galten die Systeme von Arbeits­förderung und Sozialhilfe vor dem Hintergrund einer steigenden Sockelarbeitslosigkeit als stark reformbedürftig. Ein zentrales Ziel der Reform war, Langzeitarbeitslosigkeit durch bessere Ein­gliederungschancen abzubauen, die Wirksamkeit von Maßnahmen der Arbeitsförderung zu steigern sowie die Betreuung, Beratung und Aktivierung von Arbeitsuchenden zu intensivieren. Zuvor getrennte staatliche Strukturen der Sozial­ und Arbeitsverwaltung wurden dafür in den Jobcentern zusammengeführt. Diese unterstützen Menschen bei der Arbeitssuche, sichern Lebensunterhalt und Unterkunft und erbringen ein breites Spektrum sozialer Dienstleistungen.

Auch wenn es nicht allein dieser Reform zuzu­schreiben ist: In Deutschland hat sich die Zahl der Arbeitslosen seitdem halbiert, und auch die Arbeitslosenquote ist deutlich gesunken.

Von dieser guten Entwicklung haben die schon länger Arbeit­suchenden in der Grund­sicherung aber relativ wenig profitiert – es sind vor allem Kurzzeitarbeitslose in der Arbeitslosenversicherung, die heute wieder schnell Arbeit finden.

Zwar ist auch die Zahl der Langzeitarbeitslosen gesunken. Es existiert aber weiterhin ein Kern­bereich verfestigter Langzeitarbeitslosigkeit. Auch erhalten viele Menschen über sehr lange Zeit hin­weg Grundsicherungsleistungen. In Westdeutsch­land befinden sich über 40 Prozent der Leistungs­berechtigten im SGB II seit mindestens vier Jahren in der Grundsicherung. In Ostdeutschland gilt dies sogar für fast jeden zweiten Leistungsberechtigten.

Wer Arbeitslosengeld II bezieht, darf – und soll – parallel zum Leistungsbezug Einkommen aus einer

IZA

Wissenschaftlicher Bericht

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Z U K U N F T S DI A LO G

Diskussionen im

Plenum beim Zukunfts­

forum in Essen.

DI S K U S S IO N

G RU N DS IC H E RU N G

Erwerbstätigkeit erzielen. Dieses Einkommen wird nach Abzug von Absetz­ und Freibeträgen teilweise auf die Grundsicherung angerechnet, kann aber die Einkommenslage der Bedarfsgemeinschaft verbes­sern. Derzeit sind knapp 1,1 Millionen Menschen im SGB II erwerbstätig, erzielen in vielen Fällen allerdings nur geringfügige Einkommen. Weniger als jeder fünfte erwerbstätige Leistungsberechtigte ist in Vollzeit sozialversicherungspflichtig beschäf­tigt. Dagegen geht jeder dritte nur einem Minijob nach.

Die Diskussionen im Rahmen der Zukunftsforen zeigten, dass viele BürgerInnen grundlegende Veränderungen am System der Grundsicherung befürworten.

Dabei geht es ihnen insbesondere um• einen stärker wertschätzenden Umgang

von Jobcentern und Leistungsberechtigten miteinander,

• Entschärfung der Leistungsminderungen bei Pflichtverletzungen,

• wirksame Unterstützung zur Erwerbsauf­nahme und gesellschaftlichen Teilhabe auch für Menschen im Langzeitleistungsbezug,

• bedarfsgerechte Regelbedarfe und erwerbs­freundliche „Hinzuverdienstregeln“.

Viele TeilnehmerInnen des Zukunftsdialogs wünschten sich eine Begegnung zwischen den Fachkräften der Jobcenter und den Leistungsbe­rechtigten auf Augenhöhe. Gefordert wurde ein wertschätzender Umgang miteinander und dass die Jobcenter von sich aus mehr dafür unterneh­men, die Grundlagen für ein funktionierendes und stabiles Vertrauensverhältnis zu schaffen sowie ihre Vorgehensweisen und Entscheidungen stets transparent und verständlich zu machen. Die Jobcenter sollten auch besser auf die individuellen Stärken und Ressourcen derjenigen eingehen, die ihre Unterstützung benötigen (→Schwerpunkt: Bürgerfreundliche Sozialverwaltung).

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Z U K U N F T S DI A LO G

Hubertus Heil in der Dialoginsel

„Soziale Sicherheit“ beim Zukunfts­

forum in Essen.

DI S K U S S IO N

Um in dieser Hinsicht Fortschritte zu erzielen, sind aus Sicht einiger BürgerInnen auch die Arbeitsbe­dingungen in den Jobcentern wichtig. Sie glauben, dass eine ausreichende Ausstattung mit qualifizier­tem Personal, angemessene Bezahlung und we­niger Zielvorgaben zu einer besseren Unterstüt-zung beitragen und für einen verantwortlicheren Umgang mit individuellen Ermessensspielräumen sorgen könnten.

Größeren Raum nahm im Zukunftsdialog die Frage ein, wie mit Leistungsminderungen verfahren wer­den sollte, wenn Leistungsberechtigte gegen Mit­wirkungspflichten verstoßen. Zu den Rechtsfolgen solcher Pflichtverletzungen ließ sich ein breites Spektrum an Auffassungen beobachten. Die geäu­ßerten Positionen reichten von einer grundsätz­lichen Ablehnung jeglicher Leistungsminderung bis hin zu einem unveränderten Festhalten an den geltenden Sanktionsregelungen. Manche Stimmen

sprachen sich dafür aus, zumindest jugendliche Leistungsberechtigte unter 25 Jahren genauso zu behandeln wie ältere Leistungsberechtigte. Weitgehend Einigkeit bestand darin, dass durch Leistungsminderungen keine Härtefälle geschaffen werden sollten.

In diesem Zusammenhang war im Rahmen der Zukunftsforen auch die Auffassung präsent, das bestehende System der Grundsicherung für Arbeit­suchende komplett aufzugeben und stattdessen ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle BürgerInnen einzuführen, das prinzipiell nicht an die Bedingung der Erwerbstätigkeit geknüpft ist und sanktionsfrei funktioniert. Damit wurden die Erwartungen verknüpft, den Menschen mehr Gestaltungsfreiheit in ihrem Leben zu geben, ihnen den Druck zu nehmen, einer – bezahlten – Arbeit nachzugehen, gesellschaftliche Stigmati­sierungen von LeistungsempfängerInnen in der

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Grundsicherung abzubauen und für alle einen unbürokratischen Zugang zu einer sozialen Min­destabsicherung zu schaffen. Bei einem Fachwork­shop zum Thema „Bedingungsloses Grundein­kommen“ wurde dieses Konzept jedoch von vielen WissenschaftlerInnen kritisch beurteilt. Fragen wurden insbesondere im Hinblick auf die Finan­zierbarkeit und die Folgen für den Arbeitsmarkt und die wirtschaftliche Entwicklung aufgeworfen.

Was die Unterstützung bei der Teilhabe am Erwerbsleben angeht, wurden im Zukunftsdialog an der individuellen Bedarfslage ausgerichtete, aktive und wirksame Hilfen als wichtiges Element eines gut funktionierenden Grundsicherungs­systems angesehen. Dazu wurden unter anderem bessere und intensivere Qualifizierungsmaßnah-men angemahnt.

Zahlreiche BürgerInnen äußer­ten, dass die Menschen in der Grundsicherung, die trotz des momentan sehr aufnahme­ fähigen Arbeitsmarkts absehbar keine Aussicht auf eine reguläre Beschäftigung haben, bessere Perspektiven und soziale Teil­ habe brauchen.

Einige Zustimmung fand die Idee, einen sozialen Arbeitsmarkt zu entwickeln, in dem die Zielgruppe über einen ausreichend langen Zeitraum eine

Beschäftigung finden kann. Es wurde auch dafür plädiert, diesen mit Qualifizierungsangeboten und Sozialarbeit zu ergänzen. Entsprechend traf das neue Teilhabechancengesetz auf positive Reso­nanz.

Im Zukunftsdialog wurde auch über die richtige Höhe der Regelbedarfe in der Grundsicherung für Arbeitsuchende diskutiert. Häufiger gab es Forderungen nach einer spürbaren Erhöhung, um die Bedarfe zur Existenzsicherung und sozialen Teilhabe angemessen abzudecken. Bei der Auf­taktveranstaltung wurde aber auch dafür plädiert, zwischen den Regelbedarfen und den Lohnein­kommen weiterhin ausreichend Abstand zu wah­ren. Weitgehender Konsens bestand darin, dass Leistungsberechtigte in der Grundsicherung, die arbeiten, spürbar mehr Geld zur Verfügung haben sollten als Leistungsberechtigte, die nicht arbeiten. Dazu wurde öfter das Anliegen formuliert, eigenes Erwerbseinkommen weniger stark bei der Berech­nung der Leistungsansprüche zu berücksichtigen als heute (→ Schwerpunkt: Geringverdienende).

Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

G RU N DS IC H E RU N G

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Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

G RU N DS IC H E RU N G

Auch in den Kaffeepausen wurde

diskutiert: BürgerInnen im Gespräch

beim Zukunftsforum in Augsburg.

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Auf Augenhöhe?

Ein Mix von Fördern und Fordern soll Langzeitarbeitslosen helfen, wieder in den Arbeitsmarkt zu kommen. Nach Mei-nung von Kay R. kommt das Fördern dabei allerdings zu kurz.

Nur wer mich gut kennt, der weiß, dass ich Hartz IV bekom­me. Das ist ja nichts, was man gerne erzählt. Es ist scham­behaftet, obwohl ich nichts dafür kann. Jahrelang habe ich erfolgreich in der IT­Branche gearbeitet, wurde jedoch kurz vor meinem 50. Geburtstag wegen Umstrukturierung ent­lassen. Seitdem finde ich keine feste Anstellung mehr, beziehe seit 2013 ALG II und muss regelmäßig zum Jobcenter.

Das fällt mir nicht leicht, denn als erwachsener Mensch, der immer selbstbestimmt gelebt hat, fühle ich mich dort von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern oft bevormundet statt gefördert. Da erlebe ich keine Zusammenarbeit auf Augenhö­he, stattdessen habe ich jedes Mal Angst vor Sanktionen. Des­halb nehme ich zu den Terminen immer meine Akten mit – um auf alle Eventualitäten reagieren zu können. Inzwischen lasse ich mich sogar vom Gewerkschaftssekretär begleiten, dadurch bin ich innerlich ruhiger und kann selbstbewusster auftreten.

Ich würde auch jede Arbeit annehmen, auch wenn die Chancen in meinem Alter und mit der langen Arbeitslosigkeit nicht gut stehen. Meine Jobsuche wird dadurch erschwert, dass ich durch zwei Bandscheibenvorfälle unter chronischen Schmerzen leide, was das Jobcenter aber nicht berücksichtigt. Meine Selbstachtung und Anerkennung hole ich mir durch meine vielen ehrenamtlichen Tätigkeiten – bei der Flücht­lingshilfe, der Gewerkschaft, der evangelischen Kirche. So fühle ich mich gebraucht – trotz Hartz IV.

Z U K U N F T S DI A LO G P E R S O N A

Kay R. (57) ist seit sechs Jahren

arbeitslos und lebt derzeit von

der Grundsicherung für Arbeit­

suchende. Der gelernte Indus­

triekaufmann arbeitete in unter­

schiedlichen Berufen, die letzten

Jahre als IT­Fachmann. Er wohnt

in Freiburg im Breisgau.

„Ich bewerbe mich für jeden Job, den das Jobcenter mir vorschlägt, auch wenn er nicht das Geringste mit mei­nen Fähigkeiten zu tun hat.“

G RU N DS IC H E RU N G

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Z U K U N F T S DI A LO G

Gut begleitet in Arbeit

Wie können Menschen, die lange ohne Arbeit waren und von der Grundsicherung leben müssen, dauerhaft in Arbeit kom-men? Welche Ansätze sind gut? Was muss verbessert werden, damit Integration gemeinsam nachhaltig gelingt? Diese Fragen diskutierte Bundesminister Hubertus Heil mit Mit-arbeitenden und Bildungspartnern im Jobcenter Duisburg.

Die Stadt Duisburg ist stark vom Strukturwandel betroffen. Das Jobcenter setzt daher gemeinsam mit NetzwerkpartnerIn­nen vor Ort auf eine intensivierte und gut abgestimmte Betreu­ung bei der Integration von langzeiterwerbslosen Menschen.

Mit dem Bundesprogramm „Soziale Teilhabe am Arbeits­markt“ habe das Jobcenter gute Erfahrungen gesammelt, berichteten die TeilnehmerInnen des Ortsgesprächs. Es sei wichtig, Langzeitleistungsbeziehende länger und individuell zu begleiten, auch nachdem sie in ein Beschäftigungsverhältnis vermittelt wurden. Mögliche Probleme am neuen Arbeits­platz ließen sich dann gemeinsam lösen. Sinnvoll fanden die TeilnehmerInnen außerdem, die Programme zu entfristen, um so längerfristig mit den Leistungsbeziehenden zusammenzu­arbeiten.

Eine verlässliche, möglichst kostenlose Kinderbetreuung sei vor allem für junge Frauen eine wichtige Voraussetzung, um wieder eine Beschäftigung aufnehmen zu können. Die Runde diskutierte auch Möglichkeiten zur Integration von Arbeit­suchenden mit Fluchterfahrung. Viele Geflüchtete arbeiten als Zeit­ oder LeiharbeiterInnen, weil ihre beruflichen Qualifika­tionen nicht anerkannt werden. Integration müsse nicht schnell, sondern nachhaltig passieren.

O RT S G ES P R ÄC H

G RU N DS IC H E RU N G

JOBCENTER DUISBURG

Betreuung von

BezieherInnen von

Arbeitslosengeld II

Duisburg

7. Dezember 2018

„Wir müssen allen Menschen die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben geben.“

Hubertus Heil

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Z U K U N F T S DI A LO G

Das Soziale in Europa

DI S K U S S IO N

T H E M E N S C H W E R P U N K T

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Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

Die Integration des EU-Binnenmarkts ist weit fortgeschritten, ihre Sozial-

und Arbeitsmarktpolitik gestalten die Mitgliedstaaten aber immer noch

ganz verschieden. Viele EuropäerInnen streben ein sozialeres Europa an und

befürworten, dass in der ganzen EU vergleichbare Sozialstandards gelten.

Im Jahr 2017 haben die Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit der Europäischen Säule

Sozialer Rechte (ESSR) die Vereinbarung getroffen, in Zukunft die soziale Dimension Europas zu stär­ken. Die festgelegten Grundprinzipien dienen zur Orientierung der auf Länderebene zu verfolgenden Arbeitsmarkt­ und Sozialpolitiken und nehmen grundlegende Erwartungen an die europäische Politik auf. Viele BürgerInnen in der EU sehen es als besonders wichtige Gestaltungsaufgabe an, über Ländergrenzen hinweg vergleichbare Lebens-verhältnisse herzustellen. So ist eine Mehrheit der Deutschen gemäß einer aktuellen Umfrage (Fried­rich­Ebert­Stiftung) der Ansicht, dass die meisten Probleme der EU auf soziale und wirtschaftliche Unterschiede zurückgehen und Ungleichheiten in Europa nachteilig sind. In einer solchen Einschät­zung spiegeln sich auch Sorgen vor einem unfairen Unterbietungswettbewerb bei den Sozialstandards. Nicht zuletzt stellt sich die Frage, ob es Europa ge­lingt, in der Globalisierung ein Wirtschaftsmodell zu prägen, das grundlegenden sozialen Standards verpflichtet ist, sowohl im Binnenmarkt als auch in seinen internationalen Beziehungen.

Die jüngste wirtschaftliche Erholung innerhalb der EU­Staaten nach Überwindung der globalen Wirtschafts­ und Finanzkrise am Ende des letzten Jahrzehnts hat nicht dazu geführt, dass sich die sozialen Standards in Europa auf einem hohen Niveau einander annähern.

Einkommensungleichheit und Armut bilden sich nur leicht zurück. Das Armutsrisiko von Erwerbslosen ist in der EU nach wie vor hoch.

Und auch eine Erwerbsarbeit schützt vielfach nicht ausreichend vor Armut. Zugleich unterscheiden sich die Systeme der sozialen Grundsicherung in­nerhalb Europas weiterhin stark, und zwar sowohl hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzungen als auch hinsichtlich der Höhe der existenzsichernden Leistungen. Die Folge sind große Unterschiede bei der materiellen und sozialen Lage von Langzeit­arbeitslosen.

IZA

Wissenschaftlicher Bericht

DA S S OZ I A L E I N E U R O PA

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Z U K U N F T S DI A LO G

Moderatorin Julia Kropf

und Bundesminister

Hubertus Heil bei der

Abschlussdiskussion

beim Zukunftsforum

in Jena.

DI S K U S S IO N

In vielen Mitgliedstaaten existiert ein substanziel­ler Niedriglohnsektor. Nach Angaben der OECD bezogen 2017 zwischen vier Prozent (Belgien) und 26 Prozent (Lettland) der Vollzeitbeschäftigten in Europa einen Niedriglohn – Deutschland lag dabei mit knapp 19 Prozent oberhalb des Durchschnitts. Allerdings gibt es sehr verschiedene Mechanis­men für die Festsetzung von Lohnuntergrenzen: Während die weitaus meisten EU­Mitgliedstaaten, darunter auch Deutschland, gesetzliche Lohn­untergrenzen besitzen, werden in anderen Ländern tarifvertragliche Mindestlöhne entweder regelmä­ßig für allgemeinverbindlich erklärt oder aufgrund hoher Organisationsgrade von Arbeitgebern und Gewerkschaften weitgehend universell angewandt. Aber auch die gesetzlichen Mindestlöhne streuen der Höhe nach noch sehr stark. Während Beschäf­tigte in Bulgarien Anspruch auf mindestens 1,72 Euro in der Stunde haben, sind es in Luxem­burg 11,97 Euro. Der gesetzliche Mindestlohn entsprach nach Feststellung der OECD 2017 in Spanien 40 Prozent des dortigen mittleren Stun­denlohns im Land, in Frankreich dagegen 62 Pro­

zent. Der deutsche gesetzliche Mindestlohn von 9,19 Euro liegt in dieser Betrachtung mit 48 Prozent im hinteren Mittelfeld.

Konkrete Hinweise auf die Entwicklung der Sozialpolitik auf europäischer Ebene ergaben sich insbesondere aus einem im Rahmen des Zukunfts­dialogs veranstalteten Fachworkshops zum Thema. Dabei lassen sich nach Einschätzung der angehör­ten ExpertInnen aus den Grundsätzen der Europäi­schen Säule Sozialer Rechte zwei Schwerpunkte herleiten, um die materielle Absicherung der EU­BürgerInnen zu stärken, die sich am unteren Ende der Einkommensskala befinden:

• Schaffung einer existensichernden staatlichen Grundsicherung in allen Mitgliedstaaten,

• europaweit angemessene Mindestlöhne.

Mit dem Ziel, stärkere Systeme der Grundsiche-rung zu etablieren, wird vor allem die Erwartung verbunden, einen besseren Schutz vor individueller

DA S S OZ I A L E I N E U R O PA

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Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

Armut zu erreichen. Zudem sind damit gesamtwirt­schaftliche Erwartungen verknüpft. So sollen durch eine starke Grundsicherung während Rezessions­phasen der Konsum stabilisiert und Erholungspro­zesse in Gang gesetzt werden, insbesondere dort, wo vorgelagerte Systeme der Arbeitslosenversi­cherung die Kurzzeitarbeitslosen nicht vollständig oder nicht ausreichend absichern. Erwartet wird auch eine Zunahme der Beteiligung am Arbeits­markt, sofern die Inanspruchnahme der sozialen Grundsicherung mit wirksamen Maßnahmen zur Aktivierung verknüpft wird.

Die Forderung, in der gesamten EU angemessene Mindestlöhne zu erreichen, ist häufig mit dem Anliegen verknüpft, die Lohnent­wicklung am unteren Ende der

Skala zu stützen und damit der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit in Europa entgegen­zuwirken.

Ein weiteres Ziel ist, dass Mindestlöhne die zum Teil nur lückenhaft entwickelten Tarifsysteme in Europa ergänzen. Auch sollen sie die wirtschaft­liche Integration der EU ergänzen, indem sie einem reinen Kostenwettbewerb vorbeugen und den durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit möglicher­weise entstehenden Lohndruck verringern. Min­destlöhne in Europa unterscheiden sich allerdings sowohl in ihrer absoluten Höhe als auch in ihrem Verhältnis zum jeweiligen nationalen Lohnniveau deutlich.

DA S S OZ I A L E I N E U R O PA

Eine Dialoginsel beim Zukunftsforum

in Bremerhaven.

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Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

Wenn es darum geht, die Grundprinzipien der Europäischen Säule Sozialer Rechte mit Leben zu füllen, muss jedoch die bestehende Kompetenz­verteilung zwischen der EU und den Mitglied­staaten im Bereich der Sozialpolitik beachtet werden. Deshalb war die Frage, ob und wie es einer europäischen Initiative für stärkere Koordination im Bereich der sozialen Grundsicherung und der Mindestlöhne gelingen könnte, eine Angleichung mitgliedstaatlicher Regelungen und Standards auf einem höheren Niveau zu fördern, auch Gegen­stand der Expertendiskussion im Rahmen des Zukunftsdialogs. Diese zeigte im Hinblick auf Min­destlöhne, dass – wie grundsätzlich bei Fragen des Arbeitsentgelts – innerhalb der bestehenden Ver­träge keine Rechtsgrundlage für eine verbindliche europäische Regelung vorhanden ist. Allerdings könnte eine rechtlich nicht bindende Empfehlung des Rates der Europäischen Union ein Ansatzpunkt sein, um bestimmte Verfahren zur Festlegung von Mindestlöhnen zu definieren, ohne dabei in die institutionellen Besonderheiten der Mitgliedstaa­ten einzugreifen, was die Mechanismen für die Be­stimmung von Mindestlöhnen angeht. Auch würde dies keine bestimmte Höhe eines Mindestlohnes vorgeben, sondern allenfalls einen rechtlich nicht bindenden Korridor für Mindestlöhne relativ zum jeweiligen nationalen Lohnniveau. In Verbindung mit Monitoring und Evaluation könnte so über die Zeit eine gewisse Konvergenz nationaler Mindest­löhne erreicht werden.

Zur europaweiten Koordination von nationalen Grundsicherungssystemen könnten ebenfalls wesentliche Grundsätze und Leitlinien für die Mit­gliedstaaten mittels einer Empfehlung des Rates formuliert werden. Hier wird bereits derzeit ein europaweites Benchmarking der Mindestsiche­rungssysteme durchgeführt. Darauf aufbauend könnte nach Einschätzung der angehörten Exper­tInnen eine Empfehlung oder ­ unter bestimmten Voraussetzungen ­ eine Mindeststandards vor­gebende Richtlinie formuliert werden, die eine Aufwärtskonvergenz nationaler Grundsicherungs­systeme stärkt.

DA S S OZ I A L E I N E U R O PA

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Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

DA S S OZ I A L E I N E U R O PA

BürgerInnen während der

Abschlussdiskussion

beim Zukunftsforum in Augsburg

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Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

Gute Arbeit ermöglichen

86 – 93 Selbstbestimmung und Schutz der Beschäftigten

94 – 101 Sozialpartnerschaft, Tarifbindung und Mitbestimmung

102 – 109 Arbeit in der Plattformökonomie

ARBEITEN IM DIGITALEN WANDEL

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Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

EINFÜHRUNG IN DAS HANDLUNGSFELD

Die Arbeitswelt durchläuft mit der Digitalisie-rung gerade einen fundamentalen Verände-rungsprozess. Welche Folgen die neuartigen technologischen Möglichkeiten, die mit Stich-worten wie künstlicher Intelligenz, Automati-sierung, Big Data und dem Internet der Dinge verbunden sind, für die Beschäftigung und die Beschäftigten haben könnten, wird von der Öffentlichkeit stark diskutiert. Häufig sind dabei Befürchtungen zu hören, dass in wenigen Jahren ganze Berufe wegrationalisiert werden und ein hoher Anteil der Arbeitsplätze unwiederbring-lich verloren geht.

Jedoch ist die empirische Basis für solche Befürchtungen schwach. Wissenschaftliche Studien zu den Arbeitsmarkteffekten der Digita-lisierung stellen eher fest, dass viele Berufe nicht ganz verschwinden, sondern eine Veränderung der Tätigkeitsprofile erfahren. Zugleich gehen im technologiebasierten Strukturwandel nicht nur Jobs verloren. Durch Innovationen entstehen in der Wirtschaft an anderer Stelle neue Beschäf-tigungsmöglichkeiten. Seriöse Projektionen, die diese positive Seite des Wandels berücksichti-gen, kommen zu dem Schluss, dass der Bedarf an Arbeitskräften in Deutschland auf mittlere Sicht hoch bleiben und die Arbeitslosigkeit eher weiter ab- als zunehmen dürfte.

Der digitale Wandel schafft für die Erwerbs-tätigen zudem Chancen, die Arbeit stärker nach ihren individuellen Vorstellungen zu gestalten.

So führen die neuen Technologien in der Ten-denz zu mehr Autonomie am Arbeitsplatz. Auch die bei vielen Menschen vorhandenen Wün-sche, zeitlich und räumlich flexibel – etwa vom Homeoffice aus – zu arbeiten, lassen sich damit leichter realisieren.

Mit der durch die Digitalisierung weiter voranschreitenden Flexibilisierung der Arbeits-welt sind für die Beschäftigten jedoch auch verschiedene Risiken verbunden: So kann zeit-lich und räumlich entgrenztes Arbeiten die Work-Life-Balance gefährden und gesundheit-lich belastend sein. Die zunehmende Orga- nisation von Dienstleistungsarbeiten über webbasierte Plattformen bringt neue Erwerbs-formen hervor, die zwischen abhängiger Beschäftigung und Soloselbstständigkeit stehen und den Beschäftigten nicht immer genug sozia-le Sicherheit bieten.

Die Plattformökonomie befördert auch die Auflösung von traditionellen Betriebsgrenzen. Durch diese Entwicklung geraten die Sozialpart-nerschaft und die betriebliche Mitbestimmung noch weiter unter Druck. In der Gesamtwirt-schaft sind die Tarifbindung und die Verbreitung von Betriebsräten im Trend ohnehin rückläufig.

Der Zukunftsdialog suchte daher in unter-schiedlichen Themenfeldern nach Ansatzpunk-ten, wie Arbeiten auch im digitalen Wandel gut gestaltet werden könnte.

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Z U K U N F T S DI A LO G

Selbstbestimmung und Schutz der Beschäftigten

DI S K U S S IO N

T H E M E N S C H W E R P U N K T

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Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

Die Arbeitswelt ist fundamental im Umbruch. Viele Menschen möchten

die mit neuer Technik verbundenen Chancen nutzen, freier und flexibler zu

arbeiten. Sie fordern aber auch Arbeitsschutz und Mitbestimmung, die den

neuen Möglichkeiten gerecht werden.

Die digitale Arbeitswelt bietet neue Freiheiten bei der Arbeitsgestaltung. So erweitern neue

Technologien nicht nur die Möglichkeiten für zeit­lich flexibles, sondern auch für ortsungebundenes Arbeiten, etwa von zu Hause aus oder von unter­wegs. Aktuelle Studien zeigen, dass dieses Poten­zial noch nicht ausgeschöpft wird und manche Wünsche von Beschäftigten unerfüllt bleiben. Nur zwölf Prozent aller abhängig Beschäftigten arbei­ten zumindest gelegentlich von zu Hause aus, ob­wohl dieser Anteil, ginge es nach den Vorstellun­gen der Beschäftigten, über 30 Prozent erreichen könnte. Grundsätzlich wäre ortsungebundenes Arbeiten nach Einschätzung der Beschäftigten bei etwa 40 Prozent der Arbeitsplätze möglich.

Räumlich und zeitlich entgrenztes Arbeiten zieht eine Reihe von arbeitsorganisatorischen und arbeitsrechtlichen Fragen nach sich, etwa im Hinblick auf den Arbeitsschutz. Verbunden sind damit auch Fragen des Gesundheitsschutzes, etwa hinsichtlich des Umgangs mit psychischen Risiken. Dieser ist für moderne, stark flexibilisierte Arbeitswelten ganz generell zu klären. Psychische

Belastungen sind neben körperlichen Erkran­kungen mittlerweile die wichtigsten Auslöser für krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit oder Er­werbsminderung. Hier bestehen bei der Umset­zung von Gefährdungsbeurteilungen und bei der Vermeidung solcher Risiken erhebliche Heraus­forderungen in der betrieblichen Praxis.

Bei der Gestaltung des techno­logischen Wandels durch die Unternehmen sind die Beschäf­tigten offenbar nicht immer aktiv eingebunden.

In einer Umfrage für den DGB­Index „Gute Arbeit“ gaben fast drei Viertel der Beschäftigten an, dass sie auf die Art und Weise des Einsatzes digita­ler Technik an ihrem Arbeitsplatz gar nicht oder nur in geringem Maß Einfluss nehmen und ihre Erfahrungen oder Erwartungen kaum einbringen könnten. Die Folge davon können unzureichende Akzeptanz und Anwendung sein. Weiterhin stellt der Umgang mit digitalen Technologien, die in der

IZA

Wissenschaftlicher Bericht

S E L B S T B ES T I M M U N G

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Z U K U N F T S DI A LO G

BürgerInnen beim

Zukunftsforum in

Augsburg.

DI S K U S S IO N

Praxis auch zu einer stärkeren Überwachung und Kontrolle von MitarbeiterInnen genutzt werden können, neue Herausforderungen an den Schutz von Daten der Beschäftigten.

Dies wirft grundlegende Fragen der Mitbestim­mung in einer digitalen Arbeitswelt auf. Die be­stehenden Institutionen der Mitbestimmung – die Tarifpartnerschaft und das Betriebsverfassungs­gesetz – bieten hierfür weiterhin eine Grundlage. Allerdings ist die Tarifbindung langfristig rück­läufig und deckt in wichtigen Sektoren nur eine Minderheit von Beschäftigten ab (→ Schwerpunkt: Sozialpartnerschaft). Der Trend, dass Fragen der Arbeitsqualität wieder zunehmend Eingang in Tarifverträge finden, erfasst also viele Beschäftigte nicht.

Mit Blick auf die sich abzeichnenden Veränderun­gen in der Arbeitswelt thematisierten die Bürger­Innen in den Zukunftsforen vor allem die Anliegen,

• moderne Arbeitsformen bedarfsgerecht zu gestalten,

• Arbeitszeitregeln zu überprüfen und ausrei­chenden Arbeitnehmerschutz in der Praxis zu gewährleisten,

• mehr vorbeugenden Gesundheitsschutz zu betreiben,

• Beteiligungsrechte von Beschäftigten zu sichern.

Dass moderne Arbeitsformen neue Möglichkeiten guter Arbeitsgestaltung bieten können, wurde sowohl von den BürgerInnen im Zukunftsdialog als auch von den TeilnehmerInnen eines Fach­workshops zur „Arbeitsorganisation im Wandel“ gesehen. Nach deren Einschätzung können etwa physische Assistenzsysteme körperliche Entlas­tungen verschaffen, sensorische Assistenzsysteme altersbedingte Leistungsminderungen kompen­sieren und kognitive Assistenzsysteme für besser informierte Entscheidungen sorgen. Damit kann,

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Z U K U N F T S DI A LO G

Diskussionen über die Digitalisierung

beim Zukunftsforum in Essen.

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so die weit geteilte Einschätzung, der techno­logische Fortschritt dazu beitragen, die Bedürf­nisse von Beschäftigten nach Erleichterungen und mehr Autonomie bei der Arbeit zu befriedigen.

Zahlreiche BürgerInnen äußer­ten im Zukunftsdialog Wünsche nach mehr Möglichkeiten zu flexiblem Arbeiten, und zwar auch außerhalb der normalen Arbeitszeiten und abseits des Arbeitsplatzes im Betrieb.

Damit wurde insbesondere das Anliegen verbun­den, Erwerbs­ und Sorgearbeit besser miteinander in Einklang zu bringen, also etwa mehr Flexibilität für die Betreuung von Kindern oder die Pflege

Angehöriger zu erhalten. Einigen ging es auch darum, dadurch mehr Selbstbestimmung bei der Arbeit zu gewinnen und die durch die Digitalisie­rung gewohnten Flexibilitäten auch im Berufsleben realisieren zu können.

In diesem Zusammenhang diskutierten die BürgerInnen kontrovers über die Notwendigkeit und die richtigen Wege, vorhandene Regelungen zur Arbeitszeit an die in der digitalisierten Arbeits­welt und bei örtlich und zeitlich agilem Arbeiten sich ändernden praktischen Erfordernisse anzu­passen. Zum Teil wurde die Erwartung formuliert, die Arbeitszeitvorgaben anzupassen, um mehr Spielräume für die Beschäftigung mit beruflichen Aufgaben nach Ende des eigentlichen Arbeitstages zu schaffen und beispielsweise Bagatellzeiten zu erlauben, in denen etwa abends von zu Hause aus noch E­Mails abgerufen werden können. Zum Teil

S E L B S T B ES T I M M U N G

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Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

wurde einer Lockerung von Arbeitszeitvorgaben unter Betonung ihrer Schutzfunktion deutlich widersprochen. Das Anliegen zu gewährleisten, dass auch bei mobilem Arbeiten und Homeoffice Vorgaben für einen guten Arbeits­ und Gesund­heitsschutz eingehalten werden, fand durchweg sehr große Zustimmung.

Einige Stimmen äußerten die Vorstellung, dass entsprechende Regeln zur Arbeitsorganisation nicht primär per Gesetz, sondern über Tarifver­träge, Betriebsvereinbarungen oder auch individu­elle Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten geregelt werden sollten. Dagegen gab es jedoch auch Widerspruch. BürgerInnen warnten davor, dass Beschäftigte vielfach gegen­über dem Arbeitgeber nicht in einer ausreichenden Verhandlungsposition seien, um Schutzinteressen ohne eine rechtliche Absicherung durchzusetzen. Sie wiesen in diesem Kontext auf das Beispiel von Arbeitgebern hin, die zum Teil zulässige – und von Beschäftigten akzeptierte – Grenzen der Erreich­barkeit überschritten. Sie äußerten die Erwartung, dass der Staat die ArbeitnehmerInnen wegen der damit verbundenen Risiken, etwa für die Ge­sundheit, vor solchen Verhältnissen ausreichend schützen solle. Zur Sicherung vor Überforderung wurde aber auch die bessere Vermittlung von Wis­sen über den Umgang mit digitalen Mitteln und gesundheitsgerechtes Arbeiten gefordert, und zwar bei allen Gestaltern des digitalen Wandels, nicht zuletzt bei den Beschäftigten.

Im Zusammenhang mit den Risiken entgrenzter Arbeit wurden auch Erwartungen laut, mehr für den vorbeugenden Gesundheitsschutz zu tun. In den Zukunftsforen wurde das Anliegen vorge­bracht, Arbeitgeber etwa zu einem angemessenen Gesundheitsschutz bei Beschäftigten im Home­office zu verpflichten. Gefordert wurde außerdem, dass Betriebsräte auch in einem betrieblichen Umfeld mit einem hohen Anteil von Home­office­Beschäftigten ausreichend Möglichkeiten behalten müssten, sich für gesundheitsgerechte Arbeitsplätze einzusetzen.

Eine Bedingung für einen gelingenden digitalen Wandel liegt nach breit geteilter Ansicht darin, die Beteiligungsrechte der Beschäftigten zu sichern und weiterzuentwickeln. Im Expertendialog wurde die Einrichtung von Experimentierräumen empfohlen, in denen praktische Lösungen unter Wahrung der bestehenden Beteiligungsrechte, mit Zustimmung von Tarifpartnern und staatlichen Aufsichtsbehörden sowie unter wissenschaftlicher Begleitung erprobt und Vorschläge zur Weiterent­wicklung der Mitbestimmung erarbeitet werden können.

S E L B S T B ES T I M M U N G

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Z U K U N F T S DI A LO G

Das Motto „Neue Arbeit – Neue

Sicherheit“ stand über allen Fragen

des Zukunftsdialogs.

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Z U K U N F T S DI A LO G

Konzentriert arbeiten

Homeoffice ist attraktiv, weil man Beruf und Familienleben besser vereinbaren kann. Außerdem steigert es die Produkti-vität. Davon ist Sabine H. überzeugt.

Könnte ich im Homeoffice arbeiten – ich wäre zu Hause präsenter und hätte mehr Zeit für meine beiden Kinder, schon allein, weil die langen Wegezeiten wegfallen. Und ich würde an diesen Tagen mehr geschafft bekommen als im Büro. Einfach weil ich in meinem Arbeitszimmer zu Hause allein bin und nicht gestört werde. Da kann ich mich ganz auf meine Projekte fokussieren, effektiv arbeiten.

Das ist in der Firma anders: Dort sitze ich in einem Vierer­ Zimmer, man redet beruflich miteinander, man telefoniert. So werde ich ständig abgelenkt, aus meiner Konzentration geris­sen. Verhandlungen am Telefon gestalten sich auch deutlich schwieriger, wenn im Hintergrund gesprochen wird.

Umgekehrt ist mir aber auch klar: Nur Homeoffice ist auch keine Lösung. Ich brauche den Austausch mit den Kolle­gInnen in der Firma.

Viele von ihnen wünschen sich ebenfalls, regelmäßig von zu Hause aus arbeiten zu können. Das sind längst nicht nur Mütter wie ich, auch junge MitarbeiterInnen ohne Familie. Technisch wäre es ohnehin kein Problem, auf den Server zu­zugreifen und Meetings per Skype abzuhalten. In Ausnahme­fällen wird das auch bereits gemacht. Doch die Chefs erlauben Arbeit im Homeoffice nicht. Sie haben Sorge, dass zu viele MitarbeiterInnen zur gleichen Zeit von dieser Möglichkeit Gebrauch machen. Dabei wäre es doch möglich zu bestimmen, wer wann im Büro ist. Der Arbeitgeber übersieht dabei auch, dass die Möglichkeit, gelegentlich von zu Hause zu arbeiten, das Arbeitsklima verbessert und den Arbeitgeber attraktiver macht. Für mich würde ein Tag Homeoffice jedenfalls zu einer guten Work­Life­Balance führen.

P E R S O N A

Sabine H.* (42) arbeitet Vollzeit

als Abteilungsleiterin im Ver­

anstaltungsmanagement und ist

Mutter von zwei Kindern.

*Name geändert

„Ein­ bis zweimal in der Woche im Homeoffice arbeiten – das wäre mein Traum. Und es hätte nur Vortei­le, für mich genau­so wie für meinen Arbeitgeber.“

S E L B S T B ES T I M M U N G

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O RT S G ES P R ÄC HZ U K U N F T S DI A LO G

Innovativ und selbstbestimmt

Wie gute betriebliche Gestaltung die Belange der Beschäf-tigten berücksichtigt - dies war Thema des Ortsgesprächs bei der Robert Bosch GmbH in Stuttgart. Ein neuer Tarifver-trag stärkt die Rechte der Beschäftigten auf selbstbestimm-te Arbeitszeiten.

Mehr als 13.700 MitarbeiterInnen beschäftigt Bosch in seinem Entwicklungs­ und Vertriebszentrum in Stuttgart­Feuerbach. Dem Unternehmen gehören außerdem mehr als 670 Auszubildende und Studierende an. Der Standort ist als Entwicklungszentrum ein wichtiger Ideen­ und Impulsgeber für das gesamte Unternehmen, nicht zuletzt auch hinsichtlich neuer Modelle der Arbeitsorganisation und der Arbeitszeit­gestaltung.

Weitreichende Möglichkeiten für mehr Selbstbestim­mung bei der Wahl der Arbeitszeiten gibt ein Tarifvertrag für die neue Einheit Connected Mobility Solutions mit gut 300 Beschäftigten. Die Mitarbeitenden haben seit 2019 die Wahl zwischen einer 35­, 38­ oder 40­Stunden­Woche. Es gilt Vertrauensarbeitszeit. Bei der Bezahlung sind die Regelungen an den bestehenden Tarifvertrag der IG Metall angelehnt. Statt fester Entgeltgruppen gibt es flexible Gehaltsbänder. Zudem erhalten die MitarbeiterInnen alle zwei Jahre einen Gesundheitscheck und können frei über ein eigenes Weiter­bildungsbudget verfügen.

Die Sicherung von Arbeitsplätzen war für zahlreiche TeilnehmerInnen ein drängendes Thema. Die Geschäfts­leitung sei aufgerufen, Beschäftigte bei der Gestaltung des digitalen Wandels zu beteiligen. Mit Blick auf das Diesel­Fahr­verbot wünschten sich die TeilnehmerInnen im Gespräch mit Bundesarbeitsminister Hubertus Heil vor allem Transparenz und Planungssicherheit.

S E L B S T B ES T I M M U N G

ROBERT BOSCH GmbH

Entwicklungs- und Vertriebs-

zentrum

Technologie­ und Dienst­

leistungsunternehmen

Stuttgart­Feuerbach

13. November 2018

„Unternehmeri­scher Erfolg und gute Arbeits­ bedingungen für die Beschäftigten sind keine Gegen­sätze, sondern zwei Seiten einer Medaille.“

Hubertus Heil

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Z U K U N F T S DI A LO G

Sozialpartnerschaft, Tarifbindung und Mitbestimmung

DI S K U S S IO N

T H E M E N S C H W E R P U N K T

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Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

Immer weniger Beschäftigte in Deutschland arbeiten in tarifgebundenen

Unternehmen und werden durch Betriebsräte vertreten. Viele Menschen

wünschen sich aber eine starke Sozialpartnerschaft und Interessenver-

tretungen, damit die ausgehandelten Standards bei Löhnen und Arbeits-

bedingungen für möglichst viele gelten.

Die Sozialpartnerschaft ist ein zentrales Merk­mal der Arbeitsbeziehungen in Deutschland.

Sie beruht traditionell auf drei grundlegenden Orientierungen, die die Gewerkschaften und die Arbeitgeber mit ihren Verbänden teilen: der Legitimiät der Tarifautonomie und des Betriebsver­fassungsgesetzes, der Anerkennung der Tatsache, dass sich die Interessen der Arbeitgeber­ und Arbeitnehmerseite im Kern unterscheiden, sowie dem Willen, für den Ausgleich dieser Interessen auf dem Verhandlungsweg zu Kompromissen zu kommen. Die Kultur der Aushandlung und des Interessenausgleichs gilt als wichtige Stütze des deutschen Modells, das durch die Verbindung von wirtschaftlicher Konkurrenzfähigkeit mit guten Arbeitsbedingungen gekennzeichnet ist.

Allerdings gibt es Anzeichen, dass die Sozial­partnerschaft in Deutschland an Kraft verliert. Dies zeigt sich unter anderem an einem stetigen Rückgang der Tarifbindung und der abnehmenden Verbreitung von Betriebsräten in den Betrieben. Die Ergebnisse des IAB­Betriebspanels zeigen:

2017 arbeiteten lediglich 40 Prozent der westdeutschen und 33 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten in Betrieben mit einem Betriebsrat.

Zugleich waren nur knapp die Hälfte der west­deutschen Beschäftigten und gut ein Drittel der Beschäftigten in Ostdeutschland in Betrieben tätig, die an einen Flächentarifvertrag gebunden waren. 20 Jahre früher galt dies noch für rund 70 Prozent der Beschäftigten im Westen und 56 Prozent der Beschäftigten im Osten. Die Tarifbindung ist vor al­lem in weiten Teilen des privaten Dienstleistungs­sektors schwach.

Außerdem mussten Gewerkschaften und Arbeit­geberverbände lange Zeit starke Mitgliederverluste hinnehmen. Bei den Unternehmen ist dafür ein wachsender wirtschaftlicher Druck in transnatio­nalen Wertschöpfungsketten mitverantwortlich. Relevant ist aber auch – gerade bei Neugründun­gen – eine öfter zu beobachtende grundlegende

IZA

Wissenschaftlicher Bericht

S OZ I A L PA RT N E R S C H A F T

95

Z U K U N F T S DI A LO G

Beim Zukunftsforum in

Essen diskutierten die

BürgerInnen in Dialog­

inseln die Leitfragen.

DI S K U S S IO N

Abkehr von sozialpartnerschaftlichen Institutio-nen. Sie schlägt sich etwa in Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung nieder. Die Gewerkschaften müssen die Folgen einer Verschiebung der Be­schäftigungsstruktur hin zu mehr Angestellten­tätigkeiten und der Privatisierung zahlreicher Bereiche des öffentlichen Diensts bewältigen.

Im Zukunftsdialog wurde deutlich, dass Bür­gerInnen eine schwache Tarifbindung und feh­lende Bündelung von Arbeitnehmerinteressen über Betriebsräte Sorgen bereitet, weil sie damit zunehmenden Lohndruck nach unten und eine Verschlechterung sonstiger Arbeitsbedingungen verbinden. Thematisiert wurden insbesondere die folgenden Punkte:

• Geltung tariflicher Regelungen für möglichst viele Beschäftigte,

• besserer Schutz vor Tarifflucht und Tarifum­gehungen,

• Anpassung der Mitbestimmung an die moderne Arbeitswelt.

Viele BürgerInnen unterstützten im Rahmen der Zukunftsforen die Position, den von den Sozial­partnern gefundenen Lösungen bei möglichst vielen Beschäftigten Geltung zu verschaffen und einen Unterbietungswettbewerb vor allem bei den Löhnen zu verhindern (→ Schwerpunkt: Geringver­dienende).

Häufig wurde die Forderung an das BMAS gerichtet, Tarifverträ­ge öfter als bisher für allgemein­verbindlich zu erklären.

Da jedoch in manchen Bereichen die gesetzlichen Kriterien als nicht erfüllt eingeschätzt werden, wurde auch dafür plädiert, diese anders zu fassen. So kam von Gewerkschaftsseite im Zukunftsdialog der Vorschlag, Allgemeinverbindlichkeitserklä-rungen ebenfalls zuzulassen, wenn sie zur Siche­rung angemessener Entgeltbedingungen, sozialer Standards oder eines fairen Wettbewerbs geeignet sind. Die TeilnehmerInnen der Zukunftsforen for­mulierten wiederholt auch Erwartungen, dass die

S OZ I A L PA RT N E R S C H A F T

96

Z U K U N F T S DI A LO G

Bundesminister Hubertus Heil

diskutierte auch bei den Ortsge­

sprächen zu Fragen des digitalen

Wandels der Arbeitswelt.

DI S K U S S IO N

öffentliche Hand bei der Anwendung von Tarifver­trägen ihre Vorbildfunktion gut erfüllt und durchentsprechende Regelungen bei Vergabeverfahrenauch dafür sorgt, dass sich die von ihr beauftragtenUnternehmen tariftreu verhalten. Vereinzelte Stim­men sprachen sich auch dafür aus, die Tarifbindungdurch eine aktive Privilegierung von tarifgebunde­nen Unternehmen oder von Beschäftigten, dieeiner Gewerkschaft angehören, zu stärken.

Im Zukunftsdialog wurden auch Forderungenerhoben, stärker gegen Tarifflucht und die Umge­hung von Tarifregelungen vorzugehen. In diesemZusammenhang wurde die Erwartung geäußert,die Zahlung gleichen Lohns für gleiche Arbeitzu gewährleisten, indem Maßnahmen gegen dieAuslagerung von Tätigkeiten im Kerngeschäft derUnternehmen durch Einsatz von Leiharbeit oderWerkverträgen ergriffen werden, wenn damit Ent­

gelt­ und Sozialstandards abgesenkt werden. Man­che BürgerInnen kritisierten auch tarifvertraglicheÖffnungsklauseln, die nach ihrer Wahrnehmungzum Teil für nicht gerechtfertigte Lohnkürzungenausgenutzt werden. Bei einem Fachworkshop zumThema einer besseren Sicherung von Geringverdie­nenden gab es dagegen von Arbeitgeberseite einPlädoyer für Öffnungsklauseln mit der Begrün­dung, dass diese als Option für betriebsspezifischeLösungen und Flexibilisierung zur Stärkung derTarifbindung beitragen (→ Schwerpunkt: Geringver­dienende).

Von Arbeitgeberseite wurden in diesem Rahmenals weitere Handlungsoptionen angeregt: einemodulare Tarifbindung, also die Möglichkeit, dassdie Tarifparteien aus dem Gesamttarifwerk nureinzelne ausgewählte Elemente zur Anwendungbringen, sowie das Recht zur unveränderten Über­

S OZ I A L PA RT N E R S C H A F T

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Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

nahme von Tarifverträgen durch Vereinbarungenzwischen einzelnen Arbeitgebern und Betriebs­räten. Dagegen forderten VertreterInnen der Ge­werkschaften zur Stärkung der Tarifbindung unteranderem, die Möglichkeiten zur Mitgliedschaft ineinem Arbeitgeberverband ohne Tarifbindung starkeinzuschränken, mehr gesetzliche Privilegierungenfür tarifgebundene Arbeitgeber zu schaffen,Nachbindungs­ und Nachwirkungsrechte strengerzu fassen und die Fortgeltung von Tarifverträgenbei Aufspaltung, Abspaltung und Übergängen vonBetrieben besser zu sichern.

Die im Zukunftsdialog konsultierten Fachleute äußerten sich nicht nur zur Tarifbindung. Sie gaben auch Hinweise auf Bedarfe, die Mitbestimmung zu modernisieren, damit sie etwa mit Digitalisie­rung der Wirtschaft (→ Schwerpunkt: Plattform­ökonomie) und dem technologischen Wandel in der Arbeitswelt Schritt halten kann. So wurde im Rahmen eines Fachworkshops zu den Auswirkun­gen der Digitalisierung auf die Arbeitsorganisation die Erwartung geäußert, dass sich Betriebsräte an ein immer agileres Arbeitsumfeld anpassen, indem sie zur Organisation und Kommunikation verstärkt digitale Instrumente nutzen. Dazu müssten teils auch Bestimmungen im Betriebsverfassungsgesetz geändert werden.

Gefordert wurde auch, die Mit­bestimmungsrechte im Hinblick auf die Beteiligung bei Einfüh­rung technologischer Innovatio­nen im Betrieb zu klären sowie die Informations­ und Zustim­mungsrechte von Betriebsräten in diesem Zusammenhang zu erweitern.

Erkennbar wurden auch Erwartungen, dass sich die Betriebsräte vermehrt um die an Digitalisierung und den Einsatz künstlicher Intelligenz geknüpften neuen Belange des Beschäftigtendatenschutzes kümmern. Gefordert wurde in diesem Zusammen­hang, ihnen die zur Bewältigung dieser neuartigen Aufgaben notwendigen technischen Fachkenntnis­se besser zu vermitteln.

S OZ I A L PA RT N E R S C H A F T

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Z U K U N F T S DI A LO G

Lösungsansätze und Ideen

zum Thema „Gute Arbeit im

digitalen Wandel“.

DI S K U S S IO N

S OZ I A L PA RT N E R S C H A F T

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Z U K U N F T S DI A LO G

Aufgaben des Betriebsrats 4.0

Die Veränderungen durch Digitalisierung betreffen die gesamte Belegschaft. Deshalb kümmert sich der Betriebs-rat um die Folgen für die Beschäftigten. Wie Andreas Becker, Betriebsrat beim Chemie- und Pharmaunternehmen Merck.

Industrie 4.0 ist eines der beherrschenden Themen in der wirtschaftlichen Diskussion. Natürlich auch bei uns im Betriebsrat. Die Digitalisierung hat ja nicht nur mit neuen Anlagen zu tun, sondern auch mit einer ganz neuen Art des Arbeitens. Die Beschäftigten haben deshalb natürlich Sorgen und Bedenken: Werde ich kontrolliert, wann, was und wie viel ich arbeite? Von wo aus kann ich überall mobil arbeiten? Wie kann ich mich gegen eine etwaige Mehrbelastung wehren, wenn Arbeitsprozesse beschleunigt und verdichtet werden? All diese Fragen versuchen wir als Betriebsrat zu beantworten und dabei den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Wir klären die MitarbeiterInnen in Informationsveranstaltun­gen darüber auf, dass sie eben nicht ständig erreichbar sein müssen. Und wir sind dazu auch mit der Unternehmensfüh­rung im Gespräch, die das Problem der deutlich gestiegenen Arbeitsbelastung erkannt hat.

Aber auch der Betriebsrat muss sich fragen, wie Mit­bestimmung im digitalen Zeitalter funktionieren kann. Wir haben uns unter anderem dazu entschieden, Ausschüsse zu bilden, die mit Unternehmensvertretern, MitarbeiterInnen, IT­Experten und Betriebsrat paritätisch besetzt sind. Sie be­schäftigen sich mit dem digitalen Wandel in all seinen unter­schiedlichen Facetten. Dazu gehört etwa der Datenschutz der ArbeitnehmerInnen, aber auch die Bereiche Bildung und Arbeitsschutz bzw. ­medizin. Maßnahmen im Bereich der Digitalisierung können somit zeitnah in den jeweiligen Aus­schüssen genauer betrachtet, diskutiert und dokumentiert werden.

P E R S O N A

Andreas Becker (51) ist seit 2013

Betriebsrat des Gemeinschafts­

betriebsrats merck der Merck

KGaA in Darmstadt. Davor war er

technischer Berater für Produkt­

gruppen.

„Wir gestalten als Betriebsrat die Digitalisierung im Sinne der Beschäf­tigten mit und achten darauf, dass auch ihre Interes­sen berücksichtigt und sie bei der Ge­staltung mit einge­bunden werden.“

S OZ I A L PA RT N E R S C H A F T

100

O RT S G ES P R ÄC HZ U K U N F T S DI A LO G

Strukturwandel gemeinsam gestalten

Die Seehafenlogistik verändert sich rasant. Vom digitalen Strukturwandel ist auch die BLG Logistics Group AG & Co. KG betroffen. Beim Ortsgespräch tauschte sich Bundes-minister Hubertus Heil mit den TeilnehmerInnen darüber aus, wie Arbeitgeber und Beschäftigte den Strukturwandel gemeinsam bewältigen können und die FacharbeiterInnen weiterhin beschäftigungsfähig bleiben.

Zahlreiche Arbeitsprozesse würden in naher Zukunft auto­matisiert, schätzten die Beschäftigten und Betriebsräte. Viele HafenfacharbeiterInnen sorgen sich daher, ihren Arbeits­platz zu verlieren. Auch für den Wirtschaftsstandort Bremer­haven sei es existenziell, den Strukturwandel erfolgreich zu meistern: Rund 20 Prozent der hiesigen Wirtschaftsleistung werden über den Hafen erbracht.

Qualifizierung und Weiterbildung seien daher der Schlüs­sel, damit die MitarbeiterInnen neue Aufgaben übernehmen können, falls im Strukturwandel bestehende Aufgaben weg­fielen. Aus Sicht der Beschäftigten leisten Tarifpartnerschaft und betriebliche Mitbestimmung wichtige Beiträge, um den Wandel gemeinsam zu gestalten. Vor Ort müssten die Tarif­partner gemeinsam Lösungen für eine Umschulungsoffensive finden. In Bremerhaven habe man schon erste Leitplanken festgelegt. Die TeilnehmerInnen appellierten an die soziale Verantwortung der Unternehmen, die eigene Belegschaft durch sichere Tarifverträge mitzunehmen.

An die Politik richteten vor allem die Betriebsräte ihre An­liegen: Sie sei gefragt, die Unternehmen zu unterstützen und zukunftsweisende Weiterbildungsprogramme aufzusetzen. Einen guten Rahmen biete das neue Qualifizierungschancen­gesetz. Zugleich sollten die Unternehmen selbst in die Ver­antwortung genommen werden.

S OZ I A L PA RT N E R S C H A F T

BLG LOGISTICS GROUP

AG & Co. KG

Seehafenlogistik

Bremerhaven

9. März 2019

„Tarifbindung und Mitbestimmung sind der Schlüssel für eine lebendige Sozialpartner­schaft – und die brauchen wir, gerade in Zeiten des Wandels.“

Hubertus Heil

101

Z U K U N F T S DI A LO G

Arbeit in der Plattformökonomie

DI S K U S S IO N

T H E M E N S C H W E R P U N K T

102

Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

Internet-Plattformen schaffen neuartige Erwerbsformen: Gigworking und

Crowdworking. Viele Beteiligte wünschen sich Klarheit, ob es sich dabei um

abhängige oder selbstständige Erwerbstätigkeit handelt, und fordern

passende Regeln für gute Arbeitsbedingungen und soziale Sicherheit in

diesem noch jungen Arbeitsmarkt.

Im digitalen Wandel sind neue Formen der Er­werbstätigkeit entstanden, die über Plattformen

im Internet organisiert werden. Dazu gehört das Gigworking. Gigworker erbringen verbraucherbe­zogene Dienstleistungen vor Ort, wie Fahrdienste oder Hilfen im Haushalt. Eine andere Form platt­formbasierter Beschäftigung ist das Crowdworking. Crowdworker konkurrieren um Arbeitsaufträge von Unternehmen und wickeln diese vollständig digital ab. Das Spektrum der Tätigkeiten, die Unter­nehmen auf diese Weise auslagern, reicht von sehr einfachen Arbeiten bis hin zu hochkomplexen Spezialistentätigkeiten.

Die Plattformwirtschaft nimmt international an Bedeutung zu. In Deutschland entwickelt sie sich bislang aber offenbar nur relativ langsam. Hier sind verschiedenen Studien im Auftrag des BMAS zufol­ge derzeit ein bis vier Prozent der Erwachsenen in der Plattformökonomie tätig. Gigworking ist dabei offenbar deutlich weiter verbreitet als Crowd­working. Plattformarbeit leisten in der Tendenz besonders oft jüngere und gebildete Menschen.

Sie wird zudem tendenziell umso männlicher, je digitaler und qualifizierter sie ausgeprägt ist.

Noch hat das Bild, wie es um die Qualität der derzeit in Deutschland geleisteten Plattform­arbeit bestellt ist, große Lücken. Vieles spricht aber dafür, dass nur eine Minderheit ausschließlich von Gigworking oder Crowdworking lebt. In vielen Fällen geht es den in diesem Bereich Erwerbstäti­gen um einen flexibel organisierten und auch nicht unbedingt auf Dauer angelegten Nebenerwerb. Für diejenigen, die selbstständig Dienstleistungen anbieten, sind Plattformen oft nur eine weitere Möglichkeit, an Aufträge zu kommen.

Häufig sind die mit Plattform­arbeit erzielbaren Löhne und Einkommen für sich genommen nicht auskömmlich.

IZA

Wissenschaftlicher Bericht

P L AT T F O R M Ö KO N O M I E

103

Z U K U N F T S DI A LO G

Der Digitalisierung

war in allen Zukunfts­

foren eine Dialoginsel

gewidmet.

DI S K U S S IO N

Vor allem, wer keine Alternative dazu hat, kann daher unter mangelnder finanzieller und sozialer Sicherheit leiden.

Da die in der Plattformökonomie organisierten neuen Formen der Arbeit in Deutschland noch sehr wenig verbreitet sind, überrascht es nicht, dass die TeilnehmerInnen der Zukunftsforen bei den Diskussionen um die Frage, wie gute Arbeit im digitalen Zeitalter gestaltet werden könnte, vor allem mit Digitalisierung, Automatisierung und künstlicher Intelligenz verbundene Veränderungen der Arbeitswelt in der traditionellen Wirtschaft im Blick hatten. Allerdings sind die in diesem Kontext geäußerten Anliegen im Kern oft auch für die Gestaltung guter Arbeitsbedingungen beim Crowdworking und Gigworking relevant. Diese Einschätzung bestätigen Erkenntnisse aus einem im Rahmen des Zukunftsdialogs durchgeführten

Fachworkshop zur Plattformökonomie, in dessen Rahmen Problemlagen und Handlungsbedarfe für gute Arbeit in der Plattformökonomie aus Arbeit­geber­ und Erwerbstätigensicht erörtert wurden. Auf dieser Basis lassen sich die folgenden zentralen Gestaltungsanliegen erkennen:

• rechtssichere Feststellung der Erwerbs­formen,

• angemessener Schutz der Erwerbstätigen,• kollektive Lösungen für Arbeitsbedingungen

und Mitbestimmung.

Die Beziehungen zwischen Plattformbetreibern und den mittels Plattformen Erwerbstätigen stehen in diesem noch jungen und neuartigen Seg­ment der Wirtschaft erst am Anfang. Es gibt zudem noch wenig gesichertes empirisches Wissen über die Arbeitsbedingungen in der Plattformökonomie.

P L AT T F O R M Ö KO N O M I E

104

Z U K U N F T S DI A LO G

Bis zu 200 BürgerInnen diskutierten

bei den Zukunftsforen, hier in Augs­

burg.

DI S K U S S IO N

Dies begründete die im Zukunftsdialog gegebene Expertenempfehlung, die neuen webbasierten Arbeitsmärkte zunächst in ihrer weiteren Entwick­lung zu verfolgen, um passgenaue und problem­adäquate Lösungen entwickeln zu können.

Als ein besonders vordringliches Anliegen benannten die im Zukunftsdialog gehörten Unter­nehmensvertretungen und Er­werbstätigen aus der Plattform­ökonomie eine schnelle und rechtssichere Klärung des Er­werbsstatus bei plattformbasier­ten Tätigkeiten.

Die Vertragsverhältnisse bewegen sich hier mo­mentan vielfach zwischen einer (solo­)selbststän­digen Tätigkeit oder freien Mitarbeit (Freelancing) und einer abhängigen Beschäftigung. Daraus leiten sich Forderungen ab, neue Kriterien für die Status­feststellung zu entwickeln, die bei neuen und hy­briden Erwerbsformen in der Plattformwirtschaft (→ Schwerpunkt: Erwerbsformen) passen. Eine unklare Statusfrage schafft Unsicherheit auf beiden Marktseiten; daran hängt insbesondere die Frage, ob die Plattformdienstleister wie ein Arbeit­geber Sozialbeiträge abführen müssen.

P L AT T F O R M Ö KO N O M I E

105

Der vielfach vonseiten der Wirtschaft bekunde­te Wunsch, vermittelte Erwerbstätige eher wie Selbstständige zu behandeln, um die Plattform­arbeit flexibel zu halten, wird offenbar nicht von allen in diesem Bereich Tätigen geteilt. Auch die Gewerkschaften vertreten das Anliegen, dass de facto abhängige Beschäftigung in der Plattform­wirtschaft arbeitsrechtlich entsprechend behandelt wird. In diesem Kontext werden auch ein Kontroll­defizit und mangelnde Durchsetzung vorhandener Regeln beklagt.

Vor allem unter Erwerbstätigen, die als Selbst­ständige oder Freelancer arbeiten und mit den per Plattform organisierten Tätigkeiten nur geringe Einnahmen erzielen, gibt es öfter den Wunsch, einen niedrigschwelligen und bezahlbaren Zugang zu den gesetzlichen Sozialversicherungen zu er­halten. Die Anliegen nach einem besseren Schutz der Beschäftigten reichen allerdings weiter. Von­seiten der Erwerbstätigen wurden etwa Erwartun­gen laut, den Einsatz befristeter Vertragsverhältnis­se in der Plattformwirtschaft einzudämmen sowie für einen transparenten Umgang mit persönlichen Daten zu sorgen. Dieses Anliegen betrifft nicht nur die Einhaltung der gesetzlichen Datenschutzvor­schriften, sondern reicht bis zur Offenlegung der bei Auftragsvergaben genutzten Algorithmen, um einen diskriminierungsfreien Zugang zur Platt­formarbeit zu gewährleisten.

Weil (solo­)selbstständige, oft kurzfristige Ver­tragsverhältnisse in diesem Segment dominieren, kann es in der Plattformökonomie relativ schwierig sein, gute Vertragsbedingungen auszuhandeln und die Rechte von Beschäftigten durchzusetzen.

Deshalb besteht ein gewerk­schaftliches Interesse, auch in diesem Umfeld die vermehrte Gründung von Betriebsräten zu erreichen, zumindest aber die Informations­ und Zutrittsrechte für Gewerkschaften zu verbes­sern.

Forderungen richten sich auch auf die Einrichtung von Möglichkeiten, kollektive Vereinbarungen für Zusammenschlüsse von selbstständig Tätigen zu erreichen. Dies würde, soweit die Erwerbstätig­keit auf Plattformen in Selbstständigkeit erfolgt, Anpassungen des Kartellrechts erfordern, damit solche Vereinbarungen nicht als unerlaubte Preis­absprachen gelten.

Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

P L AT T F O R M Ö KO N O M I E

106

Z U K U N F T S DI A LO G

Neben Fragekarten standen bei allen

Zukunftsforen Dialogwände für die

Anliegen der BürgerInnen bereit.

DI S K U S S IO N

Im Gegensatz dazu plädierten die im Zukunftsdialog angehörten VertreterInnen der Plattform­wirtschaft für freiwillige Selbst­verpflichtungen und bessere Information über die Rechte und Pflichten.

Dazu sollen insbesondere die möglichst breite Anerkennung eines von der Plattformwirtschaft entwickelten Code of Conduct und die Einrichtung

einer Ombudsstelle unter Beteiligung der Gewerk­schaftsseite beitragen. Zudem zeigten sich die Plattformbetreiber durchaus bereit, an gewissen Verbesserungen für die von ihnen organisierten Erwerbstätigen, wie der Qualifizierung durch Schu­lungen oder einem Schutz durch Versicherungs­leistungen, mitzuwirken. Dafür müsste allerdings gewährleistet sein, dass entsprechende Angebote von ihrer Seite nicht zu einer Stellung als Arbeitge­ber führen. In diesem Kontext wurde auf entspre­chende Neuregelungen in anderen EU­Staaten wie Frankreich verwiesen.

P L AT T F O R M Ö KO N O M I E

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Z U K U N F T S DI A LO G

App statt Mensch

Digitale Plattformen verknüpfen Unternehmen und MitarbeiterInnen, Aufträge erfolgen nicht mehr mündlich, sondern über einen Algorithmus. Für den Fahrradkurier Joscha Möller ist das normaler Berufsalltag.

Meine Chefin ist eine App. Sie sagt mir, zu welchem Restau­rant ich radeln soll, und wenn ich da bin, bekomme ich von ihr die Adresse der Kundin oder des Kunden. Das heißt, ich habe bei meinem Job keine richtige Ansprechperson, obwohl ich fest angestellt bin. Alles läuft anonym – und genau das finde ich problematisch. Mir fehlt ein Austausch jenseits der App, schließlich ist es ein Grundbedürfnis von Menschen, mitein­ander zu kommunizieren. Ich würde mir wirklich wünschen, als Arbeitnehmer auch gesehen und gehört zu werden, ein Feedback zu bekommen, Vorschläge oder Kritik anbringen zu können. Schließlich verdient die Firma ja durch FahrerInnen wie mich ihr Geld.

Um uns Gehör zu verschaffen, versuchen meine KollegIn­nen und ich, gemeinsam mit der Gewerkschaft einen Betriebs­rat zu gründen, was aber seitens des Arbeitgebers leider nicht gewünscht ist. Der Vorgang liegt nun beim Gericht.

Bezahlt werde ich pro Stunde, für die ich ein bisschen mehr als Mindestlohn verdiene, eine Ausnahme im Vergleich zu anderen Fahrern. Zuschläge für Nacht­ oder Wochenend­arbeit gibt es nicht. Etwa 16 bis 20 Stunden fahre ich in der Woche – je nachdem, welche Schichten ich bekomme. Ich weiß also nie genau, wieviel Geld am Monatsende auf dem Konto sein wird. Lange im Voraus planen kann man ohne­hin nicht. Mein Arbeitsvertrag ist zwar entfristet, die meiner KollegInnen sind aber oft auf ein Jahr begrenzt.

Unterwegs bin ich übrigens mit dem eigenen Fahrrad, der Verschleiß geht auf meine Kosten und ich warte es auch selbst.

P E R S O N A

Joscha Möller (33) ist seit über

zwei Jahren als Kurierfahrer fest

angestellt und in Münster unter­

wegs – weil er Teilzeit arbeiten

will und weil er gern viel und

zügig Fahrrad fährt.

„Ich bin nur eine Nummer und kein Gegenüber für meinen Arbeit­geber, wie ich es mir wünschen würde.“

P L AT T F O R M Ö KO N O M I E

108

Z U K U N F T S DI A LO G

P L AT T F O R M Ö KO N O M I E

109

Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

Fähigkeiten entwickeln

112 – 119 Betriebliche Weiterbildung

120 – 127 Individuelle Weiterbildung

128 – 135 Sicherung der Fachkräftebasis

QUALIFIZIEREN FÜR DIE ARBEITSWELT VON MORGEN

110

Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

EINFÜHRUNG IN DAS HANDLUNGSFELD

Technologischer Fortschritt trägt dazu bei, dass viele berufliche Tätigkeiten komplexer werden. Routinemäßige Aufgaben sowohl manueller als auch kognitiver Natur können technische Systeme inzwischen gut automatisch erledigen. Damit ent-stehen Freiräume, die Arbeitgeber vielfach dafür nutzen, den Beschäftigten mehr nicht-routinemä-ßige und abstrakte Tätigkeiten zu übertragen.

Wie Studien zeigen, wächst damit für vie-le Beschäftigte das Spektrum der im Beruf zu erledigenden Aufgaben, und es erhöhen sich die Anforderungen an die persönlichen Fähigkeiten und Kompetenzen. Bei Umfragen sagt eine starke Mehrheit der Beschäftigten, die von erheblichen technologischen Neuerungen an ihrem Arbeits-platz betroffen sind, dass deswegen eine bestän-dige Weiterentwicklung der eigenen beruflichen Fähigkeiten notwendig sei.

Welche neuen Fähigkeiten genau die Be-schäftigten brauchen, um auch künftig in der Arbeitswelt mitzuhalten, kann von Fall zu Fall sehr verschieden sein. Tendenziell jedoch nimmt die Bedeutung manueller Fertigkeiten und reinen Faktenwissens ab, während kommunikative Kompetenz und sogenannte nicht kognitive Fähig-keiten wie etwa Sozialkompetenz, Kreativität oder Offenheit für neue Erfahrungen wichtiger werden. Diese Fähigkeiten verbindet, dass sie nicht an einen spezifischen Beruf oder allgemeiner an Arbeit ge-bunden sind und auch anders erlernt werden.

In Deutschland spielen traditionell die Betrie-be eine große Rolle, wenn es um Aus- und Weiter-bildung geht. Die Daten zeigen, dass die duale Berufsausbildung jedoch momentan gegenüber akademischer geprägten Ausbildungsgängen an Hochschulen stark an Bedeutung verliert. Zugleich kümmern sich Arbeitgeber zunehmend um die Weiterbildung der Beschäftigten – wovon Gruppen mit besonderem Bedarf wie Geringqualifizierte oder Ältere aber noch relativ wenig profitieren. Künftig könnte, weil sich die Bindungen zwischen Erwerbstätigen und Betrieben lockern, die Nach-frage nach selbstbestimmter Weiterbildung wach-sen, die losgelöst vom Arbeitsplatz vollzogen wird.

Fachkräfteengpässe, die schon heute in Teilen des deutschen Arbeitsmarkts spürbar sind und sich infolge strukturellen und demografischen Wandels bald noch verstärken könnten, können als Wachs-tumshemmnis wirken. Deshalb ist eine Steigerung des allgemeinen Wohlstands möglich, wenn es gelingt, vorhandene Reserven an qualifizierten Be-schäftigten durch eine höhere Erwerbsbeteiligung, intensivere Nach- und Requalifizierung sowie mehr qualifizierte Zuwanderung zu erschließen.

Wie dafür gesorgt werden könnte, dass in Deutschland für die Arbeitswelt von morgen ausreichend passend qualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung stehen und der Strukturwandel erfolgreich bewältigt werden kann, wurde im Zukunftsdialog in verschiedenen Themenfeldern besprochen.

IZA

111

Z U K U N F T S DI A LO G

Betriebliche Weiterbildung

DI S K U S S IO N

T H E M E N S C H W E R P U N K T

112

Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

Um mit den beruflichen Anforderungen von heute und morgen Schritt zu

halten, ist gute betriebliche Weiterbildung unerlässlich. Viele BürgerInnen

wünschen sich hier ein stärkeres Engagement der Arbeitgeber, aber auch

die Stärkung von Weiterbildungsanreizen und eine Modernisierung von

Weiterbildungsformen und -inhalten.

Betriebliche Weiterbildung kann dazu beitragen, dass Arbeitgeber ihren Fachkräftebedarf besser

decken, flexibler auf Veränderungen reagieren und innovative Produkte und Produktionsverfahren leichter auf den Weg bringen können. Faktisch resultieren hieraus nicht nur positive Wirkungen auf Rentabilität und Wettbewerbsfähigkeit der Unter­nehmen. Oft ziehen auch die Beschäftigten einen Nutzen aus der betrieblichen Weiterbildung, etwa durch höhere Löhne, bessere Karriereperspektiven, gesundheitliche Entlastung oder stärkere Arbeits­zufriedenheit.

Der jüngste Datenreport zum Berufsbildungsbe­richt zeigt: 2016 nahmen in Deutschland 43 Prozent der 25­ bis 64­Jährigen an einer berufsbezogenen Weiterbildung teil. Weit überwiegend handelte es sich dabei um eine betriebliche Weiterbildung während der Arbeitszeit oder mit betrieblicher Unterstützung. Dass Frauen weniger stark ins Er­werbsleben eingebunden sind und oft in Teilzeit arbeiten, ist mit ein Grund, warum sie etwas selte­ner an betrieblichen Weiterbildungen beteiligt sind als Männer. Trotz leichter Fortschritte in den letzten

Jahren bilden Arbeitgeber Ältere über 50 Jahre immer noch deutlich seltener weiter als jüngere Beschäftigte.

Die Daten des IAB­Betriebspanels zeigen, dass die betriebliche Weiterbildung für die Arbeitgeber er­heblich an Bedeutung gewinnt. 2016 waren 53 Pro zent der Betriebe in der Weiterbildung ihrer Beschäftigten aktiv – 15 Jahre zuvor waren es erst 36 Prozent. Dieser Anstieg geht zu einem guten Teil auf die relativ stark gewachsene Weiterbildungs­beteiligung von kleinen und mittelgroßen Betrieben zurück. Bei den Kleinbetrieben liegen die Weiterbil­dungsquoten aber immer noch markant unter dem Durchschnitt. In den weiterbildenden Betrieben nimmt heute im Durchschnitt gut ein Drittel der Be­legschaft an entsprechenden Maßnahmen teil. Im Jahr 2001 lag diese Quote noch unter einem Fünftel. Um die Weiterbildung geringqualifizierter Be­schäftigter kümmern sich die Arbeitgeber allerdings immer noch merklich weniger. 2016 wurden 44 Pro­zent der Beschäftigten, die qualifizierte Tätigkeiten ausführen, betrieblich weitergebildet, aber nur 20 Prozent der Beschäftigten mit einfachen Tätigkeiten.

IZA

Wissenschaftlicher Bericht

B E T R I E B L IC H E W E I T E R BI L D U N G

113

Z U K U N F T S DI A LO G

Diskussionen zur

betrieblichen Weiter­

bildung in einer Dialog­

insel bei der Auftakt­

konferenz in Berlin.

DI S K U S S IO N

Trotz der steigenden Weiter­bildungsaktivitäten der Unter­nehmen liegt Deutschland im EU­Vergleich beim betrieblichen Angebot an Weiterbildungsmaß­nahmen nur im Mittelfeld.

So weisen gemäß der aktuellsten europäischen Er­hebung zur betrieblichen Weiterbildung (CVTS) aus dem Jahr 2015 alle nordeuropäischen Länder und auch alle westeuropäischen Länder mit Ausnahme Luxemburgs eine höhere Quote weiterbildender Unternehmen auf.

Im Rahmen des Zukunftsdialogs wurde erkenn­bar, dass die BürgerInnen – gerade angesichts des sich vollziehenden fundamentalen Wandels der Tätigkeiten und Anforderungen im Beruf – häufig mehr Engagement der Arbeitgeber bei der berufs­bezogenen Weiterbildung erwarten. Zum Teil

sehen sie den Staat in der Pflicht, an diesem Ziel unterstützend mitzuwirken. Geäußert wurden in diesem Zusammenhang insbesondere die folgen­den Anliegen:

• barrierefreie Zugänge zu Weiterbildungs­möglichkeiten,

• ausreichende Ansprüche auf Weiterbildung gegenüber dem Arbeitgeber,

• vermehrte Anreize zur Durchführung berufs­bezogener Qualifizierungen,

• Modernisierung von Weiterbildungsinhalten und Weiterbildungsformen,

• Flankierung durch betriebsübergreifende Angebote.

Betriebliche Weiterbildung ist für viele Bürger­Innen dann barrierefrei, wenn sie möglichst alle Beschäftigten erreicht, die sie zum Erhalt der Be­schäftigungsfähigkeit und zur beruflichen Entwick­lung benötigen. Das heißt zum Beispiel:

B E T R I E B L IC H E W E I T E R BI L D U N G

114

Z U K U N F T S DI A LO G

Beim Ortsgespräch in Görlitz dis­

kutierte Minister Hubertus Heil mit

Beschäftigten der Siemens AG.

DI S K U S S IO N

Auch wer älter oder nicht so gut qualifiziert ist, soll bei der Weiterbildung nicht außen vor bleiben und insbesondere für die digitalisierte Arbeitswelt fit gemacht werden.

Ebenso sollen Menschen, die neben dem Beruf Sorgearbeit in der Familie leisten, mehr betrieb­liche Weiterbildung erhalten, etwa durch nieder­schwellige modulare Angebote, die sich auch mit begrenzter Zeit bewältigen lassen.

Im Zukunftsdialog wurde wiederholt die Wahr­nehmung geschildert, dass manche Arbeitgeber die Weiterbildung nicht genug wertschätzen und zum Teil Beschäftigten, die sich beruflich weiter­qualifizieren möchten, sogar Steine in den Weg

legen. Damit verbunden wurde der Wunsch, stärker für eine offenere Haltung der Unternehmen zur Weiterbildung zu werben. Es gab aber auch Forderungen, es nicht dabei zu belassen, sondern Arbeitgeber auch per Gesetz stärker in die Pflicht zu nehmen. Dazu wurde etwa angeregt, die An-sprüche auf Freistellungen von der Arbeit für Weiterbildungen auszuweiten und bundeseinheit­lich zu regeln, oder Arbeitgebern einen höheren Anteil an den Kosten individueller berufsbezogener Weiterbildung abzuverlangen.

Andererseits wurde die Erwartung formuliert, die betriebliche Weiterbildung durch positive Anreize zu stärken und dabei sicherzustellen, dass sich eine erfolgreiche Weiterbildung auch spürbar im Nettogehalt der Beschäftigten niederschlägt. Dazu müssen jedoch die Entgeltstrukturen ausreichend differenziert sein – eine Erwartungshaltung, die

B E T R I E B L IC H E W E I T E R BI L D U N G

115

Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

sich auch an die Tarifpolitik richtet. Einige Bürger­Innen äußerten den Wunsch, die betriebliche Weiterbildung stärker direkt finanziell zu unter­stützen, etwa durch Einrichtung eines persönli­chen Weiterbildungskontos oder die Ausgabe von Bildungsgutscheinen an Beschäftigte. Es gab aber auch den Vorschlag, mehr öffentliche Gelder für Unternehmen bereitzustellen, die aus wirtschaft­lichen Gründen nicht in der Lage sind, die Kosten für notwendige Maßnahmen zur betrieblichen Weiterbildung allein voll zu tragen.

Manche TeilnehmerInnen der Zukunftsforen wiesen darauf hin, dass zur Stärkung der betrieb­lichen Weiterbildung auch deren Inhalte und Form modernisiert werden sollten.

Dieses Anliegen wird durch Expertenmeinungen gestützt, wie sie etwa beim Auftakt des Zukunfts­dialogs zu hören waren. So wurde darauf verwiesen, dass die berufliche Weiterbildung künftig weniger durch die Vermittlung spezieller fachlicher Inhalte geprägt sein wird. Vielmehr geht es zunehmend darum, die Persönlichkeit und die allgemeinen Kompetenzen der Beschäftigten so zu entwi­ckeln, dass sie in die Lage versetzt werden, einen beständigen Wandel von Tätigkeitsprofilen und wachsende Autonomie bei der Ausführung der

Arbeit zu bewältigen. Diese Modernisierung der Weiterbildungsziele verlangt auch nach neuen Wegen bei der Zertifizierung von Qualifizierungs­ergebnissen. Ein weiteres hilfreiches Element der Modernisierung ist nach Einschätzung der Exper­tInnen die Nutzung der mit digitaler Technik neu entstehenden Möglichkeiten, die betrieblichen Weiterbildungsangebote zu flexibilisieren und zu individualisieren. Damit wird vor allem das Ziel verbunden, für mehr bedarfsgerechte Angebote zu sorgen, die Kosten für die Beteiligten zu senken und Barrierefreiheit herzustellen.

Eine im Dialogprozess öfter zu hörende Einschät­zung war, dass vor allem kleine und mittlere Unter­nehmen nicht über das Know­how verfügen, um angestrebte Fortschritte bei der Beteiligung und bei der Qualität der betrieblichen Weiterbildung zu erzielen. Aus dieser Wahrnehmung resultierten Wünsche nach einer besseren Information und externen Beratung der Arbeitgeber zu Fragen der Weiterbildung und zukünftigen Kompetenzanfor­derungen. Ein anderes in diesem Zusammenhang formuliertes Anliegen war, die Weiterbildungsbe­teiligung gerade von kleineren Betrieben dadurch zu erhöhen, dass Qualifizierungsmöglichkeiten und Weiterbildungsangebote verstärkt unternehmens­ oder branchenübergreifend organisiert werden, ohne dabei allerdings die Nähe zu den Bedürfnis­sen im einzelnen Betrieb zu verlieren.

B E T R I E B L IC H E W E I T E R BI L D U N G

116

Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

B E T R I E B L IC H E W E I T E R BI L D U N G

Die Fragekarten kamen bei allen

Veranstaltungen des Zukunftsdialogs

zum Einsatz.

117

Z U K U N F T S DI A LO G

Zurück auf die Schulbank

Die Umstellung auf neue Technologien macht betriebliche Weiterbildungen und Umschulungen nötig – nicht zuletzt auch von älteren, gestandenen MitarbeiterInnen. Jens Freitag hat bereits mit einer Maßnahme begonnen.

Ich arbeite bei VW in Zwickau. Das Werk dort wird gerade vom Verbrennungsmotor auf den Elektromotor umgestellt – ein ziemlicher Kraftakt. Das halbe Werk bekommt dafür Schulungen.

Ich war gespannt auf etwas Neues, wollte sowieso nicht mein ganzes Arbeitsleben dasselbe machen und an der immer gleichen Montagelinie stehen. Deshalb war ich sofort inte­ressiert, als ich von der Möglichkeit einer Umschulung erfuhr, meldete mich bei der Personalabteilung. Ich musste einen schriftlichen und zwei praktische Tests bei meinem Arbeitge­ber VW und einen weiteren schriftlichen Test bei der Agentur für Arbeit absolvieren, die ich alle bestand.

Vor drei Wochen begann meine Umschulung zum Kfz­Mechatroniker mit Schwerpunkt System und Hochvolt­technik, die vom Staat gefördert wird. Mit 15 Kolleginnen und Kollegen aus dem VW­Werk drücke ich jetzt wieder die Schulbank, insgesamt 28 Monate lang. In dieser Zeit wird mein Bruttogehalt normal weitergezahlt. Der Unterricht be­ginnt morgens um sieben und endet um halb vier. Theorie und praktisches Arbeiten wechseln sich ab, zweimal in der Woche werden die Lernziele kontrolliert. Wenn ich nachmittags nach Hause komme, setze ich mich an den Schreibtisch und wiederhole, was wir durchgenommen haben. Die Themen sind nicht leicht, man muss sich schon richtig reinknien. Aber mir macht es Spaß und ich habe gemerkt, dass ich das Lernen nicht verlernt habe.

P E R S O N A

Jens Freitag (44) ist gelernter

Maschinenbaumechaniker und

arbeitet seit 18 Jahren als Mon­

tagewerker bei Volkswagen in

Sachsen. Er wohnt in Schmölln.

Kürzlich hat er eine Ausbildung

zum Kfz­Mechatroniker be­

gonnen.

„Ob man so eine neue Ausbildung schafft, ist vor allem eine Frage des Willens und der Bereitschaft, sich anzustrengen.“

B E T R I E B L IC H E W E I T E R BI L D U N G

118

Z U K U N F T S DI A LO GZ U K U N F T S DI A LO G O RT S G ES P R ÄC H

Lernen für den Wandel

Über betriebliche Aus- und Weiterbildung tauschte sich Bundesminister Hubertus Heil beim Ortsgespräch mit rund 20 Beschäftigten der thyssenkrupp Steel Europe AG aus. Die Chancen und Risiken der Digitalisierung standen dabei besonders im Fokus.

Duisburg ist Standort der Hauptverwaltung und von insgesamt fünf Werken. Längst hat die Digitalisierung auch die klassisch industrielle Stahlbranche erfasst. Daraus folgen neue Anforderungen an die Beschäftigten quer über alle Bereiche hinweg. Am Standort Duisburg hat man sich deshalb entschieden, im firmeneigenen Bildungszentrum Digitalisierung zum großen Thema zu machen. Dort können neben den eigenen MitarbeiterInnen und Auszubildenden auch Beschäftigte anderer Unternehmen geschult werden.

Thyssenkrupp Steel arbeitet konsequent an digitalen Innovationsstrategien, darunter das „Smart Steel Pioneer Program“. Im Rahmen des Programms erarbeiten MitarbeiterInnen neue Ansätze und Ideen zu digitalen Geschäftsmodellen. Das Learning: Einerseits brauchte es solche innovativen Leuchtturmprojekte. Andererseits ist es aber auch notwendig, die übrigen Beschäftigten einzubinden und Innovationen in die Breite zu tragen.

Die Personalabteilung berichtete dazu, dass viele Kolleg­Innen Berührungsängste mit dem Thema Digitalisierung hätten, da es häufig zu abstrakt daherkomme. Wenn man die Dinge konkret, am besten in altersgemischten Gruppen ausprobiere, könnten diese Ängste abgebaut werden. Folge sei auch ein anderer Umgang der Generationen im Unter­nehmen: Junge IngenieurInnen begegneten älteren Beschäf­tigten jetzt auf Augenhöhe. Flache Hierarchien würden den Informationsfluss im Unternehmen verbessern und auch langjährig Beschäftigte im Umgang mit neuen Technologien begeistern.

B E T R I E B L IC H E W E I T E R BI L D U N G

THYSSENKRUPP STEEL

EUROPE AG, Betriebliches

Bildungszentrum

Stahlindustrie

Duisburg

7. Dezember 2018

„Ausbildung und Weiterbildung liegen nicht nur im Interesse der Arbeitnehmer­innen und Arbeit­nehmer. Auch für Unternehmen zahlt sich das Engagement aus.“

Hubertus Heil

119

Z U K U N F T S DI A LO G

Individuelle Weiterbildung

DI S K U S S IO N

T H E M E N S C H W E R P U N K T

120

Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

Individuelle berufsbezogene Weiterbildung ist eine wichtige Ergänzung

zur betrieblichen Weiterbildung. Um sich selbstbestimmt beruflich

weiterbilden zu können, möchten die Menschen einen besseren Überblick

über die vorhandenen Angebote, aber auch mehr finanzielle und zeitliche

Spielräume.

In Deutschland – wie in den meisten anderen europäischen Ländern auch – vollzieht sich

lebenslanges Lernen ganz überwiegend unter Mitwirkung der Betriebe. Im Jahr 2016 beteiligten sich gemäß einer repräsentativen Umfrage (AES) in Deutschland lediglich sieben Prozent der 25­ bis 54­Jährigen an berufsbezogenen Lernaktivitäten, für die sie ohne Beteiligung des Arbeitgebers das Geld und die Zeit aufgebracht haben. Weitere 13 Prozent bildeten sich vor allem aus privaten Gründen individuell weiter. Was die Gesamtdauer angeht, rangieren diese Formen der individuellen Weiterbildung deutlich vor der betrieblichen Wei­terbildung. In mehr als der Hälfte der Fälle dauern sie aufs Jahr gerechnet über 40 Stunden. Bei der betrieblichen Weiterbildung ist dies nur in jedem dritten Fall gegeben.

Selbstbestimmte Weiterbildung, die sich ganz auf die persönlichen Interessen und Voraussetzun­gen zuschneiden lässt, kann im Erwerbsleben wichtige Voraus­

setzungen für einen beruflichen Aufstieg oder mehr berufliche Flexibilität schaffen.

Sie hilft damit, individueller Arbeitslosigkeit vor­zubeugen und die wirtschaftliche Entwicklung zu stützen und wird deshalb teilweise auch mit öffentlichen Mitteln gefördert. Seit 1996 be­steht ein altersunabhängiger Rechtsanspruch auf Förderung einer Aufstiegsfortbildung, um sich etwa für den Meistergrad weiterzubilden. Diese oft als „Meister-BAföG“ bezeichnete Förderung, die Bund und Länder gemeinsam finanzieren, kann neben den Lehrgangsgebühren auch einen Teil des Lebensunterhalts im Verlauf von Vollzeit­Weiter­bildungen abdecken. Im Jahr 2016 wurden gut 160.000 Aufstiegsqualifizierungen bewilligt. Dabei handelte es sich in fast jedem zweiten Fall um eine Weiterbildung in Vollzeit.

Darüber hinaus existieren zahlreiche Programme des Bundes und der Länder für Erwerbstätige, die sich unabhängig von ihrem Arbeitgeber beruflich

IZA

Wissenschaftlicher Bericht

I N DI V I D U E L L E W E I T E R BI L D U N G

121

Z U K U N F T S DI A LO G

Die Themen Qualifi­

zierung und Weiter­

bildung kamen bei allen

Veranstaltungen zur

Sprache.

DI S K U S S IO N

weiterqualifizieren möchten. Viele dieser Förde­rungen, wie etwa das Bundesprogramm Bildungs-prämie, decken individuelle Kosten der Weiterbil­dung bis zu einer gewissen Höhe. Förderhöhe und Zielgruppe sind aber jeweils unterschiedlich.

Die BürgerInnen sehen in beruflichen Weiter­bildungen, bei denen sie Inhalte und Anbieter frei bestimmen können, eine wichtige Ergänzung zu betrieblich organisierten Qualifizierungen. Sie verbinden damit vor allem die Möglichkeit, sich auch losgelöst von wirtschaftlichen Interessen der Arbeitgeber ihren persönlichen Interessen folgend weiterzuentwickeln und insbesondere beruf­liche Veränderungen in die Wege zu leiten. Ein zunehmender Bedarf, sich im Lebensverlauf neu zu orientieren und nicht bei den einmal erlernten Fähigkeiten stehen zu bleiben, wird aus der Wahr­nehmung abgeleitet, dass sich der Strukturwandel beschleunigt hat und die Digitalisierung Arbeit anspruchsvoller macht. Die BürgerInnen sehen aber auch, dass das Lernklima in Deutschland der­zeit nicht durchweg so positiv entwickelt ist, dass Menschen aller Qualifikations­ und Altersstufen dazu motiviert sind, sich im Leben kontinuierlich

neues Wissen und Fähigkeiten anzueignen. Um in diesem Bereich Fortschritte zu erzielen, machten sie in den Zukunftsforen die folgenden zentralen Wünsche deutlich:

• Vermittlung der Befähigung zu lebenslan­gem Lernen von Grund auf,

• neutrale Information und Beratung zur indi­viduellen Weiterbildung,

• bessere finanzielle Unterstützung persön­licher Weiterbildungsphasen,

• flexible Organisation von individuellen Wei­terbildungsangeboten.

Die Diskussionen im Sozialstaatsdialog zeigen: Viele Menschen in Deutschland finden es wichtig, schon bei Kindern und Jugendlichen die Bereit­schaft zu fördern, ein Leben lang neues Wissen aufzunehmen und die eigenen Kompetenzen wei­terzuentwickeln. Dabei wird den Schulen eine be­sondere Verantwortung bei der Ausprägung einer über den Lebenslauf reichenden Weiterbildungs-kultur zugewiesen. Gefordert wurden in diesem Zusammenhang entsprechend geschultes Lehr­personal und eine Neujustierung von Lehrplänen

I N DI V I D U E L L E W E I T E R BI L D U N G

122

Z U K U N F T S DI A LO G

Im Plenum richteten die BürgerInnen

ihre Anliegen und Fragen an den

Bundesminister.

DI S K U S S IO N

zur besseren Vermittlung der Offenheit für Neues und der Befähigung zum selbstbestimmten Lernen. Vielen BürgerInnen war es zudem ein Anliegen, ein positives Leitbild für die lebenslange Aus­ und Weiterbildung zu etablieren, das sich nicht auf die für wenig zielführend erachtete Vorstellung einer nur an Kosten­Nutzen­Kalkülen ausgerichteten Selbstoptimierung beschränkt.

Häufig berichteten DialogteilnehmerInnen von Erfahrungen, dass es angesichts des vielfältigen und mit der rapiden Entwicklung digital basierter Qualifizierungsmodelle noch unübersichtlicher werdenden Angebots nicht einfach sei, für den persönlichen Bedarf geeignete und einen guten Lernerfolg versprechende Lehrangebote auszu­wählen. Vielfach wurde der Wunsch geäußert, dass öffentliche Stellen als Lotsen und Ratgeber zu Fragen der Weiterbildung zur Verfügung stehen

sollten. Die damit verbundenen Anliegen sind eine neutrale Beratung und die Vermittlung möglichst vollständiger Orientierung über die Möglichkeiten der individuellen Weiterbildung, einschließlich umfassender Informationen zu den jeweils infrage kommenden Förderprogrammen und finanziellen Hilfen. Gefordert wurde in diesem Zusammenhang, die Beratungs­ und Informationsangebote so an­zulegen, dass sie gerade diejenigen erreichen, die zur individuellen Aus­ und Weiterbildung momen­tan oft keinen guten Zugang finden. Dafür wurde angeregt, Weiterbildungsinformation und ­bera­tung dort zu verorten, wo sich Menschen in ihrem Alltag bewegen – hierzu zählt auch der virtuelle Raum der sozialen Netzwerke.

I N DI V I D U E L L E W E I T E R BI L D U N G

123

Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

Darüber hinaus plädierten viele BürgerInnen für niedrigere Zu­gangshürden und regten dazu an, die finanziellen und zeitlichen Spielräume für die individuelle Weiterbildung zu erweitern.

Öfter wurde die Erwartung geäußert, dass die Einkommensausfälle während selbstbestimmter beruflicher Auszeiten, die zur persönlichen Weiter­qualifizierung genutzt werden, vom Staat besser abgesichert werden. Kritisiert wurden Lücken im bestehenden System der Ausbildungsförderung durch den Bund, verbunden mit der Erwartung, sie auf einem bedarfsdeckenden Niveau anzusetzen und für realistische, an der tatsächlichen Dauer der Qualifizierung orientierte Zeiträume zu gewähren. Auch intransparente und zersplitterte Zuständig­keiten bei Maßnahmen zur Förderung der Weiter­bildung waren Gegenstand der Kritik. Daran wurde das Anliegen geknüpft, Parallelstrukturen zu bereinigen und Unterstützungsmöglichkeiten zu bündeln.

Die Wünsche der an Zukunftsforen teilnehmen­den BürgerInnen richteten sich aber nicht nur auf bessere Geldleistungen, sondern auch auf organi­satorische Veränderungen, um die Teilnahme an individueller Aus­ und Weiterbildung zu erleich­tern. Dies zeigt sich zum Beispiel an dem Anliegen,

die Vereinbarkeit von Familie und Qualifizierung zu verbessern und dafür bei der Gestaltung von Angeboten die Betreuungsbedarfe von Eltern wäh­rend Weiterbildungszeiten besser zu berücksichti­gen. In diesem Kontext traten auch Wünsche nach einem breiten Angebot an modular aufgebauten und auch außerhalb gängiger Kernzeiten zugäng­lichen Weiterbildungsmöglichkeiten zutage. Nicht zuletzt deshalb werden digitale Lernangebote als eine Chance für mehr selbstbestimmte Qualifizie­rung gesehen, sofern es gelingt, in diesem noch jungen Markt verlässliche Qualitätsstandards und im Arbeitsleben allgemein anerkannte Zertifikate zu etablieren.

I N DI V I D U E L L E W E I T E R BI L D U N G

124

Z U K U N F T S DI A LO G

Regionale Themen spielten in den

Zukunftsforen neben den vier Hand­

lungsfeldern eine große Rolle.

DI S K U S S IO N

I N DI V I D U E L L E W E I T E R BI L D U N G

125

Z U K U N F T S DI A LO G

Fehlende Unterstützung bei Neuorientierung

Wenn man im alten Beruf keine Zukunft mehr sieht, macht es Sinn, sich eine Alternative zu überlegen. Doch längst nicht immer wird die gewünschte Weiterbildung gefördert. Auch nicht die von Jan Milz.

Als „mein Privatvergnügen“ bezeichnete die Arbeitsagentur meinen Wunsch, Erzieher zu werden. Fördern wollte sie die Ausbildung nicht. Stattdessen sollte ich wieder als Facility­ Manager arbeiten, was ich auf keinen Fall wollte. Oder einen Job in einem Callcenter annehmen. Für mich ist das absurd. Schließlich werden Sozialpädagogen überall händeringend gesucht, vor allem männliche. Callcenter hingegen wechseln öfter mal den Standort, wer weiß, ob ich da auf lange Sicht einen sicheren Arbeitsplatz hätte. Doch meine Argumente fanden kein Gehör.

Also habe ich mich selbst um eine Ausbildung bemüht – und Glück gehabt. Ich fand einen tollen Kita­Verein. In einer seiner Einrichtungen mache ich gerade für ein paar Monate ein berufsvorbereitendes Praktikum, lebe in dieser Zeit von meinem Ersparten. Das heißt, wir müssen uns einschränken, das Auto bleibt in der Garage, um Benzin zu sparen, Urlaub ist auch nicht drin. Aber das sind für mich Luxusprobleme, uns geht es ja sonst gut. Nach Beendigung des Praktikums werde ich in der Kita fest angestellt und mache parallel zu meiner Arbeit eine sozialpädagogische Fachschulausbildung, die vom Träger mitfinanziert wird. Im Gegenzug verpflichte ich mich, drei Jahre dort zu bleiben.

Die Arbeit mit Kindern liegt mir, sie macht mir jetzt schon großen Spaß. Ich werde zwar deutlich weniger verdienen als in meinem alten Job, aber dafür gewinne ich mehr Zeit für die eigene Familie, denn als Facility­Manager musste ich selbst am Wochenende und feiertags arbeiten. Und ich mache jetzt eine Arbeit, die wirklich wichtig und sinnvoll ist.

P E R S O N A

Jan Milz (46) beginnt demnächst

seine Wunschausbildung als Er­

zieher. Er lernte Gas­ und Was­

serinstallateur, Hotelkaufmann,

arbeitete als Facility­Manager,

bis der Job gestrichen wurde.

Der Vater von drei Kindern

wohnt in Bergen auf Rügen.

„Als Facility­ Manager musste ich rund um die Uhr arbeiten. Wenn ich Erzieher bin, habe ich mehr Zeit für die Familie und tue etwas wirklich Sinnvolles.“

I N DI V I D U E L L E W E I T E R BI L D U N G

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Z U K U N F T S DI A LO GZ U K U N F T S DI A LO G

I N DI V I D U E L L E W E I T E R BI L D U N G

127

Z U K U N F T S DI A LO G

Sicherung der Fachkräftebasis

DI S K U S S IO N

T H E M E N S C H W E R P U N K T

128

Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

Auf dem deutschen Arbeitsmarkt zeichnen sich Fachkräfteengpässe ab. Um

diesen vorzubeugen, halten die BürgerInnen ein leistungsfähiges Bildungs-

und Ausbildungssystem und gute Integration in das Erwerbsleben für

erforderlich. Sie fordern auch bessere Arbeitsbedingungen in den Engpass-

berufen.

Gesamtwirtschaftlich kommen derzeit auf jeden Arbeitslosen so viele offene Stellen wie lange

nicht mehr. Dies führt zu einer merklich erhöhten Anspannung am Arbeitsmarkt. Zwar besagen die Analysen der Bundesagentur für Arbeit, dass noch keine allgemeine Engpasslage gegeben ist. Die Stellenbesetzungsschwierigkeiten der Betriebe sind aber mit der Zeit drängender geworden und haben sich auf größere Teile des Arbeitsmarktes ausgeweitet. Betroffen sind davon nicht nur Berufe, für die man einen Hochschulabschluss braucht, sondern auch eine Reihe von Lehrberufen, etwa in der Pflege und im Handwerk.

In naher Zukunft könnten die Fachkräfteengpässe noch spürbar wachsen. Die letzten geburten­starken Jahrgänge gehen bald in den Ruhestand und werden Lü­cken im Arbeitskräftereservoir hinterlassen.

Weil die Menschen immer älter werden, ist nach den jüngsten BIBB­IAB­Qualifikations­ und Be­rufsprojektionen mit steigenden Engpässen in den Gesundheits­ und Pflegeberufen zu rechnen. Die Projektionen zeigen auch: In der „Wirtschaft 4.0“ werden die Beschäftigungsmöglichkeiten bis zum Jahr 2025 im Vergleich zu heute noch zunehmen. Bei weiter steigenden beruflichen Anforderungen werden mehr Fachkräfte auf Spezialisten­ und Expertenniveau gebraucht.

Dem wachsenden Bedarf an Hochqualifizierten kommt der zuletzt sehr starke Trend zur Akademi-sierung entgegen. Dass inzwischen über die Hälfte eines Jahrgangs ein Studium anfängt, verstärkt allerdings die Schwierigkeiten der Betriebe, Aus­bildungsplätze mit geeigneten jungen Leuten zu besetzen. Die im Trend steigende Beteiligung von Älteren und Frauen am Erwerbsleben kann helfen, den Rückgang beim Arbeitsangebot infolge der Geburtenentwicklung auszugleichen. Es werden bislang aber nicht alle Potenziale ausgeschöpft.

IZA

Wissenschaftlicher Bericht

FAC H K R Ä F T E

129

Z U K U N F T S DI A LO G

Anliegen und Fragen

der Teilnehmenden

wurden gesammelt und

für den vorliegenden

Zwischenbericht aus­

gewertet.

DI S K U S S IO N

So sind in Deutschland zwar die Erwerbsquoten bei Frauen im internationalen Vergleich sehr hoch, die Vollzeitquoten jedoch niedrig. Auch fehlen alters­ und alternsgerechte Arbeitsplätze.

Vollzeitquoten jedoch niedrig. Auch fehlen alters­ und alternsgerechte Arbeitsplätze. Einen Beitrag zur Fachkräfteversorgung leistet auch die seit einigen Jahren verstärkte Zuwanderung in den Arbeitsmarkt. Sie ist vor allem Ergebnis der europäischen Arbeitnehmerfreizügigkeit. Zuletzt kamen jedes Jahr gut 275.000 Menschen aus ande­ren EU­Ländern nach Deutschland, die zu einem guten Anteil gesuchte berufliche Qualifikationen mitbringen.

Die TeilnehmerInnen der Zukunftsforen bewegte eine Reihe ganz unterschiedlicher Themen, die über das Ziel einer ausreichenden Versorgung mit Fachkräften in Deutschland miteinander verbun­den sind. Sie erwarten zur nachhaltigen Sicherung der Fachkräftebasis insbesondere

• eine Stabilisierung der Berufsausbildung im dualen System,

• die Aufwertung von durch Engpasslagen betroffenen Berufsgruppen,

• Maßnahmen gegen regionale Arbeitsmarkt­ungleichgewichte,

• geregelte Zuwanderung und bessere Integration von Menschen mit Migrations­hintergrund.

Nicht wenige BürgerInnen machen sich offenbar Sorgen, dass die in letzter Zeit beobachteten mas­siven Umbrüche in der deutschen Bildungsland­schaft die etablierte betriebliche Berufsausbildung gefährden und entwerten. Häufig kritisiert wurde die starke Verlagerung hin zu akademisch­schu­lisch organisierten Bildungswegen, weil diese etwa dem Handwerk Talente in großer Zahl entzieht, während der Nutzen vieler neu entwickelter Studiengänge für die Wirtschaft und die Studieren­den nicht klar gesehen wird. Hieraus speisen sich Forderungen, das bewährte duale Ausbildungssys­

FAC H K R Ä F T E

130

Z U K U N F T S DI A LO G

Kathrin Krützfeldt, Markus Mass­

mann und Moderatorin Andrea Thilo

bei der Auftaktkonferenz in Berlin.

DI S K U S S IO N

tem aktiv zu stärken. Damit verbunden sind etwa die Anliegen, die Lehrlingsvergütungen anzuheben und auch im Anschluss an die Ausbildung gute Be­zahlung und Beschäftigungsperspektiven zu bieten, die Inhalte von Berufsausbildungen zügig auf den neuesten Stand der Technik zu bringen und – posi­tive oder negative – Anreize für Betriebe zu etab­lieren, die nicht ausbilden. Häufiger ausgesprochen wurden auch Wünsche, bei jungen Menschen für mehr Wertschätzung der Ausbildungsberufe zu werben, nicht zuletzt durch eine hochwertige, früh beginnende und umfassende Berufsorientierung. In diesem Zusammenhang wurde auch die Erwar­tung geäußert, SchülerInnen, denen es an Berufs­ausbildungsreife mangelt, wirksamer zu fördern, damit benachteiligte Jugendliche bessere Chancen erhalten (→ Schwerpunkt: Kinder und Jugendliche) und vorhandene Ausbildungsplätze auch weiterhin gut besetzt werden können.

Zwar wurden im Zukunftsdialog auch vereinzelt Zweifel an der Existenz akuter Fachkräfteengpässe geäußert. Dagegen erhoben sich aber viele Stim­men, die insbesondere auf fehlendes qualifiziertes Personal in den Bereichen Erziehung, Pflege und Handwerk hinwiesen.

Mit Blick auf die damit verbun­denen Probleme erwarten die Bürger Innen, dass Anstrengun­gen zur Aufwertung der Mangel­berufe unternommen werden. Sie sehen dabei auch die Arbeit­geber in der Pflicht, attraktivere Arbeitsbedingungen zu schaffen.

FAC H K R Ä F T E

131

Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

In Teilen richten sich die Erwartungen aber auch an den Gesetzgeber, etwa hinsichtlich einer Aufwer-tung des Handwerks durch eine Wiedereinführung der Meisterpflicht zur Betriebsführung oder hin­sichtlich der Gewinnung zusätzlicher Pflegefach-kräfte durch eine bessere finanzielle Ausstattung und günstigere Personalschlüssel im Gesundheits­sektor.

BürgerInnen berichteten im Zukunftsdialog auch von ihren Wahrnehmungen, dass lokale Fachkräf­teengpässe entstehen, weil es zu große Ungleich­gewichte in der Arbeitsmarktentwicklung zwischen den Regionen gibt. Beispielhaft hierfür sind im Rahmen des Zukunftsforums in Jena gegebene Hinweise auf nachhaltige Engpasslagen in Folge der lange anhaltenden Abwanderung vor allem gut qualifizierter junger Menschen aus den ostdeut­schen Bundesländern. In diesem Kontext wurden stärkere Anstrengungen zur Wahrung einheitlicher Lebensverhältnisse durch regionale Strukturpoli-tik gefordert. Andererseits wurden auch Sorgen erkennbar, dass boomende Regionen infolge der stark steigenden Kosten für das Wohnen an Kraft verlieren, gesuchte Fachkräfte anzuziehen.

Erwartungsgemäß sprachen die TeilnehmerInnen der Zukunftsforen auch Aspekte des grenzüber­schreitenden Wanderungsgeschehens an; diese dominierten aber bei Weitem nicht die Debatte. Wiederholt brachten Betroffene die Anliegen vor, im Ausland erworbene Qualifikationen leichter anzuerkennen und die Zugangsmöglichkeiten

zum deutschen Arbeitsmarkt für Geflüchtete zu verbessern. Im Kontext von Fluchtmigration erhoben manche Stimmen die Forderung nach weiteren Verbesserungen der Bleibeperspektiven für Menschen, die sich hier gut in Beschäftigung integrieren oder eine berufliche Ausbildung be­wältigen. Menschen mit Migrationshintergrund allgemein betreffend wurde das Ziel formuliert, sie aktiver dabei zu unterstützen, den teilweise be­stehenden Rückstand bei Bildung und beruflicher Qualifizierung aufzuholen. Dazu wurden etwa ein Ausbau von Hilfen zur Vermittlung von Schlüssel­kompetenzen wie dem Beherrschen der deutschen Sprache sowie stärkere, interkulturell angepasste Betreuungsketten während Schule und Ausbildung gefordert. Im Hinblick auf die Neuzuwanderung von Fachkräften gab es zum geplanten Fachkräf-tezuwanderungsgesetz positive Stimmen. In der Tendenz gaben die BürgerInnen im Hinblick auf die Sicherung der Fachkräftebasis jedoch der besseren Ausschöpfung von inländischen Arbeitskräfte­reserven (→ Schwerpunkt: Betriebliche Weiterbil­dung) den Vorzug.

FAC H K R Ä F T E

132

Z U K U N F T S DI A LO G

Ziel des Zukunftsdialogs ist, gemein­

sam mit den BürgerInnen neue Ideen

und Antworten zu entwickeln.

DI S K U S S IO N

FAC H K R Ä F T E

133

Fachkräfte gewinnen und binden

Wie kann der Bedarf an Fachkräften für die Arbeitswelt von morgen gesichert werden? Darüber diskutierte Minister Heil mit den Beschäftigten der Siemens AG am Standort Görlitz und informierte sich über den Strukturwandel in der Region.

Im Fokus des Ortsgesprächs stand vor allem der Verände­rungsprozess, den die Belegschaft im Jahr 2017 angestoßen hatte. Damals kämpften die MitarbeiterInnen gegen die Schließung ihres Werks. Mit Erfolg: Am Ende überzeugten sie die Konzernleitung, den Standort in der Oberlausitz zu retten. Dies beeindruckte auch den Arbeitsminister, der die Beleg­schaft für ihre Überzeugungskraft lobte.

Das Görlitzer Werk soll nun ausgebaut werden: zum Hauptquartier des Konzerns für das internationale Geschäft mit Industriedampfturbinen. Um die Produktions­ und Digi­talisierungsprozesse bei der Fertigung von Dampfturbinen zu begleiten und zu optimieren, seien gut ausgebildete Fachkräf­te im kaufmännischen und technischen Bereich gefragt. Hier stünde der Konzern vor Herausforderungen. Eine Schlüssel­frage laute: Wie kann die Fachkräftesicherung in einer eher strukturschwachen, ländlich geprägten Region gelingen?

Die Hochschule Görlitz biete gemeinsam mit Siemens ein duales Studium – ein guter Ansatz, dennoch blieben wenige AbsolventInnen in der Region. Nach Ansicht der Beschäftig­ten müssten die Arbeitsplätze den Fachkräften vor allem auch eine langfristige Entwicklung am Ort ermöglichen. Einig wa­ren sich die MitarbeiterInnen darin: Um den Standort attrak­tiver zu machen, müsse die digitale Infrastruktur ausgebaut werden. Ebenso brauche es noch mehr Angebote, um vor Ort eine hohe Lebensqualität bieten zu können.

Z U K U N F T S DI A LO G

FAC H K R Ä F T E

SIEMENS AG,

Division Power and Gas –

Turbinenwerk Görlitz

Energie und Elektrotechnik

Görlitz

21. Januar 2019

„Die Frage der Fachkräfte­sicherung ist ent­scheidend für Deutschlands Wachstum und Wohlstand in der Zukunft.“

Hubertus Heil

O RT S G ES P R ÄC H134

Z U K U N F T S DI A LO G O RT S G ES P R ÄC H

Ausbilden, qualifizieren und vernetzen

Wie können Unternehmen IT-Fachkräfte aus- und weiter-bilden? Welche staatliche Unterstützung ist dafür not-wendig? Und welche Angebote machen Arbeitgeber in der Brandenburger Landeshauptstadt attraktiv? Diese Fragen diskutierte Minister Heil beim Unternehmensnetzwerk Silicon Sanssouci e.V., einem Zusammenschluss regionaler IT-Betriebe.

Silicon Sanssouci rückt die Bedeutung der Stadt Potsdam als IT­Standort mit über 750 Unternehmen und mehr als 5.000 Beschäftigten in den Fokus. Die Region muss Fachkräfte gewinnen und langfristig binden.

Im Fokus des Gesprächs stand die Frage, welche Maßnahmen hierfür erforderlich sind. Der Tenor: Um die Innovationskraft des Standorts Potsdam zu sichern, müssen die IT­Unternehmen sich besser vernetzen, in die Ausbildung von Fachkräften investieren und eng mit den Bildungsträgern vor Ort zusammenarbeiten. Dies müsse schon in der Schule anfangen – mit der Vermittlung von IT­Kompetenzen.

Um die Fachkräfte im Unternehmen auf dem neuesten Wissensstand zu halten, sei Weiterbildung ein entscheidender Faktor. Mittelständischen Unternehmen falle es nicht leicht, ihren Mitarbeitenden kurzfristig Fort­ und Weiterbildungen zu ermöglichen. Die dafür notwendige, langfristige Planung kollidiere häufig mit den schnellen Veränderungen in der IT­Branche. Als weiteren Lösungsansatz nannten die Teilneh­menden, dass hoch spezialisierte Fachkräfte auch übergreifend in mehreren Unternehmen zum Einsatz kommen könnten, und forderten hierfür einen geeigneten gesetzlichen Rahmen.

Mehr Unterstützung wünschten sich die VertreterInnen der Unternehmen bei der Kinderbetreuung. Denn fehlende Betreuungsangebote erschweren es, qualifizierte Mitarbei­tende zu finden.

FAC H K R Ä F T E

SILICON SANSSOUCI e.V.

Regionales Netzwerk für

IT­Unternehmen

Potsdam

14. Februar 2019

„Qualifizierung und Weiterbildung sorgen dafür, dass die Arbeitnehmer­innen und Arbeit­nehmer von heute auch die Fachkräfte von morgen sind.“

Hubertus Heil

135

Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

„Weniger Papierkram bei der Anerkennung der verschiedenen Studiumszertifikate. Nicht nur für Flüchtlinge, sondern auch für andere Ausländer Integrationsangebote anbieten. Förderungen für Weiterbildungen und leichte Prozesse für Einstieg/Umstieg der Arbeit.“

„Ich sehe viele Chancen im digitalen Wandel, insbesondere was die Flexibilität von Arbeitszeit, -ort und -umfang oder Familienfreundlichkeit angeht. Aber es muss gesichert sein, dass man nicht dauerhaft auf Abruf ist und auch im Netz auf Informationsfreiheit vs. Privatsphäre geachtet wird.“

„Umschulungen bezahlen, auch dann wenn man nicht ins Raster passt. Würde gerne umschulen und keiner fühlt sich für mich zuständig. Sehr schade, da müsste ganz dringend nachgebessert werden.“

„Altersvorsorge muss sich lohnen; wenn ich arbeitslos werde, muss meine Altersvorsorge geschützt sein.“

Stimmen aus dem Dialog

136

Z U K U N F T S DI A LO G DI S K U S S IO N

„Bildung muss auch für Kinder aus sozial schwachen Familien zugänglich sein und darf nicht von finanzieller Situation der Eltern abhängig sein.“

„Erforderlich ist die Einbeziehung aller Selbstständigen in die gesetzliche Sozialversicherung – bei digitalen Jobs (z.B. Crowdworker) müsste der Auftraggeber Beiträge abführen (vgl. KSK).“

„Die Herausforderung bei der Umsetzung von Weiterbildungen besteht darin, den richtigen Bedarf zu identifizieren und sie für die Leute attraktiv zu gestalten. Dabei muss es gelingen, auch ältere KollegInnen für das lebenslange Lernen zu motivieren.“

„Aus unserer Erfahrung in den Sportvereinen werden Mittel aus dem Bildungs- und Teilhabepaket viel zu wenig abgerufen. Manche Eltern schämen sich, andere sind nicht in der Lage, das zu beantragen. Das könnte besser funktionieren, wenn es Personen gäbe, die das koordinieren und sich kümmern.“

137

Z U K U N F T S DI A LO G

EINFÜHRUNG

Im vorhergehenden Kapitel stand die unabhängige Auswer-tung der Diskussionen der bisherigen Dialogveranstaltungen durch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Institute IZA und IAQ im Vordergrund. Ihre Darstellung gibt naturgemäß nicht notwendigerweise die Sicht des Ministe-riums wieder.

Aus diesen Ergebnissen zieht das Ministerium hier erste Schlussfolgerungen und identifiziert und priorisiert Hand-lungsbedarfe für die zweite Phase des Dialogprozesses. In der ersten Dialogphase ging es um das Zuhören, Anliegen-sammeln und Miteinanderreden. In der zweiten Phase geht es um inhaltliche Orientierungen und die Entwicklung und Bewertung konkreter politischer Antworten zu bestimmten Handlungsbedarfen.

Um diese Orientierung zu erreichen, identifiziert das BMAS in diesem Kapitel die aus seiner Sicht wichtigsten Handlungsbedarfe des Zukunftsdialogs. Denn natürlich können nicht alle Anliegen und Themen aus der ersten Dia-logphase vom BMAS aufgegriffen und in gleicher Intensität weiterbearbeitet werden. Die Handlungsbedarfe sind dabei vor dem Hintergrund folgender Überlegungen als „wichtig“ ausgewählt worden:

Orientierungen für den weiteren Dialog

O R I E N T I E RU N G E N

Kapitel 3

138

Z U K U N F T S DI A LO G

• Ausgangspunkt ist die Gewichtung und Einordnung durch die wissenschaftliche Begleitung des Dialogs in Kapitel 2.

• Priorisiert wurden Fragestellungen, die einen direkten Bezug zu den übergreifenden politischen Zielen aufwei-sen, die das BMAS mit diesem Zukunftsdialog erreichen möchte: Es gilt die neue Arbeitswelt so zu gestalten und Sicherheiten so zu erneuern, dass das Vertrauen in die eigene Zukunft und in die politischen Institutionen wieder wachsen kann. Es geht darum, eine neue Balance zwischen Chancen und Schutz zu finden, um Unsicherheiten zu verringern und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken.

• Die priorisierten Handlungsbedarfe sollten soweit möglich konkrete Auswirkungen auf die Situation und Lebenswirk-lichkeit der BürgerInnen haben. Hauptziel ist nicht die Op-timierung von Aufgaben und Verfahren, sondern Menschen sowohl dabei zu helfen, ihre selbstbestimmten Lebens-entwürfe leben zu können, als auch ihnen die solidarische Unterstützung zukommen zu lassen, die sie brauchen und die ihnen zusteht.

• Viertens spielen auch Neuigkeit und Offenheit eine Rolle, damit nicht einfach im Grunde erschöpfte und wenig in-novative Debatten eine Verlängerung erhalten. Zum einen sind einzelne Vorschläge schon länger in der Diskussion, sodass die Handlungsoptionen klar und entscheidungs-reif sind oder das BMAS sich bereits eine abschließende Meinung hat bilden können. Zum anderen vertritt es an der einen oder anderen Stelle auch dezidierte Gegenpositio-nen, etwa zum Beispiel hinsichtlich der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens für alle BürgerInnen.

Wenn Prioritäten gesetzt werden, geht dies damit einher, dass es auch Themen gibt, die nicht priorisiert werden. Das BMAS wird sich im Zukunftsdialog in der zweiten Phase darauf konzentrieren, zehn wichtige Handlungsbedarfe weiter zu

O R I E N T I E RU N G E N139

Z U K U N F T S DI A LO G O R I E N T I E RU N G E N

bearbeiten. Andere Themen, die diskutiert wurden, wird das BMAS dagegen nicht aktiv weiterverfolgen.

Im Dialog wurde die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) als eine neue Antwort sowohl auf die Unwägbarkeiten der Arbeitswelt als auch den gesell-schaftlichen Wertewandel intensiv diskutiert. Aus Sicht des BMAS ist das BGE keine Antwort auf den Wandel, weil es die zahlreichen wichtigen sozialen Funktionen eines Arbeitszu-sammenhangs voreilig preisgibt. Unsere Gesellschaft würde in der Konsequenz aufhören, eine Arbeitsgesellschaft zu sein, in der Arbeit auch ein Schlüssel zur Teilhabe an der und Integ-ration in die Gesellschaft ist. Es entbindet vor allem Unter-nehmen und auch den Staat voreilig von der gemeinsamen Aufgabe, die Arbeit in der Gesellschaft effizient, aber auch gerecht und für den Einzelnen auskömmlich zu verteilen und die erwerbsfähigen Menschen in Arbeit zu halten, in Arbeit zu bringen oder für die Arbeit fit zu machen. Das BMAS lehnt das BGE ab. Es hält an einer – weiterzuentwickelnden – Grund-sicherung für Arbeitsuchende fest, die an zwei Grundbedin-gungen geknüpft ist: Bedürftigkeit und Mitwirkung bei deren Überwindung.

Die Frage sicherer Renten und einer generationen-übergreifend tragfähigen Belastung der Beitragszahler und

-zahlerinnen spielte im Zukunftsdialog naturgemäß ebenfalls eine Rolle. Für die langfristige Lösung der rentenpolitischen Herausforderungen hat die Bundesregierung die Kommission

„Verlässlicher Generationenvertrag“ eingesetzt, die bis März 2020 Vorschläge erarbeiten soll. Um keine Doppelstrukturen zu schaffen, wird diese Fragestellung in der zweiten Phase des Zukunftsdialogs ausgeklammert.

Die Finanzierung des Sozialstaats ist eine bleibende Aufgabe. Der enge Zeitrahmen und die hohe Komplexität der Fragestellung sprechen gegen eine eigenständige Priorisie-rung im Rahmen des Dialogprozesses.

Sozialpolitik wird vorrangig auf nationaler Ebene ge-staltet, jedoch spielt die europäische Dimension eine wichtige Rolle. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im 2. Halbjahr 2020 soll dazu genutzt werden, die Entwicklung von Mindest-

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Z U K U N F T S DI A LO G O R I E N T I E RU N G E N

standards zu fördern. Das BMAS wird in Vorbereitung auf die Ratspräsidentschaft, und damit außerhalb des Zukunftsdia-logs, hierzu Vorschläge erarbeiten.

Vor diesem Hintergrund sind folgende zehn wichtigen Hand-lungsbedarfe bestimmt worden:

QUERSCHNITTSAUFGABE:

SOZIALVERWALTUNG

BÜRGERFREUNDLICHER GESTALTEN

Unser Sozialsystem besteht aus vielen unterschiedlichen Leistungen, die über Institutionen auf verschiedenen Ebenen horizontal (abgegrenzte Zuständigkeiten zwischen Institutio-nen) oder vertikal (Bund – Länder – Kommunen) organisiert werden. Für viele BürgerInnen ist es nicht einfach zu wissen, welche Leistungen ihnen zustehen, wer wofür zuständig ist und wie sie ihre Ansprüche geltend machen können. Dies gilt umso mehr in schwierigen Lebenssituationen, in denen Beratung und Leistungen besonders wichtig werden können. Die Sozialverwaltung sollte deshalb in Auftreten, Sprache und Angeboten noch stärker die Anliegen der BürgerInnen auf-greifen. Dies beinhaltet auch den gegenseitigen respektvollen Umgang zwischen Sozialverwaltung und BürgerInnen.

Gesellschaftliche Stigmatisierung, aber auch mangelnde Information oder komplizierte Antrags- und Prüfverfahren können erhebliche Zugangshürden zu Sozialleistungen dar-stellen. In der Beratung kann die Situation entstehen, dass jede Stelle zwar gut Auskunft für Fragen geben kann, die in der eigenen Zuständigkeit liegen. Sie können aber man-gels Zuständigkeit nicht umfassend für eine Problem- oder Lebenslage beraten. Die Digitalisierung bietet Potenziale für eine bürgerfreundlichere Verwaltung. Dazu sind für Menschen mit und ohne Behinderung u.a. Aspekte der Barrierefreiheit von herausgehobener Bedeutung. Die Sozialverwaltung muss

„Der Staat ist für die Menschen da, nicht umgekehrt.

Deshalb: Die Sozialverwaltung

in Auftreten, Spra-che und Angeboten

aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger denken!“

Hubertus Heil

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auch weiterhin genügend Möglichkeiten anbieten, individuel-le Hilfe und Beratung im persönlichen Kontakt zu bekommen.

Handlungsperspektive:Im weiteren Dialog soll diskutiert werden, wie mehr Trans-parenz und Verständlichkeit sowie Vereinfachungen und Ver-besserungen bei der Unterstützung von BürgerInnen erreicht werden können. Bei der weiteren Suche nach Antworten soll für jedes einzelne Thema immer mitgedacht werden, wie mögliche Antworten auch die Bürgerfreundlichkeit der Sozialverwaltung weiter verbessern können.

SITUATION VON GERINGVERDIENENDEN

VERBESSERN

Arm trotz Arbeit – in den Dialogveranstaltungen wurde das Anliegen vieler BürgerInnen deutlich, die Einkommenssitu-ation von Geringverdienenden zu verbessern. Menschen mit niedrigen Einkommen haben von der günstigen Wirtschafts-entwicklung der vergangenen Jahrzehnte kaum profitiert. In den Jahren zwischen 1995 und 2015 waren in den unteren Einkommensbereichen die realen Bruttostundenlöhne sogar rückläufig. Deutschland mit seinem vergleichsweise großen Niedriglohnbereich steht hier vor besonderen Herausforde-rungen. Deshalb sollten weitere politische Anstrengungen unternommen werden, um die Situation von Menschen mit niedrigen Einkommen zu verbessern.

Ursachen für niedrige Einkommen können eine geringe Qualifikation von Beschäftigten, branchenbedingte Vor-aussetzungen, wie eine schwache Tarifbindung, sowie ein niedriges Arbeitsvolumen sein, etwa wenn eine Beschäftigung in Teilzeit ausgeübt wird (z.B. in Verbindung mit familiären Aufgaben oder gesundheitlichen Einschränkungen). Die Ein-

führung des allgemeinen Mindestlohns hat zwar individuell

vielfach für Verbesserungen bei der Einkommenssituation

„Arbeit muss einen Unterschied

machen. Wer Voll-zeit arbeitet, muss

von der eigenen Arbeit auch leben können und mehr haben als jemand, der nicht arbeitet.“

Hubertus Heil

SOZIALSTAAT WEITER- DENKEN

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gesorgt, nicht aber eine Verkleinerung des Niedriglohnsektors

bewirkt. Für Menschen mit niedrigen Einkommen verschär-

fen die vielerorts steigenden Wohnmieten die materiellen

Probleme weiter.

Handlungsperspektive:Es sind Lösungsoptionen zu entwickeln, um die Lebenssitu-ation von Geringverdienenden spürbar zu verbessern, ohne dabei Arbeitsanreize zu verringern. Dabei sind verschiedene Gestaltungsansätze zu prüfen: sowohl solche, die bei höhe-ren Bruttolöhnen ansetzen, als auch solche, die auf höhere Nettoeinkommen über die Entlastungen bei den Steuern oder Abgaben abzielen.

MEHR CHANCEN UND MATERIELLE

SICHERHEIT FÜR KINDER

Das System der familien- und kinderbezogenen Sozial-

leistungen besteht aus über 150 einzelnen Leistungen. Im

Dialog wurde bestätigt, dass die Armutsrisiken von Kindern

und Jugendlichen dennoch hoch sind und dass Schwierig-

keiten, die am Anfang des Lebens auftreten, häufig durch

die ganze spätere Biografie fortwirken. Es bedarf weiterer

Anstrengungen, um die Chancengleichheit und materielle

Teilhabe für alle Kinder und Jugendliche unabhängig von der Situation ihrer Eltern sicherzustellen und einkommensschwa-

che Familien zu stärken. Auf die Verbesserungen durch das

Starke-Familien-Gesetz kann dabei aufgebaut werden. Arbeitende Menschen mit geringem Einkommen sind oft

allein wegen ihrer Kinder auf Sozialleistungen angewiesen.

Zudem sind Probleme festzustellen, die an den Übergängen von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende und

vorgelagerten Leistungen, wie dem Kinderzuschlag und dem

Wohngeld, entstehen. Einzelne Leistungen werden von den Anspruchsberechtigten aufgrund mangelnder Bekanntheit sowie komplexen Antrags- und Prüfverfahren wenig oder regional recht unterschiedlich stark in Anspruch genommen.

„Gleiche Chancen für Kinder. Sie

sind unser größter Schatz. Wir brau-chen materielle

Verbesserungen, aber auch mehr fördernde und unterstützende Infrastruktur.“

Hubertus Heil

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O R I E N T I E RU N GO R I E N T I E RU N G E N

Handlungsperspektive:Es sind in der zweiten Dialogphase Lösungsoptionen zu ent-wickeln, die Kindern und Jugendlichen eine bessere soziale Teilhabe und materielle Absicherung ermöglichen. Hier wird zu prüfen sein, wie unterschiedliche Leistungen verbessert und enger miteinander verzahnt werden können. Auch soll-ten Ansätze zur Stärkung der Infrastruktur zur Förderung der Teilhabe von Kindern und Jugendlichen außerhalb der Grundsicherung für Arbeitsuchende geprüft werden.

GRUNDSICHERUNG FÜR ARBEITSUCHENDE

WEITERENTWICKELN UND LEBENSLEISTUNG

BESSER BERÜCKSICHTIGEN

Zentrale Ziele bei Einführung der Grundsicherung für Arbeit-suchende nach dem SGB II im Jahr 2005 als Teil der Arbeits-marktreformen waren die Wirkung und Effizienz der Arbeits-marktpolitik zu erhöhen, die beschäftigungspolitischen Rahmenbedingungen zu verbessern sowie die damals viel zu hohe Arbeitslosigkeit abzubauen. Diese Ziele konnten erreicht werden. Im Dialog wurde deutlich, dass die Grundsicherung für Arbeitsuchende von vielen Menschen trotz der Erfol-ge kritisch bewertet wird und Ängste vor einem schnellen sozialen Abstieg auslöst. Zwar stellt sie das menschenwürdige Existenzminimum zuverlässig bereit. Die Leistungen berück-sichtigen aber nicht ausreichend, was die Menschen vor ihrer Arbeitslosigkeit geleistet haben.

Der soziale Arbeitsmarkt schafft neue Möglichkeiten, um arbeitsmarktferne Langzeitarbeitslose schrittweise an den Arbeitsmarkt heranzuführen. Neben materiellen Aspekten und Qualifizierungsangeboten entscheiden auch „weiche“ Faktoren, wie der vertrauensvolle Umgang zwischen Mitar-beiterInnen der Jobcenter und LeistungsbezieherInnen über Erfolg und Akzeptanz der Grundsicherung für Arbeitsuchende.

SOZIALE SICHERHEIT GESTALTEN

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Härtefälle im Zusammenhang mit der Minderung von Leis-tungen sind in der Diskussion sehr präsent, wobei das Prinzip der Mitwirkungspflicht ganz überwiegend nicht in Frage ge-stellt wird. Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Ver-fassungsmäßigkeit der Sanktionsregelungen steht noch aus.

Handlungsperspektive:Um den Menschen mehr Sicherheit im Wandel zu geben, sollten Lösungsoptionen entwickelt werden, die dem sozialen Abstieg direkt entgegenwirken, Qualifizierungs-anstrengungen anerkennen und die Lebensleistung von Menschen, die lange und hart gearbeitet haben, sowohl in der Grundsicherung, aber auch im vorgelagerten System der Arbeitslosenversicherung als Bestandteil der Arbeitsförde-rung stärker berücksichtigen. Hierfür möchte das BMAS im weiteren Dialog ein Konzept entwickeln.

NEUE ERWERBSFORMEN: SOZIALER SCHUTZ

UND INDIVIDUELLE SELBSTBESTIMMUNG

An abhängige Beschäftigung sind feste Schutzmechanismen gebunden, z.B. die Einbindung in die Sozialversicherungen oder die Einhaltung von Lohn- und Arbeitsstandards. Dieser Schutz gilt nicht in gleicher Weise für Selbstständige. Viele Selbstständige sind wirtschaftlich erfolgreich und benötigen kein höheres Schutzniveau. Es gibt aber auch Selbstständige, die kleine, z.T. unregelmäßige Einnahmen haben und sich nicht hinreichend aus eigener Kraft absichern können. Dabei sieht der Koalitionsvertrag zur besseren Absicherung von Selbstständigen vor, dass sie in die gesetzliche Rentenversi-cherung einbezogen werden.

Mit der Zunahme neuer Erwerbsformen könnten auch mehr Wechsel zwischen abhängiger und selbstständiger Tätigkeit einhergehen. Dort, wo auf den ersten Blick un-klar bleibt, ob es sich um eine selbstständige Tätigkeit oder Scheinselbstständigkeit handelt, schafft dies Rechtsunsi-

„In der Arbeits-agentur und im Jobcenter: voller

Fokus auf Qualifizierung,

Anerkennung von Lebensleistung

und Vertrauen als Basis.“

Hubertus Heil

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cherheit für die Betroffenen. Mit dem weiteren Wachstum digitaler Plattformen könnte die Zahl der (Solo-)Selbststän-digen mit geringen Einkommen wachsen. Vielfach ist die Ver-handlungsposition des Einzelnen gegenüber Plattform und Auftraggebern schwach. Handlungsperspektive:Das BMAS wird Lösungsoptionen prüfen, wie man den Schutz von Selbstständigen, die ihn wirklich brauchen, ver-bessern kann und wie es gelingen kann, durch die Weiter-entwicklung und Vereinfachung des Statusfeststellungs-verfahrens mehr Rechtssicherheit für die Beteiligten zu erzielen. Eine wichtige Frage ist auch, wie Selbstständige ihre Interessen stärker kollektiv wahrnehmen können. Die mit der Plattformwirtschaft verbundenen Problemstellun-gen hängen eng mit den sozialen Herausforderungen bei neuen Erwerbsformen zusammen.

VORTEILE UND RECHTE FÜR DIE

BESCHÄFTIGTEN SICHERN

Die Digitalisierung eröffnet Unternehmen viele Möglichkei-ten, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln, die Produktivität zu steigern und Arbeitsprozesse zu flexibilisieren. Sie bietet aber auch neue Chancen, dass die Beschäftigten damit eben nicht nur wachsende Anforderungen und Fremdbestimmung verbinden, sondern auch Vorteile etwa im Hinblick auf Arbeits-erleichterungen, bessere Arbeitsbedingungen, die Teilhabe von Menschen mit Behinderung, die Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben und auch individuelle Entwicklungsperspektiven. Der Wandel soll und kann auch für die Beschäftigten neue Entlastungs- wie Entfaltungsmöglichkeiten bieten.

Im Dialog wurden die Potenziale für eine Humanisierung der Arbeitswelt angesprochen. Angesichts veränderter Fami-lienkonstellationen, in denen vielfach beide Partner arbeiten

„Besserer Schutz für Selbstständige

mit geringen Einnahmen und

mehr Rechtssicher-heit, nicht zuletzt

auch für die Arbeit auf digitalen Platt-

formen.“

Hubertus Heil

ARBEITEN IM DIGITALEN WANDEL

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oder zusätzliche soziale Anforderungen wie die Pflege von Angehörigen hinzukommen, gibt es erheblichen Bedarf, Be-ruf und Privatleben besser vereinbaren zu können. Dies gilt gerade auch bei der Ausgestaltung von Arbeitszeiten und der Wahl des Arbeitsorts, nicht zuletzt mit Blick auf die Entfaltung der vorhandenen Fachkräftepotenziale. Zudem verteilen sich im Lebensverlauf Arbeitszeiten, Qualifizierungszeiten und Erholungs- und Familienzeiten sowie Phasen der Fürsorge oder Pflege individuell sehr verschieden. In bestimmten Lebenspha-sen häufen sich gegenläufige Anforderungen. Um das zu lösen, sind individuelle Spielräume für eine selbstbestimmte Zeitpoli-tik notwendig.

Handlungsperspektive:Das BMAS wird Lösungsoptionen mit dem Ziel entwickeln, den digitalen Wandel auch aus der Perspektive der Beschäf-tigten zu gestalten und ihre Interessen und Anforderungen zur Geltung zu bringen. Es soll diskutiert werden, wie die Rechte der Beschäftigten gestärkt werden können, damit die Vorteile des digitalen Wandels auch ihnen und ihren individu-ellen Lebensentwürfen zugutekommen.

SOZIALPARTNERSCHAFT, TARIFBINDUNG

UND MITBESTIMMUNG STÄRKEN

Die soziale Marktwirtschaft in Deutschland verbindet hohe Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen mit guten Arbeits-bedingungen und einer gerechten Verteilung des erarbei-teten Wohlstands. Sozialpartnerschaftliche Verhandlungen bleiben die Grundlage dafür, dass dies auf dem Weg des Interessenausgleichs organisiert werden kann. Allerdings droht die Sozialpartnerschaft in Deutschland an Gestal-tungskraft zu verlieren. Im Zukunftsdialog wurde deutlich, dass den BürgerInnen eine schwache Tarifbindung und fehlende Bündelung von Arbeitnehmerinteressen über Be-triebsräte Sorgen bereiten. Sie verbinden damit zunehmen-

„Gute Arbeit verwirklichen

heißt, den digitalen Wandel auch aus

der Perspektive der Beschäftigten zu gestalten. Selbst-bestimmte Zeit-

politik ist ein ganz großes Thema.“

Hubertus Heil

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den Lohndruck nach unten und eine Verschlechterung von Arbeitsbedingungen.

Die Tarifbindung in Deutschland ist in den vergange-nen 20 Jahren stetig zurückgegangen. Sie ist vor allem im Dienstleistungsbereich schwach ausgeprägt. Ebenso ist die Verbreitung von Betriebsräten in den Betrieben rückläufig. Unzureichende Arbeitsbedingungen, eine schwache Lohn-entwicklung und eine ungerechte Verteilung von Wohl-standsgewinnen sind nicht nur für die betroffenen Beschäf-tigten ein Problem. Sie können auch negative Folgen für den sozialen Frieden und die Stabilität der sozialen Sicherungs-systeme mit sich bringen. Der abnehmende Wirkungsgrad tariflicher Gestaltung führt dazu, dass zunehmend staatliche Lösungen eingefordert werden.

Handlungsperspektive:Im Dialog sollen Lösungsoptionen entwickelt und diskutiert werden, wie sichergestellt werden kann, dass Tarifverträge für möglichst viele Beschäftigte gelten und wie sozialpart-nerschaftliche Aushandlungsprozesse auf tariflicher und betrieblicher Ebene gestärkt werden können.

MEHR SELBSTBESTIMMUNG

BEI WEITERBILDUNG ERMÖGLICHEN

Für den Einzelnen kann – und sollte – Weiterbildung gerade auch dazu dienen, die Beschäftigungsfähigkeit in einer sich rapide wandelnden Arbeitswelt zu erhalten und zu verbessern, Arbeitgeber- und Branchenwechsel zu ermöglichen und die individuelle berufliche Entwicklung zu unterstützen. Gleichzeitig tragen Qualifizierungsmaßnahmen und Kompe-tenzentwicklung, die über kurzfristige betriebliche Bedarfe hinausgehen, dazu bei, die Innovations- und Anpassungs-fähigkeit der Wirtschaft in der digitalen Transformation zu verbessern.

„Sozialpartner-schaft heißt gemeinsame

Verantwortung für gute Arbeit, faire

Löhne und sozialen Frieden. Die Politik unterstützt dabei,

wo sie kann.“

Hubertus Heil

QUALIFIZIEREN FÜR DIE ARBEITSWELT VON MORGEN

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Im Zukunftsdialog wurde deutlich, dass es für viele BürgerInnen eine Herausforderung ist, Zeiten für längere indi-viduelle berufliche Weiterbildungen zu organisieren und zu finanzieren. Zusätzlich ist festzustellen, dass es hochwertige und neutrale Beratungsangebote braucht, um sich in der häu-fig als unübersichtlich wahrgenommenen Weiterbildungs-landschaft zu orientieren und passende (Förder-)Angebote zu finden. Mit dem Qualifizierungschancengesetz wurde bereits die Weiterbildungsförderung Beschäftigter sowie die Weiter-bildungs- und Qualifizierungsberatung der Bundesagentur für Arbeit gestärkt.

Handlungsperspektive:Im weiteren Verlauf des Dialogs sollen Lösungsansätze erarbeitet werden, mit denen die präventive und befähi-gende Arbeitsmarktpolitik gestärkt und Rechtsansprüche auf Weiterbildung ausgestaltet werden können. Ebenso soll geprüft werden, welche Möglichkeiten es gibt, neue Anreize zu setzen, um beispielsweise Personengruppen, die bisher seltener an Weiterbildungen teilnehmen, z.B. Geringqualifi-zierte, stärker für längerfristige Weiterbildungsmaßnahmen zu motivieren.

STRUKTURWANDEL IN BRANCHEN UND

REGIONEN BEGLEITEN

Ein durchgehendes Thema der Zukunftsforen und Ortsgesprä-che im Rahmen des Zukunftsdialogs waren die Auswirkungen des Strukturwandels. Globaler Wettbewerb, Digitalisierung und steigende Anforderungen beim Klimaschutz stellen Arbeitgeber und Erwerbstätige in vielen Regionen und Branchen vor neue Herausforderungen. Unternehmen müssen darauf reagieren und ihre Geschäftsmodelle verändern oder neue entwickeln sowie die dafür erforderlichen Fachkräfte mit den richtigen Qualifikationen aus- und weiterbilden. Das erfordert aus ihrer Sicht neue Personalentwicklungs- und Fortbildungsstrategien. Für die Beschäftigten stellen sich grundsätzliche Fragen zu

„Weiterbildung darf nicht allein

vom guten Willen des Arbeitgebers

oder vom eigenen Geldbeutel abhän-gen. Es braucht ein Recht auf Weiter-bildung für alle!“

Hubertus Heil

149

„Der Staat muss Menschen und

Regionen, die vom Strukturwandel betroffen sind,

frühzeitig beglei-ten und in allen

Dimensionen unterstützen.“

Hubertus Heil

Z U K U N F T S DI A LO G O R I E N T I E RU N G E N

ihren beruflichen Perspektiven und ihrer Weiterentwicklung.Der Ausstieg aus der Kohle- und Kernenergie geht einher

mit einem Ausbau der erneuerbaren Energien und Forschung an neuen Technologien. Gerade der Kohleausstieg betrifft einige Regionen in besonderem Maße. Der Umstieg auf alter-native Antriebskonzepte wie die Elektromobilität verändert Anforderungen an die Produktion und verlangt nach Innova-tionen in der Batteriefertigung wie bei Mobilitätskonzepten insgesamt. Der Einsatz Künstlicher Intelligenz schreitet voran und wird die Unternehmen und insbesondere auch die private und öffentliche Verwaltungspraxis verändern.

Handlungsperspektive:Die Bereitschaft, sich dem Wandel zu stellen, in neue Ge-schäftsfelder zu investieren, bei Forschung und Innovation nicht nachzulassen und Beschäftigte kontinuierlich weiter-zubilden, sind zentral, um gut für die Herausforderungen des Strukturwandels gerüstet zu sein. Es muss für den Staat mehr darum gehen, den Prozess frühzeitig zu begleiten, an-statt erst am Ende entstehenden Schaden zu begrenzen.

Mit dem Qualifizierungschancengesetz unterstützt das BMAS Unternehmen auf diesem Weg. Es ist zu prüfen, ob es darüber hinaus weitere Instrumente braucht, um Branchen Orientierung bei sich verändernden (Kompetenz-)Anforde-rungen zu bieten, um Unternehmen in der Transformation zu beraten und um Beschäftigte bei Übergängen in neue Branchen oder Positionen zu helfen. Unerlässlich bleibt die Ansiedlung neuer Unternehmen in vom Strukturwandel be-troffenen Regionen.

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Z U K U N F T S DI A LO G O R I E N T I E RU N G E N

FACHKRÄFTEBASIS IN DEUTSCHLAND

SICHERN

Die positive Entwicklung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt führt dazu, dass Arbeitgeber bereits heute Schwierigkei-ten haben, qualifizierte Fachkräfte zu finden. Zwar liegt in Deutschland kein umfassender Fachkräftemangel vor; aller-dings sind Engpässe für bestimmte Qualifikationen, Regio-nen und Branchen erkennbar. Zugleich ist zu erwarten, dass technischer Fortschritt auch zu Arbeitsplatzverlusten führen wird. Dabei findet nur wenig Ausgleich statt; denn der Abbau wird nicht dort stattfinden, wo händeringend Fachkräfte gesucht werden. Diese Entwicklung könnte sich in Zukunft noch verstärken und eine wachsende negative Auswirkung auf die wirtschaftliche Entwicklung nach sich ziehen. Globaler Wettbewerb, Demografie, Strukturwandel und Digitalisierung stellen Arbeitgeber und Erwerbstätige zudem beständig vor neue Herausforderungen.

Die neue Fachkräftestrategie der Bundesregierung konzentriert sich deshalb in einem branchenübergreifenden Ansatz auf die inländischen, europäischen sowie internationa-len Fachkräfte- und Beschäftigungspotenziale.

Handlungsperspektive:Ein zentrales Ziel der Fachkräftestrategie ist es, Fachkräf-teknappheit bei gleichzeitiger Arbeitslosigkeit zu ver-meiden. Dies kann nur gelingen, indem der Fokus auf die Beschäftigungsfähigkeit der jetzt im Berufsleben stehenden ArbeitnehmerInnen gelenkt wird. Dazu zählen neben in-einandergreifenden Maßnahmen im Bereich der Ausbildung, Qualität der Arbeit und Vereinbarkeit von Familie und Beruf insbesondere Fragen der Qualifizierung und Weiterbildung. Welche Schlüsselkompetenzen künftig gefragt sind und wo in Zukunft auch neue Jobs entstehen, soll im weiteren Dialog erarbeitet werden. Wichtige Weichen für die Kompe-tenzentwicklung werden bereits in den frühen Lebenspha-sen gestellt.

„Gut ausgebildete Fachkräfte sind

der größte Wettbe-werbsvorteil unse-

rer Wirtschaft. Es gilt: Alle Talente entwickeln, Lern-

kultur in den Betrieben fördern.“

Hubertus Heil

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Z U K U N F T S DI A LO G I M P R ES S U M

ImpressumHerausgeber

Bundesministerium für Arbeit und Soziales

Abteilung Grundsatzfragen des Sozialstaats,

der Arbeitswelt und der sozialen Marktwirtschaft

Wilhelmstraße 49

10117 Berlin

Internet: www.zukunfts-dialog.de

E-Mail: [email protected]

Stand: April 2019

Redaktion

BMAS, IZA – Institute of Labor Economics, neues handeln AG

Bildnachweise

Sandra Bürgel (S. 28, 36, 44, 60, 68, 76, 92, 100, 108, 118, 126), Jörg

Carstensen (S. 48, 49, 54, 56, 64, 80, 120), Marc Darchinger (S. 115),

Jörg Jäger (S. 9, 15, 22, 24, 25, 30, 35, 38, 40, 43, 51, 59, 62, 65, 67,

70, 75, 83, 86, 88, 91, 94, 99, 102, 104, 105, 112, 117, 122, 123, 125,

130, 133, 153), Susi Knoll (S. 2), Thomas Meyer (S. 7, 19, 27, 32, 33,

41, 46, 57, 72, 73, 81, 89, 96, 107, 116, 114, 128, 131, 153), Stephan

Pramme (S. 78), Christoph Schmidt (S. 97), shutterstock (S. 29, 37,

45, 61, 69, 77, 93, 101, 109, 119, 134, 135, 139)

Design

neues handeln AG

Druck

BMAS

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