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ZUMA Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen

ZUMA-NACHRICHTEN

November 1995

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2 Impressum

Herausgeber Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA) ZUMA ist Mitglied der Gesellschaft Sozialwissenschaftlicher Infrastruktureinrichtungen e.V. (GESIS)

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Redaktion: Dr. Paul Lüttinger

ISSN 0721 -851 6 19. Jahrgang 0 ZUMA

Die ZUMA-Nachrichten erscheinen im Mai und November eines Jahres. Sie werden Interessenten auf Anforderung kostenlos zugesandt.

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung der Autoren wieder. Der Nachdruck von Beiträgen ist nach Absprache möglich.

Druck: Verlag Pfälzische Post GmbH, Neustadt/Weinstraße. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier.

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Inhaltsverzeichnis 3

In eigener Sache ................................................................................................................... 5

Delphi und Kognitionspsychologie. Ein Zugang zur theoretischen Fundierung der Delphi-Methode Michael Häder und Sabine Häder ....................................................................................... 8

Welcher Typ Stadtbewohner dominiert welchen Typ Wohnquartier? Merkmale des Wohnquartiers als Hintergrundmerkrnale zur Regionalisiemg von Umfragen Jürgen H. P. Hofmeyer-Zlotnik ........................................................................................ .3 5

Ökologisches Handeln und Schwellenwerte: Ergebnisse einer Studie zum Recycling-Verhalten Christian Lüdemann ......................................................................................................... .63

Netzwerkanalyse und Intergruppenkontakte: Die persönlichen Beziehungen zwischen Ost- und Westdeutschen Susanne Rippl ................................................................................................................... .76

Sozio-ökonomischer Status und berufliches Prestige: Ein kleines Kompendium sozialwissenschaftlicher Skalen auf Basis der beruflichen Stellung und Tätigkeit

................................................................................................................ Christof Wov. . 1 0 2

Statistische Beratung zwischen Anspruch und Wirklichkeit Rüdiger Ostermann und Werner Vach ............................................................................. 137

Erfahrungen mit Direktmarketingadressen. Bevölkerungsumfragen im unteren Einkommensbereich. Hans Jürgen Andreß, Georg Lipsmeier und Kurt Salentin. ............................................ 1 6 3

Schenkung an die Wissenschaft ....................................................................................... 188 Sozialwissenschaften-Bus 1996: Termine und Preise ..................................................... 19 1

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4 ZUM-Nachrichten 3 7, Jg. 19, November 1995

J. Friedrichs: Stadtsoziologie (Jürgen H.P. Hofieyer-Zlotnik) ............... ....... .. ......... .... 194

A. B W . Zöfel: SPSS fur Windows 6.1. Praxisorientierte Einführung in die moderne Datenanalyse (Michaela Thoma/Cornelia Züll) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 9 6

Neue Bücher ............................... .................................................................................. ... 199

ZUMA-Arbeitsberichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . . .. . . . . . . . . . . . .. .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . .. .. . . . . . . . . .20 1

ZUMA-TAGUNGEN 1996 Übersicht über die Veranstaltungen 1996 ...................................... ........... ...................... 202

Symposium: „Vergleich von Stichprobenverfahren", 23.-24. April ............................... 204

Workshop: „Fragen verstehen und beantworten: Kognitive und kommunikative Grundlagen von Befragungen", 18.- 19. Juni .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . .. .. . . . . . . . . . . . . .204

Workshop: „Angewandte Multiattributive Discrete Choice-Analyse", 26.-27. Juni ... 205

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Editorial 5

Seit seiner Gründung 1974 hat ZUMA stets Wert auf eine gute Zusammenarbeit mit den privatwirtschaftlich verfaßten Instituten der Sozial-, Markt- und Meinungsforschung ge- legt. Diese „Philosophie" hat über die Jahre einen vielfältigen Ausdruck gewonnen: die Durchführung der Feldarbeit bei nationalen Repräsentativbefragungen und bei Untersu- chungen von Spezialpopulationen, die Beteiligung an Grundlagenforschungsprojekten der Sozialforschung, und eine Vielzahl von Beiträgen zu ZUMA-Symposien und Veröf- fentlichungen, um nur die wichtigsten gemeinsamen Aktivitäten zu nennen.

Vor diesem Hintergrund begrüßen wir sehr, daß 1995 das EMNID-Institut sein 50jähriges Bestehen zum Anlaß für eine Schenkung an die deutsche akademische Sozialforschung genommen hat. Sie umfaßt eine kostenlose Einschaltung eines Fragenkontingents von 15 Minuten Dauer in eine Mehrthemenbefragung des Instituts. Diese Möglichkeit wird von EMNID vorerst fünfmal in zweijährigem Turnus angeboten, und zwar in den Jahren 1995, 1997, 1999, 2001 und 2003. Die Bezieher der ZUMA-Nachrichten hatten im Sommer dieses Jahres für 1995 eine entsprechende Ankündigung erhalten. Trotz der kur- zen Ausschreibungsfrist sind aus ganz unterschiedlichen Bereichen der Sozialwissen- schaften insgesamt 30 Anträge von durchweg ausgezeichneter Qualität eingegangen, so daß die Jury (neben Kaase als Vorsitzendem die Professoren Allerbeck, Frankfurt; Falter, Mainz; Klingemann, Berlin; Kuechler, New York; Pappi, Mannheim; Rattinger, Bam- berg) eine schwere Entscheidung zu treffen hatte. Den Zuschlag erhielt schließlich Nicola Döring, Technische Universität Berlin, mit einem Vorschlag „Isolation und Einsamkeit in der Informationsgesellschaft".

Ganz besonders freuen wir uns darüber, daß sich eines der langjährigen ZUMA-Koopera- tionsinstitute, GFM-GETASJWBA in Hamburg, durch das Engagement von Barbara L. von Harder anläßlich seines 50jährigen Jubiläums entschlossen hat, ebenfalls eine Stif- tung an die deutsche Sozialwissenschafi ins Leben zu rufen. In Abstimmung mit EMNID wird das Institut erstmals 1996 (und danach 1998, 2000, 2002 und 2004) eine kostenlose 15-minütige Beteiligung am Sozialwissenschaften-Bus anbieten, der gemeinsam mit ZUMA durchgeführt wird. Die Ausschreibung für diesen Wettbewerb, die hiermit eröff- net wird, folgt denselben Regeln wie die EMNID-Ausschreibung 1995. Die Einzelheiten entnehmen interessierte Leser bitte den Seiten 188- 190 dieses Heftes. Die Weitergabe

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dieser Information durch Sie an Sozialwissenschaftler, die nicht Bezieher der ZUMA- Nachrichten sind, ist selbstverständlich möglich und erwünscht.

Kommen wir nun zum Inhalt der vorliegenden ZUMA-Nachrichten.

Die Delphi-Methode ist ein Kommunikationsprozeß, in dessen Verlauf Sachverhalte, über die unsicheres und unvollständiges Wissen existiert, von Experten beurteilt werden. Die Delphi-Methode wird in den deutschen Sozialwissenschaften bislang kaum angewendet. Michael und Sabine Häder zeigen in ihrem Beitrag einen kognitionspsychologischen Zu- gang auf, der zu einer besseren theoretische Fundierung der Delphi-Methode beitragen soll.

Jürgen H.P Hoffmeyer-Zlotnik untersucht die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen bestimmten sozio-ökonomischen und sozio-demographischen Merkmalen von Personen sowie unterschiedlichen Wohnquartierstypen besteht. Grundlage sind die Daten des So- zialwissenschaften-Bus 211995. Anhand eines West-Ost-Vergleichs wird zudem festge- stellt, ob Merkmale des Wohnquartiers als Hintergrundmerkmale zur Regionalisierung von Umfragen dienen können.

Netzwerkanalytische Methoden beschränken sich meist auf bestimmte Themenbereiche wie 2.B. Meinungsbildungsprozesse. Susanne Rippl stellt einen neuen Anwendungsbe- reich vor und untersucht in einer Netzwerkstudie die Beziehungen zwischen Ost- und Westdeutschen. Die Anwendung des Schwellenwert-Modells von Granovetter in einer Studie über umweltfreundliches Verhalten beschreibt Christian Lüdemann.

Skalen zur Messung des sozioökonomischen Status und des Berufsprestiges kommen in sozialwissenschaftlichen Untersuchungen häufig zum Einsatz, sind aber oft auch schwer zugänglich. Christof Wolf möchte dem mit seinem „Kompendium sozialwissenschaftli- cher Skalen" Abhilfe verschaffen. Er dokumentiert in seinem Beitrag acht verschiedene Skalen sowie deren Anpassung an die im ALLBUS verwendeten entsprechenden Merk- male der Standarddemographie.

Rüdiger Ostermann und Werner Vach berichten über die Ergebnisse einer Diskussion auf der SoftStat'95, bei der verschiedene Problembereiche bei ,,Statistischen Beratungen" er- örtert wurden.

Die Erfahrungen mit dem Adreßmaterial kommerzieller Direktmarketingfirmen bei einer schriftlichen Bevölkerungsumfrage sind Thema des Aufsatzes von Hans Jürgen Andreß, Georg Lipsmeier und Kurt Salentin. Sie berichten über eine schriftliche Befragung, in der es vor allem darum ging, Haushalte im unteren Einkommensbereich zu erfassen.

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Editorial 7

Im personellen Bereich haben sich folgende Änderungen ergeben: Rolf Steyer wurde an die Universität Magdeburg berufen, wozu wir ihm herzlich gratulieren. Er hat zu unserem Bedauern aus diesem Grund ZUMA bereits kurz nach Antritt seiner Arbeit wieder verlas- sen. Neuer Abteilungsleiter im ALLBUS ist Achim Koch, während Dr. Michael Braun auf die Stelle eines Projektleiters wechselte. Neue ~i tarbei ter bei ZUMA sind Dr. Karin Kurz (ALLBUS), Hannes Wicher (Computerabteilung) und Petra Siener (Verwaltung).

Die Auslieferung des jährlich zweiten Heftes der ZUMA-Nachrichten erfolgt wie immer kurz vor Weihnachten. Ich möchte dies auch in diesem Jahr zum Anlaß nehmen, Ihnen friedvolle Feiertage und ein gesundes und erfolgreiches Jahr 1996 zu wünschen.

Max Kaase Vorsitzender des ZUMA e.V.

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DELPHI UND KOGNITIONSPSYCHOLOGIE: EIN ZUGANG ZUR THEORETISCHEN

FUNDIERUNG DER DELPHI-METHODE*)

MICHAEL HÄDER UND SABINE HADER

D ie Delphi-Methode ist ein vergleichsweise stark strukturierter Gruppenkommunika- tionsprozeß, in dessen Verlauf Sachverhalte, über die unsicheres und unvollständi-

ges Wissen existiert, von Experten beurteilt werden. Die Delphi-Methode wird in den deutschen Sozialwissenschaften bislang kaum angewendet. Der Grund für diese Zurück- haltung dürfte u.a. in der vorhandenen Ungewißheit über die theoretischen Grundlagen und methodischen Prinzipien bei der Anwendung der Methode zu finden sein. Solche Vorbehalte können nur durch eine Evaluation der Delphi-Methode und durch empirische Tests abgebaut werden. Dies gilt sowohl für die Behebung des Theoriedefizits als auch f i r die methodologische Aufarbeitung. Daraufhin können sich U. E. spezifische Gebiete im Rahmen der sozialwissenschaftlichen Forschung erschließen, für die der Einsatz von Delphi geeignet ist. Der Artikel wird zeigen, daß die Nutzung kognitionspsychologischer Erkenntnisse, insbesondere die Theorie mentaler Modelle, neue Möglichkeiten eröffnet, um einige wesentliche Aspekte der Funktionsweise von Delphi zu erklären. Anschließend werden die Ergebnisse eines Experiments zur empirischen Validierung unserer theoreti- schen Annahmen vorgestellt.

T he Delphi method is a highly structured communication process performed by groups of experts. The method focuses on facts about which we have only uncertain

or incomplete knowledge. These facts are evaluated by the involved experts in the Course of the Delphi process. The Delphi method has been rarely used in the German social sciences until now. One of the reasons for this might be the uncertainty about the theo- retical basis and about the methodological rules of this method. This uncertainty can be reduced only by an evaluation of Delphi and through empirical tests. The theoretical deficit must be removed and the methodological basis must be clarified. After this, it should be possible to solve specific problems in the social sciences with the Delphi method. The article will explain important aspects of Delphi through the application of

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results from social cognition research. In this context, the theory of mental models is a particulary useful instrument. Following the theoretical introduction, we will present the results of an experiment for the validation of our assumptions.

1. Die Delphi-Methode in den Sozialwissenschaften - eine Situationsbeschreibung

Der erste Verweis auf die Benutzung eines Delphi-Ansatzes stammt aus dem Jahr 1948. Damals soll diese Technik dazu benutzt worden sein, um die Ergebnisse eines Hunde-

1) oder Pferderennens vorauszusagen. In den folgenden Jahren wurde die Delphi-Methode von der RAND Corporation in 14 Experimenten für militärische Zwecke eingesetzt, bei- spielsweise um mögliche Ziele sowjetischer Angriffe auf die USA vorherzusagen. Wis- senschaftliche Ergebnisse dieser Studien sind jedoch nicht publiziert worden (vgl. Lin- stone1Turoff 1975: 10). Bekannt wurde die Delphi-Methode schließlich durch einen 1964 ebenfalls von der RAND Corporation erarbeiteten "Report on a Long-Range Forecasting Study" (GordonIHelmer 1964). Das Ziel dieser Studie bestand in der langfristigen Vor- hersage wissenschaftlicher und technischer Entwicklungen, wobei eine Zeitspanne von zehn bis fünfzig Jahren als langfristig definiert wurde. Diese Untersuchung wird in der deutschsprachigen Literatur oft als die erste bezeichnet (vgl. Albach 1970; Geschka 1977; SaligerIKunz 1981). Seit den 70er Jahren fand dann eine Ausbreitung der Delphi-Me- thode auch in Westeuropa - einschließlich Deutschland - statt. Die Anlagen dieser Folge- studien waren zunächst stark vom erwähnten RAND Corporation-Projekt beeinflußt (vgl. HelmerIRescher 1960). Insbesondere in der Betriebswirtschaft kam es zur Rezeption der Delphi-Methode für Prognosezwecke. Die Einsatzgebiete wurden aber schnell vielfalti- ger, so daß Seeger bereits 1979 schätzte, es habe innerhalb der 15jährigen Anwendungs- dauer circa 1500 Delphi-Untersuchungen verschiedenster Art gegeben (vgl. Seeger 1979: 32).

In einer Literaturstudie (vgl. HäderIHäder 1994a: 3) konnte gezeigt werden, daß die So- zialwissenschaften in Deutschland - anders als in den USA und auch im Unterschied zu Japan - bisher vergleichsweise wenig von der Delphi-Methode Gebrauch gemacht haben. Ein Indiz für die Zurückhaltung gegenüber der Delphi-Methode ist beispielsweise der Umfang, mit dem diese Technik in der aktuellen Studienliteratur im Fach ,,Methoden der empirischen Sozialforschung" behandelt wird. Nur in zwei von zehn daraufhin untersuch- ten Fachlehrbüchern findet sie überhaupt Erwähnung - und dies lediglich auf wenigen Zeilen.

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2. Der Stand der Erforschung der Delphi-Methode

2.1 Empirische Befunde zum Funktionieren von Delphi Sowohl die internationale sozialwissenschaftliche als auch die deutsche betriebswirt- schaftliche Literatur liefert eine Vielzahl von Hinweisen auf erfolgreiche Anwendungen der Delphi-Methode. Die beiden folgenden Zitate sollen zunächst stellvertretend für zahl- reiche andere stehen:

"Die Delphi-Methode kann also insgesamt als sehr leistungsfähiges Vorhersageverfahren angesehen werden. Das ist ihr größter Vorteil" (Kaufmann 1972: 98). "Das heute verfügbare bestmögliche Instrumentarium zur langfristigen Technikvoraus- schau sind Delphi-Untersuchungen" (BMFT 1993 : XI).

Diese positiven Urteile über die Leistungsfähigkeit der Methode stützen sich auf Ergeb- nisse, die bei Studien zur empirischen Validierung der Ergebnisse von Delphi-Befragun- gen gefunden worden sind2). Dabei wurden bisher vor allem zwei Wege genutzt: Erstens

3) wurde mit Almanachfragen überprüft, ob mit der Delphi-Methode eine Annäherung an die richtigen Antworten erzielt werden kann. Die RAND Corporation erarbeitete dazu zwei experimentelle Panels (vgl. Dalkey 1969, Albach 1970, Geschka 1977). Im ersten Panel wurden 14 Gruppen insgesamt 350 Almanachfragen vorgelegt, im zweiten wurden 16 Gruppen insgesamt 160 Fragen gestellt. Die Versuchspersonen, Studenten der Uni- versität von Kalifornien in Los Angeles, sollten Schätzungen zu Sachverhalten abgeben, deren tatsächliche Ausprägungen ihnen nicht bekannt waren. Die erfragten Sachverhalte waren so allgemein, daß die Studenten sie auf der Basis ihres Allgemeinwissens schätzen konnten. Zusammengefaßt erbrachten diese Tests u.a. eine Konvergenz der Meinungen in Richtung auf den wahren Wert, einen Rückgang der Schätzfehler von der ersten zur letz- ten Befragungsrunde und eine weitere Verbesserung des Gruppenurteils, wenn in den Rückmeldungen die Streuung der Antworten mitgeteilt wurde (vgl. auch Geschka 1977: 34; Albach 1970; Becker 1974).

Zweitens können die Ergebnisse zurückliegender Prognose-Delphis daraufhin untersucht werden, ob die vorausgesagten Ereignisse inzwischen eingetreten sind. Ein Beispiel für diese Art der Validierung ist eine japanische Studie von 1971. Gegenstand dieser Unter- suchung war eine Beurteilung der künftigen Entwicklung von Wissenschaft und Technik. Hier ließen sich im Jahr 1991 bereits 530 Fragen überprüfen. „Unter den beurteilungsfä- higen damaligen Voraussagen sind fast 30% bis zum Jahr 1991 in vollem Umfang einge- troffen. ... Andere Voraussagen waren nur teilweise (ein weiteres Drittel) richtig. ... Zu- sammenfassend erscheint der Verläßlichkeitsgrad der Delphi-Untersuchung erstaunlich hoch zu sein." (BMFT 1993:XXff.) Auch mittelfristige Vorhersagen, z.B. zur Zinsent-

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wicklung in einem Zeitraum von drei bzw. sechs Monaten konnten von anderen Autoren inzwischen erfolgreich validiert werden (vgl. Brockhoff 1979).

In zwei weiteren Tests bei ZUMA und mit Studenten der Universität Marburg zur empiri- schen Validierung des Delphi-Verfahrens wurden Experten um die Schätzung von ihnen nicht bekannten Ergebnissen einer Bevölkerungsbefragung gebeten (vgl. HäderIHäder 1994b; HäderIHäderlZiegler 1995). Es zeigte sich, daß es mit Hilfe einer Delphi-Befra- gung möglich ist, Aussagen über die Antworten bei einer repräsentativen Befragung zu treffen. Ein Vergleich der individuellen Schätzfehler über die Befragungsrunden ergab, daß sich bei allen eingesetzten Typen von Schätzaufgaben die Fehler in der dritten Welle gegenüber der ersten Welle verringert hatten.

2.2 Zur Kritik an Delphi Trotz des breiten Spektrums von erfolgreichen Anwendungen wird die Diskussion um die Leistungsfähigkeit der Delphi-Methode auch Jahrzehnte nach ihrer Implementation in das Methodenarsenal noch kontrovers geführt. Unseres Erachtens betreffen die verschiedenen kritischen Positionen drei Grundprobleme.

1. Es mangelt nach wie vor generell an einer systematischen Beschreibung der Vor- aussetzungen und der Grenzen für die erfolgreiche Nutzung der Delphi-Methode. Der Einsatz von so ungewöhnlichen Begriffen wie ,,ideales Verfahren" (BMFT 1993 : 15) und „Allheilmittel" (Brockhoff 1979: 166) zur Charakterisierung dieser empirischen Methode deutet schon formal auf die noch bestehende Ratlosigkeit bzw. auch auf Verwirrung beim

4) Umgang mit der Delphi-Methode hin.

In der Diskussion konkreter Aspekte der Delphi-Methode spielt häufig eine Rolle, inwie- fern der Delphi-Ansatz zu besseren Ergebnissen fuhrt als der Einsatz alternativer empiri- scher Methoden. Daran wird mitunter die Frage nach der grundsätzlichen Legitimierung der Anwendung von Delphi für bestimmte Aufgabenstellungen geknüpft. Insbesondere wird eine Diskussion um das Verhältnis von Delphi-Erhebungen zu anderen Gruppenin- teraktions- und Prognoseverfahren wie etwa Face-to-Face-Gruppendiskussion, Brain- storming und Expertenbefragungen geführt.

Ein erster Schritt zur systematischen Aufarbeitung der Stellung von Delphi im empiri- schen Methodenarsenal wäre U. E. eine Abgrenzung des inhaltlichen und methodischen Anwendungsraumes von Delphi im Sinne einer Definition, die die potentiellen Einsatz- gebiete sachlich umreißt. In unserer Literaturstudie (vgl. HäderIHäder 1994a) konnten wir zeigen, daß bislang die Definitionen der Delphi-Methode bei unterschiedlichen Auto- ren ebenso variieren wie ihre Anwendungsgebiete. Sie reichen von eng begrenzten

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Sichtweisen (A: „Die Delphi-Methode ist ein Verfahren, um aus Expertenmeinungen Prognosen zu gewinnen und Konsens und Dissens zwischen den Expertenmeinungen deutlich zu machen." Köhler 1992: 325) bis zu sehr allgemeinen Bestimmungen (B: ,,Delphi may be characterized as a method for structuring a group communication process so that the process is effective in allowing a group of individuals, as a whole to deal with a complexe problern." LinstoneITuroff 1975: 3).

Ohne unseren Standpunkt an dieser Stelle ausführlich darlegen zu können, wollen wir doch auf die vorgenannten Begriffsbestimmungen kurz eingehen.

Zu A: Auffassungen, die Delphi lediglich als Prognoseinstrument beschreiben, folgen wir nicht. Wie wir noch zeigen werden, gibt es insbesondere in den Sozialwissenschaften eine Reihe weiterer Anwendungsmöglichkeiten. Darüber hinaus fehlen in dieser Art von Be- stimmung Hinweise auf die Art und Weise der Meinungsbildung.

Zu B: Diese Charakterisierung gilt es u.E. wie folgt zu spezifizieren: Inhalte von Delphi-Studien sind stets Sachverhalte, über die unsicheres bzw. unvoll- ständiges Wissen existiert. Andernfalls gäbe es effizientere Methoden zur Entschei- dungsfindung. Bei Delphi handelt es sich um Urteilsprozesse unter Unsicherheit. Die an Delphi- Studien beteiligten Personen geben also jeweils Schätzungen ab. Für die Teilnahme an Delphi-Studien sind Experten zu rekrutieren, die aufgrund ihres

5) Wissens und ihrer Erfahrungen in der Lage sind, kompetent zu urteilen .

Daraus leitet sich unsere folgende Arbeitsdefinition ab: Die Delphi-Methode ist ein vergleichsweise stark strukturierter Gruppenkommunikati- onsprozeß, in dessen Verlauf Sachverhalte, über die naturgemap unsicheres und unvoll- ständiges Wissen existiert, von Experten beurteilt werden.

2. Ein weiterer wesentlicher Aspekt der Diskussion betrifft die Offenlegung der ko- gnitiven Prozesse, die bei den in eine Delphi-Befragung einbezogenen Teilnehmern ab- laufen. Es gilt theoretisch zu begründen, warum es den Experten gelingt, Urteile über Sachverhalte zu fallen, über die kein sicheres bzw. vollständiges Wissen existiert.

Dalkey, einer der Begründer der Delphi-Methode, ging bei seiner Rezeption des Verfah- rens davon aus, daß in ,,n" Köpfen mindestens so viel Information enthalten ist, wie in ei- nem (vgl. 1969: 41 l), wahrscheinlich aber mehr, was letztlich den Einsatz von Delphi zur Wissensakkumulation legitimiere. Die Defizite einer solchen Bestimmung werden inzwi- schen kritisiert und es wird angemahnt, den Hintergrund offen zu legen, „auf dem die Be- fragten ihre Meinung aufbauen und ableiten" (Seeger 1979: 15 l). Mit Hilfe der Nutzung

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von neueren Forschungsergebnissen aus der Kognitionspsychologie scheint es uns mög- lich, zur Klärung dieses Problems einen Beitrag zu leisten (vgl. Abschnitt 3).

In diesem Zusammenhang könnte die folgende Textstelle als Motto eines in diese Rich- tung orientierten Forschungsprogramms betrachtet werden: ,,It is time for the oracles to move out and for science to move in" (Wechsler 1978: 596).

3. Gegenstand von Diskussionen sind weiterhin die Konsequenzen verschiedener methodischer Varianten des Vorgehens bei Delphi-Befragungen. Es wurde bisher - mitun- ter relativ wahllos und ohne ausreichende methodische Begründung - nach immer neuen Variationen der Methode gesucht, von denen dann eine Verbesserung der Ergebnisse von Delphi-Befragungen erwartet wurde. Gerade diese praktizierte relative Beliebigkeit bei der Gestaltung der Delphi-Methode und der damit in Verbindung stehende Mangel an professionellen Standards machen dieses Verfahren für Kritiker jedoch besonders an- fechtbar (vgl. auch Seeger 1979: 148ff.).

Zusammenfassend ist der Stand der Diskussion damit durch ein gewisses Dilemma - mit- unter wird auch von einem ,,These-Antithese-Verhältnis" gesprochen (vgl. Wechsler ebenda) - gekennzeichnet: Auf der einen Seite handelt es sich bei Delphi um ein offen- sichtlich (unter bestimmten Voraussetzungen) gut funktionierendes Instrument, welches bereits in vielen Fällen zu wertvollen Schätzungen geführt hat (vgl. Abschnitt 2.1.). Auf der anderen Seite wird prinzipiell kritisiert, daß es an Einsicht über die Prinzipien des Funktionierens von Delphi fehle. Neben der Frage, woher eigentlich das Wissen stammt, aufgrund dessen die Experten ihre Urteile fallen und wieso von Befragungswelle zu Be- fragungswelle mit einer Verbesserung der abgegebenen Schätzungen gerechnet werden kann, steht das Problem der Standardisierung des methodischen Vorgehens bei Delphi im Vordergrund. Darüber hinaus wird eine ,,Standortbestimmung" für die Einsatzmöglichkei- ten von Delphi-Studien gefordert.

3. Kognitionspsychologische Grundlagen der Urteilsbildung bei Delphi-Studien

Dieser Artikel wendet sich nun einem Hauptproblem der Diskussion um die Grundlagen der Delphi-Methode zu: der kognitionspsychologischen Begründung, auf welche Weise die Urteile bei einer Delphi-Befragung generiert werden. Im Mittelpunkt der folgenden Argumentation steht vor allem die Frage, warum angenommen werden kann, daß bei der Delphi-Methode, die mehrere Wiederholungen der Urteilsabgabe vorsieht, die Schätzun- gen in der Regel von Welle zu Welle qualitativ hochwertiger ausfallen.

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Ausgangspunkt unserer Überlegungen sind neuere Forschungen zu Urteilsprozessen unter suboptimalen Bedingungen, insbesondere bei unvollständigem bzw. unsicherem Wissen. Zunächst wird gezeigt, daß es sich bei den Expertenschätzungen innerhalb einer Del- phi-Studie aus kognitionspsychologischer Sicht um Urteilen unter Unsicherheit handelt. Im folgenden sollen dann neuere Ergebnisse aus der Kognitionspsychologie referiert werden, die zu diesem Problemkreis vorliegen. Schließlich geht es um die Frage, wie diese Erkenntnisse für die wissenschaftliche Legitimierung von Delphi-Befragungen ge- nutzt werden können.

3.1 Urteilen unter Unsicherheit - die allgemeine Anforderung an die Experten bei der Delphi-Methode

Zunächst sollen die kognitionstheoretischen Grundlagen, die die Experten befähigen, schon in der ersten Befragungsrunde ein kompetentes Urteil abzugeben, dargestellt wer- den. Gleichzeitig werden dabei Anforderungen an die Rekrutierung der Experten spezifi- ziert.

Die bei Delphi-Studien durch die Experten grundsätzlich zu lösende Aufgabe besteht im weitesten Sinne im Beurteilen von Sachverhalten, für die - selbst beim kompetentesten Experten - nicht alle Informationen vorliegen (können), um ein sicheres Urteil zu fallen. Dies stellt einen Unterschied zu Einstellungsmessungen dar, bei denen z.B. über den Grad der eigenen Zufriedenheit Auskunft gegeben werden soll.

„Problemlösen (und auch Urteilen, M.H.1S.H.) stellt erhebliche Anforderungen an die menschliche Informationsverarbeitung. Dies gilt besonders dann, wenn komplexe Ziele vorliegen, viele Handlungsalternativen denkbar und Konsequenzen in zahlreichen Di- mensionen abzuwägen sind. Entsprechend hängt der Erfolg entscheidend davon ab, wie gut Informationssuche, Informationsbewertung und Informationsverknüpfung gelingen" (Zimolong/Rohnnann 1988: 625). Um nun die Mechanismen zu verstehen, die bei Ur- teilsprozessen unter Unsicherheit ablaufen, wird die Kognitionspsychologie herangezo- gen, denn sie schreibt geistige Leistungen wie Verstehen, Denken, Wissen und schließlich Urteilen einem komplexen Informationsverarbeitungssystem zu (vgl. Wimmer/Perner 1979) und versucht, dieses transparent zu machen.

3.2 Aspekte der Bildung des Expertenurteils in der ersten Befragungswelle

In der Kognitionspsychologie wird der Mensch als ein System aufgefaßt, das aktiv In- formationen aus der Umwelt aufnimmt, speichert, manipuliert und 2.T. zielgerichtet wei- tervenvendet (Dutke 1994: 10). Dieses Informationsverarbeitungsparadigma ist zwar sehr

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facettenreich (vgl. Scane 1987: 79ff.), beruht aber letztlich auf einigen wenigen Kernan- nahmen (Weidenmann 1988: 20ff.1, von denen die folgenden drei im Zusammenhang mit der Bildung des Expertenurteils in einer Delphi-Studie interessieren:

Informationen, die aktuell in der Umwelt nicht vollständig gegeben sind, können aus dem Wissensbestand des Individuums ergänzt werden. Die innere Repräsentation von Umweltgegebenheiten ist kein Abbild im passiv-pho- tographischen Sinne, sondern eine aktive Konstruktion und Rekonstruktion. Diese Aufbauprozesse sind in der informationsverarbeitenden Aktivität und damit z.T. auch in der Intentionalität des Individuums begründet. Es erfolgt eine ständige zyklische Rückkopplung zwischen Wahrnehmung, Gedächt- nis und Informationssuche: Der Gedächtnisbestand leitet durch Erwartungsbildung die Informationssuche und Wahrnehmung, die ihrerseits den Gedächtnisbestand ver- ändert.

Diese Kernannahmen erlauben bereits die Formulierung von konkreten Erwartungen an die Kompetenz eines Experten:

Wissensbestand und Kompetenz des Experten für eine gegebene Urteilsaufgabe bei Delphi verhalten sich direkt proportional, da bei der Lösung von Problemen bei Del- phi stets (nur) unvollständige Informationen aus der Umwelt bereitstehen. Die Kompetenz eines Experten wird für die Lösung von Delphi-Aufgaben weiterhin durch seine Fähigkeiten zur internen Informationsspezifikation, -strukturierung und -bewertung sowie seine Motivation zur Problembewältigung bestimmt. Experten sollten möglichst stark mit dem Untersuchungsgegenstand vertraut sein und sich häufig mit dem angezielten Inhalt beschäftigen.

Wie funktioniert jedoch der Informationsverarbeitungsprozeß, insbesondere der des Urteilens unter Unsicherheit, konkret? Diese Frage zielt letztlich darauf, wie es den Ex- perten bei Delphi-Studien gelingt, ein Urteil zu generieren, obwohl über den erfragten Sachverhalt kein vollständiges Wissen vorliegen kann.

Innerhalb der Kognitionspsychologie bietet vor allem die Theorienklasse mentaler Mo- delle, deren Forschungsgegenstand die menschliche Fähigkeit ist, „Strukturen und Pro- zesse realer Systeme in analoger Weise intern zu repräsentieren und sie damit verstehen, vorhersagen und erklären zu können" (Conrad 1993: 129), einen Zugang zum näheren Verständnis solcher Urteilsprozesse. Zunächst soll dieser Ansatz kurz umrissen werden: Nach Dutke werden mentale Modelle dazu benutzt, ,,unabhängig von äußeren Vorgaben, Alltagswissen in Form gedanklicher Modelle (zu) organisieren, um sich das Verstehen oder Behalten bestimmter Sachverhalte zu erleichtern" (Dutke 1994: 2). In der Kogni-

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tionspsychologie dienen sie ,,der Erklärung menschlicher Informationsverarbeitungslei- stungen. Mentale Modelle werden als kognitive Konstruktionen aufgefaßt, die auf einer Interaktion von Wahrnehmung und Gedächtnis beruhen. Sie sind von den Intentionen des ~nformationsverarbeiters abhängig und damit auch indirekt abhängig von der zu bewälti- genden Aufgabe" (ebenda: 12). Mentale Modelle beziehen schließlich „Alltagswissen in die Lösung von Problemen des logischen Schließens und des Urteilens mit ein" (ebenda: 29).

Wichtig fur die Beschreibung des Zustandekommens der Expertenurteile in einer Delphi- Befragung sind insbesondere die Aussagen, die die Theorie mentaler Modelle zum Urtei- len unter Unsicherheit trifft. Dabei handelt es sich zunächst um eine alltägliche Anforde- rung an die menschliche Informationsverarbeitung, die deutliche Parallelen zu den bei Delphi-Studien auftretenden Anforderungen besitzt: ,,Es geht um die Frage, wie Indivi- duen vorgehen, wenn sie unter suboptimalen Bedingungen (2.B. zu wenig Information, hohe Komplexität der Aufgabe, Zeitdruck) Einschätzungen, Ursachenerklärungen, Schlußfolgerungen, Vorhersagen usw. abzugeben haben" (Strack 1985 : 24 1).

Der Theorie mentaler Modelle nach Gigerenzer et al. folgend ist für den Erfolg einer Schätzung, d.h. eines Urteils bei unsicherem Wissen, entscheidend, ob für das Urteilen ein lokales mentales Modell (lokales MM) oder ein probabilistisches mentales Modell (PMM) benutzt wird. Während bei lokalen MM nur direkt auf die Aufgabe bezogenes Wissen aktiviert wird, wird bei der Konstruktion von PMM in größerem Umfang Erfah- rungswissen aus dem Alltag (oder Expertenwissen) herangezogen, das sich u.a. in Häu- figkeits- und Wahrscheinlichkeitsschätzungen manifestiert.

Für das Verständnis der bei Delphi ablaufenden Urteilsprozesse soll besonders auf die Er- gebnisse von Studien verwiesen werden, die ermittelten, daß Versuchspersonen bei Ex- perimenten dazu in der Lage waren, Häufigkeitsschätzungen relativ korrekt abzugeben, während ihnen jedoch die Beurteilung von Einzelfällen nicht gelang. Gigerenzer et al. (199 1 : 5 13ff.) schildern dazu das folgende Experiment.

Versuchspersonen bekamen die Aufgabe gestellt, zu beurteilen, welche von zwei Städten die größere Einwohnerzahl besitze. Dazu waren jeweils zwei Städte (z.B. Solingen und Heidelberg) zu vergleichen (,,Welche Stadt hat mehr Einwohner?"). Nach der Abgabe ih- res Urteils wurden die Zielpersonen danach gefragt, wie sicher sie wären, daß ihre Ant- wort richtig sei. Diese Einzelfallbeurteilung gelang den Versuchspersonen nicht: Sie überschätzen im allgemeinen ihre eigene Urteilsfähigkeit. Dieses Phänomen wurde be- reits auch in anderen Experimenten ermittelt und mit dem Terminus ,,overconfidence bias" belegt (vgl. Nisbett/Ross 1980: 1 19f.). Wurden jedoch die gleichen Versuchsperso-

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nen, nachdem sie 50 solcher Urteile abgegeben hatten, danach gefragt, wieviele dieser Urteile richtig gewesen seien, so gelang ihnen diese Häufigkeitsschätzung „erstaunlich akkurat" (Dutke 1994: 35). Ein solches Phänomen wird von Gigerenzer et al. (1991 : 5 11) als „Confidence-Frequency-Effekt" bezeichnet. Dieser zunächst überraschende Effekt wird mit Hilfe der Theorie mentaler Modelle erklärbar:

Bei Entscheidungssituationen wird zunächst versucht, ein lokales mentales Modell zu konstruieren. Dieses ermöglicht den direkten Abruf des in der Situation erforderlichen Wissens. Lokale MM sind demzufolge auf die Lösung der jeweiligen Aufgabenstellung begrenzt und berücksichtigen kein weiteres Wissen. Außerdem benutzen sie lediglich elementare logische Operationen.

Kann ein entsprechendes lokales MM aus dem Gedächtnis abgerufen werden, wird das Urteil subjektiv als sicher eingestuft (Urteilen bei sicherem Wissen). Diese begrenzte Sichtweise auf ein Problem führt jedoch häufig zu dem bereits beschriebenen und in Ex- perimenten angetroffenem ,,overconfidence bias".

,,If no local MM can be activated, it is assumed that a PMM is constructed next. A PMM solves the task by inductive inference, and it does so by putting the specific task into a larger context. A PMM connects the specific structure of the task with a probability structure of a corresponding natural environment (stored in long-term memory). In our example, a natural environment could be the class of all cities in Germany with a set of variables defined on this class, such as the number of inhabitants. This task selects the number of inhabitants as the target variable and the variables that covary with this target as the cues. A PMM is different from a local MM in several respects. First, it contains a reference class of objects that includes the objects a and b. Second, it uses a network of variables in addition to the target variable for indirect inference. Thus, it is neither local nor di- rect ... Probabilistic inference is part of the cognitive process, and uncertainty is part of the outcome" (Gigerenzer et al. 1991 : 507).

Damit geht die Theorie mentaler Modelle bei der Erklärung von Urteilsfindungen bei unsicherem Wissen über den Erkenntnisstand hinaus, den z.B. die Theorie der Urteils- heuristiken bietet. Hierbei werden replizierbare und stabile Fehlleistungen erklärt, indem argumentiert wird, menschliches Urteilen sei, besonders im sozialen Bereich, eher durch einen überhöhten Gebrauch von ,,primitiven intuitiven Strategien" (auch: Faustregeln) denn durch die Anwendung „normativ angemessener Strategiencc gekennzeichnet (vgl. NisbettRoss 1980: 3). Diese würden die Urteilsfindung in natürlichen Situationen er- leichtern, jedoch unter bestimmten Randbedingungen zu systematischen Verzerrungen

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führen, was letztlich kognitive Täuschungen, wie z.B. den „overconfidence bias" zur Folge hätte.

Ihre theoretischen Ausführungen und Experimente zusammenfassend schreiben Gige- renzer et al. dazu: „One cannot speak of a general overconfidence bias anymore, in the sense that it relates to deficient processes of cognition or motivation. In contrast, subjects seem to be able to make fine conceptual distinctions - confidence versus frequency - of the Same kind as probabilists and statisticians do. Earlier attempts postulating general deficiencies in infonnation processing or motivation cannot account for the experimental results predicted by PMM theory and confirmed in two experiments. PMM theory seems to be the first theory in this field that gives a coherent account of these various effects by focusing on the relation between the structure of the task, the structure of a corresponding environment, and a PMM" (Gigerenzer et al. 199 1 : 526).

Mit den hier aufgegriffenen Gedanken zum Urteilen unter suboptimalen Bedingungen wurden zunächst einige U. E. wesentliche kognitionspsychologische Aspekte vorgestellt, die auch für die Urteilsbildung bei Delphi-Studien von Bedeutung sein dürften. Nun soll versucht werden, die bei den Experten in einer Delphi-Befragung ablaufenden kognitiven Prozesse mit Hilfe der Theorie der PMM konkreter zu erläutern.

Da kein sicheres Wissen für die Urteilsfindung zur Verfügung stehen kann, sind zunächst auch lokale mentale Modelle nicht anwendbar. Vielmehr müssen die Experten zur Schät- zung umfangreiches Wissen (auch aus dem Langzeitgedächtnis) heranziehen, Referenz- klassen bilden, komplexe Schlußfolgerungen ziehen usw. und letztlich aufgrund von Wahrscheinlichkeitshinweisen urteilen. Die Experten bilden aufgrund von - mitunter si- cherlich unbewußten - Wahrnehmungen, aufgrund ihres Fachwissens und schließlich auf- grund ihrer jeweils fachspezifischen Intentionen hypothetische Modelle zur Lösung des erfragten Sachverhalts. Auf diese drei zentralen Elemente soll kurz konkreter eingegan- gen werden:

Die Experten beziehen ihre Wahrnehmungen hinsichtlich der von ihnen zu lösenden Auf- gabe zunächst aus unterschiedlichen Quellen. Vor allem ihre eigene (soziale) Umgebung sowie Massenkommunikationsmittel spielen dabei wahrscheinlich eine entscheidende Rolle. Die jeweilige soziale Situation des Experten, aber auch die Selektivität der Wahr- nehmungen sorgen für differenzierte Ergebnisse dieses Prozesses. Außerdem wird ein im Rahmen einer Delphi-Befragung von den Experten erwartetes Urteil stark von in der ei- genen Umgebung wahrgenommenen Mehrheitsmeinungen (vgl. Noelle-Neumann 1989) geprägt werden.

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Das Fachwissen eines Experten enthält sowohl empirische Erkenntnisse als auch spezifi- sche Theorien, mit deren Hilfe Aspekte der Wirklichkeit erklärt werden. So wird bei- spielsweise die Sicht auf Jugendliche dadurch geprägt, ob es sich bei den Experten um Psychologen, Soziologen, Theologen, Mediziner, Juristen, Pädagogen oder Politologen handelt, die jeweils aufgrund ihres Fachwissens mit bestimmten Eigenschaften dieses Personenkreises vertraut sind. Damit werden auch die von ihnen bei der Bildung proba- bilistischer mentaler Modelle benutzten „cues" jeweils fachgebietsspezifischen Charakter tragen.

In die Bildung von kognitiven Konstrukten zur Lösung einer Delphi-Aufgabe fließen weiterhin die Intentionen der Experten ein. Hier spielt offenbar der eigene Standpunkt, von dem aus ein Urteil gebildet wird, eine wichtige Rolle. Selbst ein ähnlich strukturier- tes Fachwissen wird vor dem Hintergrund unterschiedlicher politischer Standpunkte und unterschiedlicher wirtschaftlicher Interessen zu divergierenden Urteilen fuhren.

Allen Expertenurteilen bei Delphi-Erhebungen ist zunächst gemeinsam, daß von ihnen lediglich unter Unsicherheit ein Urteil über den erfragten Sachverhalt abgegeben werden kann. Die Vielfalt an Wahrnehmungen, Fachwissen und Intentionen, über die die Exper- ten verfugen, erlaubt es ihnen allerdings mentale Modelle zu erstellen, auf deren Grund- lage sie zu qualitativ hochwertigen Urteilen gelangen.

3.3 Die Bildung der Expertenurteile in den folgenden Befragungswellen

Für die psychologische Begründung der in Experimenten nachgewiesenen Verbesserun- gen der Qualität der Schätzungen bei Delphi-Studien in den folgenden Wellen können zunächst grundsätzliche Erkenntnisse über Lernprozesse herangezogen werden. So stellen Zimolong/Rohrmann fest: ,,Jedes gelernte Verhalten verändert sich mit der Anzahl seiner Ausführungen und der Qualität der erhaltenen Rückmeldungen. Der Zeitbedarf verringert sich exponentiell zur Anzahl der Wiederholungen, die Ausfuhrungsqualität verbessert und stabilisiert sich gegenüber Störungen aus der Umwelt, die willentliche Steuerung und Kontrolle des Ablaufs wird durch eine unbewußte, automatische Regelung ersetzt. Als Ergebnis vermindert sich die erlebte Beanspruchung. Die als 'Potenzgesetz des Lernens' bekannte Beziehung gilt nicht nur für das sensumotorische Lernen, sondern darüber hin- aus für jede Art von kognitiver Aktivität" (ZimolongIRohrmann 1988: 628). Viele der hier beschriebenen Effekte, die sich als Lernerfolg interpretieren lassen, sind bei Delphi- Studien beobachtet worden (HäderIHäder 1994b; HäderIHäderlZiegler 1995).

Besondere Bedeutung für die beobachtete Qualitätsverbesserung der Urteile kommt bei Delphi-Erhebungen den Rückmeldungen zu, die die Experten nach jeder Befragungs-

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runde erhalten. Sie können ebenfalls direkt und indirekt einen Informationsgewinn be- wirken, der bei der erneuten Urteilsbildung berücksichtigt wird.

So stellt Schwarz (1991; vgl. auch Hippler/Schwarz/Noelle-Neumann 1989; Schwarz/ Sudman 1992; Schwarz/Strack/Hippler 1990) auf der Grundlage von Arbeiten zur flexi- blen Konstruktion mentaler Repräsentationen (vgl. Barsalou 1987; Barsalou 1989) zur Urteilsbildung innerhalb einer Befragung fest, daß die Untersuchungspersonen hierbei auf verschiedene Arten von Wissen zurückgreifen. Bestimmtes Wissen ist den Befragten dabei permanent verfügbar, andere Informationen dagegen nur temporär. Wichtig für die Diskussion um die kognitionspsychologischen Grundlagen von Delphi-Studien ist, daß (zunächst) nicht alle potentiell relevanten Informationen aus dem Gedächtnis abgerufen werden, sondern daß der Suchprozeß abgebrochen wird, sobald die Befragten genügend Informationen erinnert haben, um sich mit hinreichender Sicherheit ein Urteil bilden zu können (vgl. BodenhausenIWyer 1987). ,,Das Urteil beruht daher nur auf der Teilmenge potentiell relevanter Information, die zum Urteilszeitpunkt leicht verfügbar ist - sei dies chronisch oder temporär." (Schwarz 199 1 : 72).

Die den Teilnehmern einer Delphi-Befragung dann nach jeder Welle zurückgemeldeten Informationen bewirken zusätzlich, daß diese den ,,Suchprozeß" in ihrem Gedächtnis nochmals aufnehmen und nach weiteren, für den jeweiligen Sachverhalt relevanten In- formationen fahnden. Kognitionspsychologisch soll die rückgemeldete Gruppenantwort damit einen gewissen Kontexteffekt bewirken und letztlich in indirekter Weise zur Ver- besserung des abgegebenen Urteils beitragen.

Zugleich ist die Rückinformation aber auch als direkte, neue Information zu interpretie- ren. Sie muß in das bei den Experten bereits bestehende mentale Modell eingepaßt oder abgewiesen werden. Dazu muß eine Konsistenzprüfung darüber erfolgen, ob die neue In- formation in bezug auf das bestehende Modell als widerspruchsfrei integrierbar oder ab- zuweisen eingeschätzt wird. Folgende Ausgänge sind denkbar:

Die Rückinformation ist widerspruchsfrei zum bestehenden mentalen Modell (die rückgemeldete Werte über das Gruppenrnittel sind beispielsweise denen sehr ähnlich, die der Experte in der vorangegangenen Runde geschätzt hatte). In diesem Fall ist eine Änderung des mentalen Modells und damit des Urteils unwahrscheinlich. Dies gilt freilich nur unter der Voraussetzung, daß der Experte inzwischen kein eigenes weiteres Wissen aktiviert hat, welches sein ursprüngliches Urteil in Frage stellt. Die Rückinformation ist mit dem bisher abgegebenen Urteil unverträglich. In diesem Fall ist vor allem entscheidend, für wie kompetent das Expertengremium eingeschätzt wird, welche ,,Kostenu dem einzelnen Experten bei einer Änderung seines Urteils

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entstehen (vgl. HäderIHäder 1994) und wie sicher der Experte sich bei der Abgabe seines ersten Urteils war. Es muß allerdings auch berücksichtigt werden, daß bei dem betreffenden Experten möglicherweise Effekte des Selbstwertschutzes (vgl. Stahl- berglOsnabrügge1Frey 1985: 79ff.) eine Rolle spielen. Insofern ist es möglich, (a) daß die Information aus der Rückinformation zurückgewiesen und das eigene Urteil beibehalten wird, (b) das eigene Urteil korrigiert bzw. sogar verworfen und ein neues mentales Modell konstruiert wird, das widerspruchsfrei zur Rückinformation ist.

Für die Qualität des finalen Urteils ist auch der „tatsächliche" Wahrheitsgehalt der einzel- nen Rückmeldungen zu berücksichtigen. Würde man in Betracht ziehen, ob eine Verände- rung in die richtige (oder falsche) Richtung erfolgt, dann erhöht sich die Zahl der oben aufgeführten möglichen Kombinationen. Insgesamt wird deutlich, daß sich sehr diffizile Prozesse bei der Integration der Rückmeldungen in ein bereits bestehendes mentales Mo- dell abspielen. Generell lediglich eine Urteilsänderung in Richtung des Gruppenmittels aufgrund von Konformitätsdruck anzunehmen, wie es von Kritikern der Delphi-Methode gelegentlich vorgeworfen wird, ist damit nur ein möglicher Ausgang der Konsistenzprü- fung und darüber hinaus bei hochkompetenten Experten kein sehr wahrscheinlicher.

Ein weiterer umfangreicher Problemkreis würde aufgespannt werden, wenn die Frage nach spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen der Experten gestellt würde. Hier geht es um solche Verhaltensdispositionen, die die Experten dazu veranlassen, ihre Meinungen zu korrigieren bzw. beizubehalten.

4. Punkt- vs. Verteilungsschätzungen: ein Test

4.1 Begründung der Arbeitshypothese In dem im folgenden vorzustellenden Test soll ein Aspekt der Urteilsfindung mit Hilfe probabilistischer mentaler Modelle aufgenommen und in einem Delphi-Experiment näher untersucht werden. Die Grundidee unseres Testaufbaus ist an das bereits im 3. Abschnitt erwähnte Experiment von Gigerenzer et al. angelehnt, in dem Untersuchungspersonen die gleiche Aufgabenstellung auf zwei unterschiedliche Arten zu bearbeiten hatten.

Für unseren Test rekrutierten wir zwei Gruppen von Untersuchungspersonen, für die hin- sichtlich ihrer Fähigkeit zur Aufgabenbewältigung (inhaltliche Kompetenz, Kenntnisse empirischer Verteilungen, Motivation, soziodemographische Merkmale) Homogenität

6) nachgewiesen werden konnte (vgl. HäderIHäderlZiegler 1995) . Beide Gruppen sollten die Ergebnisse zweier fünfstufig skalierter Indikatoren aus einer Befragung von Jugendli- chen (eine spezifische Subpopulation der Shell-Jugendstudie) schätzen, die eine Gruppe

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jedoch lediglich die in der Befragung ermittelten Mittelwerte, die andere Gruppe dagegen jede einzelne Antwortstufe für beide Indikatoren.

Im Rahmen der Theorie der PMM wird dargelegt, das erstens die Bildung von Referenz- klassen (vgl. Brunswik 1943 : 257), deren Bestandteile die sogenannten ,,probability cuescc sind, sowie zweitens die eigentliche Einschätzungsart, die „target variable" (Gigerenzer et al. 1991 : 507ff.), für die Vorhersage der Qualität eines Urteils unter Unsicherheit die ent- scheidende Rolle spielen.') Um die Vermutung zu unterstützen, daß zur Lösung der Auf- gaben innerhalb dieses Tests PMM benutzt worden sind, müßten sich zunächst solche Re- ferenzklassen benennen lassen. Derartige probability cues könnten 2.B. sein:

die Unterstellung, daß der zu schätzende Wert bekannten Stereotypen, wie z.B. über die Jugend entspricht (nach Luhmann sind Stereotype die wichtigsten Bausteine der öffentlichen Meinung, die eine Reduktion von Komplexität bewirken, vgl. dazu auch Noelle-Neumann 1989: 208), der Verdacht, daß die zu schätzenden Antworten denen auf ähnliche, bekanntere Fra- gen entsprechen und so von den Experten ein gewisser Analogieschluß vorgenommen werden kann, das Wissen über (z.B. in den Medien) spektakulär dargestellte Ereignisse, beispiels- weise im Zusammenhang mit der Freude über den Fall der Mauer, die im Zusammen- hang mit dem erfragten Sachverhalt stehen (die wiederum auf die Haltung der Men- schen schließen lassen), die Kenntnis von sozialwissenschaftlichen Theorien, die eine Erklärung der zu lösen- den Aufgabe enthalten, die Annahme, daß Antworten bei Befragungen häufig dazu tendieren, normalverteilt zu sein, d.h., daß der jeweilige zu schätzende Mittelwert in etwa bei der mittleren Antwortkategorie liegt, und schließlich (in der zweiten und dritten Befragungsrunde) die in den Rückmel- dungen der einzelnen Wellen über Mittelwerte und Streuung enthaltenen Informatio- nen über die Antworten der anderen Experten.

Bei Delphi-Befragungen vermögen die Experten nun die jeweiligen Wahrscheinlichkei- ten, mit denen die einzelnen probability cues auf den erfragten Sachverhalt hindeuten, (besonders) fachmännisch einzuschätzen. Die zur Lösung der Aufgaben herangezogenen probability cues dürften in beiden Gruppen identisch sein, da formal jeweils nach den gleichen Sachverhalten gefragt wurde (Einstellung zur deutschen Wiedervereinigung sowie allgemeine Lebensziele von Jugendlichen). Wenn nun Unterschiede bei der Aufga- benbewältigung auftreten, so dürften diese auf die Art der gestellten Aufgabe und auf den damit jeweils verbundenen unterschiedlichen Schwierigkeitsgrad („target variable") zu-

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rückzuführen sein. Der Test wird zeigen, ob es möglich ist, für beide Aufgabentypen ge- eignete PMM zu bilden, oder ob nur eine Aufgabenart lösbar ist. Die daraus für die Ge- staltung von Delphi-Befragungen resultierenden lmplikationen liegen nahe.

4.2 Testaufbau und Ergebnisübersicht Den beiden Gruppen von Untersuchungspersonen (jeweils N=16) wurden die beiden fol- genden Indikatoren der Shell-Jugendstudie zur Beurteilung vorgelegt:

1. ,,Wie stehst Du zur Vereinigung von ehemaliger DDR und alter Bundesrepublik von heute aus gesehen?" (1) sehr dafür; (2) eher dafür; (3) unentschieden; (4) eher dagegen; (5) sehr dagegen.

2. „Die Menschen sind ja sehr unterschiedlich, wenn es um ihre Lebensziele geht. Man- che sind sehr anspruchsvoll und ehrgeizig, andere finden diese weniger gut oder wichtig. Wie ist das bei Dir?" (1) nicht so anspruchsvoll und ehrgeizig ...... (5) sehr anspruchsvoll und ehrgeizig.

Die Aufgabe bestand darin, im Rahmen eines Drei-Wellen-Delphi jeweils für Gruppe 1 als Punktschätzung und für Gruppe 2 als Verteilungsschätzung zu beurteilen, wie die 18- 29jährigen westdeutschen Befragten in der Studie geantwortet haben.

Damit stehen die „wahren Werte" aus der Shell-Studie zur Beurteilung der Güte der Schätzungen zur Verfügung. Diese soll insbesondere anhand der folgenden Kriterien vor- genommen werden (vgl. Häder/Häder/Ziegler 1995):

Überdecken die Interdezilbereiche der Schätzungen jeweils die wahren Werte? Haben sich die Gruppenergebnisse den ,,wahren Werten" angenähert? Haben sich die individuellen Schätzfehler pro Indikator von der ersten zur finalen Runde verringert?

In Tabelle 1 sind zunächst als Übersicht die Schätzergebnisse für die beiden Fragen der Gruppe 1 (Mittelwertschätzungen) dargestellt. Die Untersuchungspersonen waren offen- bar in der Lage, die Mittelwerte der Verteilungen korrekt zu schätzen. Zwar weichen die finalen Punktschätzungen jeweils um circa 0,3 von den ,,wahren Werten" der Shell-Studie ab. Doch liegen die Werte der Shell-Studie sogar fiir alle drei Wellen in den jeweiligen Interquartilsbereichen (restriktiver als Interdezilbereiche) aller drei Wellen. Damit kann die Qualität der Schätzungen aufgrund des ersten Kriteriums als sehr befriedigend einge- schätzt werden. Etwas differenzierter fallt die Beurteilung der Punktschätzungen aus, wenn die Veränderung der Distanzen der mittleren Schätzungen an die „wahren Werte" von Welle zu Welle betrachtet werden. Nur im Fall des ,,Wiedervereinigungsindikators"

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gelang eine Annäherung an den wahren Wert um 0,l Skalenpunkte. Bei dem Indikator zur Beschreibung von Lebenszielen entfernte sich dagegen die finale Schätzung gegen- über der ersten Schätzung um 0,1 Skalenpunkte vom „wahren Wert". Da insgesamt aber die ersten Schätzungen schon relativ genau waren, sollte diese geringfügige Abweichung nicht überbewertet werden.

Tabelle 1: Mittelwerte, Interdezilbereiche und Interquartilsbereiche der Schätzungen von Gruppe 1

Frage 1 (Wiedervereinigung) Punktschätzung Interdezilbereich Interquartilsbereich

1. Welle 2.9 2.0 - 3.8 2.0 - 3.5 2. Welle 2.8 2.1 - 3.4 2.4 - 3.1 3. Welle 2.8 2.2 - 3.5 2.3 - 3.3 Shell 2.5

Frage 2 (Lebensziele) Punktschätzung Interdezilbereich Interquartilsbereich

1. Welle 3.5 3.0 - 3.4 3.1 - 3.9 2. Welle 3.5 3.0 - 3.9 3.0 - 3.8 3. Welle 3.4 3.0 - 3.9 3.1 - 3.7 Shell 3.7

Dagegen ist deutlich erkennbar (vgl. Tabelle 2), daß die Untersuchungspersonen der zweiten Gruppe nicht in der Lage waren, die Verteilungen korrekt zu schätzen. So werden nur fünf von zehn Mittelwerten der Shell-Studie von den Interdezilbereichen der Schät- zungen der dritten Welle überdeckt, die geschätzten und die wahren Verteilungsformen stimmen nicht annähernd überein.

Ganz offenbar waren die Untersuchungspersonen mit dieser relativ schwierigen Aufgabe überfordert. Dies mag u.a. auf die mangelnde Vertrautheit der Studenten mit statistischen Verteilungen zurückzuführen sein. So wurden z.B. die Schiefen der Verteilungen nicht richtig beurteilt: Die beiden finalen Verteilungen der Schätzungen sind sich relativ ähn- lich, sie erinnern an Normalverteilungen, während von den Originalverteilungen die eine rechts- und die andere linksschief ist.

Abschließend werden nun die Schätzergebnisse der einzelnen Experten für die beiden Fragen betrachtet. Dabei soll geprüft werden, wie sich die individuellen Schätzfehler der beiden Gruppen jeweils für beide Fragen von Welle zu Welle entwickelt haben (3. Krite- rium).

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Tabelle 2: Mittelwerte (MW) und Interdezilbereiche (IDB) der Schätzungen von Gruppe 2

Die Verringerungen der Fehler bei den Mittelwertschätzungen von Welle zu Welle bei fast allen Untersuchungspersonen sprechen für die hohe Qualität der abgegebenen Schät- zungen: Bei Frage 1 haben sich nur zwei Experten von der ersten zur dritten Welle ver- schlechtert, bei Frage 2 hat sich der X 2 - ~ e r t von lediglich drei der sechzehn Versuchsteil-

8) nehmer in der dritten gegenüber der ersten Welle erhöht (vgl. Tabelle 3) . Bei beiden Punktschätzungen kann eine Verringerung des mittleren Schätzfehlers von der ersten zur letzten Runde konstatiert werden.

Frage 1 sehr dafür eher dafür unentschieden eher dagegen sehr dagegen

Frage 2 n.so ehrgeizig

sehr ehrgeizig

Tabelle 4 zeigt, daß sich die mittleren Schätzergebnisse der Gruppe bei der Verteilungs- schätzung sowohl bei Frage 1 als auch bei Frage 2 über die Wellen trotz der insgesamt schlechten Schätzung verbessert haben. Hinsichtlich der individuellen Ergebnisse kann insgesamt auch eine positive Einschätzung getroffen werden: Vier Verschlechterungen von Welle 1 zur Welle 3 bei Frage 1 stehen zehn Verbesserungen gegenüber. Bei Frage 2 ist dieses Verhältnis etwas ungünstiger, dort beträgt es sechs zu neun.

Insgesamt sind damit die Punktschätzungen erfolgreicher verlaufen als die Verteilungs- schätzungen. Dies bestätigt die Vermutung, daß bei gleicher inhaltlicher Aufgabenstel- lung (trotzdem) nur eine der beiden Aufgabenarten lösbar ist. Offenbar unterscheidet sich der Schwierigkeitsgrad beider Aufgabentypen wesentlich.

1. Welle MW IDB

17 5 -40 26 20-40 30 10-40 16 5-30 11 5-20

13 5-25 17 10-20 25 10-50 2 5 8-50 20 5 -40

2. Welle MW IDB

11 5-20 24 15-40 32 20-50 22 15-30 11 5-20

11 5-15 21 15-30 34 30-45 22 15-30 12 10-15

3. Welle MW IDB

11 5-20 28 20-30 32 20-40 20 15-25 9 5-15

11 10-15 21 10-30 32 25-40 23 15-30 13 10-15

Shell

2 1 32 24 18 5

1 8

32 42 17

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Tabelle 3: Individuelle X 2 - ~ e r t e für Frage 1 und 2, Gruppe 1 (Mittelwertschätzung)*)

Tabelle 4: Individuelle x2-werte für Frage 1 und 2, Gruppe 2 (5 ~ntwortkategorien)*)

Frage 1, Gruppe 1 ID Welle 1 Welle 2 Welle 3 Diff. 1 0.1 0.1 0.3 -0.2 2 0.7 0.1 0.1 0.6 3 0.7 0.3 0.3 0.4 4 0.4 0.1 0.4 0.0 5 0.3 0.2 0.0 0.3 6 0.1 0.0 0.0 0.1 7 0.2 0.7 0.2 0.0 8 0.1 0.1 0.1 0.0 9 0.3 0.2 0.1 0.2 10 0.1 0.3 0.1 0.0 11 0.1 0.7 0.1 0.0 12 0.7 0.0 0.0 0.7 13 0.1 0.1 0.1 0.0 14 0.3 0.0 0.5 -0.2 15 0.1 0.1 0.1 0.0 16 0.1 0.0 0.0 0.1

Sum. 4.4 2.4 2.4

*) In Tabelle 3 und 4 wurden die Werte der Shell-Studie als erwartete Werte angenommen.

1

Frage 1, Gruppe 2 ID Welle 1 Welle 2 Welle 3 Diff. 1 46.2 74.0 --- --- 2 35.4 45.1 27.8 7.6 3 11.3 11.7 34.5 -23.2 4 41.4 16.5 12.6 28.8 5 26.2 27.9 24.8 1.4 6 39.2 14.2 3.6 35.6 7 33.1 23.3 17.6 15.5 8 8.8 22.9 12.6 -3.8 9 45.1 34.7 --- --- 10 11.3 57.0 34.5 -23.2 11 57.7 51.4 3.6 54.1 12 30.9 18.2 21.2 9.7 13 57.0 29.0 6.1 50.9 14 12.9 12.6 16.4 -3.5 15 143.2 48.5 22.4 120.8 16 74.2 26.5 23.2 51.0

Sum. 673.9 513.6 260.7

Frage 2, Gruppe 1 ID Welle 1 Welle 2 Welle 3 Diff. 1 0.1 0.1 0.1 0.0 2 0.0 0.0 0.0 0.0 3 0.0 0.0 0.0 0.0 4 0.4 0.1 0.1 0.3 5 0.0 0.0 0.0 0.0 6 0.1 0.1 0.1 0.0 7 0.0 0.0 0.0 0.0 8 0.0 0.1 0.1 -0.1 9 0.0 0.0 0.0 0.0 10 0.0 0.0 0.0 0.0 11 0.0 0.1 0.1 -0.1 12 0.0 0.0 0.3 -0.3 13 0.1 0.0 0.0 0.1 14 0.1 0.0 0.0 0.1 15 0.1 0.1 0.1 0.0 16 0.1 0.0 0.0 0.1

Sum. 1.0 0.6 0.9

Frage 2, Gruppe 2 ID Welle 1 Welle 2 We1.3 Diff. . 1 105.4 105.4 --- --- 2 64.1 117.5 115.4 -51.3 3 33.8 106.2 196.9 -163.1 4 395.6 125.0 115.4 280.2 5 92.6 106.2 90.9 1.7 6 43.5 111.2 242.9 -199.4 7 227.4 161.8 89.8 137.6 8 64.1 214.2 228.7 -164.6 9 85.6 40.6 118.6 -33.0 10 612.7 246.7 127.0 485.7 11 419.3 159.2 276.6 152.7 12 1707.3 149.7 99.9 1607.4 13 395.6 109.0 106.2 289.4 14 9.7 105.4 105.4 -95.7 15 400.6 381.8 246.7 153.9 16 38.4 64.2 90.9 -52.5

Sum. 4695.5 2304.1 2251.

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Bemerkenswert ist weiterhin, daß selbst bei den beiden Aufgaben zur Verteilungsschät- zung eine Verringerung der mittleren Schätzfehler der Gruppe festgestellt werden konnte. Dieses Ergebnis deutet insgesamt darauf hin, daß die eingangs erwähnten Denkprozesse, bei denen im Laufe der Aufgabenbearbeitung immer mehr Kontextwissen für die Pro- blemlösung einbezogen wird, was sich in der Konstruktion immer hochwertigerer menta- ler Modelle niederschlägt, tatsächlich zu einer höheren Qualität der finalen Schätzung fuhren als dies bei einer nur einmaligen Urteilsabgabe zu erwarten ist.

4.3 Zusammenfassung

Mit diesem Test liegt ein weiterer empirischer Hinweis dafür vor, daß Delphi zu Denk- vorgängen während der Aufgabenbearbeitung (hervorgerufen durch wiederholte mentale Auseinandersetzung mit der inhaltlichen Aufgabenstellung sowie den Rückmeldungen) führt, die positiven Einfluß auf die Qualität der Ergebnisse haben.

Wie gut allerdings die Schätzungen der letzten Welle absolut sind, hängt wesentlich von der generellen Eignung der Experten ab, d.h. von ihrer Sachkompetenz schon zu Beginn der ~el~hi-s tudie9 ' . Insofern muß für diesen Test eine Einschränkung gemacht werden: Die Kompetenz der Untersuchungspersonen gründete sich lediglich darauf, selbst Ange- hörige der Subpopulation zu sein, deren Befragungsergebnisse aus der Shell-Studie zu beurteilen waren. Dagegen gaben die Studenten in der Zusatzbefragung zur Ermittlung der von ihnen benutzten kognitiven Orientierungshilfen an, daß Erfahrungen mit ähnli- chen Fragestellungen sowie mit statistischen Verteilungen nur eine geringe Rolle bei den abgegebenen Schätzungen gespielt habent0). Als ,,probability cues" nutzten sie dagegen vor allem (übereinstimmend in beiden Gruppen) erstens die Erfahrungen mit anderen Ju- gendlichen, zweitens haben sie sich „spontan durch das Gefühl" leiten lassen und drittens Stereotype über Jugendliche (vgl. HäderIHäderlZiegler 1995) verwendet.

Das Testergebnis erlaubt weiterhin Rückschlüsse auf das Vorhandensein einer Fähigkeit, Tendenzen der öffentlichen Meinung wahrzunehmen. Einen empirisch begründeten Hin- weis auf die menschliche Fähigkeit, nicht nur Meinungen anderer wahrzunehmen, son- dem diese sogar „statistisch" zu schätzen, findet sich bei Noelle-Neurnann (1989).11) Sie versteht den Menschen zunächst als ein soziales Wesen und schlußfolgert daraus, daß er permanent mit einer „Isolationsfurcht" konfrontiert werde. Diese hat die Autorin mittels empirischer Experimente nachgewiesen (vgl. Noelle-Neumann 1989: 59ff.; neuere Expe- rimente werden auf S. 303ff. beschrieben). Zur Vermeidung dieser Isolation beobachten sich die sozialen Wesen untereinander und lernen so, die Meinungen der anderen (ins- besondere Mehrheitsmeinungen) zu erkennen. Diese Wahrnehmung bewirke soziale Inte-

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gration und sei so eine Voraussetzung für das Funktionieren einer Gesellschaft. ,,Die menschlichen Gesellschaften versichern sich auf diese Weise ihres Zusammenhalts und einer ausreichenden Bereitschaft des einzelnen zum Kompromiß" (ebenda: 167).

Noelle-Neumann geht in ihrer Argumentation noch weiter, sie spricht nicht nur von der Entdeckung einer neuen menschlichen Fähigkeit, der „Wahrnehmung von Meinungs- klima" (ebenda: 27), sondern kennzeichnet diese Begabung sogar als „quasistatistisch" (ebenda: 3 1).

Das Ergebnis unseres Tests erlaubt eine Präzisierung dieser Aussagen. So hat sich nur bei einem Aufgabentyp - bei der Schätzung von Mittelwerten - gezeigt, daß die befragten Studenten dazu in der Lage sind, Mehrheitsmeinungen richtig wiederzugeben. Differen- ziertere Auskünfte über relativ feine Abstufungen dieses Urteils gelingen ihnen jedoch nicht. Die kompliziertere Schätzung von einzelnen Skalenpunkten übersteigt zumindest die Kompetenz der an diesem Test beteiligten Studenten. So wird tatsächlich nur ein Meinungsklima wahrgenommen und nicht etwa detaillierte Meinungsdifferenzierungen. Für die Gestaltung von Delphi-Befragungen gilt es - die Ergebnisse dieses Tests verall- gemeinernd - zu vermerken, daß differenziertere, über eine Wiedergabe des Meinungs- klimas (auf dem Niveau von Mittelwerten) hinausgehende Urteile zumindest von Exper- ten ohne statistische Grundkenntnisse nicht erwartet werden können.

In unseren Ausgangsüberlegungen hatten wir die bei Delphi ablaufenden kognitiven Pro- zesse als Urteilen unter Unsicherheit charakterisiert. Die Schätzungen, die im hier vorge- stellten Test von den Untersuchungspersonen abzugeben waren, sind typische Beispiele für derartige Denkprozesse, die tatsächlich auch mit (mehr oder weniger) Erfolg bewältigt worden sind. Es konnten damit Parallelen hergestellt werden zwischen der von Gige- renzer et al. beschriebenen Bildung mentaler Modelle und den kognitiven Prozessen, die bei der Bearbeitung einer Delphi-Studie zur Schätzung von Ergebnissen einer Bevölke- rungsbefragung zu leisten sind. Es hat sich jedoch auch gezeigt, daß weitere intervenie- rende Bedingungen zu beachten sind. So tritt das erwartete Ergebnis nicht unter allen Umständen ein. Die von den Testteilnehmern im Rahmen ihrer mentalen Modelle akti- vierten probability cues reichen lediglich, um über Mittelwerte zuverlässig Auskunft zu geben. Die für die Schätzung von Verteilungen erforderlichen cues, wie z.B. statistische Kenntnisse, das Wissen über die bei Bevölkerungsbefragungen zu erwartenden empiri- schen Untersuchungsergebnisse usw. fehlen jedoch. Schließlich besteht ein wesentliches Ergebnis dieser Überlegungen darin, daß mit der Theorie mentaler Modelle eine taugliche kognitionspsychologische Grundlage für die Aufdeckung, Erklämg und Vorhersage von bei Delphi-Befragungen ablaufenden Prozessen gefunden worden ist.

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5. Ausblick

Mit dem im vorliegenden Aufsatz dargestellten Theorieansatz zur Erklärung der bei Del- phi-Studien ablaufenden kognitiven Prozesse und der empirischen Bearbeitung einiger Aspekte dieser theoretischen Überlegungen wurde das Ziel verfolgt, einen Beitrag zu lei- sten, um diese Methode für die Anwendung auch in den deutschen Sozialwissenschaften aufzubereiten und letztlich zu legitimieren.

Das derzeit gebräuchliche Standardrepertoire an Methoden der empirischen Sozialfor- schung läßt durchaus Bedarf an weiteren Techniken für die Lösung spezieller Probleme offen. Gerade für Themenstellungen, die sich einer Bearbeitung durch direkte Bevölke- rungsbefragungen bzw. Befragungen spezieller Subpopulationen entziehen, da sie

besonders heikle Fragestellungen beinhalten undloder bei den Befragten nicht aktuell präsent sind (z.B. da sie in der Vergangenheit

12) liegen) undloder zu kompliziert bzw. zu komplex für die Bearbeitung in Form einer Bevölkerungsbe- fragung sind undloder

13) sich auf Zielpopulationen richten, die schwer bzw. nicht erreichbar sind , für die aber eine Abbildung der Meinungen bzw. Einstellungen aus forschungstheo- retischen Erwägungen dennoch unverzichtbar ist,

könnte der Delphi-Ansatz erfolgreich eingesetzt werden.

Dabei - und dies sei unterstrichen - will die im Test beschriebene Form der Delphi-Nut- zung keinesfalls Befragungen ersetzen. Sie stellt aber bei Problemen wie den genannten eine potentiell mögliche Lösung dar und macht sie damit der empirischen Analyse zu- gänglich.

Anmerkungen

*) Wir möchten uns herzlich bei Herrn Rolf Steyer und Herrn Ullrich Hoffrage für die Hinweise zu diesem Manuskript bedanken.

1) Die Angaben in der Literatur darüber, ob es sich um ein Hunde- oder Pferderennen handelte, widersprechen sich (vgl. Woundenberg 1991: 132; Seeger 1979: 57).

2) Eine zusammenfassende und kritische Diskussion solcher Validierungsansätze hat Woundenberg (199 1) vorgelegt.

3) Almanachfragen „das sind Fragen, deren Gegenstand sich auf gegenwärtige oder ver- gangene soziale Realitäten beziehen und deren Antworten bekannt sind" (Seeger 1979: 6 1).

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4) Seeger stellt dazu fest: " ... sicher auch die Beliebigkeit der Anwendung haben (neben anderen Faktoren, M.H.1S.H.) es verursacht, daß in der Fachöffentlichkeit recht große Verwirrung über Zweck, Ziel und Wirkung der Methode bereitgemacht hat und bislang einem umfangreichen Verständnis der Methode im Weg gestanden hat (l979: 44)."

5) Zur Begründung dieser Spezifizierungen vgl. Abschnitt 3.

6) Es handelte sich um 32, allerdings mit empirischer Sozialforschung kaum vertraute Medizinstudenten der Universität Marburg. Der Test wurde im November und Dezember 1994 unter Klausurbedingungen in drei Wellen sowie einer Zusatzbefragung zu benutzten Orientierungshilfen und über die Motivation der Teilnehmer veranstaltet.

7) Eine Referenzklasse, wie sie in dem von Gigerenzer et al. (1991) geschilderten Ex- periment (vgl. Abschnitt 3.) gebildet werden könnte, würde alle deutschen Städte umfas- sen, zu denen auch Heidelberg und Solingen gehören. Als Probability cues können nun solche Annahmen dienen, die - resultierend aus der Aufgabenstellung, die größere der beiden Städte herauszufinden - Hinweise auf die jeweilige Einwohnerzahl erlauben. So kann angenommen werden, daß: von größeren Städten eher eine Mannschaft in der Bun- desliga spielt, größere Städte kürzere Kraftfahrzeugkennnziffern besitzen, wenn es sich bei einer der beiden Städte um die Hauptstadt eines Bundeslandes handelt, diese dann die größere ist usw. In der Theorie der PMM wird weiterhin darauf verwiesen, daß Probabi- lity cues die Eigenschaft haben, (lediglich) mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit auf die target variable, den interessierenden Sachverhalt, hinzudeuten. Gigerenzer et al. (1 99 1 : 509) stellten beispielsweise fest, daß die Benutzung des Fußballmannschafts- pro- bability cues in der Bundesligaspielsaison 1988189 mit einer relativen Häufigkeit von 9 1 Prozent zu einer richtigen Antwort bei der Frage nach der größeren Einwohnerzahl einer westdeutschen Stadt führen würde.

8) Der X 2 - ~ e r t wird hier als Maß benutzt, das die Distanz zwischen tatsächlicher und geschätzter Antwortverteilung zusammengefaßt darstellt.

9) In einem Test mit Experten von ZUMA konnte z.B. gezeigt werden, daß die Schät- zungen vierstufiger Antwortverteilungen durchaus in hoher Qualität absolviert werden können.

10) Da in dieser Beziehung also nicht von einer optimalen Zusammensetzung des Exper- tengremiums gesprochen werden kann, haben wir es in diesem Testbericht vorgezogen, die Studenten als „TestteilnehmerbL bzw. „Untersuchungspersonen" zu bezeichnen. Gleichwohl war die Testanordnung geeignet, einige Aspekte prinzipiell bei Delphi ablau- fender Denkprozesse zu untersuchen.

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11) Die Fähigkeit von Experten, Auskunft über die Meinungen anderer Menschen geben zu können, hat auch Reuband (1990) in einem anderen Zusammenhang empirisch nach- gewiesen. Er stellt methodische Forschungen zu Interviewerfalschungen vor, die eben- falls Relevanz für die Schätzung der Ergebnisse von Bevölkerungsbefragungen mit Hilfe der Delphi-Methode besitzen dürften und kommt anhand empirischer Tests zu dem Er- gebnis, daß Studenten dazu in der Lage sind, die Ergebnisse von ALLBUS-Befragungen (allerdings lediglich in einer Befragungswelle) zu schätzen. Reuband stellt fest: ,,Ver- gleicht man die Randverteilungen der gefälschten Interviews mit der Randverteilung der jeweiligen Referenzumfrage, so ergeben sich unerwartet große Ähnlichkeiten" (Reuband 1979: 714).

12) Es würde sogar eine wesentliche Bereicherung des sozialwissenschaftlichen Metho- denarsenals darstellen, wenn es gelänge - eine ausreichende Validität vorausgesetzt - auch retrospektiv die Ergebnisse von Bevölkerungsbefragungen zu schätzen. Hier mag ein Verweis auf die sich im Rahmen der gegenwärtigen Forschungen zur sozialen Transfor- mation in Ostdeutschland erschließenden Möglichkeiten - 2.B. Vergleichsdaten zu erhe- ben bzw. zu schätzen - genügen.

13) Dies könnte beispielsweise im Rahmen sozialwissenschaftlicher Forschungen zur AIDS-Prävention gelten. Hier wurde - zwar nicht mit Hilfe der Delphi-Methode - „der Zugang über Prostituierte gewählt und weibliche Prostituierte als Expertinnen über ihre Freier befragt" (Markert 1994: 369). Eine sinnvolle Nutzung des Delphi-Ansatzes könnte hier sicherlich zu einer weiteren Qualifizierung der Ergebnisse beitragen.

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Hoflmeyer-Zlotnik: Welcher Typ Stadtbewohner dominiert welchen Typ Wohnquartier? 3.5

WELCHER TYP STADTBEWOHNER DOMINIERT WELCHEN TYP

WOHNQUARTIER?

MERKMALE DES WOHNQUARTIERS ALS HINTERGRUNDMERKMALE

JURGEN H.P. HOFFMEYER-ZLOTNIK

A usgehend von der Annahme, daß soziale Differenzierung räumliche Differenzierung bewirkt, sind die Wohngebiete der Befragten des Sozialwissenschaften-Bus 2/1995

nach stadt- und wohnquartierstypisierenden Merkmalen klassifiziert worden. Ziel war es, im West-Ost-Vergleich herauszufinden, welcher Typ Stadtbewohner welchen Quartierstyp bewohnt bzw. sogar dominiert. Untersucht wurden die in den unterschiedlichen Wohn- quartierstypen lebenden Befragten des Surveys hinsichtlich ihres sozio-ökonomischen Status und hinsichtlich ihrer sozio-demographischen Merkmale.

T he general hypothesis is that social differentiation causes spatial differentiation. Starting with this hypothesis, the residential areas of respondents in the Social

Science Bus 2/1995 have been classified with respect to characteristics describing type of city and type of residential area. The goal of this strategy was to find out if a special type of Person lives in specific residential areas or even dominates them. Therefore respon- dents from different types of residential areas were compared with respect to their socio- economic status and their socio-demographic characteristics.

Vorbemerkung: Eine Wohnquartiersbeschreibung fand erstmals im ALLBUS von 1980 statt (siehe Hoffmeyer-Zlotnik 1984a). In den folgenden Jahren wurde das Instrumenta- rium weiter entwickelt und getestet (Hoffmeyer-Zlotnik 1984b). Erst in den 90er Jahren ergab sich die Möglichkeit, das Instrument auch in großen Surveys einzusetzen: 1992 in einer ungekürzten Fassung in der Erhebung der Trierer Forscher Willy Eirmbter und Alois Hahn zu gesellschaftlichen Folgen von AIDS; 1992 in einer gekürzten Fassung im DJI-Jugendsurvey (siehe Hoffmeyer-Zlotnik 1995a, 1995b); 1995 in einer Umfrage des Instituts für Therapieforschung zu Drogenkonsum und Drogenprävention und 1995 im

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3 6 ZUMA-Nachrichten 3 7, Jg. 19, November 1995

Sozialwissenschaften-Bus 2/95. Ich möchte an dieser Stelle allen danken, die es mir er- möglicht haben, die Wohnquartiersbeschreibung in großen Surveys einzusetzen. Der vor- liegende Bericht legt die Daten der Erhebung des Sozialwissenschaften-Bus 2/95 zu- grunde.

1. Das Wohnquartier: ein meßbares Ergebnis sozial- räumlicher Differenzierung

Eine Stadt ist untergliedert in unterschiedliche Teilgebiete mit unterschiedlicher Nutzung und unterschiedlicher Standortqualität. Seit der Typisierung der Stadt von Burgess 1925 erforschen die Sozialökologen die Verteilung der unterschiedlichen sozialen Gruppen der Stadtbewohner über die räumliche Struktur der Stadt und versuchen die Prozesse der Be- völkerungsverteilung nicht nur erklärend nachzuvollziehen, sondern auch prognostizier- bar zu machen.

Eine Analyse der Frage, welcher Typ „Stadtbewohner" lebt in welchem Typ „städtischem Wohnquartier", läßt sich am ehesten mit den Daten der amtlichen Großzählungen und ei- ner Vielzahl von sozialen und räumlichen Kategorien durchführen. Dieses geschieht mit dem Instrument der Sozial-Raum-Analyse oder über Faktoren- oder Clusteranalysen. Das Problem solcher Untersuchungen ist der Zugang zu amtlichen Daten in akzeptabler klein- räumiger Struktur, die es ermöglichen, unterhalb der Stadtteilebene Quartierstypen zu identifizieren. Probleme ergeben sich heute allerdings nicht nur mit der Aggregations- ebene der Daten pro Siedlungsgebiet, sondern auch mit deren flächendeckender Verfüg- barkeit. Aber selbst wenn die Frage der Verfigbarkeit geklärt werden könnte, dann stellte sich die Frage der Aktualität der Daten, denn die Voraussetzung für deren Existenz ist eine Vollerhebung. Dieses heißt national: Census. Solche Daten wären natürlich eine ge- eignete Voraussetzung für eine Prognose, zumal Censen ja auch Zeitreihen darstellen. Allerdings ist die Datenlage nicht ideal, denn Censusdaten sind weder in kleinsträumli- cher Aufbereitung noch in fortgeschriebener Form zugänglich. Die Daten für eine Ana- lyse städtischer Strukturen müssen anderweitig beschafft werden.

Prognosen auf der Basis von Strukturdaten sind erst dann möglich, wenn es gelingt, über die Typisierung des Raumes „Stadtu jene grundlegenden Faktoren herauszuarbeiten, die die gemeinsamen Grundzüge in der Stadtstruktur darstellen und zugleich als unabhängige Variable zur Erklärung von sozialem Milieu und sozialem Handeln dienen. Hierzu müs- sen zunächst die räumlichen Strukturen mit den hierin ablaufenden Prozessen der sozial- räumlichen Verteilung der Stadtbewohner erklärt und sodann in ein System räumlicher Kategorien zur Bestimmung von Wohnquartieren umgesetzt werden.

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Hofieyer-Zlotnik: Welcher Typ Stadtbewohner dominiert welchen Typ Wohnquartier? 3 7

Zur Klärung der Frage, welcher Typ Stadtbewohner dominiert welchen Typ Wohnquar- tier, sind die drei zentralen Variablen der Wohnquartiersbeschreibung (vgl. Hoffmeyer- Zlotnik 1986) in den Sozialwissenschaften-Bus 211995, eine gemeinsam vom ZUMA und von GFM-GETAS durchgeführte Mehrthemenumfrage, eingeschaltet worden. In diesem repräsentativen Survey, der nach ADM-Stichprobenplan mit 2.114 Interviews in den alten Bundesländern und 1.095 Interviews in den neuen Bundesländern im Frühsommer 1995 durchgeführt wurde, wurden deutsche Staatsbürger ab 18 Jahren, die in Privathaushalten leben, u.a. sowohl zu demographischen Sachverhalten, ihre Person und ihren Haushalt betreffend, als auch zu objektiven Merkmalen ihres Wohnquartiers befragt. Vor einer Analyse der Surveydaten muß zunächst jedoch der Frage nachgegangen werden, worauf eine Wohnquartiersbeschreibung aufbaut.

2. Zur Theorie sozial-räumlicher Differenzierung

Ausgangsbasis für Prozesse einer differenzierten sozial-räumlichen Verteilung von Be- wohnern über den Raum ,,Stadt" ist eine hochgradig arbeitsteilige Gesellschaft. Hierbei definieren sich soziale Gruppen einerseits selbst als separate Statusgruppen; andererseits werden diese auch über eine gesellschaftliche Fremdeinschätzung hinsichtlich ihres ~ r u ~ ~ e n s t a t u s definiert. Über die Definition des Gruppenstatus per Fremdeinschätzung werden soziale Gruppen mit anderen sozialen Gruppen zu größeren Einheiten zusam- mengefaßt. Diese Fremdeinschätzung gründet auf Variablen des sozio-ökonomischen Status wie „Status der Herkunftsfamilie", ,,BildungcL, ,,berufliche Stellung", ,,Einkom- men" bzw. „Kreditwürdigkeitcc; sie berücksichtigt aber auch das „Prestigeu einer Status- gruppe, definiert über „Stellung und Autonomie im Beruf', ,,Prestigeu des Berufes undloder des Arbeitgebers (BolteJHradil 1984; König 1985) sowie einen gruppenspezifi- schen Lebensstil (vgl. Blasius 1993).

Der einmal über die berufliche oder gesellschaftliche Karriere erreichte Statuswert, der die aktuelle Position in einer Rangordnung der gesamtgesellschaftlichen Status-Hierar- chie widerspiegelt, wird in der Regel umgesetzt in äußerlich sichtbare Merkmale (Friedrichs 1977: 216 ff.; Hoffmeyer-Zlotnik 1986). Hierzu zählt auch eine räumliche Abgrenzung auf dem Wohnungsmarkt (vgl. u.a. Burgess 1925; ShevkyIBell 1955; Hamm 1979; Hoffmeyer-Zlotnik 1979, 1984, 1993; Friedrichs 1995).

Räumliche Differenzierung hat zur Voraussetzung, daß es eine ungleiche Verteilung von sich unterscheidenden Wohnquartierstypen über das gesamte Stadtgebiet gibt. Hierbei weisen die unterschiedlichen Wohnquartierstypen einen jeweils gebietsspezifischen

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„Wohnwertc' auf, welcher dann wieder spezifische „Wohnansprüche" befriedigt (vgl. Bourdieu 199 1).

Sozial-räumliche Differenzierung verläuft zunächst über den Prozeß der Segregation. Se- gregation resultiert vorrangig aus der bei allen sozio-ökonomisch undIoder ethnisch de- finierten Teilgruppen einer industriellen oder postindustriellen Gesellschaft mehr oder weniger stark ausgeprägt anzutreffenden Tendenz, unter Seinesgleichen in einem poten- tiellen System sozialer Kontakte zu siedeln. Segregation befördert damit das Herausbil- den von statusgruppendominant besiedelten Nachbarschaften oder Milieus.

Segregiertes, statusgruppenspezifisches Wohnen wird über einen segmentierten Woh- nungsmarkt gestützt und gelenkt (Ipsen 1980). Denn weder im Sozialismus der DDR (vgl. Hoffmeyer-Zlotnik 1978; Friedrichs 1978), noch in der marktwirtschaftlich orien- tierten Bundesrepublik existierte bzw. existiert ein einheitlicher Wohnungsmarkt. Der Wohnungsmarkt, egal ob über private Wohnungsanbieter oder über staatliche Zuteilung funktionierend, untergliedert sich in den größeren Städten in drei bis vier gruppenspezifi- sche Wohnungsteilmärkte, welche jeweils für eine definierte Teilpopulation der Gesamt- bevölkerung zugänglich sind. Gelenkt und kontrolliert wird das statusgruppenspezifische Siedeln über die Vergabepraxis der privaten oder staatlichen Wohnungsanbieter und deren Agenten (Kreibich 1985). Dies geschieht bei statushohen Gebieten, um ein Absinken des Quartiersstatus und damit einen Wertverlust der Immobilie zu verhindern, bei statusnied- rigen Gebieten, um vor einem anstehenden Erneuerungsprozeß oder Nutzungswandel noch eine möglichst hohe Rendite zu erwirtschaften (Ipsen 1980).

Die oberen Statusgruppen haben auf dem Wohnungsmarkt im Prinzip die größte Wahl- freiheit: Ihnen steht es weitgehend frei, auch in Teilmärkten, die den statusniedrigeren Bevölkerungsgruppen vorbehalten sind, Wohnungen anzumieten. Mit sinkendem sozia- lem Status aber sinkt auch die Wahlmöglichkeit auf dem Wohnungsmarkt: Die unteren Statusgruppen bleiben auf den ihnen vorbehaltenen Wohnungsteilmarkt beschränkt.

Wohnungsteilmärkte sind selbst aber keine schichthomogen besiedelten Wohnquartiere, da sie mehreren benachbarten Statusgruppen gleichzeitig offen stehen. In erster Linie bieten die Wohnungsteilmärkte ihren Bewohnern die Möglichkeit, sich vor dem Eindrin- gen sichtbar statusniedrigerer Gruppen zu schützen.

Vor diesem Hintergrund bedeutet sozial-räumliche Differenzierung: Als Bewohner einer Stadt und Inhaber eines sozio-ökonomischen undloder ethnischen Status wird die Mehr- heit der Städter danach trachten, sofern ihnen die Zugehörigkeit zu ihrer Statusgruppe Wahlmöglichkeiten auf dem Wohnungsmarkt läßt, sich unter der „richtigenu Adresse an- zusiedeln. Die ,,richtige" Adresse bedeutet statusadäquates Siedeln.

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3. Wohnquartiersvariablen und lndexbildung

Für die Typisierung städtischer Wohnquartiere müssen die Merkmale herausgefiltert wer- den, die Quartierstypen spezifizieren: Diese Merkmale sind ,,Lageu, „Dichteu und ,,Nut- zung" (vgl. Burgess 1925; Boustedt 1966; Hoffmeyer-Zlotnik 1984). In einem zweiten Schritt müssen, mit Hilfe der drei zentralen Variablen, Indizes gebildet werden.

Alle Nutzungen, auch die Nutzung „Wohnen", sind abhängig von der „ErreichbarkeitU in Raum und Zeit. „ErreichbarkeitU ist bedingt durch die ,,Lage" einer Nutzung, d.h. durch deren ,,Lagebc innerhalb eines Siedlungsraumes bzw. durch deren ,,Lagec' zum nächster- reichbaren zentralen Geschäftsbezirk eines großstädtischen Siedlungsraumes. „Erreich- barkeit" ist ein Indikator für „Zentralität" oder „DezentralitätU. Diese Lagevariable Iäßt sich sinnvoll messen durch die zurückzulegende Wegestrecke von einer Nutzung oder einem städtischen Teilgebiet zum zentralen Geschäftsbezirk.

Im Sozialwissenschaften-Bus haben die Befragten als Experten für ihr Wohnquartier auf die Frage antworten sollen: ,,Wie weit ist das (Großstadt-)Geschäftszentrum der Innenstadt von dem Haus, in dem Sie wohnen, entfernt?"

Für den Interviewer erläuternd wurde hinzugefügt: „Befragungsperson soll diese Frage für die Großstadt, in der sie lebt, beantworten bzw. falls sie nicht in einer Großstadt lebt, für die von ihr aus nächstgelegene Großstadt."

Die möglichen Antwortkategorien sind: ich wohne im Großstadt-Geschäftszentrum selbst ich wohne bis 500 m vom Geschäftszentrum entfernt ich wohne 500 bis 1000 m entfernt ich wohne in etwa 1 bis 2 km Entfernung ich wohne in etwa 2 bis 10 km Entfernung ich wohne in etwa 10 bis 25 km Entfernung ich wohne weiter als 25 km vom Geschäftszentrum entfernt.

Wichtig ist, daß „Lage" hierbei nicht über die theoretisch kürzeste Entfernung, 2.B. Luft- linie, definiert wird, sondern über die mit dem wenigsten Aufwand an Zeit und Kosten verbundene Wegstrecke.

,,Lage6' steht in gewisser Hinsicht auch für ein Gefühl von Lebensqualität. Die Städte in Mitteleuropa sind von innen nach außen gewachsen. Der alte Stadtkern einer Großstadt bildet heute nicht nur die Innenstadt dieser Großstadt, sondern er stellt für einen großen Einzugsbereich das Oberzentrum und damit den zentralen Geschäftsbezirk dar, in dem

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die langfristigen Konsumgüter sowie zentrale Dienstleistungen zu erwerben sind. Um diese Großstadtkerne sind in den Gründerjahren, der Zeit der ersten großen neuzeitlichen Stadtexpansion, die Arbeitenvohnquartiere, u.a. die Mietskasernengürtel, entstanden. Der innere Teil dieses hochverdichteten Gürtels stellt einerseits, als Expansionsgebiet für den tertiären Sektor, ein Spekulationsgebiet mit verkommender Wohnbausubstanz und niedri- gem Quartiersstatus dar, ist andererseits aber auch gekennzeichnet durch modernisierte, große Wohnungen der oberen Statusgruppen. Der Mietskasernengürtel ist dort, wo er in den Gründerjahren als industrienahes Arbeitenvohnquartier entstand, ob saniert oder nicht, auch heute noch Arbeitenvohnquartier. An der alten Stadtperipherie dieser ersten Expansionsphase der Gründerjahre liegen bis heute die besseren Siedlungsgebiete der ge- hobeneren Statusgruppen. Erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg sind, in Zusam- menhang mit der Suburbanisierung, an der Stadtperipherie hochverdichtete Wohngebiete entstanden. In diesen hat, soweit es die alten Bundesländer betrifft, über die Jahre ein Entmischungsprozeß stattgefunden, so daß sich heute in diesen Quartieren die unteren sozialen Schichten als dominante Gruppen herausgefiltert haben. Hingegen sind in den neuen Bundesländern, trotz eines auch hier einsetzenden Entmischungsprozesses, die suburbanen Hochhausquartiere, im Nachklang an die Wohnungsbewirtschaftung der DDR, am Ende der ersten Hälfte der neunziger Jahre noch eher von den mittleren sozia- len Schichten besiedelt. Neben den hochverdichteten peripheren Wohnsiedlungen, den ,,Mietskasernen" der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, liegen am Stadtrand auch nied- rigverdichtete Reihen- oder Einzelhausgebiete. Diese Bebauungstypen aus unterschiedli- chen Bauperioden stellen, in Verbindung mit der Entfernung von der Innenstadt einer Großstadt, ein Maß für ,,Dichteu dar.

,,DichtebL ist in Mitteleuropa neben der Variable ,,Lage6' der wichtigste Indikator zur Be- schreibung von städtischen Wohnquartieren. Im Survey wird „Dichteu abgefragt über die Art der Wohngebäude der unmittelbaren Umgebung des eigenen Hauses, der eigenen Wohnung: „Von welcher Gebäudeart sind die Wohngebäude, die - rechts und links sowie gegen- über - oder vor oder hinter Ihrem Wohnhaus gelegen sind? Also, wie sind die Nachbar- wohngebäude zu charakterisieren?"

Für diese Aufgabe wird der Befragungsperson eine optische Hilfe angeboten über eine Liste mit Fotos bzw. Skizzen von 10 unterschiedlichen Gebäudetypen: „Bitte sehen Sie einmal die Bilder auf dieser Liste an und nennen Sie mir den Buchstaben des Bildes, das ihre direkte Nachbarschaft hier am besten beschreiben würde. Am besten paßt Bild: ..."

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Hoffmeyer-Zlotnik: Welcher Typ Stadtbewohner dominiert welchen Typ Wohnquartier? 4 1

Es sind die folgenden Gebäudetypen abgebildet: freistehende Ein- und Zweifamilienhäuser Villen Einfamiliendoppelhäuser freistehende Mehrfamilienhäuser Reihenhäuser geschlossene Blockrandbebauung geschlossene Blockrandbebauung mit mehreren Höfen Zeilenbauweise, mehrgeschossig Terassenhäuser Wohnhochhäuser.

Gefragt wird nicht nach dem Typ Gebäude, in dem die Befragungsperson lebt, sondern nach jenem Typ Wohngebäude, der die unmittelbare Umgebung der Wohnung der Befra- gungsperson prägt. In diese Typisierung der in einem Quartier überwiegenden Gebäude gehen Annahmen über Größe und Höhe der Gebäude, Anzahl der Wohnungen und Ge- schlossenheit und Kompaktheit der Bebauung ein.

Da sich „Dichteu in unterschiedlichen Gebäudetypen niederschlägt und unterschiedliche Gebäudetypen unterschiedliche Wohnungstypen aufweisen, die das Herausbilden unter- schiedlicher Formen von Nachbarschaft beeinflussen, ist der Schluß zulässig, daß mit unterschiedlicher Bebauung auch unterschiedliche Wohnformen einhergehen. Unter- schiedliche Wohnformen ihrerseits beeinflussen unterschiedliche Lebensstile.

,,Lageu, in Zusammenhang mit der „Art der Bebauung", ist auch ein Indikator für ,,Zentralität": Kurze Entfernung zum „Zentralen Geschäftsbezirk" in Verbindung mit ei- ner hohen Bebauungsdichte und eine wachsende Entfernung vom Zentrum mit wechseln- der Bebauungsdichte, in Suburbia wieder stark angestiegen. Ausgehend von einem - ide- altypisch gedacht - konzentrischen Aufbau der Gesamtstadt um den zentralen Geschäfts- bezirk und einem ebenfalls konzentrischen Aufbau der unterschiedlichen Stadtteile um eine größere Anzahl lokaler, nachgeordneter Zentren, gliedern sich die großstädtischen Wohnquartiere nach „Lageu und „Dichtea grob in Zonen: Das Zentrum ist definiert als Geschäftsbezirk. Hier wird die Nutzung ,,Wohnenu nicht ausgeschlossen, existiert aber nachgeordnet neben den Nutzungen „Gewerbebc und „Dienstleistungu. Um ein Zentrum herum befindet sich als zweite Zone ein potentielles Zentrumsenveiterungsgebiet, ein Gebiet in dem die existente Nutzung „Wohnenu in einigen Teilbereichen früher oder spä- ter durch die Nutzung ,,Gewerbeu oder ,,Dienstleistung" ersetzt werden wird, in anderen Teilbereichen durch Modernisierung für spezifische großstadttypische Gruppen reserviert wird. An diese beiden inneren Zonen schließen sich dann, als weitere Zonen, relativ klar

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einzelnen Wohnungsteilmärkten zuzuordnen, Wohngebiete der Arbeiter, der Mittel- schichten und der Oberschichten an, wobei die Suburbs eine gesonderte Betrachtung er- fahren müssen. Aussagen über die Sozialstruktur der Bewohner sind bei diesem Modell für die ersten beiden Zonen „Zentrum" und „Zone im Übergangx nur bedingt möglich, handelt es sich hierbei doch um Zonen mit sehr heterogener Sozialstruktur.

Da der Index „ZentralitätU nur für Wohnquartiere zu interpretieren ist, also „Zentrenu und andere Bereiche mit Nicht-Wohnnutzung festgestellt und wegen der Heterogenität ihrer Bewohnergruppen aus einer Wohnquartiersbestimmung herausgenommen werden sollten, ist ein „Urbanitäts"-Index wichtig. Dieser wird gebildet über die Variablen „Lageu und „Nutzungu und ermöglicht es, jegliche Art von größerem Bereich mit Nicht-Wohn- nutzung, unterschieden nach Erreichbarkeit und Nutzungsart, aufzuzeigen. Hierbei sind besonders die innerstädtischen Nutzungen des tertiären und quartären Sektors zu berück- sichtigen: Handel, Dienstleistungen und öffentliche und private Verwaltung.

,JVutzung" wird im Sozialwissenschaften-Bus gemessen über die Abfrage: ,,Sind in unmittelbarer Nachbarschaft Ihres Hauses:

nur Wohngebäude auch eine Ansammlung von mindestens vier Läden mit Gütern für den täglichen Be- darf, die sich unter einem Dach befinden auch Wohngebäude mit LädedKneipen auch Fabrik(en) auch mindestens ein Geschäfts-, Büro-(Hoch-)haus, Öffentliche Einrichtungen auch landwirtschaftlich genutzte Gebäude wie Stall, Scheune, Schuppen für Maschi- nen und ähnliches".

Die Abfrage der überwiegenden Nutzungsart jenes kleinen städtischen Teilbereiches, in dem sich die Wohnung der Befragungsperson befindet, dient der Charakterisierung des Wohnquartiers. Hierbei gibt die Nähe zu spezifischen Nutzungen nicht nur den Charakter eines Quartiers wider, sondern ermöglicht Rückschlüsse auf die Lebensqualität in einem Quartier und auf den Lebensstil von dessen Bewohner.

Der Index ,,Wohnquartier", als der dritte und zentrale Index, zeigt auf, welchem Woh- nungsteilmarktsegment ein Wohnquartier zuzurechnen ist. Dieser Index gilt immer dann, wenn der selektierte Wohnungsmarkt sich über das Vorhandensein von Wohnungsangebot und Wohnungsnachfrage entwickeln kann. Damit erlaubt dieser Index Rückschlüsse auf die in einem bestimmten Wohnquartier wahrscheinlich dominante Bevölkerungsgruppe. Gebildet wird der Index ,,Wohnquartieru über eine Addition der Werte der Variablen ,,Lageu, ,,Dichteu und „Nutzungu. Die Werte für ,,Lageu steigen von der Peripherie „25

km und mehr zum Zentralen Geschäftsbezirk" (=I) bis zum „Zentralen Geschäftsbezirk''

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(=10); die Werte für „Dichtecc steigen mit der Geschoßflächenzahl der Bebauungstypen von der „Villa" (=I) bis zur „geschlossenen Blockrandbebauung mit mehreren Höfen" (=10); die Werte für ,,Nutzungu werden über das Ordnen der angekreuzten Kategorien nach dem jeweils dominantem Wirtschaftssektor gewonnen und steigen von der alleini- gen Zugehörigkeit zum „Primären Sektor" (=I ) bis zur alleinigen Zugehörigkeit zum „Quartären Sektor" (=10). Die Werte des Index beschreiben folgende städtische Teilge- biete (siehe Tabelle I) , wobei die Siedlungstypen „großstädtischer Agglomerationsraum" (mindestens 100.000 Einwohner) sowie „Mittelstadtu (20.000 bis unter 100.000 Einwoh- ner) und „ländliche Kleinstadt" (5.000 bis unter 20.000 Einwohner) zu unterscheiden sind. Für Siedlungsregionen mit weniger als 5.000 Einwohnern läßt sich kein Wohnquar- tiersindex anwenden.

(1) Ein „Zentrumu ist allgemein charakterisiert durch seine zentrale Lage, durch seine kompakte Bebauung und durch einen sehr hohen Anteil von Läden und Büros. Der ,,Zen- trale Geschäftsbezirk des Oberzentrums" ist per Definition auf den Großstadtbereich be- schränkt. Es ist der Ort höchster Zentralität, an dem für einen weiten Einzugsbereich die höchste Konzentration von höherwertigen Konsumgütern und zentralen Dienstleistungen zu finden ist.

(2) ,flachgeordnete Zentren" sind in der Regel in mittlerer Entfernung vom zentralen Ge- schäftsbereich gelegen. In diesem Fall werden als nachgeordnete Zentren auch die Zen- tren von Mittelstädten und Kleinstädten verstanden, da diese dem Oberzentrum gegen- über eine nachgeordnete Funktion wahrnehmen.

(3) Die „Zone im Übergangc' zeichnet sich durch eine geringe Entfernung zum Zentrum aus, wobei es für diesen Gebietstyp nur einen größenmäßigen Unterschied macht, ob es sich bei dem benachbarten Zentrum um ein Zentrum der ersten oder der zweiten Katego- rie handelt. Die „Zone im Übergang" schließt oft direkt an das für eine Stadt oder einen Stadtteil geltende Zentrum an und zeigt den möglichen Expansionsbereich dieses Zen- trums auf. Eine Trennung zwischen ,,Zone im Übergangu und dem das Zentrum umge- bendem Innenstadtbereich ist oft nicht möglich. Dieser Stadtbereich ist ausgewiesen durch eine kompakte Bebauung und beherbergt, zusätzlich zu einer Wohnnutzung mit sehr unterschiedlicher Qualität, auch Büros undloder Läden.

(3) Sofern vorhanden ist das „ Westend' der Gründerzeit heute als Expansionsgebiet für zentrale Dienstleistungen zu sehen. Bei Städten, die innenstadtnahe alte Industriewerke oder einen Hafen haben, sind diese Regionen ebenfalls der dritten Zone zuzurechnen. In diesen Quartieren können unterschiedliche soziale Gruppen dominieren, abhängig von der Entwicklung der einzelnen Stadt, denn diese städtischen Siedlungsgebiete befinden

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sich heute oft in einer Umstmkturierung und weisen daher nur zu oft sowohl einen Teil „gold coast" als auch einen Teil „slum" auf.

Tabelle 1: Ausprägungen des Index „Wohnquartieru

Wertebereich *) I Wohnauartierstvri Großstadt 10 9-7 8

Mittelstadt

7

7-5

9-7 8-7

5 -4

Landstadt

6-5

5 -4 4-2

len

(1) Zentraler Geschäftsbezirk. Oberzentrum 9-7

4

2 .1

(4) Die ,JrbeitemohnquartiereLL in den alten Bundesländern zeichnen sich in ihrer Mehr- zahl aus durch eine mittlere bis geringe Entfernung zum Zentrum. Sie weisen in der Re-

(2) Zentrum, A- und B-Zentren (3) "Zone im Übergangv, Innenstadtbereiche

6-5

4-3 3 -2

gel eine kompakte Bebauung auf und es handelt sich hierbei um Gebiete mit gemischter Nutzung, d.h. hier liegen auch Fabriken undloder Büros. Die Bewohnerstrukturen sind jedoch relativ homogen.

(3) altes "Westend". auch: innenstädtische Altindustrien, Hafen (3) altansäßige Bevölkerung (4) Arbeiterwohnquartier6, "Mietskasernen"

5 4

* Die Wertebereiche ergeben sich über eine gewichtete Addition der drei Variabl "Lage", "Dichte" und "Nutzung".

2 1

(5) Die ,peripheren Hochhausgebiete" sind, je nach Lage und nach vorhandenem Zen- trum unterschieden, in den Kategorien „bürgerliches Wohnquartier" oder „Arbeiter- wohnquartierc' anzusiedeln. Dabei kann man davon ausgehen, daß die Mehrheit der Suburbs in den westlichen Bundesländern Anfang der 90er Jahre schon eine statusnied-

(5) Suburbs (6) neuangesiedelte Bevölkerung, Pendler

3 -2

rigere Bewohnerpopulation aufweisen als die Großplattenbausiedlungen in den neuen Bundesländern. Der Suburbanisierung vergleichbar sind die im kleinstädtischen, Iändli- chen Raum entstandenen Siedlungen von Ein- und Zweifamilienhäusern für eine in die ,,Naturu expandierende städtische Mittelschicht.

(6) "bürgerliche" Wohnquartiere (7) mittlere bis obere Mittelschichten

1-2

(6) Die „bürgerlichen Wohnquartierecc zeichnen sich überwiegend aus durch zumeist mittlere Entfernung zur Innenstadt. Sie weisen eher eine Mehrfamilienhaus- und Reihen- hausbebauung auf, aber auch eine Zeilenbauweise kann vorhanden sein. Diese Quartiere

(8) obere Schichten (9) ländlicher Bereich, Peripherie

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sind keine reinen Wohngebiete, sondern werden oft geprägt durch eine zusätzliche ge- werbliche Nutzung.

(7) Die „ Wohnquartiere der mittleren bis oberen Mittelschichten" zeichnen sich aus durch eine mittlere Entfernung zur Innenstadt. Sie haben eine eher niedrige Bebauung, zumeist bestehend aus freistehenden Gebäuden. Es handelt sich bei diesen Quartieren in der Regel um reine Wohngebiete.

(8) Die „Wohnquartiere der oberen Schichten" zeichnen sich aus durch eine relativ peri- phere Lage und eine niedrige, freistehende Bebauung für 1 bis 2 Haushalte pro Gebäude, die fast ausschließlich zu Wohnzwecken dienen. Hiermit soll allerdings nicht angedeutet werden, daß die oberen Schichten ausschließlich in diesem Quartierstyp zu finden sind. Es wurde schon erwähnt, daß auch in der „Zone im Übergangc' ein Teil der ,,gold coast" liegt. Der innenstadtbezogene Anteil der „gold coast" wird mit zunehmender Gentrifica- tion und einem seit Jahren beobachtbaren „filtering up" der Innenstädte in stärkerem Maße zunehmen.

(9) An der städtischen Peripherie beginnt der ländliche Bereich mit niedrigec aufge- lockerter Bebauung für Wohnen und Landwirtschaft. Über die Stadtflucht der Städter und über eine Ausdehnung der Pendlerzone werden zunehmend mehr ländlich geprägte Dör- fer im Einzugsbereich der Städte zu neuen „Vorstädten", dominiert von den mittleren so- zialen Schichten der Städter.

4. Exkurs: BIK-Stadtregionen

Eine Betrachtung von Wohnquartierstypen ist erst vor dem Hintergrund von unterschied- lichen Typen des städtischen Siedlungsraumes möglich. Zur Typisierung des städtischen Siedlungsraumes dient hierbei der BIK-Index der Stadtregionen (BIK Aschpurwis + Behrens GmbH 1992; Behrens 1994): Der BIK-Index der Stadtregionen klassifiziert die Siedlungsgebiete der Bundesrepublik nach den Merkmalen „Größebc, ,,Dichteu, „Strukturu und „Verflechtungu.

Vom Boustedt-Index (vgl. Boustedt 1966) unterscheidet sich der Index der BIK-Stadtre- gionen durch einige zentrale Überlegungen: Dichte wird im Gegensatz zum Boustedt-In- dex als „Tagbevölkerungsdichte" gemessen, d.h. Einwohner plus Einpendler minus Aus- pendler bezogen auf die Fläche. Hinzu kommen Variablen wie durchschnittliche Wohn- fläche pro Wohnung, Anteil der Eigentümerwohnungen und Anteil der Einpersonenhaus- halte.

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Die Definition der einzelnen Strukturtypen, die als Bereiche gesehen werden, geschieht über die Werte der Tabelle 2 (siehe Behrens 1994: 35f.).

Tabelle 2: Vier Strukturtypen, nach denen sich die Gemeinden innerhalb der Stadt- regionen differenzieren lassen

Der „Kernbereich Die zentralörtliche Bedeutung der Kernstädte wird deutlich durch die hohe Tagbevölke- rungsdichte von durchschnittlich 1.387 Personen pro qkrn. Der Kernbereich enthält in der Regel hochverdichtete Zentren sowie angrenzende Gemeinden mit hoher Verdichtung. Als Sonderfalle sind die Multikernstrukturen zu betrachten. Liegen mehrere große Zen- tren auf engem Raum zusammen, können sich keine eindeutigen Einzugsbereiche ab- zeichnen. In solchen Fällen, wie z.B. im Ruhrgebiet, WiesbadedMainz, NürnbergIFürthl Erlangen wurden im Rahmen der Zielpendleranalyse manuelle Bereinigungen vorge- nommen. Auf der sozioökonomischen Seite ist der Anteil der Einpersonenhaushalte mit 32% überdurchschnittlich, der Anteil der Eigentümenvohnungen und die Wohnfläche pro Wohnung unterdurchschnittlich.

StnikhuSp

Kernbereich Verdichtungsber. Übergangsber. Peripherer Ber. Gesamt

Der ,,Verdichtungsbereich" Die Gemeinden im Verdichtungsbereich einer Stadtregion haben mit 525 Personedqkm eine geringere Tagbevölkerungsdichte. In diesen „verstädterten Zonen" ändern sich die Sozialstrukturen hin zu mehr Eigentümenvohnungen (Eigenheime), mehr verfügbarer Wohnfläche und einem geringeren Anteil von Einpersonenhaushalten.

Der ,,Übergangsbereichu Während der Verdichtungsbereich deutlich gekennzeichnet ist von den Suburbanisie- rungsprozessen, ist in zonaler Betrachtungsweise der Übergangsbereich auch noch durch die Stadt-Umland-Ausbreitungseffekte geprägt. Die Tagbevölkerungsdichte nimmt auf- grund der Wirtschafts- und Infrastrukturausstattung erheblich ab, während der Anteil der Eigentümenvohnungen mit 62% bestimmend ist, verbunden mit Wohnflächen von durch-

Tagbev.- Dichte

1.387 525 168 54

297

Anteil Eigen- tümer-

Wohnungen 41.63 50.62 61.96 67.41 60.87

Wohnfläche pro Whg.

8 1.93 92.19

102.85 108.09 101.70

Anteil Einpers.Haushalte

32.09 27.3 1 22.98 18.80 22.70

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Hoffeyer-Zlotnik: Welcher Typ Stadtbewohner dominiert welchen Typ Wohnquartier? 4 7

schnittlich 103 qm. Das korrespondiert mit .einem geringen Anteil an Einpersonenhaus- halten.

Der ,,Periphere Bereich" Dieser Bereich ist gekennzeichnet durch die eher ländlichen (Wohn-) Gemeinden mit ge- ringer Bevölkerungsdichte und hohem Auspendleranteil. Im Vergleich zum Übergangsbe- reich steigt der Anteil der Eigentümenvohnungen und die verfügbare Wohnfläche an; der Anteil der Einpersonenhaushalte sinkt auf 19%.

5. Die Verteilung der Wohnquartierstypen über die Stadtregionen

Unter der Annahme, daß die Mechanismen der Wohnungsmarktselektion sich nicht schon von Regionstyp zu Regionstyp unterscheiden, sondern daß eine gröbere als die BIK-Ty- pisierung zur Regionsklassifikation reicht, wird, aufbauend auf den BIK-Stadtregionen, nach ,,Landu (Siedlungsregionen mit unter 5.000 Einwohnern), „kleinstädtischen Sied- lungsregionen" (Regionen mit 5.000 bis unter 20.000 Einwohnern), „mittelstädten Sied- lungsregionen" (Siedlungsregionen mit 20.000 bis unter 100.000 Einwohnern) und „großstädtischen Agglomerationsräumen" (Siedlungsregionen mit 100.000 und mehr Ein- wohnern) unterschieden.

Der Bereich ,,Landu umfaßt alle Siedlungsräume, die von weniger als 5.000 Personen bewohnt werden. Diese Siedlungsgebiete weisen ländlichen Charakter auf und sind noch nicht zur „Vorstadtu mutiert. Da in diesen Orten der Anteil der „Fremdenu, der Zugezo- genen, relativ niedrig ist, und da der Wohnungsmarkt nicht städtischen Regeln folgt, muß dieses Segment aus der Betrachtung der Wohnquartiere herausgenommen werden. Bei dem vorliegenden Survey bedeutet dies einen Verlust von 214 Interviews im Westen und 247 Interviews im Osten.

Der kleinstädtisch-ländliche Siedlungsraum umfaßt alle Siedlungsräume, die um einen Kern herum zwischen 5.000 und 20.000 Einwohner aufweisen. Hierbei zählt nicht allein der administrative Bereich der Gemeinde, sondern es wird die Verflechtung zwischen ei- ner betrachteten Kleinstadt und allen dieser benachbarten Dörfer berücksichtigt, soweit die benachbarten Dörfer als funktionale Einheit der betrachteten Stadt zu sehen sind. Der Verflechtungszusammenhang zwischen Stadt und Umland wird allerdings nicht immer von den Betroffenen wahrgenommen: 29% der in diesem Siedlungstyp angetroffenen Be- fragten leben in ihrer subjektiven Wahrnehmung im Dorf, nicht in der Kleinstadt. Insge- samt werden im kleinstädtisch-ländlichen Bereich 460 Befragte angetroffen von denen nur eine Minderheit von 21% in den innerstädtischen Quartieren und die Mehrheit von

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5 1% eher außerhalb des Kerns leben. 29% der Befragten in diesem Stadttyp siedeln laut Index an der ländlichen Peripherie. Genau genommen kann man diesen Stadttyp der ,,ländlichen Kleinstadt" nur schwer mit den beiden anderen Stadttypen vergleichen. Schon in der Untergliederung ist dieser Stadttyp (bei nicht existierenden Suburbs) nur in finf Quartierstypen zu unterteilen, in:

das „Zentrumu, Wohnquartier für 5% der Befragten. Das Zentrum in der ländlichen Kleinstadt ist nicht nur der Standort für Handel, Dienstleistung und öffentliche Insti- tutionen, sondern stellt bis heute oft ein traditionelles Wohngebiet des lokalen Bürger- tums dar, das „Quartier der altansässigen Bevölkerung", Wohnquartier für 16% der befragten Kleinstädter. Dieser Bereich stellt, zusammen mit dem Zentrum, den Innenstadtbe- reich dar. Dieses bedeutet allerdings nicht, daß wie im Zentrum eine geschlossene Blockrandbebauung vorherrscht, sondern 59% der Befragten berichten von einem mehr oder weniger großem Abstand zwischen dem von ihnen bewohnten Haus und dem benachbarten Wohngebäude. Die in diesem Bereich der ländlichen Kleinstadt anzutreffende Bebauung wurde in der Regel vor 1930 erstellt (ohne durch diese Zeit- angabe den Wiederaufbau nach dem Krieg oder die SanierungiModernisierung oder nur einem Umbau innerhalb der letzten 30 Jahre ausschließen zu wollen). Dieser Quartierstyp wird von der altansässigen, bürgerlichen Bevölkerung der Kleinstadt dominiert; nur in Ausnahmefällen im Quartierszusammenhang, oft nur als einzelne Häuser anzutreffen, liegen in diesem Stadtbereich ,,Inseln der Fremdheit", das ,,Quartier der neuangesiedelten Bevölkerung", Wohnquartier für 24% der Befrag- ten. Dieser Quartierstyp ist in der Regel das dichter bebaute Dorf- oder Stadterweite- rungsgebiet, bebaut im zweiten bis dritten Drittel dieses Jahrhunderts. Für 50% der Fälle berichten die hier lebenden Befragten ein direktes Aneinandergrenzen der Wohngebäude. In Ostdeutschland befinden sich in diesem Quartierstyp oft kompakte Zeilenstrukturen, erbaut in den letzten dreißig Jahren. Hier zeigt sich auch ein deutli- cher Unterschied zwischen West- und Ostdeutschland: im Westen leben in diesem Quartierstyp 20% der Befragten, im Osten 35%, das „Quartier der mittleren bis oberen Mittelschichten", Wohnquartier für 26% der Befragten. Hier dominiert die niedrige Bebauung mit Abstand zum Nachbargebäude: Nur bei 36% der Befragten grenzt deren Wohngebäude an das Nachbargebäude, in 52% der Fälle wird ein Abstand zwischen den Wohngebäuden von bis zu 50 Metern und in 11% der Fälle von über 50 Metern berichtet, das „ländlich-periphere Quartier", Wohnquartier für 29% der Befragten. Nur in sel- tenen Fällen (17%) ist in diesem Quartierstyp das Wohngebäude des Befragten kein alleinstehendes Gebäude mit Abstand zum Nachbargebäude. In diesem Quartierstyp

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ist der zweite West-Ost-Unterschied anzutreffen: 33% der im Westen befragten Kleinstädter leben im ländlich-peripheren Quartierstyp, im Osten sind es nur 18%. Dieses heißt, daß im Osten der bäuerlich-ländliche Bereich bisher in einem wesent- lich geringeren Ausmaß zur Vorstadt geworden ist.

Die als mittelstädtisch definierten Siedlungsgebiete umfassen, wiederum unabhängig von den administrativen Abgrenzungen der Städte, Siedlungsräume mit 20.000 bis unter 100.000 Einwohnern. Im Prinzip ist diese Bandbreite zu groß, um von einem Stadttyp zu sprechen, denn eine Stadt mit 20.000 Einwohnern ist ein deutlich überschaubareres Siedlungsgebiet als eine mit knapp 100.000 Einwohnern. Auch ein Teil der Befragten se- hen sich in einem völlig anderen Stadttyp, als er durch die hier gemachte Zuordnung vor- gegeben wird: Etwa 5% der Befragten in diesem Stadttyp erleben sich im kleinen Dorf (bis 500 Einwohner), etwa 14% im großen Dorf (bis 5.000 Einwohner), weitere 17% se- hen ihren Wohnort als Kleinstadt mit weniger als 20.000 Einwohnern; 62% der Befragten identifizieren ihren Wohnstandort als in einer Mittelstadt zwischen 20.000 und 100.000 Einwohnern gelegen. Diese Schwierigkeit der Zuordnung des eigenen Wohnquartieres zu einem Stadttyp basiert auf dem Problem, die Stadt-Umland-Beziehung als eine analyti- sche Einheit wahrzunehmen. Wie sehr die subjektive Wahrnehmung des ländlich-klein- städtischen Charakters die Wirklichkeit zu treffen scheint, ergibt sich daraus, daß die Be- fragten aus etwa zwei Drittel der so klassifizierten Siedlungsgebiete in einem Quartiers- typ leben, der durch das freistehende Gebäude repräsentiert wird. Aber auch für den For- scher ist es schwer, einen einheitlichen Stadttyp in der Bandbreite von 20.000 bis 100.000 Einwohnern vor Augen zu haben. Dennoch soll versucht werden, für die ganze Band- breite der in diesem Siedlungstyp auftretenden Siedlungsformen eine einheitliche Quar- tierstypologis zu erstellen.

Von den insgesamt 481 in diesem Stadttyp angetroffenen Befragten leben, versucht man eine entsprechende Zuordnung anhand der unterschiedlichen Quartierstypen, etwa 25% in der inneren Stadt, gut 70% außerhalb der Innenstadt und gute 4% im ländlich-peripheren Bereich. In der Selbstwahrnehmung verteilen sich die Bewohner etwas weniger extrem über die Stadt, denn von den 62% der Befragten, die sich in der Mittelstadt verorten se- hen 8% ihre Wohnung in der Innenstadt, 18% am Stadtrand und die restlichen 36% loka- lisieren sich zwischen Innenstadt und Stadtrand. Nun sind die Übergänge allerdings auch fließend: Inwieweit ist die kompakte Innenstadtrandbebauung noch der Innenstadt zuzu- rechnen und inwieweit sind die Wohnquartiere der städtischen Mittelschichten schon der Peripherie zuzurechnen?

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Die Unterteilung der Mittelstadt findet in acht Quartierstypen statt. Im Gegensatz zur Großstadt wird per Definition das Oberzentrum nicht besetzt. Als Quartierstypen werden unterschieden:

das „Zentrum", Wohnquartier f i r 1% der Befragten, die in diesem Stadttyp leben. Die Zentrumsbereiche der Mittelstadt unterscheiden sich stärker von jenen Zentren der ländlichen Kleinstadt. Im Zentrum der Mittelstadt ist häufiger als in dem der Klein- stadt Nicht-Wohnnutzung zu finden. Der Bereich der Zentren in den Mittelstädten müßte sich als ein sehr heterogenes Wohngebiet darstellen. Die vorliegenden Fall- zahlen lassen über diesen Quartierstyp kaum eine Aussage zu, die ,,Zone des Übergangs", Wohnquartier für 2% der Befragten. Dieser Bereich stellt neben dem Zentrum den Kern der Innenstadt dar. Es ist ein potentielles Erweite- rungsgebiet des Zentrums, aber über die Sanierung der 70er Jahre in den westdeut- schen Städten auch als Wohngebiet wieder aufgewertet worden. In den ostdeutschen Städten ist dieser Bereich der noch am stärksten durch Verfall in Mitleidenschaft ge- zogene. Auch dieser Quartierstyp müßte sich von seinen Bewohnern sowohl im We- sten als auch im Osten sehr heterogen darstellen. Dieses ist mit den vorliegenden Fallzahlen allerdings nicht zu überprüfen, das ,,Arbeitenuohnquartier", Wohnquartier für 22% der befragten Mittelstädter. Die- ser Quartierstyp ist häufig innenstadtnah. Hier dominiert eine dichte, in der Regel ä1- tere Bebauung. In 55% der Fälle grenzt das Haus, in dem der Befragte lebt, direkt an ein nächstes Wohnhaus, in 30% wird ein Abstand zwischen den Wohnhäusern von bis zu 50 Metern, in 15% von mehr als 50 Metern berichtet. Die Kompaktheit der Be- bauung ist abhängig vom Industrialisierungsgrad und der Art der vorhandenen Indu- strie in der Vergangenheit, ,,Suburbiau, Wohnquartier für nur 0,2% der Befragten dieses Surveys. unter Suburbia sollen die peripheren Hochhausgebiete, erstellt in der zweite Hälfte dieses Jahrhun- derts, verstanden werden. Suburbs sind allerdings eher ein den Großstädten zugeord- neter Quartierstyp, das ,,bürgerliche Wohnquartier", in diesem Quartierstyp leben 29% der Befragten. Bei diesem Quartierstyp zeigt sich ein Unterschied zwischen West und Ost: Im We- sten leben hier 18% der Befragten, im Osten 43% der Befragten. In diesem Quartiers- typ überwiegt eine Mehrfamilienhaus- und Reihenhausbebauung: In 60% der berich- teten Fälle grenzt ein Wohnhaus direkt am anderen an. Erst hinter diesem Quartiers- typ, in Richtung auf die Peripherie, beginnt die Einzelhausbebauung. Im Westen ist die Peripheriewanderung über die Quartiere der Mehrfamilienhausbebauung in die Quartiere der Ein- und Zweifamilienhausbebauung schon wesentlich weiter fortge- schritten,

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das ,,Wohnquartier der mittleren bis oberen Mittelschichten", Wohnquartier für 41% der Befragten. In Ergänzung zum „bürgerlichen Wohnquartier" zeigt sich bei diesem Quartierstyp der zweite West-Ost-Unterschied: Im Westen leben 55% der befragten Mittelstädter in diesem Quartierstyp, im Osten sind es nur 24% der Befragten. Das Wohnquartier wird dominiert von freistehender, niedriger Wohnbebauung. Nur in 24% der Fälle grenzen die Wohngebäude, in denen die Befragten leben, direkt an die Nachbanvohngebäude, in 59% der Fälle besteht ein Abstand zwischen den Gebäuden von bis zu 50 Metern, in 17% der Fälle liegt der Abstand zwischen den Wohngebäu- den über 50 Metern. Hier zeigt sich ein Ergebnis der westdeutschen Wohnungs- bauforderung, die den Ein- und Zweifamilienhausbau stark unterstützte; in der DDR gab es eine entgegengesetzte Wohnungsbaupolitik: Kompakter Siedlungsbau wurde gefordert, das „ Wohnquartier der oberen Schichten", Wohnquartier für knapp 1% der Befragten. Hierunter sollen periphere Wohnsiedlungen mit Einzelgebäuden, in größerem Ab- stand zueinander, verstanden werden. Damit ist dieser Quartierstyp irgendwo zwi- schen dem der mittleren bis oberen Mittelschichten und der ländlichen Peripherie an- zusiedeln und nur schwer herauszufiltern. Andererseits lebt in solchen Quartierstypen nur ein Teil der städtischen Oberschichten. In Ermangelung an Daten über diesen Quartierstyp muß dessen nähere Analyse entfallen, das „ländlich-periphere Quartier", Wohnquartier für 4% der befragten Mittelstädter. Im Westen sind es 3% im Osten 6% der Befragten, die in diesem Quartierstyp leben. In einem Drittel der Fälle beträgt der Abstand zwischen den Wohngebäuden mehr als 50 Meter, in einem weiteren reichlichen Drittel der Fälle grenzen die Wohnhäuser di- rekt aneinander. Ausgewiesen ist dieser Quartierstyp durch die Nähe zur landwirt- schaftlichen Nutzung.

Die als großstädtisch definierten Siedlungsgebiete umfassen, unabhängig von den admi- nistrativen Abgrenzungen der Städte, Agglomerationsgebiete mit mehr als 100.000 Ein- wohnern. Bei diesem Siedlungstyp müßte sich eine relativ klare Struktur von innen nach außen ergeben, durchbrochen, aber nicht aufgehoben, von Eingemeindungen gewachse- ner Städte und von der Suburbanisierung. Aber wenn auch die Strukturen klar erkennbar sind, so ist dieses über den subjektiv wahrzunehmenden, optischen Eindruck dem Be- wohner eines Agglomerationsgebietes nicht immer vermittelt, da das Agglomerationsge- biet deutlich über das administrative Großstadtgebiet hinausreichen kann: 13% der Be- fragten wähnen sich auf dem Dorf, 13% in der Kleinstadt, 2 1% in der Mittelstadt und nur 56% in der Großstadt. Hierbei dominiert die aufgelockerte Bebauung der „mittleren bis oberen Mittelschichten" bei der Kleinstadt- (68%) und der Mittelstadtwahrnehrnung (66%). In dem als Großstadt wahrgenommenem Teil des großstädtischen Agglomera-

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tionsgebietes leben nur 25% der Befragten in dem Quartierstyp der aufgelockerten Be- bauung der ,,mittleren bis oberen Mittelschichten".

Von den insgesamt 1722 in diesem Stadttyp angetroffenen Befragten leben, versucht man eine entsprechende Zuordnung anhand der unterschiedlichen Quartierstypen, etwa die Hälfte (47%) in der inneren Stadt und die andere Hälfte außerhalb der inneren Stadt. Der ländlich-periphere Bereich des großstädtischen Gebietes kommt in dieser Umfrage kaum vor (0,3%). In der Selbstwahrnehrnung verteilen sich die Bewohner etwas extremer über die Stadt: Nur 28% der Befragten, die im größstädtischen Agglomerationsgebiet leben, verorten ihre Wohnung in der Innenstadt, 18% am Stadtrand und die restlichen 54% lo- kalisieren sich zwischen Innenstadt und Stadtrand. Nun sind vor allem die Übergänge zum Stadtrand fließend: Bei der Wohnquartierstypisierung ist das Kriterium das alleinste- hende Gebäude in einem reinen Wohngebiet oder in einem mit landwirtschaftlicher Nut- zung durchzogenen Wohngebiet. In der Selbstwahrnehmung beginnt der Stadtrand für knapp zwei Drittel derer, die sich dort verorten, mit der aufgelockerten Bebauung der „mittleren und oberen Mittelschichten", der Rest ordnet kompakter bebaute Quartiersty- pen dem Stadtrand zu, wobei Suburbia mit 1 % der Fälle nicht ins Gewicht fallt.

Die Unterteilung der Großstadt findet in neun Quartierstypen statt, da bei diesem Sied- lungstyp der Quartierstyp ,,Oberzentrum" besetzt sein darf. Als Quartierstypen werden unterschieden:

das „Oberzentrum", Wohnquartier für 3% der Befragten. Das großstädtische Oberzen- trum ist nur am Rande auch ein Wohnquartier. In diesem Quartier dominieren die öf- fentliche Verwaltung, der Handel, Banken und Versicherungen sowie öffentliche und private Dienstleistungen. Das Oberzentrum ist ein heterogen besiedeltes Wohnquar- tier für kleine Haushalte. Im Osten wurde bei diesem Survey ein größerer Anteil der großstädtischen Bevölkerung im Oberzentrum angetroffen (4,7%) als im Westen

(2,4%), das „Zentrumb', Wohnquartier für etwa 6% der Befragten, die im größstädtischen Siedlungsbereich leben. Die Zentrumsbereiche der Großstadt bestehen aus Zentren zweiter und dritter Ordnung, da das Oberzentrum nicht mitgerechnet werden darf. Damit handelt es sich entweder um gewachsene Zentren eingemeindeter Mittel- oder Kleinstädte oder um neue Einkaufs- oder Bürozentren. Gerade der letztere Typ Zen- trum stellt als solches kaum ein Wohnquartier dar, ist aber unmittelbar von Wohn- quartieren umgeben, so daß bei der vorliegenden Methode der Quartiersabgrenzung eine unmittelbare Zentrennachbarschaft zum Zentrum hinzugerechnet werden muß. Der Bereich der gewachsenen, eingemeindeten Zentren in den Großstädten müßte sich als sehr heterogen besiedelter, durchaus den Zentren der Mittelstädten entspre-

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chender Wohnquartierstyp darstellen. Über die vorliegenden Daten lassen sich die unterschiedlichen Arten der B- und C-Zentren nicht unterscheiden. Der im Zentrum- bereich der Großstadt lebende Bevölkerungsanteil unter den Befragten im Osten (11%) ist mehr als doppelt so groß wie der entsprechende Bevölkerungsanteil im Westen (4%), die ,,Zone des ÜbergangsN, Wohnquartier für 4% der Befragten. Dieser Bereich stellt die zentrumsbenachbarten bzw. -nahen Quartiere dar. Die größte ,,Zone des Über- gangs" umgibt das Oberzentrum. Es ist in Teilen ein potentielles Erweiterungsgebiet des Zentrums, in anderen Teilen aber ein bevorzugtes Wohnquartier der ,,GentrifierU. Da dieser Quartierstyp auch einen großen Teil der tatsächlichen und der potentiellen Sanierungs- und Sanierungsverdachtsgebiete der 70er Jahre umfaßte, hat sich dieser Quartierstyp zum Teil als unterstes Wohnungsmarktsegment, reserviert für ethnische Minderheiten, etabliert, das ,Jrbeitenuohnquartier", Wohnquartier für 34% der befragten Großstädter. Dieser Quartierstyp ist häufig innenstadtnah. Hier dominiert eine dichte, geschlossene Blockrandbebauung, die in ihrer Struktur, unabhängig von eventuellem Wiederaufbau oder möglicher Erneuerung, auf eine Entstehungszeit vor 1940 zurückreicht. In 79% der Fälle grenzt das Haus, in dem der Befragte lebt, direkt an ein nächstes Wohnhaus an, in 17% wird ein Abstand zwischen den Wohnhäusern von bis zu 50 Metern und in 4% von mehr als 50 Metern berichtet. Die Kompaktheit der Bebauung ist abhängig vom Industrialisierungsgrad um die Jahrhundertwende. Im Osten lebt ein leicht höhe- rer Befragtenanteil (37%) in diesem Quartierstyp als im Westen (33%), ,,Suburbia", Wohnquartier für nur 0,3% der Befragten dieses Surveys. Unter Suburbia sollen, wie bei der Mittelstadt, die peripheren Hochhausgebiete, erstellt in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts, verstanden werden, das „bürgerliche Wohnquartier"; in diesem Quartierstyp leben nur 8% der großstädti- schen Befragten. Dieser Quartierstyp ist hier, im Gegensatz zur Mittelstadt (29%) re- lativ gering vertreten. Ein Unterschied zwischen West und Ost besteht nicht. In die- sem Quartierstyp überwiegt eine relativ kompakte Mehrfamilienhaus- und Reihen- hausbebauung: In 71 % der berichteten Fälle grenzt ein Wohnhaus direkt am anderen

an, das ,, Wohnquartier der mittleren bis oberen Mittelschichten", Wohnquartier für 45% der Befragten. Während im Osten, gegenüber dem Westen, ein höherer Anteil von Befragten in den kompakten innenstädtischen Quartierstypen anzutreffen ist, über- wiegen die westlichen Befragten, gegenüber dem Osten, im aufgelockerten Quartiers- typ der „mittleren bis oberen Mittelschichten" (West: 48%, Ost: 37%). Das Wohn- quartier wird dominiert von freistehender, niedriger Wohnbebauung. Nur in 37% der

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Fälle grenzen die Wohngebäude, in denen die Befragten leben, direkt an das Nach- barwohngebäude an, in 55% der Fälle besteht ein Abstand zwischen den Gebäuden von bis zu 50 Metern, in 9% der Fälle liegt der Abstand zwischen den Wohngebäuden über 50 Meter. Dieses ist wieder das Ergebnis der westdeutschen Eigenheimforde-

rung, das „Wohnquartier der oberen Schichten" ist in der Umfrage nur in 0,1% der Fälle auszumachen. Verstanden werden hierunter periphere Villenviertel. In Ermangelung an Daten über diesen Quartierstyp muß dessen nähere Analyse entfallen, das „ländlich-periphere Quartier", Wohnquartier für 0,2% der befragten Großstädter, ist ebenfalls ein Quartierstyp, der bei dieser Umfrage in der Großstadtregion kaum angetroffen wurde und daher nicht näher betrachtet werden kann.

Im ländlich-kleinstädtischen Bereich gibt es keinen West-Ost-Unterschied bei der Vertei- lung der Befragten im innenstädtischen Bereich. Der Unterschied zeigt sich in der unter- schiedlichen Wohnungsbauforderung: In den westdeutschen Kleinstädten ist der Anteil derer, die an der ländlichen Peripherie leben (mit 33%), deutlich höher als im Osten (18%). Im Gegensatz dazu überwiegt in der östlichen Kleinstadt der kompakter bebaute Quartierstyp der Neuangesiedelten (Ost: 35%, West: 20%).

Tabelle 3: Verteilung der Quartierstypen über ländlich-kleinstädtische, mittel- und großstädtische Stadtregionen in West und Ost (in Prozent)

Quelle: Sozialwissenschaften-Bus 211 995 +) Quartierstypen, die laut Tabelle 1 in einem Stadttyp nicht vorkommen; *) in dieser Kategorie sind die "Zone im ÜbergangH und die Innenstadtbereiche mit dem "alten Westend" und innerstädtischen Altindustrien, sowie Häfen zusammengefaßt.

Quartierstyp Oberzentrum Zentrum Übergangszone*) altansäßige Bev. Mietskasernen Suburb Neuangesiedelte bürgerl. Wohnq. Mittelschichten obere Schichten ländlich N =

Westdeutschland Ostdeutschland Kleinstadt

--+)

4 2 --+) 16,5 --+) --+) 20,4 --+) 26,l --+) 32,7 333

Kleinst. --+)

5,5 --+) 15,O --+) --+) 34,6 --+) 26,8 --+) 18,l 127

Mittelstadt --+)

1,5 2,2 --+) 19,3 0,2 --+) 23,6 54,6 077 3 ,o 269

Mittelst. --+)

0,5 1,4 --+) 24,5 0,o --+) 43,4 24,l 0,o 6, 1 212

Großstadt 2,4 3 ,9 4 s --+) 32,3 0,5 --+)

8,4 47,9 0,o 0,2

1.257

Großst. 4,7 10,5 3,o . --+) 3 7,4 0,o --+)

6 7 37,4 0,2 0 8 465

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Hofieyer-Zlotnik: Welcher Typ Stadtbewohner dominiert welchen Typ Wohnquartier? 55

Der größte Anteil der Befragten in den Mittelstädten lebt in den westlichen Bundeslän- dern in den aufgelockert bebauten Quartieren der ,,mittleren bis oberen Mittelschichten" (West: 55%, Ost: 24%). In den ostdeutschen Mittelstädten sind die Befragten wieder mit höherer Wahrscheinlichkeit in den dichter bebauten Wohnquartieren anzutreffen: 25% der Befragten leben in Quartieren mit geschlossener Blockrandbebauung (West: 19%) und 43% in etwas aufgelockerter bebauten Reihenhaus-dominierten Quartieren (West: 24%).

Betrachtet man die großstädtischen Siedlungsgebiete, so zeigt sich ein ähnliches Bild wie bei den Mittelstädten: Im ostdeutschen Großstadtraum lebt ein großer Anteil der Befrag- ten in kompakt bebauten Vierteln mit geschlossener Blockrandbebauung: In unterschied- lichen Zentrentypen im Osten 1596, im Westen 6% und in den Mietskasernenvierteln im Osten 37%, im Westen 32%. Im Westen hingegen leben fast die Hälfte der befragten Großstadtraumbewohner in den locker bebauten Wohnquartieren der Mittelschichten (Westen 48%, Osten 37%). Befragte von der ländlichen Peripherie sind im großstädti- schen Siedlungsraum weder im Westen noch im Osten anzutreffen.

6. Welcher Typ Bewohner dominiert welchen Typ ,,Wohn- quartier"? Eine Unterscheidung nach sozio-ökonomi- schem Status

Der sozio-ökonomische Status der Befragten wird gemessen über einen Index, der auf den Variablen ,,Bildungu, „Stellung im Beruf' und ,,Einkommencc aufbaut. Bei der In- dexbildung wird ,,BildungG über den höchsten Schulabschluß gemessen, „Stellung im Be- ruf' über die Handlungsautonomie, die die ausgeübte berufliche Tätigkeit dem Einzelnen läßt (Hoffmeyer-Zlotnik 1993) und „EinkommenG über eine grobe Klassifikation des Haushaltseinkommens. Da die Variable „Stellung im Berufc als zentral betrachtet wird, wird diese mit dem Faktor ,,2" hochgewichtet; danach findet eine additive Verknüpfung der drei Variablen und deren anschließende Transformation auf eine 5-Punkte-Skala statt. Betrachtet man die Verteilung der Befragten auf die unterschiedlichen Wohnquartiersty- pen unter dem Aspekt dieses Index für Sozio-ökonomischen Status (SES), so ergibt sich folgendes Bild:

In der ländlichen Kleinstadt wird das Zentrum im Westen eher von unteren bis mittleren Schichten, im Osten eher von mittleren Schichten bewohnt. Das Quartier der ,,altansäßi- gen Bevölkerung" ist im Westen eher ein Quartier für die oberen Mittelschichten, im Osten dominiert diesen Quartierstyp die mittlere Mittelschicht. Der Quartierstyp der ,,neuangesiedelten Bevölkerung" wird sowohl im Westen als auch im Osten von Perso- nengruppen mit einem eher niedrigen SES-Wert dominiert. Die niedrig bebauten, peri-

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pheren Wohnquartiere werden sowohl im Westen wie im Osten von mittleren bis höheren SES-Gruppen, im landwirtschaftlich geprägtem Bereich eher von mittleren SES-Gruppen, dominiert.

Tabelle 4: Verteilung der Befragten über die Wohnquartierstypen nach dem SES- Index, untergliedert nach Stadttypen in West und Ost

In der Mittelstadt sind in den Zentren und in der Übergangszone jeweils nur kleine Grup- pen von Befragten anzutreffen. Entsprechend dem SES-Index gehören die Bewohner der Innenstädte im Westen eher den oberen Schichten, die im Osten eher der unteren Mitte an. In der Zone im Übergang leben im Westen eher Angehörige der unteren Schichten, während es sich im Osten polarisiert in ,,untenc' und „obenc'. Die kompakter bebauten Viertel am Innenstadtrand werden im Westen wie im Osten eher von der oberen Mitte dominiert - allerdings ist im Osten die Bandbreite der Definition der Mitte in diesem

Ubergangszone Mietskasernen bürgerl. Wohnq. Mittelschichten Quelle: eigene Berechnung nach Sozialwissenschaften-Bus 2/95.

39

31

36

40

34

48

29 1 7 1 1 9 6 6 7

53

33

50

5 4 3 5 4 2 4 4 3 3 29

39

31 7

48

33 9

39

46 5

32

50 5

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Hojineyer-Zlotnik: Welcher Typ Stadtbewohner dominiert welchen Typ Wohnquartier? 57

Quartierstyp breiter. Das „bürgerliche Wohnquartier" ist ein Quartier der mittleren Schichten. Dieses ist im Westen deutlicher sichtbar als im Osten: Im Osten gibt es in die- sem Quartierstyp eigentlich keine herausragende SES-Gruppe. Dafür ist in beiden Teilen Deutschlands der mittelstädtische Quartierstyp der aufgelockerten Einzelhausbebauung der der mittleren bis oberen Mittelschichten. Die ländliche Peripherie ist im Westen nur mit sehr wenigen Befragten vertreten, unter denen keine SES-Gruppe dominant wird. Im Osten wird dieser Quartierstyp eher von der unteren Mittelschicht dominiert.

In den Großstadtregionen im Westen dominiert die Zentren keine spezifische SES- Gruppe. Im Osten sind in den Zentren eher Mittel- und Unterschichten vertreten. Die „Zone im Übergangu zeigt sich sowohl im Westen als auch im Osten als heterogen besie- delt. Der innenstadtnahe Mietskasernengürtel beherbergt sowohl im Westen als auch im Osten große* Bewohnergruppen, die durchaus heterogen sind. Allerdings ist im Westen mit sinkendem SES-Index-Wert die Wahrscheinlichkeit steigend, daß die befragte Person im Mietskasernengürtel wohnt, während im Osten die umgekehrte Tendenz zu beobach- ten ist: mit steigendem SES wird hier die Wahrscheinlichkeit größer, daß eine befragte Person im Mietskasernengürtel der Großstadtregionen lebt. Die ,,bürgerlichenu Wohn- quartiere der Mehrfamilien- und Reihenhausbebauung sind im Westen eher ein Quartiers- typ für untere Statusgruppen, während die höheren SES-Gruppen die Einzelhausbebau- ung der „mittleren bis oberen Mittelschichten" bevorzugen. Im Osten werden die „bür- gerlichen" Wohnquartiere von keiner SES-Gruppe bevorzugt, während sich in Richtung auf die Einzelhausbebauung an der Peripherie eine Tendenz zur unteren Mitte zeigt.

7. Beschreibung der Wohnquartiere über sozio-demogra- phische Merkmale der Befragten

Vergleicht man die unterschiedlichen Wohnquartierstypen, getrennt nach den drei Sied- lungsgebietstypen ,,kleinstädtisch-ländlich", „mittelstädtisch" und ,,großstädtisch", mit- einander, indem man pro Wohnquartierstyp die Befragten nach zentralen demographi- schen Merkmalen unterscheidet, so ergibt sich folgendes Bild.

In den ländlichen Kleinstädten Westdeutschlands leben in den Reihenhaus-Quartieren der Neuangesiedelten verhältnismäßig wenige der befragten Rentner (11%) im Gegensatz hierzu jedoch relativ viele der befragten Erwerbstätigen (24%) und der Hausfrauen (24%). Der Quartierstyp, in dem sowohl ein sehr hoher Anteil der Hausfrauen (39%) als auch ein sehr hoher Anteil der Rentner (36%) siedelt, ist der ländlich-periphere Quartiers- typ. In diesem Quartierstyp sind im Westen die Erwerbstätigen nur mit einem Anteil von 29% vertreten. In den ländlichen Kleinstädten Ostdeutschlands sieht es, im Gegensatz

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hierzu, anders aus: Der Anteil derer, die sich als Hausfrau verorten, ist so gering, so daß ein Untersuchen von deren Verteilung über die unterschiedlichen Quartierstypen nicht sinnvoll erscheint. Betrachtet man die Erwerbstätigen, so sind diese überproportional oft in den Reihenhaus- (38%) und Einfamilienhausquartieren (36%) anzutreffen. Im Gegen- satz zu dieser Gruppe präferieren die Rentner in stärkerem Maße das Zentrum (12% der Rentner aber nur 2% der Erwerbstätigen leben dort). Ein hoher Anteil der Rentner lebt in den Reihenhausquartieren (3 1%) und ein sichtbarer Anteil an der ländlichen Peripherie (24% im Gegensatz zu 14% der Erwerbstätigen).

Betrachtet man die Verteilung der Befragten über die Quartierstypen nach Familienstand, hierbei werden nur die beiden Variablen ,,verheiratet und mit Partner zusammenlebend" sowie ,,ledig und allein lebend" in die Betrachtung einbezogen, dann ergibt sich folgen- des Bild: Im Osten bevorzugen die ,,VerheiratetenK die Reihenhaus- (32%) und Einfami- lienhausgebiete (33%), sind aber an der ländlichen Peripherie weniger häufig anzutreffen (15%). Im Westen siedeln die ,,Verheiratetenu vor allem am Stadtrand: im Einfamilien- hausquartier (25%) und an der ländlichen Peripherie (38%). Die ledig-Alleinlebenden im Westen siedeln in diesem Stadttyp bevorzugt im Einfamilienhausquartier (mit 30% ge- genüber 17% im Osten) und haben im Osten mit je einem Drittel der Gruppe relativ hohe Anteile im Reihenhausgebiet (Ost: 33%, West: 24%) und an der ländlichen Peripherie (Ost: 33%, West: 20%).

In den Mittelstädten siedeln sowohl in West- (25%) als auch in Ostdeutschland (22%) je- weils etwa ein Viertel der Erwerbstätigen im kompakt bebauten Innenstadtrandbereich. Erst in den der Richtung ,,StadtperipherieU folgenden beiden Quartierstypen ergibt sich ein Unterschied bei der Verteilung der Erwerbstätigen zwischen West und Ost: Im Westen siedeln 18% der Erwerbstätigen im ,,bürgerlichenu Reihenhausquartier aber 50% der Er- werbstätigen in der aufgelockerten Einzelhausbebauung der ,,mittleren und oberen Mittel- schichten"; im Osten siedeln im Gegensatz hierzu 42% der Erwerbstätigen in der Reihen- hausbebauung und ganze 27% im Quartier der Einzelhausbebauung. Bei den Rentnern sehen die Verteilungen über die unterschiedlichen Quartierstypen zwischen West und Ost noch extremer aus: In den kompakt bebauten Innenstadtrandquartieren der Mittelstädte leben im Osten 28% und im Westen lediglich 12% der befragten Rentner. Während in der westdeutschen Mittelstadt mit 62% die Masse der Rentner in den Quartieren mit Einzel- hausbebauung anzutreffen sind (in diesem Quartierstyp sind auch fast zwei Drittel der Hausfrauen der westdeutschen Mittelstädte anzutreffen), siedelt die größte Gruppe der ostdeutschen Rentner (48%) in den Reihenhaus-dominierten Quartieren; nur 19% der ostdeutschen Rentner siedeln in Quartieren mit Einzelhausbebauung.

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Hoffmeyer-Zlotnik: Welcher Typ Stadtbewohner dominiert welchen Typ Wohnquartier? 59

Betrachtet man die Verteilung der Befragten über die Quartierstypen nach Familienstand, so trifft man die größten Gruppen der Alleinlebenden in der westdeutschen Mittelstadt am kompakt bebauten Innenstadtrand (36%) und in den Quartieren mit Einzelhausbebauung (48%). In der ostdeutschen Mittelstadt ist nur eine verschwindend geringe Gruppe von Alleinlebenden am kompakt bebauten Innenstadtrand anzutreffen (4%), dafür lebt der große Anteil der Alleinlebenden im Reihenhaus-dominierten Quartierstyp (42%). Die verheirateten Befragten leben im Westen zu 56% in den Quartieren mit Einzelhausbebau- ung. Diese Gruppe ist in diesem Quartierstyp im Osten nur mit einem Anteil von 28% vertreten, dafür siedelt die größte Gruppe der Ostdeutschen verheirateten Mittelstädter im Reihenhaus-dominierten Quartierstyp (44%).

Die Verteilung der Befragten nach unterschiedlichen demographischen Merkmalen über die großstädtischen Quartierstypen differiert zwischen West und Ost nicht so stark wie bei den anderen Stadttypen. Jeweils die größten Gruppen der Erwerbstätigen siedeln im Mietskasernengürtel (West: 35%, Ost: 39%) und in den Quartieren mit Einzelhausbebau- ung (West: 44%, Ost: 37%). Ein Unterschied zwischen den großstädtischen Siedlungs- gebieten der west- und ostdeutschen Erwerbstätigen ist in der Präferenz für die Zentren- bereiche zu sehen: Von den westdeutschen Erwerbstätigen wohnen 7% in Quartierstypen mit Zentrenfunktion, von den ostdeutschen Erwerbstätigen leben 16% in Quartierstypen mit Zentrenfunktion. Bei den befragten Rentnern ergibt sich ein ähnliches Bild: Im Mietskasernengürtel leben 27% der Rentner „West" und 35% der Rentner ,,Ostu; in den Quartieren mit Einzelhausbebauung leben 54% der Rentner „West" aber nur 41% der Rentner „Ost". Dafür leben 15% der Rentner ,,Ost" und nur 5% der Rentner „Westu in großstädtischen Quartierstypen mit Zentrenfunktion. Betrachtet man die Verteilung der westdeutschen Hausfrau über die Quartierstypen, so leben fast zwei Drittel dieser Gruppe (59%) in den Quartieren mit Einzelhausbebauung.

Die Verteilung der Befragten nach Familienstand ergibt für die Großstadt folgende Quar- tierspräferenz: Es sind sowohl im Westen als auch im Osten mehr ledig-Alleinlebende (West: 9%, Ost: 20%) in den Quartierstypen mit Zentrenfunktion anzutreffen als Verheiratete (West: 3%, Ost: 12%). Auch der Mietskasernengürtel wird in West und in Ost von den ledig-Alleinlebenden bevorzugt (West: 42% ledig, 26% verheiratet, Ost: 44% ledig, 38% verheiratet). Im Gegensatz zu den ledig-Alleinlebenden bevorzugen die Verheirateten in West und in Ost den Quartierstyp der Einzelhausbebauung (West: 56% verheiratet, 38% ledig, Ost: 42% verheiratet, 21% ledig).

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8. Fazit

Bildet man die für die drei Stadttypen jeweils nach der Bau- und Nutzungsstruktur unter- schiedenen Wohnquartierstypen, so ergeben sich erklärbare Unterschiede zwischen den Stadtzonen in West- und Ostdeutschland. Betrachtet man nun die Verteilung der Befrag- ten nicht zuletzt nach demographischen Merkmalen über diese städtischen Quartiersty- pen, so erhalten die Quartierstypen ein Gesicht. Die hierbei existierenden Unterschiede zwischen westdeutschen und ostdeutschen Quartierstypen innerhalb eines Stadttyps las- sen sich relativ einfach über die unterschiedlichen Entwicklungen des Stadtwachstums und der Wohnungsbauforderung erklären. Wie die Daten zeigen, sind auch die ostdeut- schen Städte, über die Quartierstypen hinweg, nicht homogen besiedelt - es lassen sich Quartierscharakteristika der dortigen Bewohner herausarbeiten. Angesichts dieser deutli- chen Quartierscharakteristika, die trotz der in einem normalen Survey relativ kleinen An- zahl von Interviews sichtbar werden, muß dem auf drei Fragen reduzierten Instrument der Wohnquartiersbeschreibung bescheinigt werden, daß es die städtischen Quartierstypen entsprechend den Wohnungsmarktsegmenten unterscheiden kann. Über zusätzliche Va- riablen ist eine feinere Untergliederung der Quartierstypen möglich (siehe Hoffmeyer- Zlotnik 1984), aber diese ist lediglich bei Fallstudien, jedoch nicht mehr in der Sur- veyforschung sinnvoll.

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Lüdemann: Ökologisches Handeln und Schwellenwerte 63

ÖKOLOGISCHES HANDELN UND

SCHWELLENWERTE: ERGEBNISSE EINER

I n diesem Beitrag wird das Konzept des Schwellenwertes von Granovetter (1978) dar- gestellt, es wird der Zusammenhang dieses Konzepts zur Theorie Rationalen Handelns

und zum Mikro-Makro-Modell von Coleman (1990) erläutert und es werden einige soziologische Anwendungsmöglichkeiten aufgezeigt. Anschließend werden Ergebnisse einer Studie dargestellt und diskutiert, in der Schwellenwerte für ,,umweltfreundlichescc Verhalten (Altglas in einen öffentlichen Container werfen) erhoben wurden. Die dabei auftretenden Probleme der Operationalisierung von Schwellenwerten und die Interpreta- tion der Verteilungen von Schwellenwerten bei verschiedenen Entsorger-Gruppen werden diskutiert. Abschließend werden aktuelle Operationalisierungsversuche vorgestellt.

T his paper presents Granovetter's threshold model conceming binary decisions in which a person's choice depends on how others have chosen before. Examples of

typical sociological applications of this model are mentioned, its link to Rational Choice Theory is shown and its integration into a micro-macro-model proposed by Coleman is demonstrated. The results of a survey of environmental behaviour (recycling of glass into a public container) are presented and discussed. Problems of operationalization and measurement proposals of thresholds are discussed.

I. Problemstellung

Zunächst werden wir das Konzept des Schwellenwertes von Granovetter (1978) darstel- len und den Zusammenhang dieses Konzepts zur Theorie Rationalen Handelns und zum Mikro-Makro-Modell von Coleman (1990) erläutern. Weiter werden eine Reihe soziolo- gischer Anwendungsmöglichkeiten für Schwellenwert-Modelle genannt. Anschließend werden wir die Ergebnisse einer Studie vorstellen, in der Schwellenwerte für „umwelt- freundliches" Verhalten (Altglas in einen öffentlichen Container werfen) erhoben wurden.

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Abschließend werden wir die dabei auftretenden Probleme der Operationalisierung von Schwellenwerten und die Interpretation der Verteilungen von Schwellenwerten bei ver- schiedenen Entsorger-Gruppen diskutieren.

2. Theoretischer Stand und Anwendungen des Schwellenwert-Modells

Eine Möglichkeit, den Einfluß der sozialen Umwelt auf binäre individuelle Verhaltens- entscheidungen zu messen, besteht darin, subjektive Schwellenwerte für ein bestimmtes Verhalten zu erheben. Die Grundidee eines Schwellenwert-Modells (Granovetter 1978; GranovetterISoong 1983, 1986, 1988) besteht darin, daß Akteure erst dann eine be- stimmte Handlung ausführen, wenn eine bestimmte Anzahl oder ein bestimmter Anteil (Prozentsatz) anderer Personen diese Handlung bereits ausfuhrt oder ausgeführt hat.

Dabei kann es von Bedeutung sein, ob diese handelnden Personen zur eigenen Bezugs- gruppe gehören oder nicht. Wenn zum Beispiel drei Freunde eine bestimmte Handlung bereits ausgeführt haben, so kann dies auf den potentiellen Akteur einen anderen Effekt haben, als wenn dies drei Unbekannte tun. So entscheidet sich der potentielle Akteur im ersten Fall dafür, diese Handlung ebenfalls auszuführen, im zweiten jedoch bleibt er pas- siv (zur größeren subjektiven Gewichtung des Verhaltens von Personen, die zur eigenen Bezugsgruppe gehören, vgl. Granovetter 1978: 1429 f.; GranovetterISoong 1983: 175 f., 1988: 95 f.).

Schelling (1978) und Marwell/Oliver (1993) sprechen auch von einer „Critical Mass", die erreicht werden muß, um Prozesse in Gang zu setzen. Einen Spezialfall des Schwellen- wert-Modells stellt die Theorie der „Schweigespirale" von Noelle-Neumann (1980) dar, die die Äußerung der eigenen politischen Meinung als Funktion des perzipierten Anteils von Personen betrachtet, die diese Meinung teilen.

,,Zögereru haben demnach sehr hohe subjektive Schwellenwerte, ,,Mitläuferu besitzen da- gegen mittlere Schwellenwerte, und ,,Initiatorenu, die diese Handlung völlig unabhängig vom Verhalten anderer Personen ausführen, besitzen Schwellenwerte von Null. Ein indi- vidueller Schwellenwert hat nicht den Charakter eines konstanten Persönlichkeitsmerk- mals, sondern kann bei einer Person situationsspezifisch variieren.

Typische Anwendungssituationen für ein Schwellenwert-Modell sind die folgenden: Kauf eines bestimmten Produktes, Beteiligung an einer Demonstration, Übernahme einer Inno- vation oder Mode, Abgabe einer Stimme für eine Partei oder einen Kandidaten, Eintritt in eine Partei, Äußern einer politischen Meinung (,,Schweigespirale"), Besuch eines Restau-

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rants oder einer Veranstaltung, Verlassen sozialer Zusammenkünfte (Parties, Vorträge, Veranstaltungen), Leisten von Hilfe in öffentlichen Situationen (,,bystander interven- tioncc), Glauben von Gerüchten, Wohnenbleiben oder Wegziehen aus einer bestimmten Wohngegend (,,residential segregationcc).

Eine kurze Einführung in die Logik von Schwellenwert-Modellen geben RaubNoss (1 98 1 : 123- 128). Eine Anwendung eines solchen Modells zur Erklärung der Revolution in der ehemaligen DDR findet sich bei ProscWAbraham (1991) und Braun (1994, 1995). Schwellenwert-Modelle des Aufbaus und Verfalls von Kooperation behandelt Diekmann (1993) und Konsumentscheidungen analysieren GranovetterISoong (1986). Taylor (1984) und GranovetterlSoong (1988) versuchen ,,residential segregation" mit Hilfe dieses Mo- dells zu erklären. Ein Schwellenwert-Modell zur Analyse der Eskalation fremdenfeindli- cher Gewalt wird von Lüdemann (1 992, 1994, 1995) und LüdemannIErzberger (1 994) angewendet.

3. Empirische Ergebnisse einer Studie zum Recycling

In unserer Untersuchung über ~mweltverhalten') haben wir Personen, die ihr Altglas überwiegend (,,immerc', ,,sehr oft", ,,oft") in den Hausmüll tun, folgende Frage gestellt: ,,Mindestens wieviel Prozent der anderen in Ihrer Stadt- oder Landgemeinde müßten ihr Altglas in einen öffentlichen Container tun, damit Sie dies auch täten?" Personen, die ihr Altglas überwiegend (,,immer", „sehr oft", ,,oft") in den Container tun, wurde dagegen die Frage gestellt: ,,Mindestens wieviel Prozent der anderen in Ihrer Stadt- oder Landge- meinde müßten ihr Altglas in öffentliche Container tun, damit Sie dies auch weiterhin tä- ten?"

Mark Granovetter (1978) hat nun gezeigt, daß sich das Konzept des Schwellenwerts mit dem Modell Rationalen Handelns in Form des ~ ~ u - ~ o d e l l s ~ ) ebenso elegant wie plausi- bel verbinden läßt. Erst wenn ein bestimmter subjektiver Schwellenwert Si erreicht wird, ist der perzipierte ~e t tonutzen~) einer Container-Entsorgung größer als der einer Haus- müll-Entsorgung. Ab einem Schwellenwert Si gilt also die folgende Präferenzstruktur im Hinblick auf die Nettonutzenwerte (NN) der beiden Handlungsalternativen Container- Entsorgung und Hausmüll-Entsorgung (Granovetter 1978: 1420, 143 5):

NN (Container-Entsorgung) > NN (Hausmüll-Entsorgung): NN-Differenz > 0

Da der Nettonutzen einer Container-Entsorgung hier größer als der Nettonutzen einer Hausmüll-Entsorgung ist, ist die Differenz zwischen diesen beiden NN-Werten positiv.

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Aufgmnd dieser Relation postuliert das Modell rationalen Handelns eine Container-Ent- sorgung. Unterhalb dieses Schwellenwertes Si gilt dagegen die Präferenzstruktur:

NN (Container-Entsorgung) < NN (Hausmüll-Entsorgung): NN-Differenz < 0

Da der Nettonutzen einer Container-Entsorgung hier geringer als der Nettonutzen einer Hausmüll-Entsorgung ist, ist die Differenz zwischen diesen beiden NN-Werten negativ. Hier entscheidet sich das Individuum für eine Hausmüll-Entsorgung.

Der Nettonutzen einer Container-Entsorgung ist nun eine positive monotone Funktion der perzipierten Zahl oder des Anteils an Personen, die ihr Altglas bereits in einen Container werfen. Je größer also die perzipierte Zahl von Container-Entsorgern, desto höher ist auch der Nettonutzen einer Container-Entsorgung für den einzelnen Akteur. Wir wollen hier offen lassen, ob diese Funktion linear oder nichtlinear ist.4)

Der höhere Nettonutzen einer Container-Entsorgung könnte z.B. dadurch entstehen, daß die subjektive Wahrscheinlichkeit der Folgen ,,WiederverWertung von Rohstoffen" sowie „Abnahme des Müllberges" steigt und die subjektive Wahrscheinlichkeit der Folge „Be- lastung der Umwelt durch Verbrennung des Mülls" sinkt.

Eine solche monotone Beziehung dürfte jedoch nicht für alle Verhaltensbereiche gelten. So ist es denkbar, daß diese monotone Beziehung für „umweltmoralisches" Verhalten im Verkehrsbereich nicht uneingeschränkt gilt. Je mehr Leute nämlich von ihrem privaten Auto auf Verkehrsmittel des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) umsteigen, desto eher kann es (ab einer bestimmten Anzahl von Nutzern) zu Nachteilen bei der Nutzung des ÖPNV kommen. Diese Nachteile wären die Überfüllung von Bussen und Bahnen, Probleme, einen Sitzplatz zu finden und Gepäck mitzuführen sowie Wartezeiten wegen der Überfüllung öffentlicher Verkehrsmittel. Der Nettonutzen des umweltmoralischen Verhaltens „Nutzung des ÖPNV" dürfte also eine nichtlineare Funktion der Teilnehrner- zahl sein, denn ab einer bestimmten Zahl (oder ab einem bestimmten Anteil) von Nutzern des ÖPNV wird es gewissermaßen ,,engu, und es treten unerwünschte Konsequenzen auf.')

Für die Nutzung des ÖPNV dürfte es also untere und obere6) Schwellenwerte geben. Bei Überschreiten des unteren Schwellenwertes entscheidet sich die Person, ein bestimmtes Verhalten auszuführen. Dieses Verhalten wird dann so lange praktiziert, bis der obere Schwellenwert überschritten wird und dieses Verhalten aufgrund zunehmender Nachteile wieder aufgegeben wird.

Die folgende Abbildung 1 enthält die (fiktiven) Verläufe der Nettonutzen-Differenz-Wer- te f i r drei Personen in Abhängigkeit vom perzipierten Prozentsatz von Container-Entsor-

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gern. Auf der Ordinate sind die Nettonutzen-Differenz-Werte (NN Container-NN Haus- müll) und auf der Abszisse die perzipierten Anteile von Container-Entsorgern abgetragen.

Abbildung 1: Schwellenwerte für drei Entsorger-Typen

NN-Differenz

I

Container-Entsorger

Schwellenwert: 0%

0

Schwellenwert: 40%

HausmUll-Entsorger -095 Schwellenwert: 95%

1 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100

petzipierte Prozent Container-Entsorger

Bei der ersten Person handelt es sich um einen Container-Entsorger mit einem Schwel- lenwert von Null Prozent. Diese Person wirft ihr Altglas auch dann in den Container, wenn keine andere Person dies tut. Für Personen mit einem Schwellenwert von Null ist also die Zahl bereits handelnder Personen subjektiv völlig irrelevant. Die zweite Person hat bereits einen höheren Schwellenwert von 40 Prozent, und die dritte Person repräsen- tiert einen Hausmüll-Entsorger mit einem sehr hohen Schwellenwert von 95 Prozent.

Das Schwellenwertmodell postuliert, daß die erwarteten individuellen Kosten der Teil- nahme an einer bestimmten Aktivität (Container-Entsorgung) um so geringer sind und/ oder der individuelle Nutzen um so höher ist, je größer die subjektiv erwartete oder per- zipierte Anzahl der Teilnehmer ist, die ebenfalls dieses Verhalten (Container-Entsorgung) ausführen.

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Je mehr Personen sich ,,umweltmoralisch" verhalten, desto eher wird das Kollektivgut ,,saubere Umwelt" hergestellt. Die Umwelt wird also um so eher erhalten und geschont, je größer der vom Einzelnen vermutete oder beobachtete Anteil der Bevölkerung ist, der sich ,,umweltmoralisch" verhält. Je größer dieser Anteil der Bevölkerung ist, der sich ,,umweltmoralisch" verhält, desto eher wird der einzelne sein eigenes individuelles ,,um- weltmoralisches" Verhalten als einen sinnvollen Beitrag zur Erstellung des Kollektivgutes ,,saubere Umwelt" betrachten.')

Methodologisch läßt sich das Schwellenwert-Modell als Individualtheorie in ein Mikro- Makro-Modell im Sinne Colemans (1 990: Kap. 1) integrieren (zur Kritik dieses Modells Opp 1992; Kappelhoff 1992; Esser 1993 : 98 ff.). Ein solches Zwei-Ebenen-Modell, wie es die Abbildung 2 zeigt, besitzt im oberen Teil eine „Makro-Ebene" mit Merkmalen des sozialen Systems oder sozialen Kontextes und im unteren Teil eine ,,Mikro-Ebene" mit den Merkmalen der individuellen Akteure.

Abbildung 2: Mikro-Makro-Modell mit Schwellenwerten

X -Anteil % -Anteil

Container-Entsorger ..m..... n..................... Container-Entsorger

in der Gemeinde in der Gemeinde

Brückenannahme Aggregierung

Threshold-ModeO

perzipierter %-Anteil

/ individuelle

Container-Entsorger Container-Entsorgung

Die Brückenannahme in diesem Modell besteht nun darin, zu unterstellen, daß ein Kol- lektiv-Merkmal (Prozent-Anteil Container-Entsorger in einer ~ e m e i n d e ) ~ ) von einer Per- son perzipiert wird und sich diese Person aufgrund des Über- oder Unterschreitens ihres ,,persönlichenu Schwellenwertes für oder gegen eine Container-Entsorgung entscheidet (zu Brückenannahmen vgl. KelleLüdemann 1995). Durch die Aggregierung der indivi-

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duellen Handlungen kommt es dann auf der Ebene des sozialen Systems wiederum zu ei- ner Veränderung des Prozent-Anteils an Container-Entsorgern in der Gemeinde. Der Ag- gregierungspfad besitzt also keinen kausalen, sondern lediglich analytisch-definitorischen Charakter. Die Verknüpfung der Individual-Merkmale im unteren Teil der Abbildung 2 wird nun durch das Threshold-Modell geleistet. Die gestrichelte Linie im oberen Teil soll den indirekten kausalen Effekt zwischen den Kollektiv-Merkmalen zu zwei verschiede- nen Zeitpunkten symbolisieren. Indirekt ist dieser Effekt, da er nur über die mit Pfeilen gekennzeichneten Pfade zustande kommt.

Unsere Hypothesen hinsichtlich der Häufigkeitsverteilung sowie in bezug auf Mittelwerte von Schwellenwerten bei Habit-Hausmüll-Entsorgern (N = 56) und Habit-Container- Entsorgern (N = 120) lauten nun f~ l~endermaßen:~)

Hypothese 1: Habit-Hausmüll-Entsorger nennen am häufigsten Schwellenwerte von 100 Prozent. Schwellenwerte von Null Prozent werden in dieser Gruppe nie genannt.

Hypothese 2: Habit-Container-Entsorger nennen am häufigsten Schwellenwerte von Null Prozent. Schwellenwerte von 100 Prozent werden in dieser Gruppe nie genannt.

Hypothese 3: Der mittlere Schwellenwert bei Habit-Hausmüll-Entsorgern ist höher als der mittlere Schwellenwert bei Habit-Container-Entsorgern.

Betrachten wir zunächst die Häufigkeitsverteilung der Schwellenwerte für die Gruppe der Habit-Hausmüll-Entsorger (N = 56) in Abbildung 3. 10 Prozent der Befragten (6 Perso- nen) nennen einen Schwellenwert von 100 Prozent, was bedeutet, daß diese Personen ihr Altglas erst dann in den Container werfen, wenn dies auch alle anderen tun. Erstaunli- chenveise geben jedoch immer noch ,,stolzeu 20 Prozent der Befragten (1 1 Personen) ei- nen Schwellenwert von Null Prozent an, das heißt diese Personen würden ihr Altglas auch dann in den Container tun, wenn kein anderer dies täte.

Wie lassen sich nun diese hypothesendiskrepanten 20 Prozent der Habit-Hausmüll-Ent- sorger mit einem Schwellenwert von Null Prozent erklären? Erstens ist es möglich, daß die Schwellenwert-Theorie von Granovetter unzutreffend ist oder sich zumindest fur die- sen Anwendungsfall nicht eignet. Zweitens ist nicht auszuschließen, daß auch bei den Habit-Hausmüll-Entsorgern viele Befragte Null Prozent angegeben haben, weil sie sich aus Gründen sozialer Erwünschtheit nicht als ,,Umweltschädiger", sondern als umwelt- bewußt darstellen wollten. Für diese Vermutung des Einflusses sozialer Wünschbarkeit spricht die Tatsache, daß auch in der Gruppe der Habit-Hausmüll-Entsorger eine Contai- ner-Entsorgung (im Durchschnitt) besser als eine Hausmüll-Entsorgung gefunden wird. Drittens wäre es aber auch möglich, daß diese 20 Prozent auf Interviewerfehler oder

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Verständnisprobleme zurückzuführen sind. Wenn Befragte wie zum Beispiel alte und ge- brechliche Personen in der Habit-Hausmüll-Entsorger-Gruppe (das Durchschnittsalter in dieser Gruppe liegt bei 43,3 Jahren und damit 7,9 Jahre über dem Durchschnittsalter der anderen Gruppe) gemeint haben, sie würden auf keinen Fall ihr Glas in den Container tun, egal wie viele andere dies tun, könnte es sein, daß Interviewer hier „Null Prozent" notiert haben, obwohl „100 Prozentc' hier angemessener gewesen wäre. Hier wäre auch eine separate Kategorie wie „Ich tue mein Glas auch dann nicht in den Container, wenn alle anderen dies täten" sinnvoll gewesen, die man nachträglich als Schwellenwert von 100 Prozent hätte kodieren können. Da wir jedoch nicht entscheiden können, welche die- ser drei Erklärungen zutrifft, wollen wir die Hypothese 1 als widerlegt betrachten.

Abbildung 3: Schwellenwerte für Container-Entsorgung

Häufigkeit der Nennung

12

10 Habit-Hausmüll-Entsorger (N = 56)

8

6

4

2

0

0 10 25 30 40 50 60 65 70 75 80 87 90 95 99 100

Schwllenwrt in %für Container-Entsorgung

Betrachten wir nun die Häufigkeitsverteilung der Schwellenwerte für die Gruppe der Habit-Container-Entsorger (N = 120) in Abbildung 4.

Von den Habit-Container-Entsorgern (N = 120) gibt niemand einen Schwellenwert von 100 Prozent an, jedoch nennen 53 Prozent (63 Personen) einen Schwellenwert von Null Prozent. Gut die Hälfte dieser Gruppe würde also ihr Altglas auch dann noch in einen

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Lüdemann: Ökologisches Handeln und Schwellenwerte 71

Container tun, wenn keine andere Person dies täte. Damit wird unsere Hypothese 2 durch die Daten bestätigt.

Abbildung 4: Schwellenwerte für Container Entsorgung

HäufigkeitderNennung

70

60 Habit-Container-Entsorger (N = 120)

50

40

30

20

10

0 0 1 3 5 7 10 12 15 20 25 30 33 40 50 75 90

Schwellenwert in %für Container-Entsorgung

Vergleicht man schließlich die Mittelwerte für Schwellenwerte in den beiden Gruppen, so haben Habit-Container-Entsorger einen Mittelwert von 11,3 Prozent und Habit-Haus- rnüll-Entsorger einen Mittelwert von 58,8 Prozent. Damit bestätigt sich unsere Hypothese 3.

4. Gegenwärtige Operationalisierungsversuche

Im Hinblick auf die Messung von Schwellenwerten und ähnlichen Konzepten, ist der Versuch von ZUMA zu erwähnen, in das ALLBUS-Modul „Deutsche und Ausländer" für 1996 Fragen aufzunehmen, die in Beziehung zum Konzept des Schwellenwertes stehen.

In einer an der Universität Gießen durchgeführten DFG-Studie zur Verkehrsmittelwahl wurde die Perzeption der Verkehrsmittelnutzung durch Dritte erhoben, indem Studentin- nen und Studenten danach gefragt wurden, wieviel Prozent der Studierenden an ihrem Fachbereich welches Verkehrsmittel (Rad, zu Fuß, PKW, BahnBus) für den Weg zur

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Universität benutzen. Weiter wurde danach gefragt, welches Verkehrsmittel die drei eng- sten Freunde oder Freundinnen (d.h. Mitglieder der eigenen Bezugsgmppe) überwiegend für den Weg zur Universität benutzen. 10)

5. Fazit

Angesichts der seltenen Versuche, Schwellenwerte empirisch zu erheben, halten wir es für dringend geboten, weiter an einer Operationalisierung dieses vielversprechenden Konzepts zu arbeiten, soll das Rational-Choice-Forschungsprogramm nicht - um es po- lemisch zu formulieren - zu einem „Modell-Platonismus" im Sinne von Hans Albert (1971) degenerieren, der sich nur noch den deduktiven Implikationen einer Menge von Prämissen widmet (wie kürzlich Braunpranzen 1995).

Damit soll in keiner Weise die Legitimität und Fruchtbarkeit modelltheoretischer Analy- sen in Frage gestellt werden. Es geht mir lediglich darum, darauf hinzuweisen, daß man auch das ,,zweite Bein" des Rational-Choice-Ansatzes stärker machen muß, indem man sich intensiver als bisher den Problemen der empirischen Messung, Operationalisierung und Validierung von Konzepten im Rahmen theoretischer Modelle widmet.

Korrespondenzadresse

Dr: Christian Lüdemann Georg-Gröning-Str: 14 28209 Bremen

Anmerkungen

1) In unserer Studie (N=247) wurde die ,,Theory of Planned Behavior" (TOPB) von Ajzen (1988, 1991) im Verhaltensbereich ,,Entsorgung von Altglas" mithilfe standardi- sierter Interviews empirisch überprüft. Dabei wurde versucht, das jeweilige Entsorgungs- verhalten (Altglas in den Hausmüll versus Altglas in den öffentlichen Container) durch die TOPB zu erklären. In diesem Zusammenhang wurden auch Schwellenwerte für eine Container-Entsorgung von Altglas erhoben; vgl. Lüdemann 1995a.

2) „SEU" steht für ,,Subjective Expected Utility", eine andere Bezeichnung für den Nettonutzen einer Handlung. Andere Namen für diese Theorie sind auch „Erwartungs- nutzentheorie", ,,Nutzentheorie" oder ,,Wert-Erwartungstheorir. Zur ursprünglichen For- mulierung der SEU-Theorie vgl. Savage 1954. Einen kurzen Uberblick zur SEU-Theorie sowie über verschiedene Formulierungen dieser Theorie gibt Opp 1983: 41 -49.

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3) Um den Nettonutzen (oder SEU-Wert) einer Verha1tensalternative.z~ berechnen, wer- den die subjektiven Wahrscheinlichkeiten und die Bewertungen der Handlungsfolgen die- ser Verhaltensalternative miteinander verrechnet, indem zunächst aus der Bewertung und der subjektiven Wahrscheinlichkeit jeder perzipierten Konsequenz das Produkt gebildet wird. Die Summe dieser einzelnen Produkte ergibt dann den Nettonutzen einer bestimm- ten Handlungsalternative.

4) In Anlehnung an nicht-lineare Produktionsfunktionen für den Zusammenhang zwi- schen der Zahl der Teilnehmer an einer kollektiven Handlung und der objektiven Wahr- scheinlichkeit der Erstellung eines Kollektivgutes, wie einer sauberen Umwelt, wäre auch eine S-förmige Funktion plausibel; vgl. hierzu ManvelllOliver 1993: 58 ff.; Oberschall 1994.

5) Diese Nachteile treten jedoch nur dann auf, wenn das Angebot des ÖPNV der ver- stärkten Nachfrage nicht entsprechend nachkommt. Ob also diese Kosten und Nachteile auch faktisch auftreten, hängt damit von externen Umweltbedingungen ab, die aus politi- schen Entscheidungen und Maßnahmen zur Verkehrspolitik bestehen. GranovetterISoong (1988: 96 ff.) diskutieren derartige Restriktionen unter dem Begriff „capacity con- straints".

6) Bei Modeerscheinungen im Bereich des Konsumverhaltens existieren oft obere Schwellenwerte, bei deren Erreichen das Verhalten wieder aufgegeben wird; zu diesem ,,snob effectbL vgl. GranovetterISoong 1986.

7) Damit stellt das Schwellenwertmodell eine theoretische Alternative zur Theorie kol- lektiven Handelns von Olson (1 968) dar, die ja postuliert, daß der Beitrag Egos zu Erstel- lung eines kollektiven Gutes um so geringer ist, je höher der Beitrag anderer zur Erstel- lung dieses kollektiven Gutes ist.

8) Ob sich dieser Prozentanteil auf die Nachbarschaft, die Gemeinde, ein Bundesland, die Bundesrepublik oder Europa bezieht, muß im jeweiligen Anwendungsfall entschieden werden. Worauf es hier ankommt, ist, daß es sich um ein Merkmal des sozialen Kontextes eines Akteurs handelt.

9) Diese beiden Subgruppen wurden gebildet, indem wir Personen, die ihr Altglas „immer", „sehr oft" oder „oft", also habituell in den Hausmüll und „nieu, „sehr selten" oder „seltenbL in den Container tun, zu einer Gruppe zusammengefaßt haben, die wir Habit-Hausmüll-Entsorger nennen. Analog hierzu wurde eine zweite Gruppe von Habit- Container-Entsorgern konstruiert, die aus solchen Personen bestand, die ihr Altglas „immeru, „sehr oft" oder „oft", also habituell in den Container und ,,nieu, „sehr selten" oder „seltenbL in den Hausmüll tun.

10) Vgl. den Fragebogen des DFG-Projektes (DFG-Schm 65816-1): Verbot, Anreiz oder Bewußtsein? Determinanten und Beeinflussung ökologieorientierten Verhaltens: Ver- kehrsmittelnutzung in einer Region. Schwerpunktprogramm: „Mensch und globale Um- weltveränderungen". Korrespondenzadresse: Sebastian BambergIPeter Schrnidt, Univer- sität Gießen FB3, Karl-Glöcknerstr. 21 E, 35394 Gießen.

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76 ZUM-Nachrichten 3 7, Jg. 19, November 1995

NETZWERKANALYSE UND INTERGRUPPENKONTAKTE:

DIE PERSÖNLICHEN BEZIEHUNGEN ZWISCHEN OST- UND WESTDEUTSCHEN

D ie Anwendung der Netzwerkanalyse beschränkt sich in der bisherigen For- schungstradition oftmals auf ganz bestimmte Themenbereiche, wie etwa Mei-

nungsbildung~- oder Mobilisierungsprozesse. In der vorliegenden Studie wird ein neuer Anwendungsbereich vorgestellt - die Untersuchung von Intergruppenkontakten. Als Bei- spiel werden hier die persönlichen Beziehungen zwischen Ost- und Westdeutschen aus netzwerkanalytischer Perspektive betrachtet. Als weitere Besonderheit dieser Netzwerk- studie wird die Möglichkeit der postalische Erhebung von Netzwerkdaten vorgestellt. Dabei werden methodische Probleme einer solchen Anwendung diskutiert; es wird ein Namensgenerator und ein Fragebogendesign vorgestellt. In einem zweiten Teil werden dann die inhaltlichen Ergebnisse einer netzwerkanalytischen Betrachtung von Intergrup- penkontakten am Beispiel der Beziehungen zwischen Ost- und Westdeutschen vorgestellt.

I n previous tradition, the application of network analysis is often limited to special topics like the flow of information, the formation of opinion or mobilization. In this

study, a new area of research will be presented - the analysis of intergroup contacts. The personal relationships of East and West Germans are analysed with the instruments of network analysis. As a further peculiarity, the possibility of postal collection of network data is presented. The methodological problems of such an application are discussed, a name generator and a questionnaire design are introduced. Concrete results of the net- work analysis of the relationship between East and West Germans are presented in a second part.

1. Einleitung

Die Netzwerkanalyse wird in der Literatur zumeist zur Erhebung von Unterstützungs- netzwerken, zur Untersuchung von Cliquen oder zur Analyse der Diffusion von Informa- tionen oder Einstellungen verwendet (z.B. Granovetter 1973; Laumann 1973; de

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Rippl: Netzwerkanalyse und Intergruppenkontakte 77

GraafIFlap 1988; WipplerIMühler 199 1 ; Schenk 1993). Dabei wird das Netzwerk sehr weit definiert. Viele mögliche Arten von Beziehungen werden einbezogen, zudem wer- den zumeist auch Verflechtungen unter den einzelnen Personen im Netz betrachtet. Trotz dieser 'traditionellen' inhaltlichen Verbindung der Netzwerkanalyse mit bestimmten Fra- gestellungen birgt die Methode an sich diese inhaltlichen Beschränkungen nicht, sie kann sehr wohl und sehr sinnvoll auch ganz allgemein zur Erhebung verschiedenster Arten sozialer Beziehungen genutzt werden. Solch ein ,,neues" Anwendungsgebiet stellt im vorliegenden Aufsatz die Verwendung netzwerkanalytischer Verfahren zur Untersuchung

1) von Intergruppenkontakten dar. Die Nützlichkeit einer solchen Anwendung, aber auch die damit verbundenen Schwierigkeiten und Besonderheiten werden im folgenden am Beispiel der persönlichen Beziehungen zwischen Ost- und Westdeutschen betrachtet. Da- bei wird die Erhebung egozentrierter Netzwerke im Zentrum der Betrachtung stehen.

Der Netzwerkansatz bietet den Vorteil, daß die spezifischen Merkmale von Netzpersonen und - situationen sehr präzise und differenziert erfaßt werden können. Zudem unterschei- det sich diese Erhebungsform grundlegend von in Umfragen üblichen Fragen nach kate- gorial definierten Beziehungen z.B. zu Freunden oder Kollegen im allgemeinen. In solch einem Falle setzt sich die Umwelt des Befragten nicht aus Individuen sondern aus Kate- gorien zusammen. Nicht die soziale Beziehung zu konkreten Personen wird somit unter- sucht (vgl. Pappi 1987: 21), sondern die soziale Beziehung im Sinne von Beziehungsfor- men. Es macht durchaus einen Unterschied, ob man etwa danach fragt, ob eine Person ganz allgemein Freunde in den neuen Ländern hat oder nach ganz konkreten Personen A, B und C, zu denen der Befragte freundschaftlichen Kontakt hat. Die Netzwerkanalyse wählt die letztere Perspektive in der der Befragte als Informant über sein konkretes Netzwerk von Personen verwendet wird. Damit Iäßt sich die interpersonale Umgebung weitaus präziser erheben, als mit den herkömmlichen Methoden. Dies ist vor allem auch f i r Forschungsarbeiten besonders wichtig, die Beziehungen auf Gruppenebene und Per- sönliche Beziehungen unterscheiden, so etwa bei der Untersuchung von Intergruppenkon- takten - von persönlichen Beziehungen zu Mitgliedern einer bestimmten Gruppe - im Unterschied zu allgemeinen Einstellungen (bzw. Beziehung) zu ganzen Gruppen. Den- noch wird der Netzwerkansatz bis heute in diesem Bereich nicht verwendet.

Unter methodischen Gesichtspunkten wird eine weitere Besonderheit behandelt, nämlich die Problematik einer postalischen Erhebung von Netzwerken. Die Erhebung von Netz- werkdaten wird gewöhnlich aufgrund des relativ hohen Schwierigkeitsgrades des Meßin- strumentes für die Befragten mit Hilfe von Interviewern durchgeführt. In der vorliegen- den Studie wurde ein Design entwickelt, daß sich auch im Rahmen einer schriftlichen Befragung einsetzen läßt.

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78 ZUM-Nachrichten 37, Jg. 19, November 1995

Der vorliegende Aufsatz gliedert sich in zwei Teile. Die erste Hälfte befaßt sich mit den Möglichkeiten und Problemen der Erhebung und Untersuchung von Intergruppenkontak- ten mit Hilfe der Netzwerkanalyse, wobei hier der besondere Fall einer postalischen Netzwerkerhebung behandelt wird. Dabei wird ein Namensgenerator zur schriftlichen Erhebung von Intergruppenkontakten vorgestellt. In der zweiten Hälfte werden dann ei- nige inhaltliche Ergebnisse einer solchen Erhebung am Beispiel der Strukturen und Merkmale der persönlichen Beziehungen zwischen Ost- und Westdeutschen vorgestellt. Datengrundlage ist eine repräsentative Umfrage, die 1993 in Ost- und Westdeutschland durchgeführt wurde.')

2. lntergruppenkontakte als Netzwerk

Zuerst stellt sich die Frage, ob die Beziehungen zwischen Angehörigen zweier Gruppen als Netzwerk definiert werden können. In der Netzwerkforschung ist ein Netzwerk defi- niert als eine durch Beziehungen verbundene Menge von sozialen Einheiten (vgl. Pappi 1987). Das einfachste Netzwerk besteht somit aus zwei Personen, die durch eine soziale Beziehung miteinander verbunden sind. Diese einfachste Form liegt im Fall der Inter- gruppenkontakte sicherlich vor. Mitchell faßt den Begriff des Netzwerkes enger, er be- zieht „... a specific set of linkages between a defined set of persons ..." (Mitchell 1969: 2) also auch Beziehungen zwischen den Netzpersonen mit ein. Solche weiteren Verzwei- gungen innerhalb des Netzes sind auch in einem Netz von Intergruppenkontakten durch- aus denkbar, wenn auch sicher nicht in dem Maße wie etwa in ,,normalenu Bekannt- schaftsnetzen.

Der Beziehungsbegriff wird im Bereich der Netzwerkforschung sehr weitreichend und zum Teil unterschiedlich definiert. Nach Mitchell (1969: 9f.) zählen hierzu persönliche (bezogen auf individuelle Merkmale), kategorielle (bezogen auf soziale Stereotypen) und strukturelle Beziehungen (bezogen auf die soziale Position). Pappi definiert: „... Bezie- hungen seien alle Kommunikationen, Affekte, Bewertungen, Handlungen und Gelegen-

3) heiten, die eine Verbindung zwischen ego und alter herstellen" (Pappi 1987: 17). Max Weber gibt eine engere Definition sozialer Beziehungen als: „...ein nach seinem Sinnge- halt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer" (Weber 1976: 13). Nach der Definition Pappis kann eine bloße Begegnung schon eine soziale Beziehung sein. Im Sinne Webers müssen Kontakte, die als Beziehung begriffen werden sollen, aber sehr wohl eine interaktive Komponente aufweisen. Die hier zu erfassenden Intergruppenkontakte weisen all diese Definitionsmerkmale, auch die der enger gefaßten Definition von Weber durchaus auf.

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Rippl: Netzwerkanalyse und Intergruppenkontakte 79

Im vorliegenden Falle ist zudem die Unterscheidung bzw. Beziehung zwischen den Be- griffen Netzwerk und Gruppe (die Ost- bzw. Westdeutschen) wichtig. Eine Trennlinie zwischen Netzwerken und Gruppen zu ziehen, ist kaum möglich ,,...denn die einzelnen Individuen sind in der Regel in verschiedene Netzwerke und Beziehungen verwickelt, die die Grenzen formaler Gruppen oder Gemeinden usw. durchziehen bzw. verwischen" (Schenk 1984: 36). Netzwerke bilden zwar die Basis sozialer Gruppen, sie überlagern aber zugleich deren Grenzen. Es steht dem Forscher frei, ganz bestimmte partielle Netz- werke zum Gegenstand seiner Analyse zu machen (vgl. Schenk 1984: 39). Und dieses ge- schieht, wenn hier das partielle Netz ,,Beziehungen zu Ost- bzw. Westdeutschen" Gegen- stand der Betrachtung wird. Gerade die Analyse der Überlagerung von Gruppengrenzen durch Netzwerke trifft im Falle dieser Kontaktnetzwerke zu. Beziehungen zu Mitgliedern der anderen Gruppe, sind in bezug auf den hier verwendeten Gruppenbegriff, Beziehun- gen zu Repräsentanten der Gruppe Ostdeutsche bzw. Westdeutsche und überlagern damit zugleich die Grenze zwischen diesen beiden Gruppen.

In einer weiteren Unterscheidung nach Epstein (1 969) kann man ,,effectivea bzw. „close" und ,,extendedU bzw. „distant networks" trennen (vgl. Schenk 1984: 71). Wobei das „close network" aus intensiven engen Kontakten besteht, meist zu Personen, die im Hin- blick auf bestimmte Merkmale ähnlich sind (Homophilie). Das „extended network" be- steht hingegen zusätzlich zum ,,close network" aus Kontakten, die weniger intensiv und weniger häufig sind und nicht unbedingt Ähnlichkeiten sozialer Merkmale aufweisen (Heterophilie). Granovetter verwendet ein ähnliche Unterscheidung in „strongU und „weak ties", wobei er die Stärke der Beziehung wie folgt definiert: ,,... the strength of a tie is a (probably linear) combination of the amout of time, the emotional intensity, the inti- macy (mutual confiding), and the reciprocal services which characterize the tie" (Granovetter 1973: 1360).

Im vorliegenden Fall, der die Analyse aller möglichen Beziehungen zwischen Mitglie- dem zweier Gruppen umfaßt, wird das ,,extended network" Grundlage der Analyse sein. Ein Kontaktnetzwerk, daß weitgehend nur nach der Gruppenzugehörigkeit definiert wird, kann aus allen möglichen Kontaktformen bestehen, die einen interaktiven Charakter auf- weisen, dies können teilweise homophile, enge Beziehungen, aber ebenso heterophile, distanziertere Beziehungen sein.

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80 ZUM-Nachrichten 37, Jg. 19, November 1995

3. Inhalte des Netzwerkes

Netzwerke können unterschiedliche Funktionen oder Inhalte aufweisen, daher sind zur Erhebung - so auch in unserem Fall -jeweils spezifische Erhebungsmethoden nötig. Das heißt aber auch, daß eine individuelle Anpassung des Instrumentes an den Forschungsge- genstand möglich und notwendig ist. Um die Zielpersonen (die alteri) zu erfassen, wer- den sogenannte Namensgeneratoren verwendet, womit Fragen gemeint sind, die die Nen- nung bestimmter Personen generieren. Je nach gewünschter Personengruppe, sind unter- schiedliche Generatoren zu verwenden, da die erfaßten Personen ganz unterschiedliche Funktionen für ego haben können. In Abhängigkeit von der Fragestellung ist zu entschei- den, mit welchem Namensgenerator das Netzwerk erhoben werden soll.

Um Namen zu generieren, ist es zuerst notwendig zu definieren, was außer dem Mini- malkriterium der interaktiven Komponente im Rahmen dieser Untersuchung unter dem Begriff ,,Beziehungcc - in diesem Falle ,,Kontakteu - verstanden werden soll. Es liegt auf der Hand, daß etwa Studien zu politischem Einfluß oder sozialen Hilfeleistungen andere Definitionen und Eingrenzungen wählen werden.

In Anlehnung an Bernard et al. (1990) und Schenk (1984) kann man hinsichtlich der Be- ziehungsinhalte drei Typen von Netzwerken unterscheiden. Die „emotional support group" - hier werden Normen, Werte und Einstellungen ausgetauscht. Es geht um Erwar- tungen, „...die die in der jeweiligen sozialen Situation involvierten Individuen aufgrund wahrgenommener sozialer Merkmale bzw. Attribute mit der Relation verbinden" (Schenk 1984: 77). Da es bei dieser Eingrenzung um normative Beziehungen und emotionale Un- terstützungsfunktionen geht, wird dieser Netzwerktyp oftmals durch den Burt-Namens- generator (Burt 1984) erfaßt, der danach fragt, mit wem Personen wichtige Dinge bespre- chen. Die ,,social support group" - umfaßt primär funktionale Unterstützungsleistungen oder Austauschbeziehungen von Gütern oder Diensten (z.B. Arbeitssuche). Zur Erfas- sung dieses Netzwerkes schlagen Bernard et al. den Fischer-Generator vor (McCallisterI Fischer 1978). Es wird nach Personen gefragt, die man für verschiedene Dinge braucht (z.B. um auf die Wohnung aufzupassen). Zumeist ist Reziprozität eine Komponente sol- cher Beziehungen, emotionale Faktoren wie Intimität sind nicht notwendig. Die ,,infor- mational support group" umfaßt Netzwerke, die der Verbreitung von Informationen dienen. Es handelt sich dabei um Kommunikationsbeziehungen. Ein Weg der Erfassung eines solchen Netzwerkes, wäre die Erhebung aller Personen, die ein Individuum (auch indirekt) kennt. Eine Erhebungsform wäre etwa das ~ n o w b a l l - ~ a m ~ l i n ~ . ~ )

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Rippl: Netzwerkanalyse und lntergruppenkontakte 81

Im Hinblick auf unsere Forschungsfrage wird keiner dieser Netzwerktypen in reiner Form relevant sein. Netzpersonen können theoretisch alle hier genannten Funktionen, als do- minierendes Merkmal der Beziehung wahrnehmen, der interessierende Faktor ist der Austausch von Erwartungen, der innerhalb aller Formen sozialer Beziehungen stattfindet. Eine Eingrenzung hinsichtlich der Inhalte ist im Falle von Kontaktbeziehungen nicht möglich, da eine Einordnung nach der Funktion oder dem Inhalt der Beziehung nicht ein- deutig ist. Zentrales Merkmal der alteri ist allein deren Gruppenzugehörigkeit (ostdeutsch bzw. westdeutsch). Auf dieser Grundlage bleibt festzulegen, was als ,,Kontakt im engeren Sinne" gefaßt werden soll. Dabei sollen ,,Begegnungenu denen keine Interaktion zugrun- deliegt, nicht dem Kontaktnetzwerk zugeordnet werden, so z.B. Beobachtungen, die auf den Interaktionsaspekt verzichten (und daher nicht davon zu unterscheiden sind, was etwa durch Medien wahrgenommen wird). Das heißt, „Kontakte im engeren Sinne" sollen das Merkmal des ,,aufeinander eingestellten Sichverhaltens" aufweisen, das Weber als Definitionsgrundlage einer sozialen Beziehung nennt. Die Erhebung des Netzwerkes darf desweiteren keinen Einschränkungen bezüglich der Stärke der Beziehungen unterliegen (z.B. nur wichtige Personen), da ganz allgemein Intergruppenkontakte, also alle mögli- chen Arten von Intergruppenkontakten betrachtet werden sollen.

4. Stichprobendesign zur Erhebung von lntergruppenkontakten

Als Grundgesamtheit der Datenerhebung wurde die Gesamtheit der deutschen Wahlbe- völkerung ab 18 Jahren definiert. Grundgesamtheit der Netzwerkerhebung sind alle mög- lichen Netzpersonen der Befragten, die das Merkmal ostdeutsch bzw. westdeutsch auf- weisen - eine weitere Einschränkung hinsichtlich des Interaktionskriteriums wurde nicht getroffen.

Das Stichprobendesign fur die Ego-Stichprobe wurde von GFM-GETAS entworfen.') Die 6 )

Stichprobe wurde aus dem ADM-Master-Sample gezogen. Es handelte sich dabei um eine geschichtete, dreistufige Zufallsauswahl, mit Sample-Points bzw. Bezirken in der ersten, Haushalten in der zweiten und Personen in der dritten Auswahlstufe. Alle Stich- proben sind in sich repräsentativ. Die Befragung wurde zwischen Juni und Oktober 1993 durchgeführt. Es wurde eine Stichprobe von 656 Fällen realisiert, von den Befragten leb- ten zum Zeitpunkt der Erhebung 492 Personen in Westdeutschland und 164 in Ost- deutschland.

Aufgrund des relativ geringen ~ücklauf;) ist die Repräsentativität der Stichprobe pro- blematisch. Um zu überprüfen, ob zumindest das Kriterium der vergleichbaren Verteilun- gen bezüglich der demographischen Variablen der Befragten mit Werten in der Grundge-

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samtheit erfüllt ist, wurden die Verteilungen der Variablen Geschlecht, Alter und Bildung mit Daten des statistischen Jahrbuchs verglichen. Für die Stichprobe (West) kann das Er- gebnis dieser Überprüfung als sehr zufriedenstellend bezeichnet werden. In der Stich- probe (Ost) sind zwar bezüglich aller Variablen in der Tendenz Verteilungen vorhanden, die auch dem Bild in der Grundgesamtheit entsprechen, es treten aber dennoch größere Verzerrungen auf. Somit kann aufgrund der zu geringen Fallzahl diese Stichprobe als Vergleichsgröße nur deskriptiven Wert haben.

5. Fragebogenkonstruktion: Netzwerke und schriftliche Befragung

Im Netzwerkteil wurden nur standardisierte, geschlossene Fragen verwendet. Die Frage- bogenkonstruktion dieses Teils der Studie wurde stark durch zwei bereits thematisierte Besonderheiten bestimmt: zum einen durch die Tatsache, daß es sich um eine schriftliche postalische Befragung handelt, eine Erhebungsform, die bisher für Netzwerkstudien nicht verwendet wurde. Die zweite Besonderheit ist, daß es sich um ein ganz spezielles Netz- werk, nämlich um Kontaktbeziehungen zwischen zwei bestimmten Gruppen handelt.

Netzwerkstudien werden aufgrund des Schwierigkeitsgrades des Erhebungsinstrumentes für die Befragten zumeist mit Hilfe von Interviewern erhoben. Dies war in diesem Fall nicht möglich. Daher unterlag die Konstruktion des Fragebogens einigen Schwierigkei- ten, die auf die Problematik einer schriftlichen Befragung zurückzuführen sind. Zum ei- nen mußte ein möglichst einfaches und verständliches Design gewählt werden, das es dem Befragten ermöglicht, den Netzwerkteil ohne fremde Hilfe auszufüllen. Deshalb wurde nur ein einziger Namensgenerator eingesetzt. Dieser mußte sich auf die Erhebung von drei Netzpersonen beschränken, um die Übersichtlichkeit des Instrumentes für den Befragten zu erhalten und den Zeitaufwand in Grenzen zu halten.

Desweiteren mußte eine graphische Form gefunden werden, die übersichtlich ist und zu- gleich nicht langweilt, da alle Merkmale ja für jeweils drei Netzpersonen erhoben werden müssen. Zu diesem Zwecke wurden die Fragen jeweils nur einmal gestellt, der Befragte beantwortet sie dann nacheinander für die drei Personen. Dabei besteht zwar die Gefahr, daß ego die Angaben zu diesen drei Personen in Abhängigkeit zueinander ausfüllt und eine Verzenungstendenz in dem Sinne besteht, daß der Befragte versucht, eine hohe Konsistenz oder aber eine hohe Streuung herzustellen. Diese Tendenz, eine große Varia- tion herzustellen, wurde beim Pretest bei einigen Befragten festgestellt. Dennoch wurde diese Frageform vorgezogen, da ein dreimaliges hintereinander Abfragen der Fragebatte- rie für den Befragten nicht zumutbar ist und ein Abbruch zu befürchten war. Abbildung 1

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zeigt einen Ausschnitt des Fragebogens. Der Namensgenerator setzt sich aus den Fragen 25 und 27 zusammen.

Der Konstruktion des Namensgenerators kommt zentrale Bedeutung innerhalb einer Netzwerkstudie zu. Alle folgenden Variablen der Netzwerkuntersuchung sind nur rele- vant, wenn durch den Generator die ,,richtigenc' Zielpersonen ermittelt werden. Schenk nennt hierfür drei Anforderungen: ( I ) Die Systemgrenzen sind deutlich zu machen; (2) es ist zu entscheiden, inwieweit eine Begrenzung der Wahlen auf eine gewisse Anzahl von Nennungen gemacht werden soll; (3) die Formulierungen müssen verständlich und ad- äquat sein (vgl. Schenk 1 984: 179).

Diese Forderungen stellen im Falle dieser Studie eine besondere Anforderung dar, da nur ein einziger Generator eingesetzt werden konnte. Zudem konnten unter Berücksichtigung der Praktikabilität hinsichtlich der Anforderungen an den Befragten, wie bereits erwähnt, nur drei Netzpersonen erhoben werden. Diese Zahl erscheint aber akzeptabel, wenn man eine Analyse von Pfenning und Pfenning betrachtet, die bei einer Prüfung verschiedener Generatoren, die mit fünf alteri arbeiten, zeigen, daß die durchschnittliche Anzahl der ge- nannten alteri bei drei Personen liegt (vgl. PfenningIPfenning 1987). Zudem ist die An- zahl als ausreichend zu sehen, da keine Analysen bezüglich der Beziehungen der alteri untereinander gemacht werden sollen (z.B. Dichtebestimmungen). Auch im ALLBUS 1980 wurden „nuru drei Personen erhoben.

Aufgrund der erwähnten Restriktionen war es besonders wichtig, eine präzise und ein- deutige Formulierung zu wählen, die den Zielpersonenkreis - die Systemgrenze - klar de- finiert, ohne ihn bezüglich anderer Merkmale, außer der Zuschreibung ,,ost/west", einzu- grenzen. Es mußte sichergestellt sein, daß es sich bei den Personen im Kontaktnetzwerk um Individuen handelt, denen die Gruppenzugehörigkeit ,,ost/west" klar zugeschrieben wird, in dem Sinne, daß sie über einen längeren Zeitraum in der DDR bzw. der alten BRD gelebt haben und somit von ego eindeutig mit der Gruppe identifiziert werden.

Ausgeschlossen werden sollten z.B. Personen, die erst nach der Wende übergesiedelt sind. Es mußte sich also um Personen handeln, die vor der Wende Bürger der DDR wa- ren, konkret also um Personen, die einen Paß der DDR hatten. Dazu gehören auch ehe- malige DDR-Bürger, die nach der Wende in den Westen übergesiedelt sind und die heute in Westdeutschland leben. Dazu gehören nicht Bürger der alten Bundesrepublik, die nach der Wende in die neuen Länder umgezogen sind. Ähnlich mußte diese Abgrenzung für die alteri der Ostdeutschen geschehen.

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Abbildung 1: Ausschnitt des Netzwerkfragebogens

25. Haben Sie Kontakte zu Menschen, die vor der Wende Bürger der alten Bundesländer waren, unabhängig davon, wo diese Personen jetzt wohnen?

ja nein 2 - Bitte weiter mit Frage 4 1

Bitte weiter mit Frage 26 ri rn

27. Denken Sie jetzt bitte nur an diese Personen. Mit welchen dieser Personen hatten Sie zuletzt Kontakt. Sie können an bis zu drei Personen denken. - Bitte notieren Sie die Anfangsbuchstaben der Vornamen in den drei Kästchen.

Die (drei) Personen, zu denen ich zuletzt Kontakt hatte rmzqmm Gedankenstützel Anfangsbuchstabe

28. In welchem Verhältnis stehen Sie zu den einzelnen Personen? Bitte kreisen Sie jeweils die Antwortkennziffer ein.

ist Partner (in) ist Freund (in) ist gute Bekannte(r) ist flüchtige(r) Bekannte(r) ist Nachbar(in) ist Kollege@) ist Vater, Mutter, Bruder, Schwester ist Verwandtschaft ist anderes

1. Person 1 2 3 4

5 6 7

8 9

2. Person 1 2 3 4

5 6 7

8 9

3. Person 1 2 3 4

5 6 7

8 9

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Die zweite Anfordeiung war, daß sichergestellt werden mußte, daß nicht nur Personen genannt werden, die als besonders wichtig oder nahestehend gesehen werden und die in der Befragungssituation am schnellsten kognitiv präsent sind. Die Frage der starken und schwachen Beziehungen nimmt deshalb einen wichtigen Stellenwert bei der Auswahl des Generators ein, da für die Erhebung schwacher und starker Beziehungen mit einen 3-Per- sonen-Generator als egozentriertes Netzwerk keine erprobten Generatoren vorliegen. Schwache Beziehungen werden zumeist nicht direkt über den Generator, sondern bei ei- ner größeren Zahl von Nennungen anhand zusätzlicher Kriterien bzw. Merkmale identi- fiziert, so z.B. beim ~ischer-~enerator.') Diese Erhebungsform ist aber aufgrund ihres Schwierigkeitsgrades innerhalb einer schriftlichen Befragung, wie sie hier zugrundeliegt, nicht handhabbar, da mit der Nennung einer Vielzahl von Personen eine komplizierte Filterfuhrung notwendig ist, um spezifische Informationen zu je spezifischen Netzperso- nen zu erhalten.

Der hier verwendete Generator sollte als Interaktionskriterium zur Auswahl der alteri nur die Kennzeichnung ostdeutsch bzw. westdeutsch enthalten. Die Verwendung des Genera- tors von Burt (1984), der im Rahmen des „General Social ~urvef"" auch mit nur einem Generator arbeitete, erwies sich als ungeeignet, da er in seiner Formulierung eine Ein- schränkung bezüglich der Bedeutsamkeit der alteri vorgibt. Er fragt nach Personen, mit denen ego wichtige Dinge bespricht. Um eine zufällige Auswahl aus dem Netzwerkaus- schnitt ,,Kontaktnetzwerk Ost-West" zu erhalten, wurde eine Variante des Burt-Genera- tors gewählt, die nach Personen fragt, mit denen man zuletzt Kontakt hatte. Mit dieser Formulierung soll eine zufällige Auswahl aus dem Pool der Zielpersonen erreicht werden. Eine Spezifikation bezüglich der Bedeutsamkeit der Personen ist ex post mit Hilfe der ~amensinterpretatoren'~) möglich.

Unter Berücksichtigung der genannten Kriterien wurde der folgende Namensgenerator entwickelt (vgl. auch Abbildung 1): F25: Haben Sie Kontakte zu Menschen, die Bürger der ehemaligen DDR waren, unab- hängig davon, wo diese Personen jetzt wohnen? F27: Denken Sie jetzt bitte nur an diese Personen. Mit welchen dieser Personen hatten Sie zuletzt Kontakt. Sie können an bis zu drei Personen denken.

6. Rücklauf und Ausschöpfung im Netzwerkteil

Die Frage nach der Ausschöpfung im Netzwerkteil war besonders heikel, da keine Erfah- rungswerte über schriftliche Netzwerkuntersuchungen vorliegen. Allerdings ist die stark standardisierte und bezüglich der alteri begrenzte Erhebungsform des „egozentrierten

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Netzwerks" schon mehrfach in repräsentativen mündlichen Umfragen erfolgreich einge- setzt worden (vgl. Burt 1984; Marsden 1990; ALLBUS 1992). Eine postalische Erhebung gab es, soweit es der Autorin bekannt ist, allerdings bisher nicht.

Die Ergebnisse dieses methodischen ,,Experiments" sind äußerst positiv zu bewerten. Der Rücklauf in diesem Teil erwies sich als erstaunlich hoch. Von den 382 Befragten, die an- gaben, Beziehungen zu haben (vgl. Abbildung 1, Frage 25) und somit für die Beantwor- tung des Netzwerkteils in Frage kamen, beantworteten 378 den Netzwerkteil (d.h. 90 Prozent der auf den Namensgenerator folgenden Namensinterpretatoren). Damit liegt der Ausfall hier bei nur rund einem Prozent. Es zeigt sich, daß Personen, die bereit sind, ei- nen Fragebogen überhaupt auszufüllen, zugleich eine hohe Bereitschaft aufweisen, auch komplexere Frageformen zu beantworten. Maximal konnten drei Netzpersonen genannt werden. Die folgende Tabelle zeigt, wieviele alteri die Befragten jeweils genannt haben.

Tabelle 1: Verteilung der Anzahl der von den Befragten genannten alteri

Es zeigt sich, daß der überwiegende Teil, nämlich vier Fünftel der relevanten Befragten die maximal mögliche Zahl von drei alteri angab. Auch diese Zahl belegt die hohe Bereit- schaft, diese Fragen zu beantworten. Bei der Zahl der Nennungen gab es zwischen der Ost- und der Weststichprobe keine beträchtlichen Unterschiede. Ostdeutsche gaben je- doch in geringfügigem Maße mehr alteri an als Westdeutsche, ihr Durchschnittswert liegt bei 2,8. Für die Gesamtstichprobe ebenso wie für die Weststichprobe ergibt sich ebenfalls ein hoher Durchschnittswert von 2,7 alteri pro Befragtem. Daraus ergibt sich eine Ge- samtzahl von 1030 alteri, davon wurden 738 von Westdeutschen und 292 von Ostdeut- schen genannt.

Zahl der von den Befragten genannten alteri

Anteil der Befragten in Prozent

Neben der Funktionalität des Namensgenerators ist zum zweiten die Frage nach der Aus- schöphng im Bereich der Namensinterpretatoren wichtig. Hier zeigte sich, daß bei kei- nem der Items im Netzwerkteil außergewöhnlich hohe Ausfalle auftraten. Die einzige Ausnahme bildet die Frage nach dem Schulabschluß der alteri, hier gaben 27,3 Prozent der Befragten ,,weiß nicht" an. Dieser relative hohe Anteil ist eventuell auf die geringe gegenseitige Kenntnis der Schulabschlüsse in der ehemaligen DDR bzw. der alten BRD zurückzuführen.

1

7,7%

2

13,2%

3

79,1%

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Zusammenfassend kann die Ausschöpfung und Praktikabilität dieser Form der schriftli- chen Netzwerkfragebogenkonstruktion als gut bezeichnet werden. Die Frage, inwieweit die Verteilungen in den Netzen mit Verteilungen in der Grundgesamtheit übereinstimmen, ist schwieriger zu beantworten, als dies bei den Angaben zu den Befragten der Fall ist. Inwieweit eine zufällige Auswahl erreicht wurde, ist empirisch bezüglich der Netzwerke nur anhand von Plausibilitätsüberlegungen zu überprüfen, da keine differenzierten Daten über diese spezielle Grundgesamtheit d.h. über die Strukturen der Beziehungen zwischen Ost- und Westdeutschen verfügbar sind, mit denen die gewonnenen Daten verglichen werden könnten. Analysiert man die demographischen Angaben zu den alteri, zeigt sich bei der Geschlechtsverteilung, daß sich bezüglich der Netzpersonen-Stichprobe eine na- hezu identische Verteilung wie in der Ego-Stichprobe ergibt, im Ost- und Westteil der Stichprobe ergeben sich dieselben Werte. Die Abweichungen zwischen den Verteilungen auf der Ebene egos und der Ebene der alteri betragen maximal 1 Prozent. Betrachtet man die Altersverteilung ergibt sich ein ähnliches Bild. Auch hier stimmt die Verteilung bei den Netzpersonen weitgehend mit der der Gesamtstichprobe der egos überein.

7. Die Beziehungen zwischen West- und Ostdeutschen: Ergebnisse der Netzwerkanalyse

Im folgenden sollen nun einige inhaltlichen Ergebnisse der Erhebung vorgestellt wer- den.") Datengrundlage sind die Personen die angaben, persönliche Kontakte zur jeweils anderen Gruppe zu haben. Dies waren für den ostdeutschen Teil der Stichprobe 65,2 Pro- zent der Befragten, im Westteil 56,l Prozent. Dieser Unterschied kann als Hinweis darauf gewertet werden, daß solche Beziehungen für Ostdeutsche von größerer Bedeutung und größerem Interesse sind, als für Westdeutsche. Ein geringeres Interesse der Westdeut- schen belegen auch Ergebnisse einer Spiegelumfrage (Spiegel-Spezial 1991: 43ff.) be- züglich des Reiseverhaltens. Westdeutsche zeigen weniger Interesse in den Osten Deutschlands zu reisen, als umgekehrt. Und zuletzt ist auch zu bedenken, daß allein auf- gmnd des Zahlenverhältnisses der Gruppen, Ostdeutsche mehr Möglichkeiten haben, Westdeutsche zu treffen, als umgekehrt.

Zuerst soll betrachtet werden, welche Arten von Kontakten zwischen Ost- und Westdeut- schen welche quantitative Rolle spielen. Zur Ermittlung dieser Prozentwerte wurden die Befragten gebeten, jede der genannten Netzpersonen hinsichtlich der Art der Beziehung einzuordnen. Zur Berechnung der Prozentwerte wurde die Beziehung zu jeder genannten Netzperson als eine Einheit betrachtet, so daß sich aus 1030 genannten alteri auch 1030 einzelne Beziehungen ego-alter ergeben. Die Analyse wurde zuerst für alle genannten Netzpersonen und dann nochmal, für Befragte, die aus Ost- (ego=ost) und Befragte die

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aus Westdeutschland (ego=west) kommen, getrennt analysiert. (Diese Betrachtungsweise wird auch in den noch folgenden Tabellen verwendet.) Auf der Ebene dieser Dyaden er- gibt sich die folgende Verteilung (vgl. Tabelle 2).

Tabelle 2: Arten der Beziehungen auf Dyadenebene (Angaben in Prozent)

Betrachtet man die Gesamtzahl der genannten Beziehungen so wird die größte Gruppe der Kontakte zwischen Ost- und Westdeutschen durch Verwandtschaftsbeziehungen ab- gedeckt. Allerdings ist ihr relativer Anteil von 36,3 Prozent (inklusive Eltern) etwas niedriger, als zu erwarten war, wenn man bedenkt, daß durch die jahrzehntelange politi- sche Blockierung anderer, etwa freiwilliger Kontaktformen, fast nur Verwandtschaftsbe- ziehungen gepflegt werden konnten.

Arten von Beziehungen

Partner(in) Freund@) gute Bekannte(r) flüchtige Bekannte(r) Nachbar@) Kollege(in) Eltern, Geschwister Verwandte(r) anderes

N

Allerdings fallen in der vorliegenden Untersuchung Differenzen zwischen der Ost- und Weststichprobe auf. In der Weststichprobe ergibt sich ein deutlich geringerer Verwand- tenanteil (inklusive Eltern und Geschwister) von 27,l Prozent. Vergleicht man diesen Wert mit dem Anteil in der Oststichprobe von 60,l Prozent, fallt hier eine starke Do- minanz der Verwandtschaftsbeziehungen auf. Eine Erklärung hierfür ist, daß besonders im Osten Beziehungen zu Westdeutschen viel stärker als dies umgekehrt der Fall ist, als Ressourcen betrachtet werden. Diese Beziehungen gewannen nach der Wende an Bedeu- tung, Verwandte waren am leichtesten erreichbar und mobilisierbar, da die Beziehungen, wenn sie auch teilweise vor der Wende nicht gepflegt wurden, so doch bereits als vorhan- den eingestuft wurden. Solche Beziehungen nehmen die Funktion sozialen Kapitals (Bourdieu 1983) ein und werden dann aktiviert, wenn sie bestimmte Aufgaben (Hilfe bei

Gesamt

073 11,6 27,4

8 s 1,7

10,4

5,o 31,3

3,7

1030

Ego=West

O,3 11,5 30,9 10,2

2 2 13,O

3,7 23,4

4,9

73 8

Ego=Ost

073 12,O 18,6

4, 1 0,3 3,8 8 2

51,9

0,7 . 292

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der Arbeitsuche etc.) erfüllen können (Granovetter 1973). Der geringere Anteil im Westen erklärt sich dann aus dem Sachverhalt, daß von westlicher Seite, diese Verbin- dungen eben nicht als soziales Kapital gesehen werden. Die Bedeutsamkeit und kognitive Präsenz dieser Beziehungen ist deutlich geringer.

Hinsichtlich des aktuellen Wohnortes der genannten Netzpersonen ergeben sich aufgrund des Wanderungsdrucks von Ost nach West deutliche Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen. Auch hier wurden wieder die. Dyaden (ego-alter) als Analyseeinheiten herangezogen.

Tabelle 3: Aktueller Wohnort der Netzpersonen (Angaben in %)

Die Analyse wurde wieder getrennt für Befragte aus Ost- und Westdeutschland berechnet. Die westdeutschen Befragten geben an, daß nahezu 40 Prozent ihrer genannten Kontakte zu Ostdeutschen, Beziehungen zu Personen sind, die heute in Westdeutschland leben. Bei den ostdeutschen Befragten ist dieser Anteil sehr viel geringer, nur 6,2 Prozent der West- deutschen, zu denen sie Kontakt haben, leben heute in Ostdeutschland. Die Migration Richtung Westen führt auch dazu, daß sich die Kontaktforrnen, insbesondere für West- deutsche je nach aktuellem Wohnort der Netzpersonen unterscheiden. Verwandte wohnen eher noch im Osten, während Freundschaften eher mit sogenannten , ,~oss i s" '~ ) bestehen. Diese ungleiche Verteilung hinsichtlich der Wohnorte der alteri der Ost- und Westdeut- schen und die damit verbundenen Unterschiede in den Kontaktformen zeigt Tabelle 4.

Aktueller Wohnort der alteri

lebt heute in Westdeutschland

lebt heute in Ostdeutschland

Betrachtet man die Verteilung der Netzpersonen der westdeutschen Befragten (Ego=West), ist der Anteil freiwilliger Beziehungen bei den Personen, die heute im Westen leben, deutlich höher. Auch der Kollegenanteil ist bei Netzpersonen mit Wohnort im Westen höher. Aber auch bei im Osten lebenden alteri ergibt sich ein Anteil von fast 10 Prozent Kollegen, was durch die hohe Anzahl von Pendlern zu erklären ist. Entspre- chend dem höheren Anteil der freiwilligen Kontakte nimmt der Verwandtenanteil bei Netzpersonen, die im Westen leben, deutlich ab.

Dieser Effekt des Wohnortes erklärt den höheren Anteil freiwilliger Beziehungen auf der Seite der Westdeutschen (vgl. Tabelle 2). Dennoch bleiben die in Tabelle 2 konstatierten Unterschiede erhalten, betrachtet man nur die Kontakte, die Westdeutsche zu Personen

Ego=West

39,8

59,l

Ego=Ost

93,8

6 2

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haben, die heute noch im Osten leben (siehe Spalte 2 und 3 der Tabelle 4), wenn auch die Differenzen deutlich geringer werden. Der Anteil der Verwandten ist bei Westdeutschen auch unter Konstanthaltung des Einflusses des aktuellen Wohnortes der Netzpersonen mit 34 Prozent noch immer deutlich geringer als dies bei den befragten Ostdeutschen der Fall ist.

Tabelle 4: Beziehungsarten nach Wohnort der Netzpersonen (Angaben in Prozent)

Angesichts des hohen Anteils „übergesiedelter" Netzpersonen lag die Vermutung nahe, daß durch das Leben im Westen eine Integration oder „Assimilation" und damit eine Ab- schwächung der Kategorisierungsprozesse im Sinne „Ossi versus Wessi" stattfindet. Mit- tels einer Korrelationsanalyse wurde der Einfluß des Wohnortes der alteri auf andere Va- riablen überprüft. Hierzu wurde eine Dummy-Variable gebildet, die nach dem Wohnort der alteri unterscheidet. Die folgende Analyse wurde aufgrund der geringen verbleiben- den Fallzahlen nur für die westdeutschen Befragten durchgeführt.

Befragte

Wohnort der alteri

Freund(in) gute Bekannte(r) flüchtige Bekannte(r) Nachbar(in) Kollege(in) Eltern und Geschwister Venvandte(r) anderes

N

Es ergeben sich signifikante Effekte zu allen einbezogenen Variablen. Besonderer Au- genmerk galt der Kategorisierungsvariable. Auch hier findet sich ein signifikanter Zu- sammenhang, allerdings muß dieser als eher schwach eingestuft werden, so daß man zwar davon ausgehen kann, daß die Kategorisierungsprozesse gegenüber Ostdeutschen, die im Westen wohnen, abnehmen, daß dieser Einfluß des Wohnortes im Sinne einer „Assimi- lation" aber eher gering ist.

Ego=West

West

15,6 33,O 15,O

4,4 17,3

3,1 7 s 4,1

294

Ego=West

Ost

8,7 29,7

7,1 0,7 9,9 3,9

34,O

6,o

43 5

Ego=Ost

--- 13)

12,O 18,6

4,1 0,3 3,8 8,2

5179

077

292

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Tabelle 5: Partialkorrelationen verschiedener Netzmerkmale mit dem Wohnort der alteri

**: signifikant auf dem 1 Prozent-Niveau.

Stärke der Beziehung Kategorisierungsniveau Freiwilligkeit der Beziehung

Als weiteres Merkmal soll die Gesamtgröße des Netzes betrachtet werden. Hiermit ist die Zahl der Beziehungen gemeint, die über die im Namensgenerator vorgegebene Begren- zung von drei Personen hinaus vorhanden ist. Zur Feststellung der Größe des gesamten Kontaktnetzwerkes wurde die Frage gestellt, wieviele Kontakte die Befragten insgesamt haben. Es ergibt sich ein Median von sechs Personen. Hier ergeben sich zwischen Ost und West keine Unterschiede. Ein überraschend großer Teil der Befragten, nämlich 22,3 Prozent gab an, mehr als 13 Personen aus Ost- bzw. Westdeutschland zu kennen. Diffe- renziert man die Befragten nach der Größe der Gesamtnetze zeigt sich, daß in den kleinen Netzen bis sechs Netzpersonen, Verwandtschaftsbeziehungen dominieren. Daneben ha- ben auch Freundschaften noch einen relativ großen Anteil. Mit zunehmender Größe nimmt zwangsläufig der Anteil anderer, insbesondere lockerer Kontaktformen zu, da enge Kontakte aufgrund ihrer Intensität und des zeitlichen Aufwandes in ihrer Zahl nur in begrenztem Maße möglich sind.

Wohnort der alteri (OstIWest)

.13**

.13**

.14**

Als nächstes sollen die Beziehungen im Hinblick auf ihren Entstehungszeitpunkt unter- sucht werden. Dies ist für OstJWestbeziehungen besonders relevant, da die Möglichkeiten Beziehungen aufzubauen durch politische Tatbestände beeinflußt bzw. blockiert wurden. Die Betrachtung der Entstehungszeitpunkte der Beziehungen läßt sich in vier Phasen un- terteilen. Die erste Phase reicht bis 196 1. Die folgende Phase von 1962 bis 1971 ist von einer drastischen Verschlechterung der Beziehungen zwischen der Deutschen Demokrati- schen Republik und der Bundesrepublik gekennzeichnet, wichtiger Eckpunkt ist hier der Bau der Mauer 1961. In dieser Zeit waren Besuchsreisen nur unter schwierigen Bedin- gungen möglich und zeitweise nur auf Verwandtenbesuche beschränkt. Die dritte Phase beginnt 1972 mit dem Abschluß des Grundlagenvertrages und des Verkehrsvertrages zwi- schen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, was eine Lockerung der strikten Reglementierungen zur Folge hatte. Die vierte Phase markiert die Wende 1989, mit dem Fallen jeglicher rechtlicher und institutioneller Re- striktionen. Diese eben geschilderten Entwicklungen lassen sich in den vorliegenden Da-

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ten wiederfinden (vgl. Tabelle 6). Auch hier werden wieder die einzelnen Dyaden (ego- alter) als Analyseeinheit verwendet. Bei dieser Betrachtung ist zu bedenken, daß es um Beziehungen geht, die ,,aktuellcL sind, d.h. noch aktiv betrieben werden. Der Generator fragt nach Personen, die man zuletzt noch gesehen hat.

Tabelle 6: Entstehungszeitpunkt und Art der Beziehung (Angaben in Prozent)

Es ist deutlich zu erkennen, daß der größte Teil der Beziehungen, der heute noch 'aktiv' ist, nämlich 4 18 der Dyaden (das sind 4 1,9 Prozent der insgesamt genannten Beziehun- gen) nach der Wende entstanden ist. Nur 10,2 Prozent der genannten Kontakte wurde in der ,,heißenc' Phase des kalten Krieges, 23,5 Prozent davor und 24,3 Prozent in der Ent- spannungsphase vor der Wende aufgenommen.

Der Anteil der Entstehung von Freundschaften ist über die Zeit relativ konstant geblie- ben. Deutlich zugenommen hat hingegen der Anteil von Bekanntschaften. Besonders der Anteil der flüchtigen Bekannten hat sich mit der Öffnung der Grenzen stark erhöht. Diese loseren Beziehungen haben schon in der Phase von 1972 bis 1988 deutlich zugenommen, mit der Wende 1989 ist nochmals ein Anstieg verbunden. Die Zahl der Kollegen war vor der Wende denkbar gering, ist dann nach der Wende auf 23,7 Prozent angestiegen. Die nach 1989 „neuu entstandenen Verwandtenkontakte können als Beziehungen eingestuft werden, die wohl vorher bereits latent vorhanden waren, sogenannte ,,weak ties", die aber erst nach der Wende als verfigbares soziales Kapital aktiviert wurden.

1989-1993

O,5 11,2 34,2 15,3

3,1 23,7

0,2 6 2 5,5

418

Um Hinweise auf die Unterschiede der entstandenen Beziehungen nach der Wende zu bekommen, wurden die Beziehungen, die in diesem Zeitraum geknüpft wurden, getrennt

1972-1988

O,4 13,2 29,6

5 3 0 3 0,s 3,7

4 1,6

4,1

243

1962-1971

0,O 11,8 14,7

2,9 1,o 3,9 7,8

57,8

4,9

102

Partner(in) Freund(in) gute Bekannte(r) flüchtige Bekannte(r) Nachbar@) Kollege(in) Eltern und Geschwister Verwandte(r) anderes

N

bis 1961

0,O 11,5 17,9

1,7 0,4 0,4

12,3 54,9

0,9

23 5

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für Ost und West analysiert. Allerdings kann diese Auswertung nur eingeschränkt Gültig- keit haben, da die verbleibenden Fallzahlen für die Oststichprobe sehr klein sind. Zudem geben die Daten keinen direkten Hinweis darauf, welche Seite den Kontakt aufgenommen hat. Die kognitive und aktuelle Präsenz der Personen - 'denen man zuletzt begegnet ist' - kann als Hinweis zumindest für die Relevanz der neu entstandenen Beziehungen inter- pretiert werden. Auch wenn diese Einschränkungen problematisch sind, ergeben sich in- teressante Unterschiede, die daher auch präsentiert werden sollen. Es werden also nur Beziehungen betrachtet, die nach der Wende entstanden sind, diese werden im Vergleich zwischen Ost und West hinsichtlich der Art der entstandenen Beziehungen differenziert (vgl. Abbildung 2).

Abbildung 2: Entstandene Beziehungen nach der Wende, unterschieden nach der Art der Beziehungen

50,0%

40,0%

30,0%

20,0%

1 O,O%

O,O% Freunde gute Kollegen Nachbarn flüchtige Verwandte

Bekannte Bekannte

O ego=west Ei ego=ost

Zuerst fallt auf, daß Westdeutsche deutlich stärker auf die Frage nach Personen, zu denen sie zuletzt Kontakt hatten, alteri nannten, zu denen der Kontakt erst nach der Wende ent-

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standen ist. Von den insgesamt 738 der von Westdeutschen genannten Beziehungen sind 48,4 Prozent erst nach der Wende entstanden, im Osten sind das nur 20,9 Prozent von 292 Beziehungen. Entsprechend ist der Anteil freiwilliger Beziehungen in der Weststichprobe größer. Auch die Beziehungsarten, die entstanden sind, sind unterschiedlich. Auffällig ist hier wieder der höhere Verwandtschaftsanteil bei den Ostdeutschen. Auch hier spielt hin- sichtlich der alteri der Westdeutschen die Übersiedlung vieler Ostdeutschen nach der Wende eine Rolle.

Zusammenfassend Iäßt sich anhand dieser Analysen entlang der Zeitachse feststellen, daß sich mit der Wende die Beziehungen zwischen Ost- und Westdeutschen quantitativ und qualitativ verändert haben, für die Westdeutschen scheinen die neu entstandenen Kon- takte relevanter zu sein, als dies bei den Ostdeutschen der Fall ist, hier haben eher auch ältere Beziehungen noch aktuelle Bedeutung. Die qualitative Veränderung zeigt sich in einer Zunahme freiwilliger und loser Beziehungen, die relative Dominanz der Venvandt- schaftskontakte nimmt tendenziell ab. Insgesamt haben somit die Möglichkeiten, unter- schiedlichste Erfahrungen mit Mitgliedern der jeweils anderen Gruppe zu machen, zuge- nommen.

Statusdifferenzen werden in der Literatur oft als wichtiger Ursachenfaktor für negative Erfahrungen in persönlichen Beziehungen zwischen Ost- und Westdeutschen angegeben, da die Beziehung zwischen beiden Gruppen durch ein ökonomisches Gefalle geprägt ist. Um festzustellen, in welchem Maße und in welcher Richtung solche Statusdifferenzen in konkreten Beziehungen zwischen Ost- und Westdeutschen vorhanden sind und empfun- den werden, wurden die Personen befragt, wie sie ihre eigene berufliche Stellung im Vergleich zu der jeweiligen Netzperson einordnen. Dabei wurden die Abstufungen gleich, niedriger und höher unterschieden. Die Balken zeigen somit an, welcher Anteil der Be- fragten die berufliche Stellung der Netzperson als gleichwertig oder verschieden einstuft. Die Verteilungen zeigt Abbildung 3.

Entgegen der Erwartung für OstIWest-Beziehungen findet sich ein sehr hoher Anteil subjektiv wahrgenommener Gleichwertigkeit in den Beziehungen. 43,9 Prozent der Dya- den zeichnen sich nach Angabe egos bezüglich der gemessenen Variable ,,beruflicher Status" durch Statushomogenität aus. In 32,6 Prozent der Dyaden wird die Position der alteri niedriger eingestuft als die eigene Stellung, in 23,5 Prozent höher. Vergleicht man die Werte für die Ost- und die Weststichprobe, zeigt sich, daß die Befragten aus dem Osten Deutschlands mit 33,3 Prozent in stärkerem Maße als die westdeutschen Befragten mit 19,7 Prozent ihre alteri als statushöher einstufen. In dieser Selbstwahrnehmung spie- gelt sich die im Intergruppenvergleich von den Ostdeutschen selbst wahrgenommene in- feriore Stellung der Eigengruppe. Überraschend groß ist aber auch hier das Ausmaß an

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Rippl: Netzwerkanalyse und Zntergruppenkontakte 95

gleichwertigen Beziehungen, wenn man die öffentliche Diskussion betrachtet. Ebenso fallt auf, daß sich Ostdeutsche in konkreten Beziehungen keineswegs nur in der status- niedrigeren Position sehen, ein recht großer Anteil von 25,5 Prozent gibt an, die westli- chen alteri befanden sich in einer vergleichsweise niedrigeren Stellung als sie selbst.

Abbildung 3: Berufliche Stellung der alteri auf Dyadenebene (Sicht egos)

50,0%

40,0%

30,0%

20,0%

1 O,O%

O,O% niedriger gleich höher

n ~ e s a m t Qego=west • ego=ost

Zu diesem Ergebnis muß angemerkt werden, daß es sich dabei um den subjektiven Ein- druck der Statusdifferenz durch ego handelt. Das Item lautet: ,,Wie würden Sie die beruf- liche Stellung dieser Person im Vergleich zu Ihrer eigenen einordnencc. Um zu überprüfen, ob das Ergebnis stark durch ein individuelles Bedürfnis nach status-balancierten Bezie- hungen verzerrt ist, ob Personen in ihrer subjektiven Wahrnehmung statusungleiche Be- ziehungen eher verdrängen, werden diese Befunde mit Ergebnissen der „objektiverenc' Variablen „Schulabschluß der alteri"14) und ,,Schulabschluß der Befragten egos" vergli-

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chen. Diese Angaben verlangen vom Befragten keinen expliziten Vergleich, sondern wurden für ego und alteri getrennt im Fragebogen, die eine in der Mitte, die andere am Ende der Fragebatterie, abgefragt. Um die Differenzen bezüglich der formalen Schulbil- dung''' zu überprüfen, wurde jeweils der Abschluß egos mit dem jeder einzelnen Netz- Person verglichen. Dabei wurden die Beziehungen hinsichtlich des Anteils der Dyaden in denen die Netzperson jeweils einen höherwertigen, gleichen oder niedrigeren Abschluß als der Befragte aufweist, aufgeteilt. Das Ergebnis zeigt die Tabelle 7.

Tabelle 7: Statusvergleich zwischen ego und alteri anhand des Schulab- schlußes (Angaben in Prozent)

Auch bezüglich dieses ,,objektiverenG Vergleichs ergibt sich ein ähnliches Bild, wie es sich bezüglich der subjektiven Wahrnehmung der Unterschiede des beruflichen Status ge- zeigt hat. Der Großteil der Personen in Ost und West weist nach dieser Auswertung eher Beziehungen auf, in denen ego im Vergleich zum alteri die gleiche Bildung aufweist. Wieder ist die Mittelkategorie mit den gleichwertigen Beziehungen sehr hoch besetzt, noch etwas höher. als bei den Ergebnissen bezüglich der subjektiv wahrgenommenen Statusunterschiede im Hinblick auf die berufliche Stellung. Allerdings fallt auf, daß der Anteil statusniedrigerer alteri hier genau umgekehrt verteilt ist. Hier weisen die Ostdeut- schen mit 34,4 Prozent mehr Dyaden mit statusunterlegenen alteri auf als die Westdeut- schen mit 23,3 Prozent. Bezüglich des beruflichen Status war das Verhältnis umgekehrt, es ergaben sich 35,3 Prozent der Dyaden mit statusunterlegenen alteri im Westen und 25,5 Prozent im Osten.

Steilung der alteri (Schulabschluß)

höherer Schulabschluß gleicher Schulabschluß niedrigerer Schulabschluß

N

Inhaltlich läßt sich dieses Ergebnis aus der psychischen Situation der beiden Gruppen erklären. Die subjektive Wahrnehmung des beruflichen Status entspricht der Situation der Ostdeutschen wie sie durch die Vereinigung entstanden ist. Der Beitritt zur Bundesrepu- blik hatte für viele den Verlust ihres kulturellen und damit ökonomischen Kapitals in Form der Abwertung ihrer beruflichen Qualifikation und Kompetenzen zur Folge. Ob- jektiv betrachtet, sind die beruflichen Rangunterschiede anhand der formalen Bildung der

Gesamt

26,2 47,4 26,4

682

Ego=West

27,7 49,O 23,3

498

Ego=Ost

22,3 42,9 34,4

184

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Rippl: Netzwerkanalyse und Intergruppenkontakte 97

Personen nicht zu rechtfertigen. Man kann dieses Ergebnis als Hinweis auf eine Situation der Statusinkonkruenz (Malewski 1977) der Ostdeutschen interpretieren.

7. Zusammenfassung und Fazit

Die Ergebnisse lassen sich in zwei Bereiche teilen. Zum einen hinsichtlich der methodi- schen Frage nach der Praktikabilität und Sinnhaftigkeit einer netzwerkanalytischen Un- tersuchung von Intergruppenkontakten mit der Besonderheit einer schriftlichen Befra- gung. Und zum zweiten hinsichtlich der inhaltlichen Ergebnisse zu den Intergruppenkon- takten zwischen Ost- und Westdeutschen.

Bezogen auf die methodischen Fragen wurde dargelegt, wie Intergruppenkontakte mit dem Netzwerkbegriff zu verbinden und so in der netzwerkanalytischen Forschungstradi- tion zu verorten sind, im Sinne eines sehr speziellen partiellen Netzwerkes, dessen Ein- grenzung oder Definition nicht auf Inhalten, Funktionen oder der Stärke der Beziehung beruht, sondern allein anhand der Gruppenzugehörigkeit festgelegt wird. Aufgrund dieser Besonderheit wurde ein Namensgenerator entwickelt und vorgestellt, der allein nach die- sem Kriterium selektiert und eine möglichst zufällige Auswahl aus dem Netz aller Kon- taktpersonen zieht. Maßgeblich für die Entwicklung des Namensgenerators war dabei die Besonderheit, ein netzwerkanalytisches Instrument zu entwickeln, das ohne die Hilfe ei- nes Interviewers von Befragten gehandhabt werden kann. Hierzu wurde ein einfach zu verstehendes Design vorgelegt. Die sehr gute Ausschöpfung im Netzwerkteil des Frage- bogens belegt ein hohes Maß an Praktikabilität und Funktionalität des vorgeschlagenen Designs. Von den Personen die angaben, Kontakte zu Bürgern des jeweils anderen Teils Deutschlands zu haben, waren nahezu alle bereit, die folgenden Nameninterpretatoren zu beantworten. Ein höherer Anteil von Ausfallen hier als ,,weiß nichtu-Angaben, ergab sich allein bei der Frage nach der Schulbildung der alteri, was weniger auf eine Verweigerung als auf eine geringe gegenseitige Kenntnis schließen läßt.

Auch auf inhaltlicher Seite finden sich interessante Ergebnisse, die die Sinnhaftigkeit der Verwendung der Netzwerkanalyse zur Untersuchung von Intergruppenkontakten belegen. Es ergeben sich deutliche Unterschiede in der Struktur der Intergruppenkontakte. Ver- gleicht man Ost und West, geben Ostdeutsche deutlich mehr feste und nicht freiwillige Beziehungen an, was insbesondere durch die große Bedeutung der Verwandten innerhalb der aktuellen Kontakte verursacht wird. Für Westdeutsche zeigt sich ein anderes Bild, hier ist die aktuelle Rolle der Verwandten eher unterrepräsentiert, freiwillige und losere Kontakte haben größere Bedeutung. Zudem sind die nach der Wende entstandenen Be- ziehungen im aktuellen Kontext offenbar relevanter. Diese Unterschiede relativieren sich

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zwar etwas, wenn man die Tatsache berücksichtigt, daß die alteri der Westdeutschen in wesentlich höherem Maße auch im Westen leben, sie verschwinden aber auch dann nicht.

Die Entstehung der Beziehungsarten weist eine zeitliche Entwicklung auf. So kann im Zeitverlauf eine deutliche Zunahme von Beziehungen festgestellt werden. Wo vorher re- lativ wenig Kontakt und konkrete Erfahrungen vorhanden waren, kommen neue oder an- dere Beziehungsformen hinzu. Damit einher gehen qualitative Veränderungen bezüglich der Inhalte der Beziehungen. Diese Situation verursacht Konfrontationen und birgt zu- nehmende Möglichkeiten des Kennenlernens, sowohl negativer als auch positiver Aspekte. Hinsichtlich der Statusungleichgewichte zwischen Ost- und Westdeutschen zei- gen die Ergebnisse nur teilweise das erwartete Verhältnis. Der Gegensatz fallt nicht so drastisch aus wie vermutet, auffällig ist ein doch recht hoher Anteil an subjektiv wahrge- nommener Statusgleichheit in den Beziehungen. Der Statusgegensatz, wie er sich auf der abstrakten Gruppenebene in der öffentlichen Diskussion zeigt, findet sich nur abge- schwächt auf der interpersonalen Ebene, dennoch kann eine subjektiv von beiden Grup- pen wahrgenommene Statusüberlegenheit im Hinblick auf den beruflichen Status der Westdeutschen konstatiert werden. Spannend ist das „umgedrehteu Verhältnis, wenn man den Schulabschluß in den Statusvergleich einbezieht. Hier stufen mehr Ostdeutsche ihre Netzpersonen statusniedriger (im Vergleich zur eigenen Schulbildung) ein, als Westdeut- sche das tun. Dies scheint ein Ausdruck der Statusinkonkruenz, als Folge der Entwertung beruflicher Qualifikationen durch die Wende zu sein.

Als Fazit dieser Untersuchung können auf methodischer Seite, die Fragen, erstens inwie- weit eine postalische Erhebung von Netzwerkdaten sinnvoll ist und zweitens inwieweit Intergruppenkontakte mit diesem Instrument erfaßt werden können, positiv beantwortet werden. Die präsentierten inhaltlichen Ergebnisse dokumentieren die Fruchtbarkeit des Ansatzes auch im Bereich der Forschung zu Intergruppenkontakten. Konkrete Daten zu Beziehungsstrukturen, zu Statusrelationen und ähnlichem liegen für die persönlichen Beziehungen zwischen Ost- und Westdeutschen bis heute kaum vor; insbesondere nicht in dieser detaillierten Form wie es die Erhebung von Netzwerkdaten erlaubt. So daß die- ser Versuch, den Netzwerkansatz auch auf Inhalte zu übertragen, die bisher im Bereich der Netzwerkforschung nicht untersucht wurden, sehr sinnvoll und nützlich erscheint. Die vorgestellte Form der schriftlichen Erhebung in postalischen Befragungen und die positi- ven Ergebnisse ermutigen dazu, Variablen zum sozialen Kontext auch in schriftlichen Massenumfragen zu erheben.

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Rippl: Netzwerkanalyse und Intergruppenkontakte 99

Korrespondenzadresse

Susanne Rippl Sozialisationsforschung und Empirische Sozialforschung Technische Universitüt Chemnitz-Zwickau 091 07 Chemrzitz E-mail: susnnne. rippl @phil. tu-chemnitz.de

Anmerkungen

1) Intergruppenkontakte sind persönliche Beziehungen zwischen Mitgliedern unter- schiedlicher Gruppen.

2) Die Daten wurden im Rahmen des DFG-Projekts „Nationale Identität der Deutschen - Messung und Erklärung der Veränderungsprozesse in Ost und West" unter Leitung von Prof. Dr. Peter Schmidt erhoben. DFG-Schwerpunkt: Sozialer und politischer Wandel im Zuge der Integration der DDR-Gesellschaft (Schrn 65814-2).

3) Die Bezeichnungen ego und alter werden üblicherweise in der Netzwerkanalyse ver- wendet, um den Befragten (ego) und die von ihm genannten Netzpersonen (alteri) zu un- terscheiden.

4) Diese Unterscheidung ist natürlich eng verbunden mit der vorne gemachten Diffe- renzierung nach der Härte der Beziehungen, nur daß hier der inhaltliche Aspekt im Vor- dergrund steht.

5) Vgl. zu Einzelheiten GFM-GETAS-Methodenbericht U4363, 1994.

6) ADM: Arbeitskreis Deutscher Marktforschungsinstitute.

7) Zur Ausschöpfung und dem Problem der Non-Response vgl. Krebs (1995). In der vorliegenden Auswertung werden nur Daten verwendet, die vor einer Nachbefragung er- hoben wurden, die aufgrund des geringen Rücklaufs einige Monate später durchgeführt wurde.

8) Der Fischer-Generator nennt eine Vielzahl von Situationen, in denen bestimmte Per- sonen aktiviert werden und differenziert dann anhand der Funktionen der genannten al- teri.

9) Der General Social Survey ist eine allgemeine Bevölkeningsumfrage in den USA.

10) Namensinterpretatoren sind alle Fragen, durch die Informationen und Merkmale zu den durch den Namensgenerator ausgewählten Netzpersonen erhoben werden.

11) Für eine ausführliche Darstellung vgl. Rippl 1995a und b.

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12) Wossis werden in der Umgangssprache Ostdeutsche genannt, die nach Westdeutsch- land umgezogen sind.

13) Hier wurde aufgrund der kleinen Fallzahlen nicht nach Wohnort unterschieden.

14) Diese „objektivencc Daten zum Schulabschluß der alteri beruhen auf Angaben egos, daher können absichtliche oder unbewußte Verzerrungen und Unkenntnis bezüglich der Merkmale der alteris, Ursachen falscher Angaben sein. Studien zur Validität von Netz- werkdaten (Pappinirolf 1984; Pfenning 1988; Marsden 1990) belegen aber, daß für de- mographische Angaben ein relativ hohes Maß an Validität erwartet werden kann. Wobei zwischen Ost und West natürlich der Faktor der möglichen Unkenntnis eine größere Rolle spielt.

15) Folgende Kategorien wurden gebildet: ohne Abschluß, Volks-/Hauptschule, Mittlere ReifeIPOS, Fachabitur/Abitur/EOS.

Literatur ALLBUS 1992: Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften. Codebuch.

ALLBUS 1980: Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften. Codebuch.

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Laumann, E.O., 1973: Bonds of Pluralism. New York: John Wiley.

Malewski, A., 1977: Verhalten und Interaktion. Tübingen: Mohr.

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Rippl: Netzwerkanalyse und Intergruppenkontakte 101

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Pfenning, A., 1988: Zuverlässigkeit von Netzwerkangaben. Empirische Analysen anhand der ZUMA-Methodenstudie 'Egozentrierte Netzwerke in Massenumfragen', Universität Mannheim: Diplomarbeit.

Pfenning, A., Pfenning, U., 1987: Egozentrierte Netzwerke: Verschiedene Instrumente - verschiedene Ergebnisse? ZUMA-Nachrichten 2 1 : 64-77.

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Schenk, M., 1984: Soziale Netzwerke und Kommunikation. Tübingen: Mohr.

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Spiegel Spezial, 1991: Das Profil der Deutschen. Was sie vereint, was sie trennt.

Weber, M., 1976: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen: Fischer.

Wippler, R./Mühler, K., 1991: Funktions- und Struktunvandel von persönlichen Netz- werken in Ostdeutschland. DFG-Projektantrag (unveröffentlicht).

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102 ZUM-Nachrichten 37, Jg. 19, November 1995

SOZIO-ÖKONOMISCHER STATUS UND

BERUFLICHES PRESTIGE"

Ein kleines Kompendium sozialwissenschaftlicher Skalen auf Basis der beruflichen Stellung und Tätigkeit

D iese Sammlung verfolgt das Ziel, Instrumente zur Messung des sozio-ökonomischen Status und des Berufsprestiges einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Zu diesem Zweck werden insgesamt acht verschiedene Skalen präsentiert und gegen- übergestellt. Um die Verwendung der zusammengetragenen Skalen zu erleichtern, wurden sie an die entsprechenden Merkmale der Standarddemographie, wie sie etwa im ALLBUS verwendet wird, angepaßt. Nach einer kurzen Beschreibung des theoretischen und methodischen Ansatzes jedes einzelnen Meßinstrumentes wird der empirische Zusammenhang zwischen ihnen untersucht. Den Abschluß des Beitrags bilden Hinweise zur Verwendung dieser Skalen im Rahmen von Sekundäranalysen, bei denen das ur- sprüngliche Material eine einfache Übertragung der Skalen in der hier präsentierten Form nicht erlaubt.

T he goal of this paper is to make available instruments for the measurement of socio- economic status and occupational prestige to a wider public. Eight different scales

are presented and compared with each other. To simplifi the use of the collected scales, they were adjusted to the corresponding attributes of the German 'Standarddemographie' (standard demographics) used, for example, in the ALLBUS (German General Social Survey). After a short description of the theoretical and methodical rationale of each scale, the empirical correlations between the scales are examined. At the end of the paper instructions for the use of the scales are given for situations in which a direct application of their original version is not possible. This is a situation often encountered in the con- text of secondary analyses.

I. Einleitung

Ein Problem, mit welchem die meisten Sozialforscherlinnen früher oder später konfron- tiert werden, besteht in der Messung des sozialen Status von Personen. Einerlei, ob Pro- zesse der sozialen Mobilität, Determinanten von Wahlentscheidungen oder andere For-

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W o v Sozio-ökonomischer Status und berufliches Prestige 103

men sozialen Handelns untersucht werden, oft spielt der soziale Status eine zentrale Rolle als soziologische Hintergrundvariable. Regelmäßig taucht dann die Frage auf, wie der soziale Status der befragten Personen bestimmt werden kann. In dieser Situation bieten sich drei Alternativen an. Erstens können verschiedene Merkmale, die als Indikatoren des sozialen Status gelten (etwa Einkommen, Bildung, Vermögen) herangezogen und zu ei- nem einfachen oder gewichteten Index verknüpft werden. Zweitens kann dieses Verfah- ren durch die Verwendung einer mehr oder weniger ausgefeilten statistischen Prozedur, wie etwa der Faktorenanalyse, noch verfeinert werden. Das Ergebnis ist dann eine empi- risch gerechtfertigte Zusammenfassung der Indikatoren und stellt damit die Entwicklung einer Statusskala im engeren Sinne dar. Schließlich besteht die Möglichkeit, eine der vor- handenen Skalen zur Messung des sozialen Status zu verwenden. Diese Vorgehensweise hat den Vorteil, daß man sich die oft mühsame Arbeit zur Erstellung eines eigenen Meß- instrumentes erspart, müssen doch lediglich vorhandene Skalenpunkte entsprechenden Kategorien vorliegender Merkmale zugeordnet werden. Darüber hinaus kann sich als vorteilhaft erweisen, daß die entsprechende Operationalisierung zwischen verschiedenen Untersuchungen vergleichbar ist. Das Problem dieser Vorgehensweise ist allerdings, daß geeignete Skalen an den unterschiedlichsten Stellen publiziert wurden und eine Recher- che dieser Skalen unter Umständen mühsam ist. Außerdem können diese Skalen häufig nicht direkt übertragen werden, sondern müssen an die Kodierung des jeweils vorliegen- den Materials angepaßt werden.

Die hier vorgelegte Sammlung von Skalen zur Messung des sozialen Status soll die Zu- gänglichkeit entsprechender Meßinstrumente erhöhen und ihre Verwendung erleichtern. Letzteres wurde dadurch zu erreichen versucht, daß die einzelnen Skalen an die entspre- chenden Merkmale der Standarddemographie angepaßt wurden, die etwa in der Allge- meinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (kurz: ALLBUS) verwendet wird. 2)

Die Auswahl der im folgenden vorgestellten Skalen wurde durch drei Überlegungen ein- geschränkt. Erstens wurden lediglich Skalen berücksichtigt, die im bundesdeutschen Kontext eingesetzt werden können. Zweitens wurden nur Instrumente ausgewählt, die sich auch im Rahmen von Sekundäranalysen verwenden lassen. Damit fielen z.B. Verfah- ren wie die subjektive Selbsteinschätzung von Kleining und Moore (1968), welches eine Primärerhebung erfordert, nicht in den Bereich dieser Sammlung. Drittens wurden nur solche Meßinstrumente herangezogen, bei denen die Ermittlung des sozialen Status al- leine aufgrund der beruflichen Tätigkeit oder der beruflichen Stellung erfolgt. Instru- mente wie beispielsweise der Schicht-Index von Scheuch (ScheuchIDaheim 1965; ScheuchRüschemeyer 1 9 6 0 ) ~ ~ ) die neben beruflichen Merkmalen noch das Einkommen,

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die Bildung oder weitere Variablen verwenden, werden in dieser Darstellung also nicht berücksichtigt.

4)

Bei der Durchsicht der einschlägigen Literatur fanden sich acht Skalen, die diese Krite- rien erfüllen." Diese basieren auf zwei, analytisch zu unterscheidenden, Konzeptionen des sozialen Status: eine Gruppe von Skalen mißt den sozio-ökonomischen Status, im weitesten Sinne also die mit dem Beruf verbundenen materiellen Aspekte, die andere Gruppe mißt das Berufsprestige, also das mit dem Beruf verbundene Ansehen.

Im nächsten Abschnitt werden die theoretischen Grundlagen, das empirische Material, die verwendeten Skalierungsmethoden und die entsprechenden Ergebnisse der ausgewählten Meßinstrumente kurz dargestellt. Im anschließenden Abschnitt sind die Skalen selbst sowie ihre Korrelationen aufgeführt. Darüber hinaus werden Skalenwerte auch für die weniger differenzierte Kodierung der Berufsvariablen angegeben. Abschließend finden sich einige Hinweise zur Verwendung der Skalen im Rahmen von Sekundäranalysen. Im Anhang fm- den sich, neben einigen methodischen Anmerkungen, die Skalen sowohl in ihrer Original- fassung als auch angepaßt an die Kodierung der hier zugrundegelegten Merkmale.

2. Skalen des sozio-ökonomischen Status und des Berufsprestiges

Bei der Darstellung der acht hier zusammengestellten Skalen stellte sich das Problem, ei- nen geeigneten Mittelweg zwischen einer detaillierten, aber für die meisten Leser sicher- lich ermüdenden Darstellung einerseits und der bloßen Angabe der Skalennamen und Autoren andererseits zu finden. Ich habe mich dafür entschieden, jeweils einige rudimen- täre Informationen zum theoretischen Ansatz, zu den verwendeten Indikatoren, zum ver- wendeten empirischen Material und zur Skalierungsmethode zu geben. Leser, die an die- sen Informationen nicht interessiert sind, seien auf Abschnitt 2.3 verwiesen, in dem sich ein Überblick über alle Skalen findet. Für diejenigen, die weitere Informationen zu den präsentierten Skalen suchen, sei auf die zitierte Originalliteratur verwiesen.

2.1 Skalen auf der Basis beruflicher Tätigkeiten Die Erfassung beruflicher Tätigkeiten kann unter Verwendung verschiedener Klassifika- tionen erfolgen. Soll sie dazu dienen, irgendeine Form des sozialen Status zu erfassen, eignet sich zur Zeit immer noch die 'Internationale Klassifikation der Berufe' (Interna- tional Standard Classification of Occupations: ISCO) in der Fassung von 1968 am besten. Diese Klassifikation wurde unter der Schirmherrschaft des Internationalen Arbeitsamtes (International Labour Organisation: ILO) von einer multinational zusammengesetzten

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WolJ Sozio-ökonomischer Status und berufliches Prestige 105

Expertenkommission entwickelt. Die Klassifikation von 1968 ist zwar in der Zwischen- zeit durch ISCO-88 (ILO 1990) ersetzt worden, die hier vorgestellten Skalen basieren al- lerdings alle auf der älteren Version (StaBu 1971; vergleiche auch ILO 1986). ISCO-68 führt in seiner 5-stelligen Version über 1.500 verschiedene Berufe auf (ILO 1986: 5) .6 ) Im Rahmen der hier vorgestellten Skalen wird jedoch nur auf die ersten drei Stellen dieser Klassifikation zurückgegriffen, durch welche 283 Berufsgattungen unterschieden werden (vergleiche Tabelle A l im ~ n h a n ~ ) . " "Eine Berufsgattung in der ISCO ist eine Gruppe von Berufstätigkeiten, die untereinander durch die Ähnlichkeit der Merkmale der zu ih- nen gehörenden Arbeitsverrichtungen verwandt sind." (StaBu 197 1 : 10) Das grundle- gende Klassifikationsprinzip von ISCO-68 ist also die ausgeübte berufliche Tätigkeit. Nur am Rande sei bemerkt, daß dies für ISCO-88 nicht gilt (ILO 1990: 2f.; StaBu 1992: 12). Im Gegensatz zu nationalen Klassifikationen der beruflichen Tätigkeiten wie etwa der Klassifikation des amerikanischen Census oder der 'Klassifizierung der Berufe' des Statistischen Bundesamtes (StaBu 1975, 1992), hat die Verwendung von ISCO den Vor- teil, international einheitlich zu sein. 8)

Die in der Sozialforschung verbreitete Erfassung der beruflichen Tätigkeit nach ISCO verdankt sich der Tatsache, daß mindestens drei Skalen des sozio-ökonomischen Status bzw. des Berufsprestiges existieren, die auf diese Klassifikation aufgesetzt werden kön- nen. Es handelt sich dabei um die internationale Berufsprestigeskala von Donald Treiman (1977, 1979), die Magnitude-Prestigeskala von Bernd Wegener (1988) und die relativ neue und hier wahrscheinlich zum ersten Mal in deutscher Sprache vorgestellte interna- tionale Skala des sozio-ökonomischen Status von Harry Ganzeboom et al. (1992).

Die Vorteile bei der Verwendung einer dieser drei Skalen bestehen zum einen in der sehr differenzierten Messung des jeweiligen Konstrukts, zum anderen in bezug auf die Skalen von Treiman und Ganzeboom et al. in der Möglichkeit, international vergleichende Ana- lysen durchzuführen. Der Nachteil dieser Technik besteht darin, daß die berufliche Tätig- keit zunächst im Klartext erfaßt und anschließend mit hohem Aufwand in ISCO kodiert werden muß. Dementsprechend sind diese Verfahren im Falle von Sekundäranalysen nur zu gebrauchen, wenn die berufliche Tätigkeit im Klartext oder als ISCO-Kode vorliegt. Ist dies nicht der Fall, kann jedoch unter Umständen auf Skalen, die auf der Stellung im Beruf basieren, zurückgegriffen werden (auf diesen Punkt wird in Abschnitt 4 noch ge- nauer eingegangen).

TREIMANS INTERNATIONALE BERUFSPRESTIGESKALA (SIOPS) Die wohl bekannteste dieser Skalen ist die von Donald Treiman (1977, 1979) entwickelte 'standardisierte internationale Berufsprestigeskala' (Standard International Occupational Prestige Scale), im folgenden als SIOPS bezeichnet. Die Skala wurde auf der Grundlage

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106 ZUM-Nachrichten 3 7, Jg. 19, November 1995

von Umfragen aus über 50 verschiedenen Ländern entwickelt, darunter so unterschiedli- che Staaten wie die USA, Argentinien, Belgien, Kongo, Ghana, Irak und die UdSSR. Da- bei variierte die methodische Qualität der einzelnen Erhebungen, die Definition der Grundgesamtheit und die betrachteten Berufe beträchtlich. Zudem lagen 20 Jahre zwi- schen der ersten Erhebung, die 1949 durchgeführt wurde, und den jüngsten Erhebungen,

9) die aus dem Jahr 1968 stammen (zu diesen Details vgl. Treiman 1977: 3 lff.). Gemein- sam ist diesen Studien, daß sie Informationen über die Ordnung von Berufen enthalten und daß als Ordnungskriterium meist das soziale Ansehen bzw. die mit dem Beruf ver- knüpfte Ehre verwendet wurde. Die Zahl und Art der jeweils bewerteten Berufe sowie die Erfassung der Bewertungen - 2.B. als Rangreihe oder durch Mittelwertbildung - variiert allerdings von Studie zu Studie.

Nachdem Treiman zunächst durch die Verknüpfung der verschiedenen nationalen Unter- suchungen zeigt, daß die Prestigeordnung der Berufe innerhalb der einzelnen Länder un- abhängig von der jeweils befragten Bevölkerungsgruppe oder dem Erhebungszeitpunkt relativ stabil ist (vgl. Treiman 1977: Kap. 3), wendet er sich der Frage nach der Über- einstimmung der Prestigeordnungen zwischen verschiedenen Gesellschaften zu (Kap. 4). Dieser Vergleich endet mit der verblüffenden Erkenntnis, daß die relative Stellung der Berufe nach ihrem sozialen Prestige im großen und ganzen unabhängig vom betrachteten Land ist. "The general level of intersocietal agreement in the prestige evaluation of occu- pations appears to be very high, and there are no important tendencies for the level of agreement to be greater within particular regions or culture areas than across regions." (Treiman 1977: 102)

Ausgehend von dieser Feststellung scheint Treiman die Erstellung einer international ver- wendbaren Skala des beruflichen Prestiges, auf der Basis von beruflichen Tätigkeiten nach ISCO, vertretbar.'') Diese Skala enthält Prestigewerte fiir 509 berufliche Tätigkeiten. In der hier verwendeten Fassung der Skala werden allerdings nur die Prestigewerte für 283 Be- rufsgattungen, die von der 3-stelligen ISCO-Klassifikation unterschieden werden, verwen- det. Für die berufliche Tätigkeit des Bestatters (ISCO 592) enthält die Treiman-Skala bei- spielsweise den Prestigewert 34. Bezüglich der 3-stelligen ISCO-Klassifikation hat die Treiman-Skala ein Minimum von 14 Punkten E r die Gruppe der (nicht näher spezifizierten) land- und tierwirtschaftlichen Arbeitskräfte (ISCO 629) und ein Maximum von 78 Punkten für die Berufsgruppen der Ärzte (ISCO 061) und Hochschullehrer (ISCO 13 1).

WEGENERS MAGNITUDE-PRESTIGESKALA (MPS) Das zweite auf der ISCO-Klassifikation beruhende Meßinstrument ist die von Bernd We- gener (1988) entwickelte 'Magnitude-Prestigeskala', im folgenden MPS. Diese Skala wurde aus Daten westdeutscher Studien aus den Jahren 1979 und 1980 erstellt. Aus-

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gangspunkt der Skalierung waren die Angaben von 4015 Personen hinsichtlich des ge- sellschaftlichen Ansehens 50 verschiedener ~erufe.") Es scheint, daß als Antwortstimuli einerseits kategoriale Antwortskalen, andererseits Verfahren der Magnitude-Skalierung verwendet wurden (Wegener 1988: 230); genau konnte ich dies anhand der Publikation von 1988 allerdings nicht erschließen. Der erste Schritt der Skalenkonstruktion bestand in der Bestimmung der Prestigewerte der 50 vorgegebenen Berufe auf der Basis der Magni- tude-Skalierung durch die Befragten. Die MPS-Werte der anderen Berufsgruppen be- stimmte Wegener (1988: 236ff.) unter Rückgriff auf Treimans Prestige- und S~rensens (1977, 1979) ~tatuserwerbsskala.") Das Ergebnis ist eine Skala, bei der wie im Falle Treimans der Arzt (ISCO 061) mit einem Prestigewert von 186,8 an der Spitze steht. Am unteren Ende der Prestigeskala findet sich mit 20,O Punkten die Gruppe der Handlanger bzw. ungelernten Arbeiter ohne nähere Bezeichung (ISCO 999).

DIE INTERNATIONALE SKALA DES SOZIO-ÖKONOMISCHEN STATUS (ISEI) Ein weiteres international vergleichbares Meßinstrument ist der kürzlich von Ganzeboom, De Graaf, Treiman und de Leeuw (1 992) vorgestellte 'standardisierte internationale sozio- ökonomische Index des beruflichen Status' (standard International Socio-Economic Index of occupational status), kurz ISEI. Diese Skala mißt also nicht das Prestige, sondern den sozio-ökonomischen Status der beruflichen Tätigkeiten. Die Skala wurde auf der Grund- lage von Informationen über das Einkommen, die Bildung und den Beruf von knapp 74.000 vollzeitbeschäftigten Männern im Alter zwischen 21 und 64 Jahren entwickelt (Ganzeboom et al. 1992: 13f.). Die Daten stammen aus insgesamt 3 1 Untersuchungen aus 16 verschiedenen Ländern, die zwischen 1968 und 1982 durchgeführt wurden.

Die Autoren gehen von der Überlegung aus, daß jede berufliche Tätigkeit einen bestimm- ten Bildungsgrad erfordert und durch eine bestimmte Höhe des Arbeitseinkommens be- lohnt wird. Folglich definieren sie den sozio-ökonomischen Status "as the intervening variable between education and income that maximizes the indirect effect of education on income and minimizes the direct efSect" (Ganzeboom et al. 1992: lOf., Herv. im Orig.). Technisch erfolgte die Erstellung von ISEI, indem in einem iterativen 'optimal scaling' Verfahren die Berufsgruppen der ISCO-Klassifikation so skaliert wurden, daß sie die er- wähnten Bedingungen erfüllten. 13)

Auch diese Skala soll hier nur auf der Ebene des 3-stelligen ISCO-Kodes verwendet wer- den. Mit einem Minimum von 10 Statuspunkten befindet sich hier wiederum die Tätigkeit als (nicht näher spezifizierte) land- und tienvirtschaftliche Arbeitskraft (ISCO 629) am unteren Ende der Skala. Angeführt wird sie von Richtern (ISCO 122), die 90 Status- punkte erhalten.

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2.2 Skalen auf Basis der beruflichen Stellung Das Merkmal 'Stellung im Beruf wird meist als geschlossene Frage erhoben. Bei der gro- ben Klassifikation wird zwischen den sozialrechtlichen Kategorien Landwirte, freie Be- rufe, Selbständige, mithelfende Familienangehörige, Beamte, Angestellte und Arbeiter unterschieden. Eine feinere Klassifikation, auf der die hier vorzustellenden Skalen beru- hen, wurde erstmals bei der Mikrozensus-Zusatzerhebung "Berufliche und soziale Um- schichtung der Bevölkerung" im April 1971 (im folgenden: MZU71) verwendet. Obwohl diese Klassifikation in der amtlichen Statistik nicht mehr genutzt wird, ist sie mittlerweile - in leicht abgewandelter Form - zum Standardinstrument der empirischen Sozialfor- schung geworden (Ehling et al. 1992) und wird z.B. regelmäßig im ALLBUS oder im Sozialwissenschaften-Bus eingesetzt.14) Die hier verwendete feine Klassifikation unter- scheidet bei den Landwirten, den Angehörigen freier Berufe und den Selbständigen nach der Betriebsgröße bzw. nach der Zahl der Beschäftigten, bei den Beamten nach dem Laufbahntypus, bei den Angestellten nach dem Autonomiegrad ihrer Tätigkeit und bei den Arbeitern nach dem Grad ihrer ~ u s b i l d u n ~ . ' ~ ) In der hier verwendeten Form unter- scheidet die feine Klassifikation 26 verschiedene Stellungen im Beruf (im folgenden auch kurz StiB). Eine vergleichende Übersicht über die Kategorien, mit denen das Merkmal 'Stellung im Beruf in der Zusatzuntersuchung zum Mikrozensus 1971 erhoben wurde und wie es heute im ALLBUS erhoben wird, findet sich in den Tabellen A2 und A3 im An- hang.

Verfahren zur Bestimmung des sozio-ökonomischen Status bzw. des Berufsprestiges auf Basis der beruflichen Stellung finden sich in Deutschland bei Heinrich Tegtmeyer (1976a,b), Johann Hand1 (1977) sowie bei Kar1 Ulrich Mayer (1977). Als Datengrundlage zur Skalenkonstruktion verwenden diese Autoren die Daten der oben erwähnten Mikro- zensus-Zusatzerhebung, MZU71. Dabei greifen sie jedoch jeweils auf unterschiedliche Teilmengen dieser Untersuchung zurück und bedienen sich verschiedener Konstruktions- verfahren zur Entwicklung ihrer Skalen. Schließlich hat Jürgen Hoffmeyer-Zlotnik (1993) jüngst einen Index vorgeschlagen, der ebenfalls aus der beruflichen Stellung abgeleitet ist.

TEGTMEYERS SKALA DES SOZIO-ÖKONOMISCHEN STATUS (TSES) Zur Konstruktion einer Skala des sozio-ökonomischen Status auf der Basis von StiB (Stellung im Beruf) wählt Tegtmeyer (1976a: 52) aus dem vorliegenden Material der MZU71 alle zum Zeitpunkt der Erhebun Erwerbstätigen im Alter von 16 bis 65 Jahren

1 8 mit Ausnahme der Auszubildenden aus. Durch diese Einschränkung verbleiben ihm je nach betrachtetem Merkmal zwischen 200.000 und 223.000 Personen. Für diese Teil- stichprobe betrachtet Tegtmeyer zunächst die Beziehungen zwischen den Merkmalen Ge- schlecht, Alter, Einkommen, Schulabschluß und Stellung im Beruf.

17)

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Wolf Sozio-ökonomischer Status und berufliches Prestige 109

Ausgehend von der Beobachtung eines engen Zusammenhangs zwischen Schulabschluß, beruflicher Stellung und Einkommen, entschließt sich Tegtmeyer zur Bildung einer Skala des sozio-ökonomischen Status. "Dieser Konzeption entsprechend wird jede berufliche Stellung durch das mit ihr verbundene Qualifikations- und Gratifikationsniveau ... ge- kennzeichnet."'*) (Tegtrneyer 1976a: 58) Die verschiedenen Ansätze, die Tegtmeyer zur Konstruktion einer Skala verwendet, sollen hier nicht dargestellt werden (vgl. Tegtmeyer 1976a: 58ff.). Das Ergebnis sind verschiedene Skalen, von denen hier diejenige aufgegrif- fen wird, die Tegtmeyer (1976a: 64) selbst als die geeignetste bezeichnet. In die Kon- struktion dieser Skala fließt nur die Schulbildung und das Einkommen ein, welche auf die berufliche Stellung abgebildet werden.19' Am unteren Ende der Skala des sozio-ökonomi- schen Status steht die Gruppe der ungelernten Arbeiter mit -58,4 Punkten. Angeführt wird sie von der Gruppe der Beamten im höheren Dienst (91,2 Punkte).

TEGTMEYERS SKALA DES BERUFSPRESTIGES (TBP) Tegtmeyer (1976b: 71) versteht unter Sozialprestige den subjektiv wahrgenommenen Ausdruck der sozialen Schichtung. Demzufolge verwendet er bei seiner Skalenkonstruk- tion im Gegensatz zu Treiman und Wegener keine Urteile über das soziale Ansehen ein- zelner Berufe, sondern Urteile über die subjektive Einschätzung der intergenerationalen beruflichen Mobilität. Als Datengrundlage zur Entwicklung einer Skala des beruflichen Prestiges dient ihm wiederum die MZU71. Allerdings muß er hier auf eine andere Teil- stichprobe zurückgreifen, da die benötigten Angaben nicht für alle Befragten vorliegen. 20)

Insgesamt können knapp 134.000 Fälle in die Analyse einbezogen werden. Dabei handelt es sich um 14 bis 50jährige Personen, die zur Zeit der Befragung erwerbstätig waren und vollständige Angaben zu allen drei bei der Erstellung dieser Skala verwendeten Indikato- ren gemacht haben. Bei diesen Indikatoren handelt es sich um folgende Fragen (Tegt- meyer 1976b: 76): 1) Sind Sie gegenwärtig erwerbstätig (StiB, 22 Kategorien)?; 2) War Ihr Vater erwerbstätig, als Sie 15 Jahre alt waren (StiB, wie I)?; 3) Wenn Sie Ihre heutige berufliche Stellung mit der Ihres Vaters vergleichen, wie schätzen Sie sich ein? (0) niedriger, (1) ungefähr gleich, (2) etwas höher, (3) viel höher?

Ausgangspunkt der Skalenkonstruktion bildet nun die Kreuztabellierung der eigenen be- ruflichen Stellung mit derjenigen des Vaters. Dabei betrachtet Tegtmeyer einerseits die durchschnittlichen Einschätzungen der eigenen Position im Vergleich zu der des Vaters, andererseits die Differenz zwischen dem Prozentsatz von Personen in jeder Zelle, der die eigene Stellung im Vergleich zur Stellung des Vaters höher einschätzt und dem Prozent- satz von Personen, der die eigene Stellung niedriger einschätzt (vgl. Tegtmeyer 1976b: 92/93). Auf der Grundlage dieser Tabellen unternimmt Tegtmeyer mehrere Anläufe zur Entwicklung einer Prestigeskala. Obwohl er keine der sich ergebenden Skalen explizit als

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'Beste' bezeichnet, deuten seine Ausfihrungen doch auf die Überlegenheit der 7. und 8. Skala hin (vgl. insbesondere Tegtmeyer 1976b: 90f.). Da diese beiden Skalen nahezu per- fekt korreliert2" sind, soll hier nur die letzte Skala verwendet werden.12) Wie bei Tegt- meyers Skala des sozio-ökonomischen Status belegt die Gruppe der Beamten im höheren Dienst den obersten Platz (94,4 Punkte), während sich die Gruppe der ungelernten Arbei- ter auf dem untersten Platz (-48,9 Punkte) der Prestigeskala befindet.

HANDLS SKALA DES SOZIO-ÖKONOMISCHEN STATUS (HSES) Zur Entwicklung einer Skala des sozio-ökonomischen Status verwendet Handl (1977) wie Tegtmeyer die MZU71. Von den zahlreichen von Handl angebotenen Skalen soll hier diejenige, die von ihm selbst bevorzugt wird, Verwendung finden (Handl 1977: 126, 152).~" Zur Entwicklung dieser Skala greift Handl auf eine Teilstichprobe von knapp 78.000 männlichen Personen, die zwischen 1920 und 1940 geboren wurden, zurück. Ne- ben den auch von Tegtmeyer herangezogenen Merkmalen Schulbildung, Einkommen und berufliche Stellung, verwendet Handl zur Konstruktion seiner Skala auch die Merkmale berufliche Ausbildung und ausb besitz.^^) Das zentrale Merkmal der beruflichen Stellung wird von Handl allerdings gegenüber der ursprünglichen Version, die auch Tegtmeyers Skalen zugrunde liegt, erweitert. Zum einen versucht er, unter Berücksichtigung der Bil- dung und des Wirtschaftszweiges, die Angehörigen freier Berufe von den anderen Selb- ständigen zu trennen. Darüber hinaus findet eine Differenzierung der Angestellten nach solchen im öffentlichen Dienst und solchen in der Privatwirtschaft sowie eine Unter- scheidung der Arbeiter nach verschiedenen Branchen statt. Mithelfende Familienangehö- rige werden dagegen aus der Betrachtung ausgeschlossen. Insgesamt enthält die von Handl verwendete StiB-Klassifikation 34 verschiedene Kategorien.

Zur Konstruktion der Skala verwendet Handl die von Guttman entwickelte Methode der kanonischen Skalierung (multivariate analysis of contingencies), da diese lediglich nomi- nalskalierte Merkmale voraussetzt. Ähnlich wie die modernen Verfahren zur Homogeni- tätsanalyse (Gifi 1990), wird ''jede einzelne Kategorie all jener Variablen, die bei einem bestimmten Skalierungslauf berücksichtigt werden, so gewichtet, daß die Korrelation zwischen den gewichteten Variablen maximiert wird" (Handl 1977: 105). Angeführt wird Handls Skala des sozio-ökonomischen Status in der Originalfassung durch die Angehöri- gen der freien Berufe mit mindestens zwei Mitarbeitern (371 Punkte). Mit 10 Punkten nehmen die ungelernten Arbeiter in der Landwirtschaft die am niedrigsten bewertete be- rufliche Stellung ein.

MAYERS BERUFSPRESTIGESKALA (MBP{~) Mayer wählt als Ausgangspunkt seiner Skalenkonstruktion die Annahme, soziale Un- gleichheit drücke sich nicht so sehr in den Verteilungen von Einkommen, Bildung etc.

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Wow Sozio-ökonomischer Status und berufliches Prestige 111

aus, "sondern in sozialen Beziehungen der Ausschließung und zugehörigkeit, der Über- und Unterordnung, die durch unterschiedliche Machtressourcen ökonomischer, physisch- rechtlicher und symbolischer Art erzwungen werden" (Mayer 1977: 155f.). In dieser Per- spektive werden soziale Beziehungen und nicht einzelne Personen oder Positionen zu den betrachteten Analyseeinheiten. Mit anderen Worten: der empirische Zugang zur Erfas- sung sozialer Schichtung beruht bei Mayer auf relationalen Merkmalen. Das empirische Material, wiederum die MZU71, enthält entsprechende Informationen fur eine besonders wichtige Form sozialer Relationen, für Heiratsbeziehungen.

Etwa 67.500 Ehepaare bilden die empirische Grundlage von Mayers Analysen. Für diese Paare konnte ermittelt werden, welche berufliche Stellung der Mann zum Zeitpunkt der Befragung (1971) hatte und welche berufliche Stellung der Vater der Ehefrau einnahm, als diese 15 Jahre alt war (Mayer 1977: 1 7 2 ) . ~ ~ ' Das zentrale Merkmal 'berufliche Stel- lung' wurde von Mayer in der gleichen Weise wie von Hand1 (S.O.) gebildet; es werden also 34 Kategorien unterschieden. Durch die Kreuztabelliening der beruflichen Stellung des Ehemannes und des Schwiegervaters erhält Mayer eine quadratische Heiratsmatrix, für die er zunächst Abstromquoten, Zustromquoten, Assoziationsindizes und weitere Maßzahlen berechnet und diskutiert. Die eigentliche Skalenkonstruktion erfolgt durch eine multidi- mensionale Skalierung dieser Heiratsmatrizen. Unter den verschiedenen Versuchen, eine befriedigende Skalierungslösung zu erhalten, schneiden diejenigen, bei denen Dissimi- laritätsindizes auf der Basis von Abstrom- bzw. Zustromquoten verwendet wurden, ge- messen am Anteil der erklärten Varianz, am besten ab. Eine auf Mittelwertbildung beru- hende Zusammenfassung dieser beiden Skalen fuhrt zu der Skala des 'sozialen Status' (Mayer 1977: 2 15f.), die hier als Mayers Skala des Berufsprestiges bezeichnet werden soll (s. Fußnote 25). Diese Skala reicht von den ungelernten Arbeitern in der Landwirt- schaft (10 Punkte) bis zu den Angehörigen der freien Berufe mit mindestens zwei Mitar- beitern (3 11 Punkte).

HOFFMEYER-ZLOTNIKS INDEX DER AUTONOMIE DES BERUFLICHEN HANDELNS (HZA) Das letzte vorzustellende Maß, wurde von Hoffmeyer-Zlotnik (1 993) vorgeschlagen und beruht ebenfalls auf der Feinklassifikation der beruflichen Stellung. Im Gegensatz zu den anderen hier zusammengestellten Instrumenten ist der Index von Hoffmeyer-Zlotnik nicht das Ergebnis eines Skalierungsprozesses, sondern eine mehr oder weniger theoretisch be- gründete Zusammenfassung und Ordnung der verschiedenen StiB Kategorien nach dem Grad ihrer Handlungsautonomie. Die Gruppierung erfolgt in fünf ordinal geordnete Kate- gorien von 1 'niedrige Autonomie des Handelns' (z.B. ungelernte Arbeiter) bis 5 'hohe Autonomie des Handelns' (z.B. Angestellte mit umfassenden Führungsaufgaben). Auf- grund der recht hohen Korrelation von 0,79 mit Treimans Berufsprestige, schließt Hoff-

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meyer-~lotnik (1 993: 14 I), daß sein Konstrukt "eine vergleichbar gute SES-Variable" darstellt.") Nicht nur, daß die berichtete Korrelation keineswegs perfekt ist, sondern auch das Fehlen einer analytischen Differenzierung von Berufsprestige und SES verwundert. Daß diese Maßzahl hier dennoch aufgeführt wird, hat zwei Gründe: Zum einen ist sie leicht aus StiB rekonstruierbar, zum anderen haben eine Reihe von empirischen Analysen gezeigt, daß sie sich im Vergleich mit den anderen Skalen gut bewährt.

2.3 Die Skalen im Überblick In Tabelle 1 sind die Bezeichnungen und Quellen aller hier vorgestellten Skalen zusam- mengefaßt. Tabelle 2 enthält für jede berufliche Stellung die Skalenwerte aller hier vor- gestellten Skalen. Dabei wurden diejenigen Skalen, die auf ISCO basieren, durch Mittel- wertbildung auf das Merkmal Stellung im Beruf umgebrochen. Die vollständige Fassung der auf ISCO basierenden Skalen finden sich in Tabelle A l des Anhangs. Ebenfalls im Anhang finden sich Angaben zu den Standardabweichungen der aggre ierten Skalen sowie zu den Besetzungszahlen der einzelnen ISCO- und StiB-Kategorien. 2%

Tabelle 1: Namen und Herkunft der Skalen

a: ISCO: Intemational Standard Classification of Occupations b: StiB: Stellung im Beruf

Kürzel

SIOPS

MPS

ISEI

TSES

TBP

HSES

MBP

HZA

Die Aggregation der ISCO basierten Skalen auf die Stellung im Beruf sei am Beispiel des SIOPS-Wertes der Angestellten mit einfachen Tätigkeiten (StiB-Kategorie 51) erläutert. In dieser Gruppe, wie auch in allen anderen Gruppen, werden die unterschiedlichsten be- ruflichen Tätigkeiten ausgeübt. So handelt es sich bei den Angestellten mit einfachen Tä- tigkeiten unter anderem um technische Zeichner, Apothekenassistenten, Krankenpfleger,

Konstrukth3ezeichnung

Standard International Occupational Prestige Scale

Magnitude-Prestigeskala

International Socio-Economic Index

Sozio-ökonomischer Status

Berufsprestige

Sozio-ökonomischer Status

Berufsprestige

Autonomie der Tätigkeit

Basis

ISCOa

ISCO

ISCO

~ t i ~ ~

StiB

StiB

StiB

StiB

Autor

Treiman (1977, 1979)

Wegener (1988)

Ganzeboom et al. (1 992)

Tegtmeyer (1 976a)

Tegtmeyer (1 976b)

Hand1 (1 977)

Mayer (1977)

Hoffmeyer-Zlotnik (1 993)

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Wolf Sozio-ökonomischer Status und berufliches Prestige 113

Buchhalter und Verkäufer. Diese beruflichen Tätigkeiten weisen auf der Skala von Trei- man jeweils verschiedene Berufsprestigewerte auf. Bilden wir den Mittelwert dieser Prestigewerte über alle Personen, die ihre berufliche Stellung als Angestellte mit einfa- chen Tätigkeiten bezeichneten, so erhalten wir den in Tabelle 2 ausgewiesenen Wert von 35,7 Punkten. In derselben Weise wurde für die anderen Kategorien der beruflichen Stel- lung und für die anderen ISCO basierten Skalen verfahren.

Wie im folgenden gezeigt wird, sind die Skalen hoch miteinander korreliert. Größere Abweichungen zwischen ihnen zeigen sich lediglich bei den Landwirten. Während diese bei den auf StiB aufbauenden Skalen mit zunehmender Betriebsgröße höhere Werte zu- gewiesen bekommen, verhält es sich bei den ISCO basierten Skalen tendenziell umge- kehrt. Dieser zunächst irritierende Tatbestand läßt sich durch eine genauere Inspektion der Daten leicht erklären. ISCO unterscheidet bei den Landwirten lediglich danach, ob es sich um solche im Allgemeinbetrieb (61 1) oder Spezialbetrieb (612) handelt. Alle drei Skalen weisen den Landwirten im Spezialbetrieb höhere SES- bzw. Prestigewerte zu als denen im Allgemeinbetrieb. Bei einer Gegenüberstellung von ISCO und StiB zeigt sich nun, daß die Landwirte im Spezialbetrieb ganz überwiegend über kleine Höfe, diejenigen im Allgemeinbetrieb eher über größere Höfe verfugen. Interessant ist in diesem Zusam- menhang noch, daß Tegtmeyer (1976b: 78) ein ähnliches Ergebnis berichtet und diese 'Inkonsistenz' auf Zufallsfehler zurückfuhrt. Erst durch mehrere 'Korrekturen' erhält er schließlich für die Landwirte Prestigewerte, die mit zunehmender Hofgröße ansteigen.

3. Die Korrelationen zwischen den Skalen

Betrachten wir nun die empirische Beziehung zwischen den einzelnen Skalen. Eine ent- sprechende Untersuchung kann auf zwei verschiedenen Analyseebenen erfolgen. Zum ei- nen können die einzelnen Berufsgruppen bzw. beruflichen Stellungen als Analyseeinhei- ten verwendet werden. Zum anderen können wir die Korrelationen zwischen den Skalen auf der Ebene von Personen untersuchen. Tabelle 3 enthält die entsprechenden Korrela- tionen der Skalen für beide Betrachtungsweisen.

In der oberen Dreiecksmatrix findet sich der Zusammenhang zwischen den Skalen auf der Basis der einzelnen ISCO- bzw. StiB-Kategorien. Innerhalb der ISCO-Skalen (hier in der nicht-aggregierten ursprünglichen Form) zeigt sich ein enger Zusammenhang zwischen SIOPS und MPS. Da Wegener (1988) bei der Konstruktion von MPS explizit auf SIOPS zurückgreift, ist dies nicht verwunderlich. Aber auch die Korrelation zwischen den beiden internationalen Skalen SIOPS und ISEI ist mit 0,88 beachtlich.

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114 ZUMA-Nachrichten 3 7, Jg. 19, November 1995

Tabelle 2: Die Skalen auf der Basis der beruflichen Stellung (inkl. der aggregierten ISCO Skalen)=

a) Die auf ISCO basierenden Skalen SIOPS, MPS und ISEI sind hier anhand des kumulierten ALLBUS 1980-1992 auf StiB aggregiert (Variable V288).

Stellung im Beruf (ALLBUS) Landwirte 10 bis 9 ha 11 10-19 ha 12 20-49 ha 13 50 ha U. mehr freie Berufe 15 bis 1 Mitarb. 16 2-9 Mitarb. 17 1O.u.m. Mit. Selbständige 21 bis 1 Mitarb. 22 2-9 Mitarb. 23 10-49 Mitarb. 24 50 u.m. Mit. Angehörige 30 Mithelfende Beamte 40 einf. Dienst 41 mittl. Dienst 42 gehob. Dienst 43 höh. Dienst Angestellte 50 Werkmeister 5 1 einf. Tätigk. 52 schw. Aufg. 53 selbst. Leist. 54 Führungsauf. Arbeiter 60 Ungelernte 6 1 Angelernte 62 Facharbeiter 63 Vorarbeiter 64 Meister,Pol.

Agg. SIOPS

46,4 41,O 40,8 40,s

60,4 66,6 70,3

43,5 43,6 49,8 55,7

39,7

38,3 44,4 55,O 62,2

42,l 35,7 45,l 51,7 54,5

26,8 31,s 36,8 37,O 38,8

Agg. MPS

53,8 53,6 53,6 53,6

108,O 129,4 145,2

68,4 65,8 78,2 92,2

56,5

58,7 67,3 89,l 117,7

55,6 50,2 68,2 88,4 101,2

34,l 41,2 45,5 45,s 49,4

Agg. ISEI

27,3 26,2 26,2 26,2

67,3 76,5 79,9

49,4 47,3 54,4 58,9

38,O

45,9 53,O 63,2 70,6

41,8 44,9 51,5 573 60,3

29,7 33,9 35,l 35,9 36,7

TSES

-6,3 -6,3 7,7 7,7

23,8 60,l 74,4

23,8 60,l 74,4 74,4

-18,2

-15,9 29,5 75,4 91,2

29,9 -19,5 27,6 65,7 79,2

-58,4 -36,2 -1,0 9,2 29,9

TBP

-5,7 -5,7 11,7 11,7

32,5 66,8 81,3

32,5 66,8 81,3 81,3

-19,3

6,6 33,4 62,4 94,3

28,4 -2,3 26,2 57,4 85,6

-48,9 -30,l -2,3 8,l 28,4

HSES

37 44 72 105

344 371 371

157 216 284 284

---

73 122 279 344

124 90 152 270 310

23 35 56 70 99

MBP

43 63 100 135

269 311 311

132 162 208 208

---

99 152 215 278

141 126 166 206 247

32 65 92 101 125

HZA

2 2 2 2

3 4 5

3 4 5 5

3

2 3 4 5

4 2 3 4 5

1 1 2 3 4

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W o v Sozio-ökonomischer Status und berufliches Prestige 115

Tabelle 3: Korrelationen zwischen den Skalen (Pearsons r)=

a) Die obere Dreiecksmatrix bezieht sich auf die 283 Berufsgruppen bzw. die 26 StiB-Kategorien. Die untere Dreiecksmatrix bezieht sich auf Vollzeitbeschäftigte mit gültigen und vollständigen Angaben zu ISCO bzw. StiB (N zwischen 7570 und 88 1 7). b) X: Korrelation Iäßt sich aufgrund unterschiedlicher Analyseeinheiten nicht bestimmen.

SIOPS MPS

ISEI

TSES

TBP

HSES

MBP

HZA

Zwischen den Skalen, die auf der Stellung im Beruf basieren, bestehen ähnlich hohe Kor- relationen. Vor allem die beiden Skalen von Tegtmeyer sowie die Skalen von Handl und Mayer erweisen sich als nahezu identisch. Dagegen fallen die Korrelationen zwischen Tegtmeyers SES und Handls SES bzw. Tegtmeyers Prestige und Mayers Prestige deutlich niedriger aus. Da Tegtmeyer für seine Skalen eine etwas andere Klassifikation der beruf- lichen Stellung verwendet als Handl und Mayer, deutet einiges darauf hin, daß die Ähn- lichkeit der Skalen weniger von dem theoretischen Konstrukt, als vielmehr von der ver- wendeten Klassifikation abhängt.

SIOPS MPS ISEI TSES TBP HSES MBP HZA

--- 0,93 0,88 xb X X X X

0,86 --- 0,89 X X X X X

0,84 0,87 --- X X X X X

0,61 0,65 0,64 --- 0,98 0,87 0,84 0,94

0,60 0,66 0,65 0,98 --- 0,89 0,87 0,93

0,63 0,71 0,71 0,93 0,94 --- 0,97 0,83

0,64 0,71 0,73 0,90 0,92 0,96 --- 0,80

0,58 0,63 0,62 0,96 0,97 0,90 0,89 ---

Werden statt der einzelnen Berufsgattungen bzw. beruflichen Stellungen Personen als Analyseeinheiten verwendet, erhält man die in der unteren Dreiecksmatrix von Tabelle 3 wiedergegeben Korrelationen. Hier fallt der enge Zusammenhang zwischen allen auf StiB basierenden Skalen auf. Aber auch SIOPS, MPS und ISEI weisen mit Korrelationen zwi- schen 0,84 und 0,87 noch starke Gemeinsamkeiten auf. Dagegen sind die Korrelationen zwischen den StiB basierten Skalen einerseits und den (nicht-aggregierten) ISCO-Skalen andererseits deutlich geringer.29) Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, daß die verwendete Klassifikation bedeutsamer ist als das der Skalierung zugrundegelegte theoretische Kon- zept des sozialen Status.

Aggregiert man die ISCO basierten Skalen durch Mittelwertbildung auf die feine Klassi- fikation der beruflichen Stellung, so wie sie sich in Tabelle 2 findet, ergeben sich deutlich höhere Korrelationen zwischen den Skalen. Zwischen SIOPS, MPS und ISEI auf der ei-

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nen und den StiB basierten Skalen auf der anderen Seite liegen diese deutlich über 0,80, in der Mehrzahl der Fälle sogar über 0,90. Geht man noch einen Schritt weiter und ag- gregiert alle Skalen auf die sieben groben sozialrechtlich relevanten beruflichen Stellun- gen, die in Tabelle A5 aufgeführt sind, so ergeben sich empirisch kaum noch bedeutsame Unterschiede zwischen ihnen: alle Korrelationen betragen mindestens 0,9, 16 von 28 Korrelationen sind sogar größer als 0,95. Schließlich sei darauf hingewiesen, daß der 'primitive' Index von Hoffmeyer-Zlotnik (1993) erstaunlich hohe Korrelationen zu den anderen auf StiB basierenden Instrumenten aufweist. 30)

Obwohl sich die theoretischen Ansätze und die angewandten methodisch-statistischen Verfahren der hier präsentierten Skalen zum Teil erheblich voneinander unterscheiden, reflektieren sie anscheinend doch die gleiche empirische Dimension. Mayer (1987: 380) charakterisiert diese Situation treffend mit dem Hinweis, es handele sich, im Sinne Peter Blaus (1 977), um die Konsolidierung verschiedener struktureller Parameter.

4. Zur Verwendung der Skalen

In der hier präsentierten Form lassen sich die einzelnen Skalen immer dann ohne weiteres verwenden, wenn das Datenmaterial die ISCO- bzw. StiB-Klassifikation in der hier ver- wendeten Version enthält. Ist dies wie etwa im ALLBUS der Fall, genügt die einfache Zuweisung der jeweiligen Skalenwerte zu den entsprechenden Kategorien. Aber auch, wenn die gerade interessierende Studie die Berufsvariable abweichend von den hier ver- wendeten Klassifikationen enthält, muß nicht notwendigerweise auf den Einsatz dieser Meßinstrumente verzichtet werden. Sobald das interessierende Material Angaben zur be- ruflichen Stellung enthält, können die Skalen ohne großen Aufwand auf eine etwas an- dere Kategorisierung abgestimmt werden. Die in solchen Fällen notwendig werdende Anpassung der Skalenwerte soll an einem Beispiel demonstriert werden.

Im Familiensurvey des DJI wurde die Stellung im Beruf etwas abweichend von der hier verwendeten Klassifikation erfaßt (Alt/Härtl 1993: 50). Für Landwirte und die Angehöri- gen freier Berufe liegt jeweils nur eine Kategorie vor, sie wurden also nicht nach der Be- triebsgröße bzw. der Zahl der Mitarbeiter differenziert erfaßt. Bei den Selbständigen wur- den außerdem die Kategorien '10 bis 49 Mitarbeiter' und '50 und mehr Mitarbeiter' zu- sammengefaßt (vgl. Tabelle 4). Um dennoch eine der hier vorgelegten Skalen verwenden zu können, müssen wir diesen Abweichungen gegenüber unserer StiB-Klassifikation Rechnung tragen. Dazu verwenden wir für die Landwirte und die Angehörigen der freien Berufe die in Tabelle A5 zusammengestellten Skalenwerte. Hierbei handelt es sich um die auf die groben sozialrechtlichen Kategorien (Landwirte, freie Berufe, Selbständige, mit- helfende Familienangehörige, Beamte, Angestellte und Arbeiter) aggregierten Mittel-

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werte der einzelnen Skalen. Eine Inspektion der Standardabweichungen (ebenfalls Ta- belle A5) zeigt, daß die Kategorie der Landwirte nur relativ wenig Variation in bezug auf unsere Skalen aufweist. Der Infonnationsverlust, den wir aufgrund der Zusammenfassung der Landwirte hinnehmen müssen, hält sich also in Grenzen. Innerhalb der Gruppe der freien Berufe dagegen ist für die meisten Skalen eine deutlich höhere Heterogenität zu beobachten. Allerdings beträgt der Anteil dieser Gruppe an allen Erwerbstätigen (im ALLBUS) gerade 1,6 Prozent, so daß wir auch hier von einem vertretbaren Infonnations- verlust ausgehen können.

Damit fehlen nun nur noch Skalenwerte für die Gruppe der Selbständigen mit mindestens 10 Mitarbeitern. Da die StiB-basierten Skalen in ihrer ursprünglichen Fassung (vgl. Ta- bellen 2, A2 und A3) auch nicht zwischen diesen Gruppen differenzieren, können wir für diese Skalen einfach den Originalwert verwenden. Im Fall der ISCO basierten Skalen verwenden wir für die zusammengefaßte Guppe den gewichteten Mittelwert aus den (auf die feine StiB-Klassifikation aggregierten) Skalenwerten. Diese finden sich einschließlich der absoluten Größe jeder StiB-Kategorie in Tabelle A4. Der SIOPS-Wert für die Gruppe aller Selbständigen mit mindestens 10 Mitarbeitern ergibt sich dann aus dem Wert für die Selbständigen mit 10 bis 49 Mitarbeitern (49,8) multipliziert mit der Größe dieser Gruppe (61) zuzüglich dem SIOPS-Wert für die Selbständigen mit 50 und mehr Mitarbeitern (55,7) multipliziert mit der Größe dieser Gruppe (9). Teilt man diese Summe nun noch durch die Größe der zusammengefaßten Gruppe (70), erhält man den entsprechenden neuen Skalenwert. Also: (49,8*61 + 55,7*9)/70 = 50,6. In gleicher Weise kann mit MPS und ISEI verfahren werden.

Die in Tabelle 4 aufgeführten Skalenwerte können nun mit den unverändert übernomme- nen Skalenwerten für die übrigen Kategorien zusammengefaßt werden. Somit liegen acht Indikatoren für den sozio-ökonomischen Status bzw. das Berufsprestige für eine Untersu- chung vor, die zunächst eine einfache Übernahme dieser Skalen nicht gestattet. Sobald ein Datensatz Informationen über die berufliche Stellung enthält, können die hier präsen- tierten Skalen auf diese Weise für sekundäranalytische Zwecke nutzbar gemacht werden. Inwieweit die so abgewandelten Skalen für die empirische Analyse brauchbar sind, hängt in erster Linie von dem Differenzierungsgrad der verwendeten StiB-Klassifikation ab. Ein schlechter Indikator ist jedoch meist besser als gar keiner.

Sollte das zu analysierende Material nur Informationen zur beruflichen Tätigkeit und nicht zur beruflichen Stellung enthalten, und sollte diese nicht nach ISCO, sondern nach einer anderen Klassifikation kodiert sein, werden die hier zusammengestellten Instru- mente kaum genutzt werden können. In dieser Situation hängt die Möglichkeit zur Ver- wendung der ISCO basierten Skalen davon ab, ob die ursprünglich verwendete Klassifi-

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kation der beruflichen Tätigkeit sich in ISCO abbilden Iäßt. Auch wenn dies wie im Fall der Klassifizierung der Berufe des Statistischen Bundesamtes (1 975, 1992) theoretisch möglich ist, ist dieser Weg sehr aufwendig und aufgrund der Zuordungsprobleme meines Erachtens besonders anfällig fur Fehler. Deshalb würde ich, wo immer dies möglich ist, den oben am Beispiel des Familiensurvey beschriebenen Weg über die berufliche Stel- lung empfehlen.

Tabelle 4: Von der ALLBUS-Klassifikation abweichende StiB-Kategorien des Familiensuweys und entsprechend angepaßte Skalenwerte

5. Zusammenfassung

Die Verwendung einer oder mehrerer der hier zusammengetragenen Skalen erlaubt für alle Datensätze, in denen die berufliche Tätigkeit mit Hilfe von ISCO erfaßt wurde oder in denen Informationen zur beruflichen Stellung enthalten sind, die Messung des sozio- ökonomischen Status und des Berufsprestiges. Um die Verwendung dieser Skalen noch weiter zu vereinfachen, stelle ich allen Interessenten gerne zwei Dateien zur Verfügung, in denen die hier präsentieren Skalen enthalten sind. Bei diesen Dateien handelt es sich um SPSS Systemdateien, die durch ein einfaches MATCH FILE-Kommando dem beste- henden Datensatz zugespielt werden können.

31)

Stellung im Beruf (Familiensurvey) Landwirte

freie Berufe

Selbst., bis 1 Mitarb. Selbst., 2-9 Mitarb. Selbst., 10 u.m. Mit.

Eine Analyse des Zusammenhangs zwischen den Skalen zeigte, daß diese zum Teil au- ßerordentlich hoch miteinander korrelieren. Andere Analysen, die hier nicht präsentiert wurden, ergaben darüber hinaus, daß die Skalen auch mit anderen Merkmalen wie politi- schen Einstellungen, subjektiver Schichteinstufung, der Oben-Unten-Skala oder den Goldthorpe Klassen alle in etwa gleich hoch korrelieren. In diesen Analysen finden sich keine Hinweise auf die Überlegenheit einer einzelnen Skala. Obwohl nicht ausgeschlos- sen ist, daß weitere Analysen Hinweise auf die besondere Eignung bestimmter Skalen er- geben, lassen sich zur Zeit lediglich pragmatische Argumente zur bevorzugten Nutzung. einer einzelnen Skala anfuhren.

TSES

0,9

44,3

23,8 60,l 74,4

SIOPS

42,2

63,9

4 3 3 43,6 50,6

TBP

3,l

51,9

32,5 66,8 81,3

MPS

54,5

120,8

68,4 65,8 80,O

HSES

62,O

355,2

157,O 216,O 284,O

ISEI

27,O

72,4

49,4 47,3 55,O

MBP

82,l

289,3

132,O 162,O 208,O

HZA

2,O

3,6

3,O 4,O 5,O

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Die Entscheidung zur Verwendung einer bestimmten Skala kann sich zum Beispiel an der Vergleichbarkeit mit anderen Studien, in denen ebenfalls eine der hier aufgeführten Ska- len verwendet wurde, orientieren. Oder es wird entschieden, dasjenige Instrument zu verwenden, welches im gegebenen Kontext die höchste Erklärungskraft besitzt. Eine wei- tere Alternative könnte darin bestehen, die verschiedenen Skalen als unabhängige Indi- katoren einer gemeinsamen vertikalen Dimension des Berufs zu interpretieren und sie deshalb zu einem neuen Konstrukt zusammenzufassen.

Korrespondenzadresse

Christof Wolf Universität zu Köln Forschungsinstitut für Soziologie Greinstraße 2 50939 Köln

Anmerkungen

1) Meinem Kollegen Peter H. Hartmann bin ich zu großem Dank verpflichtet; ohne seine Anregungen wäre diese kleine Sammlung nicht entstanden. Außerdem danke ich Frank Bremer, der mir bei der Eingabe und Kontrolle der ISCO-Klassifikation behilflich war. Für Hinweise auf weitere, hier nicht aufgeführte Skalen, sowie auf Fehler in dieser Darstellung, bin ich allen Lesern dankbar.

2) Dieser Beitrag ist insofern eine Neuauflage und Erweiterung der von Mayer (1979) vorgelegten Sammlung von drei Skalen. Allerdings beschränke ich mich hier bewußt auf das Zusammentragen der Skalen und biete keine Analysen zu ihrer Brauchbarkeit in der empirischen Forschung. Diese Fragestellung ist einer eher inhaltlich ausgerichteten Ar- beit vorbehalten.

3) Eine Neufassung des Scheuchschen Index findet sich beispielsweise in Hoffmeister et al. (1992: 35ff.).

4) Eine Darstellung solcher Maße und der mit ihnen verbundenen Probleme findet sich bei Hartmann (1985: 73). Eine Zusammenstellung einiger englischsprachiger In- strumente zur Erfassung des beruflichen Prestiges bzw. Status findet sich bei Miller (1 99 1, Kap. 6a). Weiterführende Hinweise zur Messung sozialer Ungleichheit finden sich z.B. bei Hartmann (1985) und Coulter (1989).

5) Der Frage, inwieweit Status- bzw. Prestigeskalen nach Geschlecht getrennt erstellt und verwendet werden sollten, kann hier nicht nachgegangen werden. Einige der hier zu- sammengetragenen Skalen wurden ausschließlich unter Berücksichtigung von Männern, andere unter Einschluß von Frauen entwickelt. Den empirischen Analysen dieses Beitrags liegen Daten von Frauen und Männer zugrunde. Für eine Diskussion dieses Problems siehe TreimadTerrell (1 975), Goldthorpe (1983) sowie Stanworth (1 984).

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6) Unter Verwendung des 5-stelligen ISCO kann z.B. zwischen Hochbauingenieuren (022-20) und Straßenbauingenieuren (022-30) unterschieden werden. Unter Verwendung des 3-stelligen ISCO werden diese zur Gruppe der Bauingenieure (022) zusammengefaßt.

7) ISCO-68 unterscheidet zwischen 284 Berufsgattungen, von denen drei auf 'beruf- lich nicht näher klassifizierbare Arbeitskräfte' (Berufshauptgruppe X) entfallen. Diese wurden hier nicht berücksichtigt. Allerdings wurde der ISCO-Klassifikation zwei Kate- gorien für Wehrberufe hinzugefügt, so daß insgesamt 283 Kategorien vorliegen.

8) Auf der amerikanischen Klassifikation beruhen 2.B. Duncans berühmte SEI-Skala und Siegels Prestigeskala (siehe Miller 199 1 : 34 1 ff.). Für die deutsche "Klassifizierung der Berufe" existiert eine solche Skala meines Wissens nach nicht. Es sei darauf hinge- wiesen, daß die entsprechenden Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes (1975, 1992) einen Umsteigeschlüssel von der deutschen auf die internationale Klassifikation enthalten.

9) Für Westdeutschland lagen Treiman sechs Studien vor. Darunter eine Dorfstudie von Wurzbacher (1954), die Euskirchenstudie von Mayntz (1956, 1958) sowie drei Stu- dien von Bolte (1 959).

10) Die Einzelheiten zur Konstruktion der Skala sind in verständlicher Form bei Trei- man (1 977: Kap. 8) nachzulesen.

11) Die genaue Frage lautete: "Ich möchte jetzt von Ihnen wissen: welches Ansehen diese ... Berufe heute Ihrer Meinung nach haben; das heißt wie sehr Leute mit diesen Be- rufen in unserer Gesellschaft heute geachtet werden." (Wegener 1988: 229; Herv. im Orig.).

12) Die genaue Prozedur läßt sich aus Wegeners (1988: 221ff.) Darstellungen nur schwer erschließen; der Versuch einer systematischen Rekonstruktion der Vorgehens- weise findet sich bei Ulrich Mueller (1990: 137f.).

13) Zur Kontrolle von Kohorten- und Lebenszykluseffekten ziehen die Autoren bei der Konstruktion der Skala neben der Bildung und dem Einkommen auch das Alter heran.

14) Beim Sozialwissenschaften-Bus handelt es sich um eine dreimal jährlich in gemein- samer Verantwortung von ZUMA (Mannheim) und GFM-GETAS (Hamburg) durchge- führte Mehrthemen-Umfrage.

15) Daneben wird für Personen, die sich noch in ihrer beruflichen Ausbildung befinden, die Branche erfaßt. Dieser Personenkreis wird in diesem Beitrag allerdings nicht berück- sichtigt. Die hier zugrunde gelegte Kategorisierung der beruflichen Stellung ist dem ALLBUS entnommen. Diese weicht geringfügig von dem neuesten gemeinsamen Vor- schlag des Arbeitskreises Deutscher Marktforschungsinstitute (ADM), der Arbeitsge- meinschaft Sozialwissenschaftlicher Institute (ASI) und des Statistischen Bundesamtes ab (StaBu 1995).

16) Die Daten lassen keine Unterscheidung von Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten zu.

17) Die StiB-Klassifikation der MZU71 hat den entscheidenden Nachteil, daß sie nicht zwischen den Angehörigen freier Berufe und anderen Selbständigen unterscheidet. Da Tegtmeyer im Gegensatz zu Hand1 und Mayer nicht das Originalmaterial, sondern ledig-

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Wo& Sozio-ökonomischer Status und berufliches Prestige 121

lich Tabellen des Statistischen Bundesamtes zur Verfügung standen, konnte er diesen Mangel nicht beheben (siehe aber die weiter unten dargestellten Skalen von Handl und Mayer). Somit kann Tegtmeyer lediglich zwischen 22 verschiedenen beruflichen Stellun- gen differenzieren.

18) Diese Auffassung entspricht natürlich der oben zitierten von Ganzeboom et al.

19) Für selbständige Landwirte und mithelfende Familienangehörige liegt keine Infor- mation zum Einkommen vor. Die Statuswerte für diese Gruppen werden statt dessen un- ter Verwendung einer von Tegtmeyer entwickelten Prestigeskala (siehe unten) geschätzt.

20) Ansonsten treffen die oben aufgeführten Einschränkungen des Datenmaterials auch hier zu, insbesondere das Fehlen einer eigenen StiB-Kategorie für die Angehörigen der freien Berufe.

21) Sowohl auf der Ebene der beruflichen Stellungen selbst als auch auf der Ebene von Personen beträgt die Korrelation 0,99.

22) Es handelt sich um die in der vorletzten Spalte der Tabelle 4 (Tegtmeyer 1976b: 86) aufgeführten Skala.

23) Hier sei angemerkt, daß Mayer (1977: 227, 1979: 106f.) jeweils andere Versionen dieser Skala berichtet, die sich allerdings in dieser Form bei Handl selbst nicht finden.

24) Für die selbständigen Landwirte fehlten die Angaben zum Einkommen (Handl 1977: 124ff.).

25) Mayer spricht in seinem Beitrag meist von einer Skala des 'sozialen Status', was vor seiner theoretischen Konzeption sicherlich zu rechtfertigen ist. An anderer Stelle be- zeichnet er seine Skala als Prestigeskala (Mayer 1977: 229, 1979: 105). Da in die Skalen- konstruktion lediglich das Merkmal berufliche Stellung einfließt, scheint mir die Be- zeichnung 'Skala des Berufsprestiges' daher vertretbar.

26) Mayer verwendet also einen ähnlichen Ansatz wie Tegtmeyer für seine Skala des Berufsprestiges (S.O.). Allerdings greift Mayer lediglich auf bestehende soziale Beziehun- gen zurück, ohne a priori Informationen über die Hierarchisierung der einzelnen Gruppen zu verwenden. Tegtmeyers Analysen dagegen basieren auf den subjektiven Urteilen über das Verhältnis zwischen eigener beruflicher Stellung und derjenigen des Vaters.

27) Diese Korrelation kommt erst nach einer "Edition der Daten" (Hoffmeyer-Zlotnik 1993: 140) zustande. Vor den vorgenommenen Korrekturen beträgt die Korrelation ledig- lich 0,59.

28) Die Datengrundlage aller hier berichteten Analysen ist eine Teilstichprobe des ku- mulierten ALLBUS 1980- 1992. Es handelt sich um insgesamt 92 1 1 in Westdeutschland befragte vollzeitbeschäftigte Frauen und Männer. Je nach analysiertem Merkmal schwankt die Zahl der Personen mit gültigen Fällen zwischen 7539 und 8872. Die Daten der ALLBUS-Erhebungen können über das Zentralarchiv für empirische Sozialforschung in Köln bezogen werden, dem ich für die Bereitstellung des kumulierten ALLBUS danke. Für die Verwendung der Daten in diesem Beitrag trage ich allein Verantwortung.

29) Zu ähnlichen Ergebnissen gelangen frühere Untersuchungen (vgl. Mayer 1979: 110; Wegener 1988: 234f.; Ganzeboom et al. 1992: 20).

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30) Die vollständige Korrelationsmatrix wird vom Autor auf Anfrage gerne zur Verfu- gung gestellt.

3 1) Interessenten werden gebeten, ihrem Schreiben eine Diskette beizulegen.

Literatur

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Anhang

Im folgenden sind die hier zusammengestellten Skalen aufgelistet. Die auf ISCO-68 basie- renden Skalen SIOPS, MPS und ISEI finden sich in Tabelle Al , die auf StiB basierenden Skalen in den Tabellen A2 und A3. In den Tabellen A4 und A5 finden sich die auf StiB bzw. auf die grobe Klassifikation der beruflichen Stellung aggregierten Skalenwerte. Da alle Skalen in der einen oder anderen Weise von den im ALLBUS vorliegenden Klassifika- tionen der Merkmale ISCO und StiB abweichen, mußten sie an diese Klassifikationen an- gepaßt werden. Die sich dabei ergebenden Probleme und beschrittenen Lösungswege seien zunächst kurz dargestellt.

1. Probleme mit den Skalen für die ISCO-Klassifikation Alle drei auf ISCO basierende Skalen ergänzen diese Klassifikation um die eine oder andere Kategorie. Dies trifft insbesondere auf Kategorien für Angehörige der Streitkräfte zu, fur die ISCO keine differenzierte Klassifikationsmöglichkeit bietet. Entsprechend der Vor- gehensweise im ALLBUS, wurde die ISCO-Klassifikation deshalb um die Kategorien 00 1 'Soldaten' und 002 'Offiziere' ergänzt. Da auch Wegener (1988) diesen Weg beschreitet, kann MPS ohne Probleme auf die hier verwendete Klassifikation übertragen werden. Auch Ganzeboom et al. (1992) unterscheiden lediglich zwei Kategorien von Armeeangehörigen: 'Armed Forces Officer' (583 1) und 'Non-Comrnissioned Officer (incl. Army Personnel and Soldiers not further specified)' (5832). Die erste Gruppe entspricht der von uns gebildeten Gruppe 'Offiziere' (002). Die zweite Gruppe läßt sich zwar am ehesten mit 'Unteroffiziere' übersetzen, enthält aber offensichtlich Soldaten und andere Armeeangehörige, soweit diese nicht anderweitig klassifiziert werden. Diese Gruppe wurde deshalb mit der von uns gebil- deten Kategorie 'Soldaten' (00 1) gleichgesetzt. Die größten Probleme wirft Treimans SIOPS auf. Er unterscheidet zwischen 'Generalstabsoffizieren' (1 OOOO), 'OEzieren, soweit nicht anderweitig klassifiziert' (1 000 I), 'Unteroffizieren' (1 0002) und 'Soldaten' (1 0003); diese

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Bezeichnungen folgen der deutschen Übersetzung (Treiman 1979). Während Treimans Kategorie der 'Soldaten' mit unserer übereinstimmt, stellt sich die Frage, welche Gruppe unserer Kategorie 'Oniziere' am besten entspricht. Da Treiman fur die einzelnen Gruppen keine Häufigkeiten berichtet, entfallt die Möglichkeit einer gewichteten Mittelwertbildung über alle drei Gruppen von OfEizieren. Deshalb wurde entschieden, den Offizieren den SIOPS-Wert von Treimans 'nicht anderweitig klassifizierten Ofizieren' zuzuweisen.

Abgesehen von der Ergänzung zweier Kategorien fur Angehörige der Streitkräfte, wurde hier die ursprüngliche Klassifikation (StaBu 197 1) verwendet. Da Treiman (1977) und Ganzeboom et al. (1992) die ISCO-Klassifikation nicht nur in bezug auf Mitglieder der Streitkräfte erweitern, ergab sich die Notwendigkeit, einige Kategorien der Originalskalen auf die ursprüngliche ISCO-Klassifikation zurückzufuhren bzw. auf diese Kategorien zu verzichten. Treiman (1977) ergänzt die Klassifikation u.a. um die Kategorien 995 'Skilled Workers, not elsewhere classified' und 997 'Semi-Skilled Workers, not elsewhere classified' sowie um Kategorien fur Arbeitssuchende und Nicht-Erwerbstätige. Diese Kategorien wur- den bei der hier vorgelegten Fassung der Skala nicht berücksichtigt.

Ganzeboom et al. (1992) verwendeten fur den ISEI eine um fünf Kategorien erweiterte ISCO-Klassifikation (Kategorien 196, 583, 203, 995, 997). Diese wurden flir die hier ver- wendete Skala nicht berücksichtigt. Darüber hinaus fassen Ganzeboom et al. die Kategorien 062, 064, 066, 068 und 069 (es handelt sich um assistierende Berufe im medizinischen Bereich) zur neuen Kategorie 078 zusammen. Diesem Problem wurde dadurch begegnet, daß den ursprünglichen Kategorien der ISEI-Wert der Kategorie 078 zugewiesen wurde.

Schließlich tritt bei den Skalen SIOPS und ISEI ein Problem bei der Klassifizierung von 'Angehörigen gesetzgebender Körperschaften' (ISCO-68: 201) und 'Verwaltungsbedienste- ten in leitender Stellung' (ISCO-68: 202) auf. Innerhalb der ersten Gruppe unterscheiden Treiman und Ganzeboom et al. zwischen 'Regierungsmitgliedem' und 'anderen Angehörigen gesetzgebender Körperschaften'. Unglücklicherweise wählen sie zur Bezeichnung dieser Kategorien die Kodes 201 und 202. Folglich verwenden sie zur Kennzeichnung der 'Verwaltungsbediensteten in leitender Stellung' die Nummer 203 und nicht, wie von ISCO- 68 vorgesehen, den Kode 202. In der deutschen Übersetzung von Treiman (1979), die Franz U. Pappi besorgte, wurde dieses Problem so gelöst, daß die ISCO-Kategorie 201 den SIOPS-Wert von Treimans Kategorie 202 zugewiesen wurde und entsprechend der ISCO- Kategorie 202 der SIOPS-Wert von Treimans Kategorie 203. In der hier vorgelegten Ver- sion von SIOPS wurde dieser Vorgehensweise gefolgt und auch auf ISEI angewandt.

Die Skalen SIOPS und MPS weichen in der hier präsentierten Form geringfügig von den entsprechenden Variablen im ALLBUS ab. Für Personen, deren ISCO-Kategorie nicht ein- deutig bestimmbar ist, wird im Rahmen des ALLBUS dennoch aufgrund der vorhandenen Information ein SIOPS oder MPS-Wert zugewiesen. Diese Möglichkeit steht hier nicht zur Verfugung, da wir nicht über die berufliche Tätigkeit im Klartext verfugen. Für SIOPS gilt darüber hinaus, daß diese Skala seit der ALLBUS Baseline-Studie 1991 mit einer Nach- kornmastelle kodiert wird (auch im neuesten kumulierten ALLBUS 1980- 1992). Ein Ver- gleich mit diesen Werten legt die Vermutung nahe, daß Treiman die ganzzahlige Version seiner Skala durch Abschneiden, also nicht durch Runden, der Nachkornrnastelle gewonnen

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hat. Da sich diese Version der Skala aber in keiner der einschlägigen Veröffentlichungen Treimans findet, wurde hier auf die mehrfach publizierte ganzzahlige Version zurück- gegriffen. Neben diesen Unterschieden bestehen die folgenden Differenzen zwischen diesen beiden Versionen:

Soldaten und Offiziere erhalten im ALLBUS andere Werte zugewiesen als von Trei- man vorgeschlagen. Den Kategorien fur Angehörige gesetzgebender Körperschaften und Venvaltungsbe- dienstete in leitender Stellung (ISCO 201 und 202, S.O.) werden im ALLBUS andere Werte zugeordnet. Die Kategorie 989 (sonstige Transporteinrichtungsbediener) erhält im ALLBUS den Wert 23,0, während Treiman den Wert 24 vorschreibt.

Trotz dieser Differenzen besteht empirisch kaum ein Unterschied zwischen der hier und der im ALLBUS angebotenen Version der Treimanskala (r=0,9984), dennoch sollte auf diese Unterschiede hingewiesen werden. Für die Magnitude-Prestigeskala von Wegener enthielt der kumulierte ALLBUS fur den Zeitpunkt 1992 in der ISCO-Kategorie 061 (Ärzte) einen falschen Wert (166,s statt 186,8). Dieser Fehler war auch im ALLBUS 1992 und 1994 ent- halten. In den neueren Versionen dieser drei Datensätze ist dieser Fehler in der Zwischenzeit behoben worden.

2. Probleme mit den Skalen für die StiB-Klassifikation Bei der Übertragung der vier auf StiB basierenden Skalen TSES, TBP, HSES und MBP, auf die StiB-Klassifikation des ALLBUS, traten zwei Arten von Problemen auf. Zum einen sind die ursprünglichen StiB-Klassifikationen teilweise nicht so differenziert wie die des ALLBUS. So wird im ALLBUS beispielsweise zwischen Angehörigen akademisch freier Berufe und anderen Selbständigen unterschieden, während Tegtmeyer (1 976a, 1976b) diese Unterscheidung nicht trifft. In diesem Fall wurden den Gruppen der fkeien Berufe dieselben Skalenwerte zugewiesen wie den entsprechenden Gruppen der Selbständigen. Analog wurde bei allen ähnlichen Fällen verfahren. Zum anderen tritt aber auch der umgekehrte Fall auf, daß die ursprüngliche Klassifikation differenzierter ist als diejenige des ALLBUS. So unterscheiden Handl (1 977) und Mayer (1977) beispielsweise zwischen Angestellten in der Privatwirtschaft und Angestellten im öffentlichen Dienst, während diese Unterschei- dung im ALLBUS nicht getroffen wird. In diesem und allen ähnlichen Fällen wurde so ver- fahren, daß der groberen Kategorie der ALLBUS Klassifikation der gewichtete Mittelwert aus den Skalenwerten der differenzierteren Klassifikation zugewiesen wurde. Die auf StiB basierenden Skalen sind im Anhang sowohl in ihrer Originalversion als auch in der Fassung fur den ALLBUS, die sich auch im Haupttext findet, wiedergegeben. Für eigene empirische Analysen kommen beide Versionen oder eine Mischung aus diesen in Frage. Möchte man beispielsweise Arbeiter nach Branchen differenziert betrachten, so bieten sich die Skalen von Handl und Mayer an. Die SES- oder Prestigewerte fiir die anderen beruflichen Stellun- gen können dann z.B. aus der weniger differenzierten Klassifikation fur den ALLBUS ent- nommen werden.

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Wolf Sozio-ökonomischer Status und berufliches Prestige 127

Tabelle Al: Die Skalen SIOPS, MPS und lSEl sowie die absoluten Häufigkeiten im kumulierten ALLBUS (1980-1992) nach ISCO-68

ISCO Bezeichnung der Berufsgattung SIOPS MPS

001 Soldaten 39 62,3 UU2 Uffiziere 63 Y6,l U1 1 Chemiker 6Y Y'1,Y U12 Physiker '16 163,3 U I3 Yhysikalisch-wssenschattliche Bemte, s.n.a.k. 'I2 14U;I U14 Physikalisch-technische Sondertachkräne 46 88,l U2 1 Architekten und Städteplaner 'I2 1 34,1 U22 Bauingenieure '/U IUU,Y UL3 blektro- und Elektronilungenieure 65 IUY,Y U24 Maschinenbauingenieure 66 IUU,'I U25 Chemieingemeure 66 111,4 U26 Hütteningenieure bU 1U5,4 U2'1 Bergingenieure 63 1 14;l U28 Betnebsingemeure 54 88,b U29 Architekten und Ingenieure, s.n.a.k. 55 Yl,6 U3 I Vermessungsingenieure 58 YY,5 U32 'lechnische Zeichner 55 b l , j U33 Bautechniker 3Y 85,8 U34 Elektro- und Elektroniktechniker 46 55,b U3 5 Maschinenbautechniker 46 '13,'l U36 Chemie-Betnebstechniker 46 bY,b U_('/ Hüttentechniker 46 6Y,6 U38 Steiger (Bergbau-Betnebstechnil<er) 54 88,6 U3Y I'echniker, s.n.a.k. 46 bY,Y U4 1 Flugzeugiührer, Navigatoren, Flugzeugingenieure 66 1Z2,Z U42 Schitts-Uecksoftiziere, Lotsen 5U i8,b U43 Schittsingemeure 6U 84,3 U5 1 Biologen, Zoologen und verwandte Wissenschattler 6Y 135,4 U52 Bakteriologen, Pharmakologen und verwandte 68 131,i

Wissenschaftler U53 Landwirtschaitswissenschattler 56 Y3,Y U54 Natunnssenschaftlich-technische Assistenten 52 YU,1 U61 Arzte 8 186,s U62 Medizinische Assistenten (Ciesundheitsassistenten, 5U '18,b

Hiltsärzte, Heilpraktiker) U63 Zahnärzte '/U 139,l U64 Dentisten 44 65,3 U65 Iierärzte bl 1IU,b U66 Vetennärmedizinische Assistenten ('I iergesundheitsass., 48 '14,U

Hiltsvetennäre, ' I ierheilprakt.) U 6 i Apotheker 64 111,4 U68 Apothekemsistenten 44 65,3 U69 Diätassistenten, Ukotrophologen 52 81,U U'/ 1 Geprüfte Kranltenschwestem, Krankenptleger 54 bY,3 W2 Ptlegepersonal, s.n.a.k. 44 56,b U13 Hebammen 46 6Y,6 U'14 Ciebärheltennnen, s.n.a.k. 42 61,3 U'15 Augenoptiker 6U 1U5,4 U16 Heilgymnasten 5 1 '18,b Uii Köntgenassistenten 58 '18,'l U'IY Medizinische zahnmedizuusche, vetennärmedizimsche und >U '/ö,b

verwandte Behte, s.n.a.k. U81 Statistiker 55 Y1,2 U82 Mathematiker 69 135,4 U83 Systemanalytiker 51 Y8,Y

ISEI

58 83 'I3 ' I Y 'I Y 4i '1.1 'I 3 69 68 '13 'IU 65 65 '1 6 5 8 53 5u 48 52 5'1 56 5 6 5 6 .I 1 53 53 '1'1 '1'1

'1.1 52 88

52"

86 52" 84

52"

8 1 52" 52" 42 3Y 52 3 Y 58 5 8 5 8 58

.I I 'I I 'I 1

Na ISCO

52 001 1u U02 1u U11 3 U12 2 U13

4i U14 35 U21 66 02'2 48 023 5U U24

5 U25 1 U26 1 U2'1 Y U28 6 U29 Y U31

I U32 Zi U33 64 U34 1 1 U35

2 U36 U u3i 8 U38

I3 WY 1 U41 4 U42 U U43 4 U51 4 U52

3 U33 23 U54 5u U61 U. U62

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ISCO Bezeichnung der Berufsgattung SIOPS MPS ISEI Na ISCO

084 Statistisch- und mathematisch-technische Sonderfachkräfte 51 85,O 64 36 084 UYU W utschattswssenschattler 6U 1 1'1,4 XU 3U UYU I 1 U Wirtschaitsrechnungssachverständige, Buchprüfer 62 IU6,b 69 43 1IU 12 1 Kechtsvertreter 3 U , X5 / 121 122 Kichter '16 l'l3,l YU 6 122 129 Juristen, s.n.a.k. '1 1 154,6 X" 19 l2Y 13 1 Universitäts- und Hochschullehrer sowie verwandte X 16'1,U X 43 131

Lehrkräfte der oberen Bildungsebene I32 Gymnasial- und Fachlehrer sowie verwandte Lehrkräfte der 6U 114,6 i 1 216 I32

mittleren Bildungsebene I33 Cirundschullehrer sowie verwandte Lehrkrätte der unteren 5 Y3,4 69 146 133

Bildungsebene 134 Lehrkräite Iür vorschulische Emehung 49 6Y,X 65 50 134 135 Sonderlehrer 62 Y6,6 65 13 135 139 Lehrkräfte, s.n.a.k. 62 12Y,I 65 18 139 14 1 Geistliche, Keligiose 54 X , 55 18 141 149 Seelsorger, Seelsorgehelter, s.n.a.k. Y 5X,6 55 2 149 15 1 Schnitsteller, Kntiker 62 111,6 66 4 151 159 Schnttsteller, Journalisten und verwandte publizistische 56 1U4,4 66 35 159

Berute, s.n.a.k. 161 Bildhauer, Kunstmaler und verwandte Künstler 5 '/'I,'/ 5'1 IU 161 162 Ciewerbliche Künstler, Musterzeichner 49 6Y,1 55 42 162 163 Photographen und Kameraleute 46 /U,/ 5U X 163 1'1 1 Komponisten, Musiker und Sänger 45 X5,4 54 15 111 I 'I" Choreographen, ' 1 änzer 4U 63,U 64 2 1i2 1 'I3 Schauspieler, Kegisseure 5'1 Y6;l 64 1 1'/3 1'14 ~u lc t ions le i t e r ('I heater, Film, Kundhmk, Fernsehen) 68 126,6 64 4 1'14 1'15 Artisten 33 45,4 54 U 1'15 1'1Y Musiker, Uarsteller, 'länzer und ähnliche Künstler, s.n.a.k. 42 6l,3 64 U 1 i Y 1 XU Berufssportler und verwandte Berute 49 '/&,X 55 4 1XU 1 Y I Bibliothekare, Archivare, Kuratoren 54 X , 59 1.1 191 I Y2 Soaoiogen, Anthropologen und verwandte W issenschaKler 68 125,X 'I2 14 IYZ I Y3 Sozialarbeiter, Soaalfürsorger 52 Y 54 Y8 193 1 Y4 i'ersonaltachleute, Berutsberater, tleruisanalytiker 56 Y3,Y 5Y 13 194 1 Y5 Sprachwssenschattler, U bersetzer, Dolmetscher 62 I l l ,6 54 5 195 I Y Y Andere Wissenschattler, technische und verwandte 51 X5,Y 61 6 IYY

Fachkrätte, s.n.a.k. 2U 1 Angehönge gesetzgebender Körperschatten 64' 111,6 73' 2 ZU1 ZU2 Verwaltungsbedienstete in leitender Stellung 66' I26,U 72' I ZU'Z 2 1 1 HauptgeschärtsWuer und Unternehmer 65 IU3,U 66 65 211 2 12 Produktionsleiter (aukrhalb der Landwirtschaft) b4 IUY,U 6'1 23 212 2 1 Y Führungskrätte m der t'nvatwutschatt, s.n.a.k. 6U 146,3 bi .I4 219 3UU Bürovorsteher 55 Y3,5 6U ZZ 3UU 3 1 U Ausiührende Verwaltungsbedienstete 55 Y 5 366 31U 321 Stenographen, Maschinenschreiber, bernschreiber 48 5 55 46 321 322 Lochkartenlocher, Lochstreitenlocher 45 55,Y 48 5 322 33 L Buchhalter, Kassierer 41 61,4 54 186 331 339 Buchhalter, Kassierer und verwandte Berute, s.n.a.k. 34 65,) 44 Z3Y 339 34 1 Maschinenbuchhalter, Maschinenrechner 45 69,s 5U 2 341 342 Bediener von Datenverarbeitungsanlagen 53 b1,3 54 25 342 35 I Bahnhoivorsteher 56 XX,5 56 I 351 332 Postarntsvorsteher 58 Y4;l 56 3 352 359 Aufsichtskrätte im I'ransport-, Funk- und Fernsprechwesen, 31 52,U 48 13 359

s.n.a.k. 36U SchaMier 32 46,X 3'1 6 36U 3.10 Yostverteiler 3U 48,4 36 '/U 3'IU 3XU leletonisten und I'elegraphisten 44 5U,X 43 11 3XU 39 1 Lagerverwalter 3U 43,U 35 YU 391 3YZ Matenalplaner, Fertigungsplaner 44 61,b 45 26 3YZ

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W o v Sozio-ökonomischer Status und berufliches Prestige 129

ISCO Bezeichnung der Berufsgattung SIOPS MPS ISEl Na ISCO 393 Sekretäre, Korrespondenten und verwandte Berufe 44 65,O 58 282 393 394 Emptangsbürokräite, Keisebüroangestellte 34 6U;I 5 1 62 394 395 Büchereiwarte, Kegistratoren 36 5U,3 5 I I 395 3YY Bürokräite und verwandte Berufe, s.n.a.k. 3 48,4 45 5 3YY 4UU Cieschattsführer (Grob- und Einzelhandel) 45 Y'/,> 54 45 4UU 41U ' I ätige Inhaber (Grob- und Einzelhandel) 48 iI ,2 53 181 41U 42 1 Verkautsautsichtskräite 52 83,4 5 6U 421 422 Einkäufer 46 Y 52 35 422 43 1 'I echmsche Verkäufer und Kundenberater 46 '19,; 55 ZU 431 43; Handelsvertreter 4i 86,ä 58 89 432 441 Versicherungsvertreter, Versicherungs-, Immobilien- und 5U Y3;l Y 85 441

Börsenmakler 442 Vemttler geschättlicher Dienstleistungen 42 5 4 6U 26 442 44" Versteigerer, 'I axatoren 45 6/,4 56 I 443 45 1 Verkäuter, Verkautshiltskräite, Vortührkräfte 32 42,l 45 252 451 452 Stralknhändler, Kundenwerber, Zeitungsverkäuter 24 32,'l 35 6 452 4YU Verkautskrätte, s.n.a.k. 15 22,4 35 U 4YU 5UU Cieschäftsführer in Gaststätten- und 4U '/2,4 41 I U 5UU

Beherbergungsuntemehrnen 5 1 U Hoteliers Ciashnrte u.a tätige inhaber von Ciaststätten- und 3 ' 5 48 i 3 5 1 U

Beherbe~gungsuntemehen 52U Hauswutschaitliche und verwandte Autsichtskrätte I 5Y,6 33 I2 520 531 Köche 31 43,l 2'1 46 531 532 Kellner, Bamuxer und verwandte Berute 21 38,l 3U 35 532 54U Haus ehiltinnen und verwandte hauswutschaitliche Berufe, 22 Y 24 2Y 540

s.n.a.8. 55 1 Ciebäudemeister 25 38,6 26 32 551 552 Kaum-, Ciebäudereiruger und verwandte Berute 20 Z2;I Z2 45 552 560 Wäscher, Chemschremger und Bügler Z2 31,1 24 21 56U 5iU Fnseure, Schönheitsptleger und verwandte Berufe 32 46,U 32 59 5.10 58 1 Feuerwehrleute 35 5'/,4 44 18 581 58'2 Poliusten, Knrmnalbeamte, Werkschutz.ieute 4U 6i,U 54 88 5&2 589 Sicherheitsbedienstete, s.n.a.k. 7U 45,U 35 4Y 589 5Y 1 Keiseleiter, Premdentührer 29 3Y,4 3Y U 5YI 592 Leichenbestatter, Leichenbehandler 34 W,U 58 2 592 5YY Andere Dienstleistungsberute, s.n.a.k. 29 54,4 39 63 599 6UU LandwutschaNiche Verwalter und Ciutsautseher 48 '14,U 46 2 6UU 61 1 Landwirte im Allgemembetneb 4U 53,6 26 158 611 612 Landwirte im Spezialbetneb 55 54,l 29 31 612 621 Landarbeiter, soweit nicht speualisiert ZU 2Y,2 16 '1 621 W2 Feldkulturarbeiter 21 , 2Y,U 16 U 622 623 Ubst- und Wembauarbeiter und andere Baum- und 21 2Y,U I6 1 623

Strauchtrüchtekulturarbeiter 624 'liemchtgehilten, 'I'ierptleger 26 35,Z ZU 2 624 625 Melker 23 3 1,4 ZU U 625 626 Cietlügelwärter 21 2Y,U 20 U 626 62, Ptlanzenzüchter, Ciartenbaugehilten 21 46,U 21 45 621 628 Landmaschinenführer 31 42,3 28 1 628 629 Land- und tierwrtschaftliche Arbeitskräfte, s.n.a.k. 14 21,5 I U U 629 63 1 Holzhauungsbetnebsarbeiter I8 25,b 1 Y 3 631 632 Waldptleger 42 56,4 32 15 632 641 Fischer 32 43,8 30 U 641 649 Fischer, Jäger und verwandte Berute, s.n.a.k. 2'3 31,4 32 U 649 'IUU Autsichtskrätte der Produktion und Allgemeine Vormänner 46 5Y,6 44 144 'IUU 'I I I Bergleute, Steinbrecher 34 38,U 32 32 'I11 'I I2 Mineral- und Steinautbereiter 32 43,ä 26 I 'I12 'I 13 'I'ietbohrer und verwandte Berufe 31 4'23 31 1 713 'I2 1 Utenrnänner des Schmelzens, Umwandelns und Katruuerens 45 61,4 34 U i21

von Metall

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ZUM-Nachrichten 3 7, Jg. 19, November 1995

ISCO Bezeichnung der Benifsgattung SIOPS MPS ISEI Na ISCO 722 Walzwerker 36 50,3 31 3 722 '1'23 Metallschmelzer, Metallwedererwärmer 38 38,l 3 1 U I23 'I24 Metallgiekr, Formgielkr 33 3'1,U 31 8 'I24 'I25 Former, Kemrnacher (Kir Metall@) 38 Y 34 8 'I25 '126 Metallhärter, Metallvergüter 38 5 3 34 1 .126 '1'2.1 Metallzieher, Prellzieher 38 5 3 8 34 3 i 2 i '1'28 Eleklmlyhsierer, Metallisierer 28 38,U 34 5 'I28 '1'29 Hüttenwerker, Giekr, Härter und verwandte Berute, s.n.a.k. 38 53,8 3'1 2 i2Y 'I3 1 Holztrockner, Holzkonservierer 29 3Y,4 24 U .I31 'I32 Säger, Sperrholmacher und verwandte Holzvembeiter 3U 4U,Y 24 3 .I32 'I33 Papierbreihersteller 28 38,U 36 U 'I33 'I34 Papierhersteller 28 45,l 36 6 ,134 '14 1 Brecher, Müller, Mischer 43 63,3 36 3 'I41 '142 Kocher, Köster und verwandte Wmbehandler 43 63,3 36 U 'I42 '143 Filterbediener, Separatorenbediener 43 63,3 36 U 'I43 'I44 Uestillierer, KeaktionsgetälJbediener 43 63,3 36 U 'I44 'I45 Erdölrattuuerer 3'1 52,U 36 1 '145 '149 Chemiewerker und verwandte Berufe, s.n.a.k. 3U 4U,Y 36 1 '149 '15 1 Spinnvorbereiter 2Y 3Y,4 35 U 'I51 'I52 Spinner, Spuler 34 4i,U 35 4 'I52 'I53 Web- und Stnckmaschineneinnchter, Musterkartenhemchter 3U 4U,Y 3U U 'I53 '154 Weber und verwandte Berute 32 6 34 4 'I54 'I55 Stricker, Wuker 29 3Y,4 31 5 '155 'I56 Bleicher, Färber, 'lextilendfertiger 25 Y 31 5 '156 ,159 Spinner, Weber, Stricker, Färber und verwandte Berufe, 26 35,2 3'1

s.n.a.k. U i5Y

'16 1 Gerber, Pellzunchter 22 3U,2 32 1 '161 762 Kauchwaremchter Z2 3U,2 32 U 'I62 7'1 1 Getreidemüller und verwandte Berute 33 45,4 22 I '1'1 I '1'1'2 Zuckerhersteller, Zuckenaltinierer 45 6'1,4 22 U '1'12 '1'13 Fleischer, Fleischhemchter 24 5U,Y 32 28 1.13 '1.14 Nahrungsmittelkonservierer 35 48,i 28 U '1.14 'Ii5 Molkereiwarenhersteller 34 4i,U 33 4 '1.15 '1.16 Bäcker, Konditoren, SWwarenhersteller 33 48,6 33 49 '1'16 ~ I i i lee-, Kattee-, Kakaoautbereiter 34 W,U 33 U '17'1 '1'18 Brauer, Wem- und Geb-änkehersteller 34 W,U 33 8 '1'18 '1.19 Nahrungsmittel-, Gehänkehersteller, s.n.a.k. 34 4'1,U 36 U '/'/Y 'I8 1 'labakautbereiter 34 4'1,U 3'1 U '181 '1x2 Zigarrenrnacher 28 38,U 3'1 U 'Iö2 'I83 Zigarettenrnacher 34 W,U 3'1 1 'I83 789 'I'abakautbereiter, labakwarenhersteller, s.n.a.k. 3Y 55,6 3'1 U '18Y '/Y I Schneider, Uamenschneidemen 4U 43,Z 46 3U '/Y1 ./Y2 Kürschner und verwandte Berute 35 4 43 3 '/Y2 '/Y3 Putniachemen, Hutmacher 32 43,8 43 U ,193 '194 Schnitlmustermacher, Zuschneider 41 45,b 43 5 '/Y4 '/Y5 Näher, Sticker 26 36,l 23 26 ,195 ,196 Polsterer und verwandte Berute 31 51,Y 3U 12 '/Y6 '199 Schneider, Uamenschneidennnen, Näher, Polsterer und 34 4'1,U 3'1 U ,199

verwandte Berute, s.n.a.k. 8U 1 Schuhmacher, Schuhinstandsetzer 28 jY,5 33 Y 8U1 8U2 Schuhledemschneider, Schuhautleister, Schuhnäher und 28 38,U 32 4 8u"

verwandte Berute 8U3 Lederwarenmacher 22 34,Y 32 5 8U3 8 1 1 Möbeltischler 40 5U,5 36 YU 811 8 I2 Holzbearbeitungsmaschuienbediener 36 5U,3 32 2 812 8 1 Y Möbeltischler und verwandte Holzbearbeiter, s.n.a.k. 31 4U,5 32 I2 819 ö2U Stembearbeiter, Stembildhauer 38 3Y,1 ZY 4 ö2U

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W o v Sozio-ökonomischer Status und berujliches Prestige I31

ISCO Bezeichnung der Berufsgattung SIOPS MPS ISEI Na ISCO 83 1 Grobschmiede Hammerschmiede, 35 48,7 37

SchmiedePresdenbediener 5 831

K32 Werkzeugrnacher, Metallschablonenmacher, MetallanreilJer 4U 38,l 4 1 65 K3Z K33 Werkzeugmaschmeneinnchter und -bediener 38 41,4 36 LU3 833 X34 Werkzeugmaschmenbediener, -handwerker 38 41,4 3Y 11 X34 K35 Metallschleiter, Metallpolierer, Werkzeugschärter 2'1 36,b 28 12 835 K'Y Grobschmiede Werkzeugmacher 4U 5 43 13 839

~erkzeugmasihinenbediener, s.nIa.k. X4 L Maschinenschlosser und Maschinenmonteure 42 41,4 36 231 X41 X42 Uhrmacher- und Präzisionsinstrumentenmacher 4'1 55,'l 3Y 48 X42 X43 Kratttahrzeugmechani ker 44 U , 31 Y X43 X44 Plugmotorenmechaniker 5U '/X,6 44 3 X44 849 Maschinenschlosser Maschinenmonteure und 3U 45,6 36 6Y 849

Präusionsinstrurnenfenmacher(ausgenommen tür elektrische Maschinen und Geräte), s.n.a.k.

X5 1 blektromechaniker 38 4X;l 3Y 29 X51 X52 blektronikmechaniker 48 '14,U 4 1 48 852 X53 Elektro- und Elekh-onikgerätemonteure 48 4Y,Y 4U 28 X53 X54 Kundfunk- und3bemsehreparaturmechaniker 42 6 1,3 43 11 854 X55 Elektriker, Elektro~nstallateure 44 5U,U 4U 158 855 X56 1 elephon- und Ielegrapheninstallateure 35 5Z,b 43 45 856 85.1 Elektrotreileitungsmonteure, Elektrokabelverbinder 36 41,3 4 1 Z 85'1 859 Elektrornechaniker und verwandte Elektro- und 4U 5 5 46 13 859

blektronikwerker, s.n.a.k. X6 1 Sendestationsbediener 53 X6,U 46 I X61 862 'lonautnahrne- und 1 onwedergabeanlagenbediener und 34 41,U 46 5 X62

b I lmvortührer X'/ I Kohnnstallateure, Kohrschlosser 34 43,4 36 Y8 Kll SI2 Schweiber, Schneidbrenner Y X 33 4'2 K/2 8'13 Blechkaltverformer 34 4U,Y 36 24 X'I3 8'14 Baumetallverformer, Metall baumonteure 44 3Y,Y 33 2'1 8'14 XXU Schmuckwarenhersteller, Melmetallbearbeiter 43 63,b 43 'I 8XU XY 1 Glasvertormer, -schneider, -schleiter und -polierer I 52,U 33 I &Y1 XYZ lopter und verwandte Keram- und Schleitmitteltormer 25 Y 2'1 5 XY'2 XY3 Glasschrnelz-, und -kÜhiotenbediener, Keramikbrenner 3 1 42,3 25 Z XY3 XY4 Glasgraveure, Glasätzer 31 42,3 25 U 1194 X95 Glas- und Kerarnmaler, -verzierer und -dekorateure 3 1 42,3 25 1 895 8YY tilasvertormer, ' I öpter und venvandte Benite, s.n.a.k. 31 42,3 25 U XYY YU 1 Gummi- und Kunststoffwarenmacher (ausgenommen 3U 4U,Y 33 24 YUI

Keifenmacher, Vulkaniseure) YUZ Keifenmacher und Vulkaniseure 3U 4U,Y 33 6 YUZ Y 1 U Papierwarenmacher, Kartonagenmacher 28 U 34 1 U Y I U Y2 I Maschinensetzer, Handsetzer, (SchnTtsetzer) 42 51,b 41 ZU Y21 Y'L2 Drucker, (Dnickpresseneinnchter, -bediener) 41 52,l 4 1 26 Y2" Y23 Stereotypeure, Galvanoplastiker 41 5Y,4 43 3 Y23 Y24 Klischeehersteller (ausgenommen Yhotograveure) 41 5Y,4 43 2 Y24 Y25 t'hotograveure 46 6943 43 3 Y25 YZb Buchbinder und verwandte Berute 32 43,X 39 IZ Y26 YZ'I Photolaboranten 36 5 2 43 6 YLl Y29 Drucker und verwandte Berufe, s.n.a.k. 52 Y 46 2 Y29 Y3 l Bautenmaler 3 1 4X;l 32 X 1 Y31 Y39 Maler, s.n.a.k. 29 32,Y 3U I8 Y39 Y4 1 Musikinstrumentenmacher und -stimmer 33 45,4 2Y 3 Y41 Y42 Korbtlechter, Bürstenmacher ZI ZY,U 29 U Y42

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132 ZUMA-Nachrichten 37, Jg. 19, November 1995

ISCO Bezeichnung der Berufsgatiung SlOPS MPS ISEI Na ISCO 943 Hersteller nichtmetallischer Mineralemugnisse 30 40,9 29 4 943 Y4Y tiütereizeugende und ähnliche Berutstätigkeiten, s.n.a.k. 41 Y 29 42 Y49 Y5 1 Liegelmaurer, Natursteinmaurer, Fliesenleger 34 44,'l 32 130 Y51 Y52 Betonbauer, Betonflächentertigmacher, 'Ierrazoleger 34 JY,3 29 11 Y52 Y53 Dachdecker 31 42,3 22 ZJ Y53 Y54 Zimmerer, Bautischler, Parkettleger 3'1 4U,4 3 1 46 Y34 Y55 Verputzer, Stukkateure 31 42,3 33 12 Y55 Y56 Isolierer 28 38,U 36 Y Y56 Y5i Glaser 26 46,Y 3U 8 Y57 Y5Y Maurer, Zimmerer und andere Bauarbeiter, s.n.a.k. 28 4U,4 3 I 24 Y59 Y6 1 Kraftstationsbediener 42 39,s 34 3 Y61 Y69 Bediener (Maschinisten) stationärer Kraltmaschmen und 34 4U,3 33 23 Y69

ähnlicher Anlagen, s.n.a.k. Y'/ I Hafenarbeiter, tiüterladearbeiter ZU Z2,U 31 Y5 9.11 9'1'2 Verspannungsmonteure, Seilspleikr 32 43,s 28 U Y12 Y13 Krantührer, Autzugsmaschirusten J2 3Y,2 2Y 13 W3 Y14 Bediener von Erdbewegungs- und ähnlichen Maschinen 32 3 1,s 3U 23 9.14 Y'IY Bediener von Matenalbewegungsgeräten u.ä. Emchtungen; 28 36,s 3U I2 YiY

Haten- und Ladearbeiter, s.n.a.k. Y8 l Deckpersonal auf Schiff, Bootsmannschanen, B o o t s W r 2Y JY,4 36 1 Y81 YX'Z Maschinenpersonal aut Schiff 25 Y 36 U YX'Z Y83 Lokomotivführer und -heizer 34 4i,U 45 24 Y83 Y84 Eisenbahnbremser, Stellwerlcsbediener, Kangierer 29 3Y,4 35 15 Y84 Y 85 Motortahrzeugfahrer 31 43,Y 3.1 2UU Y85 Y86 Führer von 'l'ieren und tiergezogenen Fahrzeugen 22 3U,2 ZU U Y86 Y89 I'mportemnchhingsbediener, s.n.a.k. 24 31,4 35 8 Y89 YYY Handlanger, ungelernte Arbeiter ("Labourers"), s.n.a.k. 18 ZU,U 23 23 YYY

a Nur Vollzeitbeschäftigte aus den alten Bundesländern. b Hier wird der Konvention des ALLBUS gefolgt, nach der nur zwischen Soldaten und Oflizieren unter-

schieden wird. C s.n.a.k.: soweit nicht anderweitig klassifiziert. d Ganzeboom et al. (1992) haben die im medizinischen Bereich assistierenden Berufe, die nach ISCO-68

die Kategorien 062,064,066,068 und 069 belegen, zu einer neuen Kategorie 078 msammengefaßt. e Treiman (I 977) und Ganzeboom et al. (1992) unterscheiden innerhalb der ISCO-68 Kategorie 201 nach

Regierungsmitgliedem und anderen Angehörigen Gesetzgebender Körperschaften. Hier wurde der deutschen Fassung von Treiman (1979) gefolgt (s. Anhang 1. Probleme mit den Skalen flir die ISCO- Klassifikation).

Quellen: ISCO: StaBu (1 971), SIOPS: Treiman (1 979), W S : Wegener (1 988), ISEI: Ganzeboom et al. (1 992)

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Wog Sozio-ökonomischer Status und berufliches Prestige 133

Tabeile A2: Sozio-ökonomischer Status (TSES) und Berufsprestige (TBP) nach Tegtmeyer für die Klassifikation des Merkmals Stellung im Beruf der MZU71 und des ALLBUS

a Die Klassierung der Einheiten weicht hier von der des ALLBUS ab. b Einschließlich der akademisch freien Berufe. C Einschließlich der Meister und Poliere.

Quelle: Die Angaben in der zweiten Spalte finden sich in Tegtmeyer (1976a: 62), die der dritten Spalte in Tegtmeyer (1976b: 86, Tab. 4, Spalte 4). Die relative Größe der Berufs- gruppen wurde Marnmey (1979: 169) entnommen. Die Skalenwerte der finfien und sech- sten Spalte wurden nach diesen Angaben entsprechend der etwas anderen Kategorien des ALLBUS berechnet.

Stellung im Beruf TSES TBP % (MZU7 1, Tegtmeyer)

Landwirt, b.u. 5 haa -1 4,2 -9,2 0,60 Landwirt, 5 b.u. 20 haa -3,l -4,3 1,51 Landwirt, 20 ha u.m." 7,7 11,7 0,85

--- --- ---

--- --- --- --- --- --- --- --- ---

Selbst., bis 1 ~ i t a r b . ~ 23,8 32,5 4,90 Selbst., 2 bis 9 ~ i t . ~ 60,1 66,8 2,33 Selbst., 10 u.m. ~ i t . ~ 74,4 8 1,3 0,75

--- --- ---

Mith. Fam., Landw. -27,l -27,4 4,40 Mith. F m . , sonstiges 1,8 -1,2 1,97

Beamte, einf Dienst - 15,9 6,6 2,16 Beamte, mittl. Dienst 29,5 33,4 2,51 Beamte, gehob. Dienst 75,4 62,4 2,16 Beamte, höh. Dienst 91,2 94,3 1,08

angest. Werkmeisterc 29,9 28,4 0,87 einf. Angestellte - 1 9 3 -2,3 1 1,46 mittl. Angestellte 27,6 26,2 12,42 höh. Angestellte 65,7 57,4 5,47 leit. Angestellte 79,2 85,6 0,89

ungel. Arbeiter -58,4 -48,9 12,06 angel. Arbeiter -36,2 -30,l 12,07 gel. und Facharbeiter -1,O -2,3 1 7 3 1 Vorarb./Kolonnenf. 9,2 8,l 0,96

--- -- 0,50

TSES TBP Stellung im Beruf (ALLBUS)

-6,3 -5,7 10 Landwirt, bis unter 10 ha -6,3 -5,7 11Landwirt,10bisu.20ha 7,7 11,7 12Landwirt,20bisu.50ha 7,7 1 1,7 13 Landwirt, 50 ha und mehr

23,8 32,5 15 freier Beruf, bis 1 Mitarb. 60,l 66,8 16 freier Beruf, bis 2-9 Mit. 74,4 8 1,3 17 freier Beruf, 10 Mit. u.m.

23,8 32,5 21 Selbst., bis l Mitarbeiter 60,l 66,8 22 Selbst., 2 bis 9 Mitarbeiter 74,4 8 1,3 23 Selbst., 10 bis 49 Mitarb. 74,4 81,3 24 Selbst., 50 u.m. Mitarb.

-1 8,2 - 19,3 30 Mith. Familienangehöriger

- 15,9 6,6 40 Beamte im einf. Dienst 29,5 33,4 41 Beamte im mittl. Dienst 75,4 62,4 42 Beamte im gehob. Dienst 91,2 94,3 43 Beamte im höh. Dienst

29,9 28,4 50 Angest. Werkmeister - 1 9 3 -2,3 5 1 Angest., einf. Tätigkeiten 27,6 26,2 52 Angest., schw. Aufgaben 65,7 57,4 53 Angest., selbst. Leist. 79,2 85,6 54 Angest., Führungsaufg.

-58,4 -48,9 60 Ungelernte Arbeiter -36,2 -30,l 61 Angelernte Arbeiter -1,O -2,3 62 Gelernte und Facharbeiter 9,2 8,l 63 Vorarb./Kolonnenf.

29,9 28,4 64 Meister, Poliere

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134 ZUM-Nachrichten 3 7, Jg. 19, November 1995

Tabelle A3: Sozio-ökonomischer Status nach Hand1 (HSES) und Berufsprestige nach Mayer (MBP) für die Klassifikation des Merkmals Stellung im Beruf der MZU71 und des ALLBUS (Fußnote siehe folgende Seite)

Stellung im Beruf HSES MBP N MZU7 1 ,Handl/Mayer) Landwirt, bis U. 10 ha 37 43 698 Landwirt, 10 b.u. 20 ha 44 63 1288 Landwirt, 20 b.u. 50 ha 72 100 974 Landwirt, 50 ha u.m. 105 135 150

fr. Berufe, bis 1 Mit. 344 269 283 fr. Berufe, 2 u.m. Mit. 371 31 1 323

--- --- ---

Selbst., bis 1 Mitarb. 157 132 3857 Selbst., 2 bis 9 Mit. 216 162 2411 Selbst., 10 u.m. Mit. 284 208 867

--- --- ---

Mith. Familienangeh. --- --- ---

Beamte, einf. Dienst 73 99 1058 Beamte, mittl. Dienst 122 152 268 1 Beamte, gehob. Dienst 279 2 15 2 185 Beamte, höh. Dienst 344 278 1297

angest. Werkmeister 124 14 1 1 183 einf. Angestellte, Pw" 92 127 2249 einf. Angestellte, Ö . D . ~ 77 122 383 mittl. Angestellte, Pw 153 167 7939 mittl. Angestellte, Ö.D. 146 158 1043 höhere Angestellte, Pw 271 207 6229 höhere Angestellte, Ö.D. 255 196 418 leitende Angestellte 3 10 247 12 15

ungel. Arbeiter, Dienstl. 28 50 1493 ungel. Arb., Gewerbe 23 34 3599 ungel. Arbeiter, Bau 19 12 1290 ungel. Arbeiter, Landw. 10 10 294 angel. Arbeiter, Dienstl. 39 76 1942 angel. Arb., Gewerbe 34 65 6815 angel. Arbeiter, Bau 35 53 1465 Facharb., Dienstleistung 55 99 2626 Facharbeiter, Gewerbe 56 9 7 1 2 1 2 4 Facharbeiter, Bau 56 76 3739 Facharb., Landw. 46 48 228 Vorarb./KolonnentUhrer 70 101 1391 Meister, Poliere 99 125 687

HSES MBP Stellungim Beruf (ALLBUS)

37 43 10 Landwirt, bis unter 10 ha 44 63 11 Landwirt, 10 bis U. 20 ha 72 100 12 Landwirt, 20 bis U. 50 ha

105 135 13 Landwirt, 50 hau.m.

344 269 15 fr. Beruf, bis 1 Mitarb. 371 31 1 16 fr. Beruf, bis 2-9 Mitarb. 371 3 1 1 17 fr. Beruf, 10 Mit. u.m.

157 132 21 Selbst., bis 1 Mitarbeiter 216 162 22Selbst.,2bis9Mitarb. 284 208 23 Selbst., 10 bis 49 Mitarb. 284 208 24 Selbst., 50 u.m. Mitarb.

--- --- 30 Mith. Familienangeh.

73 99 40 Beamte im einf. Dienst 122 152 41 Beamte im mittl. Dienst 279 2 15 42 Beamte im gehob. Dienst 344 278 43 Beamte im höh. Dienst

124 14 1 50 Angest. Werkmeister 90 126 5 1 Angest., einf. Tätigkeiten

152 166 52 Angest., schw. Aufgaben

270 206 53 Angest., selbst. Leist.

3 10 247 54 Angest., Führungsaufg.

23 32 60 Ungelernte Arbeiter

35 65 61 Angelernte Arbeiter

56 92 62 Gelernte U. Facharbeiter

70 101 63 Vorarb./Kolonnenf. 99 125 64 Meister, Poliere

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Wo@ Sozio-ökonomischer Status und berufliches Prestige 135

Tabelle A4: Mittelwerte und Standardabweichungen der auf StiB aggregierten ISCO-

Skalen

a Verteilung der Vollzeitbeschäftigten im kumulierten ALLBUS 1980-1992 (V288, alte BRD).

Anmerkung zu Tabelle A3: a: Pw: Privatwirtschaft; b: Ö.D.: öffentlicher Dienst. Quelle: Die Angaben in der zweiten und vierten Spalte finden sich bei Hand1 (1977: 126, 11 1). Die An- gaben in der dritten Spalte wurden Mayer (1977: 215) entnommen. Die Skalenwerte der fünften und sechsten Spalte wurden nach diesen Angaben entsprechend der etwas anderen Kategorien des ALLBUS berechnet.

Na

28 60 58 18

64 61 15

344 352 61 9

32

121 386 412 205

135 591

1736 1271

180

150 647

1522 228 131

8817

Stellung im Beruf (ALLBUS)

10 Landwirt, bis unter 10 ha 1 1 Landwirt, 10 bis unter 20 ha 12 Landwirt, 20 bis unter 50 ha 13 Landwirt, 50 ha und mehr

15 Akad. fieier Beruf, bis 1 Mitarbeiter 16 Akad. fieier Beruf, bis 2 bis 9 Mitarb. 17 Akad. fieier Beruf, 10 Mitarb. u.m.

2 1 Selbständiger, bis 1 Mitarbeiter 22 Selbständiger, 2 bis 9 Mitarbeiter 23 Selbständiger, 10 bis 49 Mitarbeiter 24 Selbständiger, 50 u.m. Mitarbeiter

30 Mithelfender Familienangehöriger

40 Beamte im einfachen Dienst 41 Beamte im mittleren Dienst 42 Beamte im gehobenen Dienst 43 Beamte im höheren Dienst

50 Werkmeister im Angestelltenverhältnis 5 1 Angestellte, einfache Tätigkeiten 52 Angestellte, schwierige Aufgaben 53 Angestellte, selbständige Leistungen 54 Angestellte, Führungsaufgaben

60 Ungelernte Arbeiter 6 1 Angelernte Arbeiter 62 Gelernte und Facharbeiter 63 Vorarbeiter, Kolonnenfuhrer, Brigadier 64 Meister, Poliere Gesamt

Agg. MPS Agg. SIOPS

x s x s x s 53,8 53,6 53,6 53,6

108,O 129,4 145,2

68,4 65,8 78,2 92,2

56,5

58,7 67,3 89,l

117,7

55,6 50,2 68,2 88,4

101,2

34,l 41,2 45,5 45,8 49,4 65,6

Agg. ISEI

46,4 41,O 40,8 40,8

60,4 66,6 70,3

433 43,6 49,8 55,7

39,7

38,3 44,4 55,O 62,2

42,l 35,7 45,l 51,7 543

26,8 31,8 36,8 37,O 38,8 43,5

0,3 0,l 0,l 0,l

35,l 36,8 29,6

19,6 21,7 26,4 30,O

14,l

19,8 16,3 19,9 28,O

16,4 12,3 15,8 31,3 32,2

1 1,6 11,3 8,3 9,8 9,6

28,l

-

27,3 26,2 26,2 26,2

67,3 76,5 79,9

49,4 47,3 54,4 58,9

38,O

45,9 53,O 63,2 70,6

41,8 44,9 51,5 573 60,3

29,7 33,9 35,l 35,9 36,7 47,3

7,6 3,8 3,4 3,5

12,O 9,5 6,6

9,O 10,7 14,3 14,3

6,5

11,2 9,7 7,7 8,O

8,3 8,l 9,4

12,O 11,5

8,2 8,O 6,6 7,l 7,6

12,l

1,5 0,8 0,7 0,7

13,6 12,3 7,O

10,8 13,2 13,8 13,l

11,8

12,4 9,5 8,4 7,8

8,4 8,7 9,7

13,2 12,6

6,6 6,6 5,2 5,9 6,8

14,5

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136 ZUM-Nachrichten 37, Jg. 19, November 1995

Tabelle A5: Mittelwerte und Standardabweichungen der auf die grobe StiB- Klassifikation aggregierten Skalen

Stellung im Beruf

Landwirte Akad. freie Berufe Selbständige Mith. Familienangehörige Beamte Angestellte Arbeiter Gesamt

Akad. freie Berufe

Stellung im Beruf

Landwirte Akad. freie Berufe Selbständige Mith. Familienangehörige Beamte Angestellte Arbeiter Gesamt

a) Verteilung der Vollzeitbeschäftigten im kumulierten ALLBUS 1980-1992 01287, alte BRD).

Agg. SIOPS - X 42,2 63,9 44,2 39,7 51,3 46,3 35,3 433

Agg. TSES

S

5,7 11,2 10,6 6,5

11,8 11,7 7,7

12,l

Agg. MPS

- X

0,9 44,3 45,l

-18,2 52,7 35,3

-10,3 , 23,8 ,

- X 54,5

120,8 68,3 56,5 84,5 733 44,2 65,6

S

9,6 20,l 19,7 0,O

33,9 29,5 21,3 36,O

Agg. TBP

Na

165 142 772 32

1132 3966 2695 8904

S

7,7 37,8 21,8 14,l 28,4 27,2

9,9 28,l

Agg. ISEI

- X

3,l 51,9 52,7

-19,3 52,3 34,8 -9,2

24 ,7 ,

- X

27,O 72,4 49,O 38,O 59,6 52,5 34,7 47,3

Na

165 142 772 32

1132 3966 2695 8904 ,

S

11,2 19,2 18,7 0,O

26,6 23,O 17,9 32 ,3 ,

Agg. HSES

S

5,9 14,O 12,3 11,8 12,O 12,l 5,9

14,6

- X 62,O

355,2 195,7

--- 214,8 187,2 52,5

150,7,

S

34,3 30,4 39,7

--- 98,4 71,O 17,3 93 ,8 ,

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Ostermann/Vach: Statistische Beratung zwischen Anspruch und Wirklichkeit 137

STATISTISCHE BERATUNG ZWISCHEN ANSPRUCH UND WIRKLICHKEIT

MIT BEITRÄGEN VON G.DIRLICH (MUNCHEN), R.DU7TER (WIEN), R. LÜDTKE (TÜBINGEN), J.SCH ULTE MÖNTING (FREIBURG), K.SCH ULZ

(HANNOVER), A. UNWIN (AUGSBURG), R. WITTENBERG (NURNBERG) UND B. WUNDER ( U N D A U )

I m Rahmen der SoftStat'95 fand ein wissenschaftliches Symposium zum Thema Stati- stische Beratung statt. Vor diesem Symposium hatten auch die zwei Vorträge von

G.ROUSSAS (Principles and Practics of Statistical Consulting) und H.RIEDWL (Statisti- sche Beratung - Gestern und Heute) dieses Thema zum Inhalt. Ausarbeitungen dieser beiden Vorträge sind für den zugehörigen Proceedingsband geplant. Tm Rahmen des Symposiums wurden von den beiden Organisatoren funf Thesen formuliert, die dann an- schließend von den beteiligten Diskutanten kommentiert wurden. Im weiteren Verlauf fand dann eine intensive Diskussion zuerst innerhalb der eingeladenen Diskutanten, dann unter Einbezug des Publikums statt. Die gesamte Veranstaltung wurde auf einer Tonkas- sette mitgeschnitten und kann auf Wunsch bei ZUMA angefordert werden. Im folgenden sollen nun die Ergebnisse dieser Diskussion wiedergegeben werden. Zuerst werden die aufgestellten Thesen vorgestellt, anschließend die persönlichen Stellungnahmen der ein- geladenen Diskussionsteilnehmer. Abgerundet wird dieser Bericht mit einigen abschlie- ßenden Bemerkungen, die unter anderem auch die Stellungnahmen kommentieren.

Fünf Thesen

Grundlage der Diskussionsrunde waren die folgenden von den Organisatoren formulier- ten funf Thesen. 1)

These 1: 99 Prozent der Beratungsfälle kommen mit 1 Prozent des Methodenspektrums der Softwareprodukte aus

Dies soll bedeuten, daß nicht alle Beratungsfalle mit dem gleichen Prozent auskommen, jedoch jeder einzelne mit seinem persönlichen Prozent. Für die gängige statistische Bera- tung sind die Programmpakete überfrachtet. Dies wird auch dadurch deutlich, daß viel-

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138 ZUM-Nachrichten 37, Jg. 19, November 1995

fach der Wunsch nach einem einfachen statistischen Programmpaket für die alltägliche statistische Beratung geäußert wird.

These 2: Mit Beratung können keine Ehren verdient werden

Die Anerkennung von Beratung als Teil einer wissenschaftlichen Tätigkeit fehlt. Sie wird, ähnlich wie die Lehre, als minderer Bestandteil im Vergleich zur Forschung ange- sehen. Bei Stellenbesetzungen und Berufungen wird sie als Qualifikationsmerkma1 kaum berücksichtigt. Eine adäquate Berücksichtigung ist allerdings schwierig, da sich (erfolg- reiche) Beratungstätigkeit kaum dokumentieren läßt. Veröffentlichungen, bei denen sich die Beratungstätigkeit eines Statistikers in Form eines Dritt- oder Viertautors dokumen- tiert, sollten stärker gewürdigt werden. Beratung, z.B. von Diplomanden oder Doktoran- den, muß sich aber nicht immer in Publikationen niederschlagen.

These 3: Besser alles selber machen

Nicht dem Ratsuchenden zeigen, wie man es rechnet, sondern selbst rechnen, denn dann weiß man, daß richtig gerechnet wird, und überhaupt kann DER das doch gar nicht rech- nen.

These 4: Statistische Programmpakete sind kontraproduktiv für die Beratung

Die Kontraproduktivität statistischer Programmpakete zeigt sich in mehreren Aspekten. Zum ersten erzeugen sie häufig numerisch inkorrekte Ergebnisse [Sawitzki (1994a, 1994b), Hilgers (1989)l. Zum zweiten verfuhren sie den naiven Benutzer häufig zu nicht adäquaten Auswertungsstrategien. Das folgende Beispiel mag dies illustrieren: Benutzt der Ratsuchende in einem der gängigen Softwareprodukte die t-Testprozedur für ein Zweistichprobenproblem, so erhält er bei fast allen Produkten einen dreiteiligen Output, wobei die drei Teile den folgenden Inhalt besitzen: (1) Das Ergebnis des Zweistichpro- ben-F-Tests auf Gleichheit der Varianzen; (2) das Ergebnis des klassischen t-Testes bei Gleichheit der Varianzen und (3) das Ergebnis eines approximativen t-Testes bei Un- gleichheit der Varianzen. Dieser Output suggeriert, daß es adäquat ist, in Abhängigkeit von (1) eine Wahl zwischen (2) und (3) vorzunehmen. Es wird verschwiegen, daß sich die Verteilung der Tests unter der Nullhypothese durch das Bedingen auf die Entschei- dung (1) ändert, und daß auch bei Vorliegen von nicht signifikant verschiedenen Varian- Zen die notwendigen Voraussetzungen von (2) nicht erfillt sein müssen, und somit die be- rechneten p-Werte unter Umständen nicht korrekt sind.

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Ostermann/Vach: Statistische Beratung zwischen Anspruch und Wirklichkeit 139

Der dritte Aspekt ist, daß die allgemeine Verfugbarkeit von statistischen Progammpake- ten dazu fuhrt, daß viele Auswertungen ohne fachkundige statistische Beratung durchge- fiihrt werden. Insbesondere verführt die Existenz dieser Pakete zu der Annahme, daß die Durchfuhrung der Berechnungen das eigentliche Problem der Statistik ist, und lenkt von den Notwendigkeiten der Planung und der Methodenauswahl ab. Statistische Beratung wird häufig erst gesucht, wenn die mit den Programmpaketen erzielten Ergebnisse unbe- friedigend sind, oder von Seiten eines Reviewers kritische Fragen gestellt werden. Dann sind in der Regel jedoch wesentliche Fehler - insbesondere in der Planung und Durch- führung - gemacht und nicht mehr reparabel.

These 5: Statistische Programmpakete bieten keine Unterstützung für die Beratung

Wird eine statistische Beratung rechtzeitig durchgefuhrt, so ist es in der Regel nicht mög- lich, die Durchführung der Rechnungen dem Ratsuchenden selber zu überlassen, da, selbst wenn dieser ein statistisches Programmpaket zur Verfugung hat, nicht gewährleistet ist, daß diese Berechnungen richtig durchgeführt werden. Für den Beratenden ergeben sich dann drei Alternativen: Einarbeitung in das Programmpaket des Ratsuchenden, Einweisung des Ratsuchenden in ein eigenes Programmpaket oder Durchführung der Rechnungen durch den Berater. Die erste Alternative scheitert in der Regel an der man- gelhaften Dokumentation der meisten Pakete. Die zweite Alternative scheitert in der Re- gel daran, daß die vom Berater selbst benutzten Pakete zu komplex sind, als daß sie eine einfache Einführung erlauben. Daher ist die dritte Alternative meist diejenige, die den geringsten Aufwand bedeutet.

Stellungnahmen der Diskussionsteilnehmer

Im folgenden sind die Stellungnahmen der Diskussionsteilnehrner in alphabetischer Rei- henfolge zu finden. Für diese Ausarbeitungen war ihnen jeweils eine Kopie der mitge- schnittenen Toncassette zur Verfügung gestellt worden, damit sie auch noch nachträglich Ergebnisse der Diskussion in ihre Stellungnahme aufnehmen konnten. Die Stellungnah- men können also zum Teil über die mündlichen Beiträge während der Diskussion hin- ausgehen.

GERHARD DIRLICH (München): Dr ; Dipl. -Math., Max-Planck-Institut für Psychiatrie (München), Biostatistik und Klinische Elektrophysiologie; Lehrbeauftragter für Med. Psychologie an der LMU München. Forschungsprojekte in Zusammenarbeit mit Medizi- nern, Biologen, Informatikern. 1. Statement: Meine beiden Tätigkeitsbereiche am Max-Planck-Institut und an der Uni- versität geben mir die Möglichkeit, Anwendungen der Statistik aus zwei unterschiedli-

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chen Perspektiven betrachten zu können. Im Rahmen meiner Lehrtätigkeit an der Uni- versität gebe ich ein Seminar über Methodologie und Anwendungsprobleme der Statistik im Bereich medizinisch-psychologischer Forschung, in dem konkrete Forschungsprojekte der Teilnehmer analysiert und im Hinblick auf ihre statistischen Aspekte beraten werden. Hier blicke ich aus der Position der Statistik auf ein Anwendungsgebiet.

In meiner Forschungstätigkeit am Max-Planck-Institut bin ich selbst der Substanzwis- senschaftler, der statistische Methoden anwenden will. Ich blicke nun also von einem Anwendungsgebiet auf die Statistik. Im Kontrast der beiden Perspektiven treten einige Aspekte der statistischen Beratung als Dienstleistung hervor, die der Statistiker für den Klienten erbringt. In der Rolle des statistischen Beraters wird mir immer wieder deutlich, wie wenig zumindest in der Anfangsphase einer Beratung die Erwartungen des Klienten und die Zielvorstellungen des Beraters aufeinander abgestimmt sind und wie notwendig aber auch mühsam es ist, die Gefahr des Aneinander-vorbei-Argumentierens zu reduzie- ren. In der Rolle des Substanzwissenschaftlers habe ich dagegen ein klares Verständnis meiner Probleme und kenne die Möglichkeiten der Statistik, wenn ich die Funktion mei- nes eigenen statistischen Beraters ausübe. Hier besteht von vornherein ein stillschwei- gendes Einverständnis über die Möglichkeiten und Grenzen des Zusammenspiels zwi- schen substanzwissenschaftlichen und statistischen Argumenten. Es gibt sozusagen einen Kontrakt zwischen den Partnern Substanzwissenschaftler und Statistiker, in dem Umfang und Inhalt der Dienstleistung des Statistikers in einer für beide Partner durchsichtigen Weise vereinbart sind. Meines Erachtens ist es eine vordringliche Aufgabe im Zuge einer Weiterentwicklung der Formen der Zusammenarbeit von Substanzwissenschaftlern und Statistikern, klare Vorstellungen darüber zu gewinnen, wie ein Kontrakt zwischen einem Substanzwissenschaftler und einem Statistiker aussehen sollte, durch den eine Ab- stimmung der Erwartungen des Klienten auf die vom Berater zu erbringende Dienstlei- stung vorgenommen werden kann. Ich habe den Eindruck, daß viele der bisher in der Diskussion angesprochenen Probleme letztlich ihre Wurzeln in unklaren Kontrakten zwi- schen Klient und Berater haben.

Nun einige Bemerkungen zu den fünf Thesen. Mit der ersten These, wonach die große Mehrzahl der Beratungsfalle mit einem sehr kleinen Teil des Methodenspektrums erledigt wird, konnte ich zunächst nicht viel anfangen, weil ich diesen Sachverhalt als solchen nicht als problematisch empfinde. Wenn ich die These aber als Ausdruck eines Miß- verhältnisses zwischen statistischen Methoden einerseits und substanzwissenschaftlichen Problemen andererseits interpretiere, dann sind meines Erachtens zwei Dinge zu analysie- ren. Zum einen im Zusammenhang mit der bereits erwähnten zentralen Frage des Kon- trakts zwischen Klient und Berater, welches Sachproblem statistisch behandelt werden

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Ostermann/Vach: Statistische Beratung zwischen Anspruch und Wirklichkeit 141

soll. Eine präzise Festlegung des Sachproblems ist Voraussetzung für die Entscheidung für eine adäquate statistische Methodik. Zum anderen die Frage der unmittelbaren Ver- fügbarkeit statistischer Methoden am Computerarbeitsplatz des Beraters. Beide Problem- bereiche spielen in unserer Diskussion eine wichtige Rolle.

Zur These 2, die auf die Bewertung des Beitrags des statistischen Beraters im Rahmen ei- ner Forschungsarbeit abzielt, möchte ich feststellen, daß die statistische Analyse und Durcharbeitung von Beobachtungsdaten meiner Meinung nach ein integraler Bestandteil der Forschungsarbeit ist. Statistik ist dann in diesem Sinn eine Hilfswissenschaft. Werden die erarbeiteten statistischen Argumente aber voll in den substanzwissenschaftlichen Argumentationszusammenhang integriert, so wird der statistische Berater zum Vollmit- glied im Forschungsteam. Er kann sich nach meiner Erfahrung sogar Lorbeeren damit verdienen.

Zur These 3, die auf die Arbeitsteilung zwischen Klient und Berater abzielt, gibt es mei- nes Erachtens keine pauschale Antwort. Es hängt sehr von den konkreten Gegebenheiten eines Beratungsfalles ab, ob der Berater alles selber machen sollte. Manche meiner Kli- enten waren hochmotiviert und hatten gleichzeitig gute Computer- und Statistik- kenntnisse. In einem solchen Fall wird man anders entscheiden als bei einem Klienten, der zwar gut motiviert ist aber keine Computer- und Statistikkenntnisse mitbringt. Immer sind mehrere Faktoren bei der Entscheidung in Rechnung zu stellen, in welcher Weise die Durchführung der Arbeit zwischen Berater und Klient aufgeteilt wird. Auch dieses Pro- blem führt wieder zu meinem zentralen Punkt: Es gehört zum Inhalt eines klaren Kon- trakts, wie die einzelnen Arbeitsschritte zwischen den beiden Partnern, Klient und Bera- ter, aufgeteilt werden.

In These 4 geht es um eine Bewertung der Nützlichkeit von Programmpaketen. Die Be- wertung kontraproduktiv erscheint mir überzeichnet. Allerdings habe ich oft erlebt, daß die Versprechung von Programmpaketen, eine Vielzahl komplizierter empirischer Pro- bleme, etwa Fragen des experimentellen Designs oder der Mehrdimensionalität, mit Hilfe raffinierter Verfahren post hoc irgendwie lösen zu können, Substanzwissenschaftler dazu verleiten kann, weniger auf Klarheit und Einfachheit ihrer Fragestellungen und Experi- mente zu achten. Dies halte ich in der Tat für eine große Gefahr.

Der These 5, wonach Programmpakete keine Unterstützung für die Beratung bieten, kann ich mich nicht anschließen. Ich halte statistische Software für äußerst nützlich insbeson- dere, wenn der Klient mit seinen Daten auf einer Diskette daherkommt. Ich möchte aber über dieses Ziel hinausgehen, indem ich bei meiner Beratungstätigkeit immer prüfe, in-

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142 ZUM-Nachrichten 3 7, Jg. 19, Novenlber 1995

wieweit es möglich ist, statistische Methoden möglichst anwendungsspezifisch in den Arbeitsplatz des beratenen Substanzwissenschaftlers zu integrieren.

2. Statement: Ich möchte an den gerade angesprochenen Punkt anknüpfen. Ich erlebe immer wieder, daß Klient und Berater unterschiedliche Vorstellungen über das Ziel der Beratung haben und daß auch im Verlauf der Beratung nicht notwendigerweise eine An- näherung der Vorstellungen entsteht. Was ist eigentlich der Inhalt des Kontrakts zwischen dem Substanzwissenschaftler und dem Statistiker bei einer statistischen Beratung? Ich habe von dieser Diskussion erwartet, ein bißchen mehr darüber zu erfahren, wie Sie einen solchen Kontrakt definieren. Es ist meines Erachtens notwendig, darüber einen Konsens zu erzielen, um sicherzustellen, daß wir von derselben Sache reden. Es kann doch nicht hinreichen, daß wir nur über die Auswahl statistischer Methoden oder sogar nur über ihre Durchführung reden. Am Anfang jeder statistischen Beratung geht es darum, ein substanzwissenschaftliches Problem in ein statistisches Problem zu übersetzen. Diesen Vorgang halte ich für den wichtigsten Schritt der Beratung. Mir ist nicht klar, ob über diesen Punkt Einigkeit unter den Diskutanten auf dem Podium besteht.

3. Statement: Zum zuletzt angesprochenen Problem, der Kontrolle der eigenen Bera- tungstätigkeit: In schwierigen Fällen suchen wir eine Diskussion des Beratungsproblems mit einem Statistiker-Kollegen oder einem kompetenten Substanzwissenschaftler. Dabei können Gesichtspunkte zur Sprache kommen, die wir selbst übersehen haben oder die wir anders sehen. Durch eine solche ,,Peer supervision" erzielen wir nicht nur eine notwen- dige Kontrolle unserer Beratungstätigkeit, sondern auch einen Wissens- und Erfahrungs- austausch mit Fachkollegen.

RUDOLF DUTTER (Wien): Prof Dr; Studium in Wien und Montreal (Dissertation bei I. Guttman), Forschungsass. ETH Zürich (bei I? J. Huber), später TU Graz und Montan- universität Leoben, seit 1984 Univ. Prof für Technische Statistik an der TU Wien; Bera- tungsschwerpunkte: Ca. 50 Beratungen pro Jahr in Montanwiss. (Geochemie, Explora- tion), Medizin, Maschinenbau, Verkehrswesen, Bauingenieurwesen und Sprachwissen- schaften. Ich arbeite zur Zeit an der Technischen Universität Wien und - wie ich gerade nachrech- nete -, habe ich insgesamt ungefähr drei Viertel meiner Lebenszeit an technischen Uni- versitäten verbracht. Meine Beratungstätigkeit war früher intensiver als heute. Es wäre logisch, daß Leute aus der Technik zu mir zur Beratung kämen; daß stimmt allerdings nicht wirklich. Es kamen zur Technik immer wieder auch sogenannte Exoten, das heißt z.B. Mediziner, und zum Schluß sogar ein Linguist. An unserer Technischen Universität

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Ostermann/Vach: Statistische Beratung zwischen Anspruch und Wirklichkeit 143

gibt es auch eine Abteilung für biomedizinische Technik, was natürlich den Zugang der Mediziner erklären könnte. Wie schon gesagt, hat meine Beratung an Intensität in der letzten Zeit etwas abgenommen, ich befürworte an unserem Institut aber hundertprozen- tig, daß alle meine Mitarbeiter sich auch der Beratung widmen.

Zu den Thesen habe ich eine kritische Stellungnahme vorbereitet: Die These 1 kann ich in seriöser Weise kaum kommentieren, nachdem ich angegeben habe, daß ich nur 50 mal pro Jahr Beratung durchführe. Die Prozentpunkte dürfte ich nicht so präzise ausdrücken. Wenn es aber heißt ,,Fast alle Beratungsfalle kommen mit ganz wenigen Methoden auscc, dann ist es auch bei mir der Fall.

Zur These 2 - mit Beratung können keine Ehren verdient werden: Nachdem ich mich auch viel mit Lehre beschäftige, frage ich mich, ob die Anerkennung wirklich fehlt? Auch in der Lehre wird oft die mangelnde Anerkennung kritisiert, sie fehlt aber auch hier nicht, zumindest nicht ganz. Man soll mein Statement aber nicht überbewerten. Aber bei Berufungen ist es wohl auch wichtig, ob jemand in der Lehre oder in Beratungen, das heißt meistens interdisziplinär, erfolgreich war. Zum Beispiel gehört zu den Aufgaben meines Institutes die ,,Vertretung der Statistik in Lehre und Forschungcc. Aber zumindest in der Ausschreibung meiner jetzigen Stelle stand so etwas wie „Zusammenarbeit mit Anwendern in anderen Disziplinen ist erwünschtcc. Dabei schließe ich natürlich aus, daß in der Berufungskommision nur Mathematiker sitzen. Zum Schluß würde ich die Bera- tung von Diplomanden und Doktoranden eigentlich auch zur Lehre zählen. Man berät ja dabei meistens nicht nur, sondern erteilt vor allem Unterricht.

Zur These 3 - besser alles selber machen: Nein, außer es ist sehr interessant. Dazu fallt mir die Geschichte mit dem Fischer ein, dem man ja bekanntlich auch nicht einen Fisch schenken sollte, sondern eine Angel, natürlich auf das Risiko hin, daß er dabei bald ver- hungert. Am besten wäre es natürlich, den ersten Fischer mit der neuen Angel noch in- tensiv beizustehen, zu helfen; den zweiten aber am besten daneben zu setzen. Bevor er verhungert, fragt er vielleicht noch schnell seinen Nachbarn. Mein Vorschlag heißt also Beratungsfalle zu Arbeitsgruppen zusammenzuführen!

Zur These 4 - ob statistische Programmpakete kontraproduktiv für die Beratung seien: Ja, aber: wieder mein Fischerbeispiel. Wenn der junge Fischer das erste Mal eine Angel in der Hand hält und nun damit den See abstochert und dann, nachdem er alle Fische ver- scheucht und die Angelrute zerschlagen hat, um Rat suchen kommt, so ist es schlecht. Er gehört entsprechend vorbereitet. Da hilft auch der Beipackzettel zur Angelausrüstung nicht, weil ja nicht daraufsteht, daß man nicht versuchen sollte, die Fische mit der Rute aufzuspießen. Meine Schlußfolgerung: Ausbildung des Fischers ist wesentlich.

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144 ZUM-Nachrichten 3 7, Jg. 19, November 1995

Zur These 5 - statistische Programmpakete bieten keine Unterstützung für die Beratung: In der Vorstellung wurden bereits drei Punkte aufgeführt. Um die statistische Beratung vollkommen ad absurdum zu führen, möchte ich noch eine vierte Möglichkeit aufzählen, von der ich meine, sie gerade in den letzten Tagen - typisch auf Fachtagungen - öfters ge- sehen zu haben. Der Berater propagiert nur das Programm oder das Programmpaket, das er selbst entwickelt hat. Vom dem ist er natürlich überzeugt, daß es das Problem in der einzig richtigen Weise lösen wird. Seine positive Einstellung hierzu wird sicher seine Wirkung zunächst nicht verfehlen.

Zum Abschluß möchte ich bemerken, daß mir die Erwähnung einer Reihe von kommer- ziellen statistischen Softwareprogrammpaketen aufgefallenen ist, wie BMDP, SAS, SY- STAT und so weiter. An unserem Institut verwenden wir hauptsächlich BMDP, SPSS und seit kurzer Zeit S-PLUS. Ich frage mich nun, ob die Rückmeldungen auf Computerpro- grammpaketen eher von den Kunden kommen, aber diese nicht von der Statistikgruppe propagiert werden. Hier weise ich eben typisch auf S-PLUS hin, das wahrscheinlich von Medizinern und anderen Anwendern kaum verwendet wird. Ich meine aber, daß ich als statistischer Berater darauf hinweisen sollte, daß es da außer SAS auch andere Pakete gibt, die man sinnvoll für statistische Analysen verwenden kann.

Zur Diskussion: In der Zwischenzeit ist die Liste der verwendeten Computerpro- grammpakete wieder länger geworden. In den Thesen wird allerdings nur von statisti- schen Computerprogrammpaketen gesprochen. In der erwähnten Liste sind auch andere Namen gefallen, die mich aufhorchen ließen. Mich ärgert immer wieder, daß Leute zur Beratung kommen, mit dem Hinweis, daß ihr Programm so eigenartige statistische Er- gebnisse liefert. Wenn ich danach frage, welches Programm gemeint ist, dann erlebe ich immer meine Wunder.

Nun hätte ich gerne eine Bemerkung zur Stellungnahme von Herrn Unwin gemacht. Ich sehe nicht ganz ein, warum er mit seinem Computer und schönen Bildern und Darstel- lungen Kunden, das heißt Ratsuchende, ködern will. Hierzu würde ich noch anregen, sich einen Joystick anzuschaffen. Das wäre für die Kunden doch hinreißend, zu sehen, wie man an die Sache herangeht. Typisch haben Psychotherapeuten kleine Gegenstände auf einem Tisch stehen, wie Blumen oder kleine Autos oder anderes Spielzeug, um damit den Klienten vom eigentlichen Problem abzulenken. Der statistische Ratsuchende kommt aber normalerweise zum Berater mit einer gewissen Erwartungshaltung. Deshalb sollte man möglichst bald zur Sache kommen. Ich bin zwar hundertprozentig für grafische sta- tistische Datenanalyse; sie sollte aber nicht das Wesentlichste der statistischen Analyse sein.

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Ostermann/Vach: Statistische Beratung zwischen Anspruch und Wirklichkeit 145

Noch eine Bemerkung zur Stellungnahme von Herrn Lüdtke, mit dem ich übereinstimme, daß der Berater nicht viel mit dem Computer spielen, sondern eher direkt auf den Ratsuchenden eingehen sollte. Zur Ausreißersuche möchte ich noch sagen, daß ich sie als äußerst wichtig empfinde, und dies ist natürlich bei der grafischen Darstellung von Herrn Unwin sehr schön herausgekommen.

RAINER LÜDTKE (Tübingen): Dip1.-Stat.; Studium in Dortmund; Wiss. Mit. in Göttin- gen. Seit 1993 Tübingen (Inst. für med. Informationsverarbeitung, Projekt der Kar1 und Veronika Carstens Stiftung). Ca. 40 Beratungen pro Jahr (davon Ca. 20 für das Projekt). Beratungsschwerpunkte: Medizin (auch Ärzte des Klinikums). Methoden: Einfache Gra- fiken, deskr Statistik, Ein- und Zwei-Stichprobentests, Stichprobenpläne, Planung und Modellierung klinischer und diagnostischer Studien. Ich werde mich im folgenden in meinen Ausführungen lediglich auf den medizinischen Bereich beziehen, da ich hier meine größten Erfahrungen habe. Weiterhin beschränke ich mich auf die Beratung von Doktoranden und wissenschaftlich arbeitenden Ärzten, die in der Regel zu einigen wenigen Gesprächen bei mir vorbeischauen. In der Regel übersteigt die Anzahl solcher Termine nicht die Zahl 5. Dieses heißt insbesondere, daß ich die Zu- sammenarbeit mit Medizinern in längerfristigen Forschungsprojekten ausklammere. Zwischen beiden Formen der Beratung gibt es meiner Erfahrung nach große Unter- schiede, sowohl bei den anzuwendenden Methoden als auch in der Art und Weise, wie sie miteinander arbeiten und auf die Probleme des jeweils anderen eingehen.

Es sind nämlich unter anderem Verständnisprobleme, die zu der derzeit herrschenden Si- tuation führen, in der sich die statistische Beratung an den Universitätskliniken befindet. Es macht sich eine allgemeine Unzufriedenheit breit, die allzu häufig dazu führt, daß das Angebot eines Beratungsgesprächs von den Ärzten gar nicht wahrgenommen wird. Auf der anderen Seite fühlen sich Statistiker oft als „Rechenknechteu mißbraucht. Die Unzu- friedenheit mit Inhalten und Ablauf der Beratung fuhrt auf beiden Seiten zu einer Art Eskalation der Standpunkte, die bis zu völliger Konfrontation führen kann.

Eine Ursache all dieser Probleme ist meiner Meinung nach die unterschiedliche Auffas- sung davon, was eine statistische, methodologische Beratung ausmachen sollte und wel- che Ziele sie haben sollte. Es fehlt so etwas wie eine allgemein akzeptierte Definition. Für mich ist die folgende Zielbestimmung maßgeblich: Ziel der Beratung ist es, Anwendern statistische und biometrische Methoden bereitzustellen und diese verständlich zu machen, so daß diese dann selbständig umgesetzt werden können.

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146 ZUM-Nachrichten 37, Jg. 19, November 1995

Diese Eingrenzung des Beratungsbegriffs sieht unter anderem vor, daß es nicht das pri- märe Ziel der Beratung ist, den Fortgang des eigenen Wissenschaftsbereichs, der Statistik, voranzutreiben. Vielmehr verstehe ich unter Beratung eher eine Dienstleistung zur adäquaten Unterstützung anderer Wissenschaftsbereiche. In diesem Zusammenhang ist es dann auch wichtig, daß ich mich hier lediglich auf die oben angesprochenen „Kurzbe- ratungen" beziehe. Längerfristige Kooperationen bei der Planung, Durchfuhrung und Auswertung eines Projekts fallen für mich nicht unter den Begriff Beratung. Hier sehe ich mich als gleichberechtigten Partner in einem Team, mit dem ich (in einer Art Symbiose) zusammenarbeite.

Diese Vorbemerkungen lassen die These 2 „Mit Beratung können keine Ehren verdient werden" unter einem anderen Licht erscheinen. Hier wird explizit Ehre mit wissen- schaftlicher Anerkennung gleichgesetzt. Daß die wissenschaftliche Anerkennung der Be- ratung oft versagt bleibt, begründen die Initiatoren der Podiumsdiskussion in der Erklä- rung ihrer These. Nur ist gemäß meiner obigen Definition wissenschaftliche Anerken- nung nicht primäres Ziel der Beratung. Somit ist auch die Anzahl der Veröffentlichungen des Beraters nicht das richtige Instrument zur Evaluierung der Beratungstätigkeit. Viel- mehr sollten Dimensionen wie Kundenzufriedenheit, Verständnis der vermittelten Me- thoden und Selbständigkeit der Umsetzung in einer Bewertung abgebildet werden. Nicht zuletzt sollte man daran denken, daß die Zufriedenheit des Beratenden mit seiner Arbeit eine Wert an sich ist, der das Verdienen von Ehre über wissenschaftliche Anerkennung ergänzen oder ersetzen kann. Mit Beratung können also sehr wohl Ehren verdient wer- den.

Wissenschaftliche Fortschritte im Bereich der Statistik sind auch schon deshalb nicht aus der Beratungstätigkeit zu erwarten, da in der Regel lediglich bzgl. biometrischer Stan- dardmethoden beraten wird. Ohne sich über die genauen Prozentzahlen zu streiten, ist demnach die These 1 „99 Prozent der Beratungsfalle kommen mit 1 Prozent des Metho- denspektrums der Softwareprodukte aus" richtig. Dieses ist in der Regel auch von beiden Seiten so gewollt. Wir glauben, daß uns im vorgegebenem Zeitrahmen nichts anderes übrig bleibt, als das vermittelte Spektrum in möglichst engen Grenzen zu halten. Auch von medizinischer Seite werden keine Anforderungen gestellt, die ein möglichst vielfalti- ges und spezialisiertes Spektrum erfordern. Mediziner sind häufig mit den Methoden zu- frieden, die sie während ihres Biometrie-Kurses bereits kennengelernt haben. Weiterge- hende Methoden werden oft als kontraproduktiv empfunden. Als typisches Beispiel mag hier die Verwendung loglinearer Modelle zur Beschreibung der Reliabilität zweier Rater dienen. Diese werden von medizinischer Seite als zu unbekannt abgelehnt. Stattdessen wird die Berechnung von Cohen's Kappa angemahnt. Vor allem bei Promotionen werden

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Mediziner oft von ihren Betreuern angehalten, sich der einfachen Methoden zu bedienen und die komplexeren Verfahren aus der Arbeit herauszulassen. Die These 1 kann dem- nach durchaus in folgende Form abgewandelt werden „99 Prozent der Beratungsfalle wollen mit 1 Prozent des Methodenspektrums der Softwareprodukte auskommen".

Wir Biometriker müssen uns fragen, ob wir nicht einen Teil der Schuld an dieser Ent- wicklung selbst tragen. Die Beratung in einfachen Standardmethoden verlangt von uns weniger Einsatz als die Auseinandersetzung mit Medizinern über neue Verfahren. Dieses fuhrt zu einer Bequemlichkeitshaltung, die häufig genug mit dazu beiträgt, daß Anwender die biometrische Beratung für völlig überflüssig halten. Statistische Programmpakete erscheinen ihnen als geeignete Alternative. Die These 4 „Statistische Programmpakete sind kontraproduktiv für die Beratung" geht meiner Meinung nach am Kernpunkt der Diskussion vorbei. Ursache der Tatsache, daß statistische Beratung gar nicht oder nur in ausweglosen Situationen in Anspruch genommen wird, ist nicht die allgemeine Verfug- barkeit der Programme. Vielmehr ist es uns im täglichen Umgang mit den Anwendern nicht gelungen, unseren Stellenwert und unsere Sachkompetenz deutlich zu machen. Sta- tistische Programmpakete verlagern die grundsätzliche Situation lediglich auf komplexere Verfahren (statt eines t-Tests können Anwender jetzt auch Varianzanalysen selbst rech- nen). Dieses mag der Grund sein, weshalb uns das Problem in den letzten Jahren ver- mehrt auffallt. Meiner Meinung nach besteht hier aber lediglich eine Korrelation und kein kausaler Zusammenhang. Dennoch ist sicherlich unbestritten, daß statistische Pro- grammpakete kontraproduktiv sein können. Die Initiatoren der Diskussion haben dieses am Beispiel des t-Tests deutlich bewiesen. Um so mehr müssen wir als Biometriker ver- suchen herauszustellen, daß unser Wissen für bestimmte Fragestellungen und Vorge- hensweisen unverzichtbar ist. Dieses setzt für den einzelnen voraus, daß er für sich selbst der Beratung einen höheren Stellenwert zuweist und nicht die höchst fragwürdigen Au- ßenkriterien (S.O.) anlegt.

Dennoch ist es wünschenswert, wenn Softwareprodukte uns einen Teil unserer Arbeit ab- nehmen könnten. Heutzutage gilt die These 5: ,,Statistische Programmpakete bieten keine Unterstützung für die Beratung" sicherlich nicht nur, es besteht auch dringender Hand- lungsbedarf, dieses zu ändern. Hier ist sicherlich auf Dauer eine Strategie gefragt, die das Design der Pakete ändert. Dieses würde eine Umorientierung der Programmpakete auf eine andere Zielgruppe bedeuten, weg von der Orientierung auf Statistiker und Pro- grammierer. Im Sinne der These 1 wären einfachere, überschaubare Pakete denkbar, die sich auf einige wesentliche Methoden konzentrieren. Gleichzeitig müssen Strategien entwickelt werden, die dem statistischen Mißbrauch vorbeugen, um das Problem der Kontraproduktivität nicht zu verschärfen.

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Man kann dieses Problem natürlich dadurch begegnen, daß man sämtliche Kalkulationen selbst vornimmt. Trotz alledem bin ich nicht der Meinung der These 3 ,,Besser alles sel- ber machen". Im Sinne der Organisatoren ist nur in diesem Fall die Korrektheit der Resul- tate gewährleistet. Eine solche Haltung spricht von einer recht großen Arroganz des Me- thodikers gegenüber dem Anwender. Ich würde im Gegenteil die These vertreten, daß das Selber-Rechnen das Bewußtsein der Anwender für Probleme der Biometrie schult. Wer selbst einmal Daten statistisch verarbeitet hat, weiß, daß es mit einem einfachen Knopf- druck nicht getan ist. Implizite Voraussetzung fur die These 3 ist es weiterhin, daß der Biometriker Verantwortung für die Richtigkeit der Ergebnisse trägt. In einer Beratungssi- tuation, wie ich sie betrachte, würde ich eine solche Verantwortung aber ablehnen. In aller Regel bin ich weder bei Planung noch bei der Datenerhebung involviert gewesen, die Relevanz der medizinischen Fragestellung kann ich ebenfalls nicht abschätzen. Im Rahmen meines Beratungsbegriffs bin ich lediglich verantwortlich für die Richtigkeit der von mir beratenen Verfahren. Eine weitergehende Verantwortung würde eine wesentlich intensivere Betreuung voraussetzen, die den üblichen Rahmen sprengt. Diese Verantwor- tung müßte sich dann aber auch in der Berücksichtigung bei Publikationen niederschla- gen.

* *

JÜRGEN SCHULTE MÖNTING (Freiburg): Prof DK; Mathematik-Studium in Marburg und Freiburg; Wiss. Mit. in Freiburg und Tübingen; Seit 1983 in Freiburg (Institut für Med. Biometrie und Med. Inf); mehr als 100 Beratungen pro Jahr mit 1 bis 40 Ge- sprächsterminen (Median 3.5). Beratungsschwerpunkte: Medizin (insbesondere Neuro- logie und Zahnmedizin). Methoden: ANOVA (repeated measurements), Logistische Re- gress ion, Cox-Regression. Vorrede: Meine Ansichten zum Thema basieren überwiegend auf Erfahrungen mit Me- dizinern, insbesondere Klinikern. Diese haben höchstens einen Biomathe-Kurs besucht, die Zahnmediziner nicht einmal das. Abstraktes Denken ist den Meisten fremd, Analo- gien werden oft nicht erkannt. Etwas überspitzt formuliert erlebte ich es oft, daß ich dem Einen etwas erkläre und zum Anderen sage: 'bei Ihnen geht das genauso', und ich be- komme zur Antwort: 'Wieso, der hat doch das rechte Bein behandelt und ich das linke'. Vor diesem Hintergrund betrifft unsere Diskussion um Programmpakete nur einen kleinen Ausschnitt aus der Beratungstätigkeit. Mindestens 90 Prozent der Arbeit betrifft die Datenqualitätssicherung im weitesten Sinne. Dazu gehört nicht nur die Plausibilitätskon- trolle, sondern auch schon die Diskussion der geeigneten Spezifikationen, Definitionen und Transformationen. Ein besonderes Problem stellt die Power-Kalkulation dar. Eine der häufigsten Fragen ist: 'Wieviel Patienten muß ich untersuchen?', aber fast nie gibt es eine rationale Grundlage dafir.

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Zu These 1 : In 99 Prozent der Lebenssituationen kommen wir mit 1 Prozent der Verhal- tensmuster aus, aber der Rest kann überlebenswichtig sein. Von dem, was BMDP bietet, habe ich fast alles schon mal brauchen können. Bei einem so großen Gemischtwarenladen wie SAS ist schon eher etwas Redundanz. Andererseits gibt es auch schmerzliche Lücken, z.B. bei der Behandlung multipler Vergleiche. Ein Ärgernis sind für mich oft unsinnige Defaults, die man nur in mühsamer Handarbeit umgehen kann. Zu These 2: Sicherlich nicht mit solcher, die man 'mit Links' macht. Es kommt darauf an, wieviel Ehre man will. Daß man sich damit den Nobelpreis verdient, ist unwahrschein- lich. Aber so manche Professur wurde doch schon auf der Basis erweiterter Beratungs- falle ergattert. Bei der Frage einer Koautorschaft habe ich selbst eigentlich eher bremsen müssen, um nicht bei jeder Routine-Anwendung mit draufzustehen. Zu These 3: Stimmt fast immer (d.h. bis auf endlich viele Ausnahmen). Die Ausnahmen aber geben Trost und Hoffnung. Dabei stelle ich fest, daß diese Ausnahmen selten aus der deutschen reformierten Oberstufe hervorgegangen sind. Relativ viel häufiger sind es Stu- denten aus dem (ehemaligen) Ostblock oder aus Entwicklungsländern. Zu These 4: Kontraproduktiv ist höchstens diese Auffassung. Sie sind nun mal da. Ge- nausogut könnte man die Möglichkeit der Statistischen Beratung als kontraproduktiv be- trachten: der Statistiker wirds/solls schon richten, und wenn das Design noch so verkorkst ist. Zu These 5: Im Prinzip ja, aber ohne sie liefe gar nichts mehr. Richtig ist, daß es zu viele und zum großen Teil nicht verifizierte Programme gibt. Aber ebenso gewiß ist, daß das eingangs erwähnte Verhältnis von 90 Prozent individueller Datenvorbereitung zu 10 Pro- zent 'eigentliche' Statistik nur deshalb so kraß ist, weil wir für letztere die Pakete haben. Ich gehöre noch zu der Generation, die sich ihre Anwendungsprogramme teilweise hand- gestrickt hat. Dahin möchte ich nicht mehr zurück.

KIRA SCHULZ (Hannover): Prof: DK; Mathematikstudium in Dortmund und Maryland; Erfahrung in der Praxis: GSF München, Lufthansa Tocher amadeus, WiMi Zentralstelle für Vi3rsuchsplanung (Uni Dortmund), Prof: für Biostatistik, FH Hannover; Beratungs- schwerpunkte: Medizin, Epidemiologie, Waldschadensforschung, Pharmazie, Didaktik der Statistik. Zu These 1 : Meine Antwort auf diese These ist ein eindeutiges ,,JEIN!". D.h. ich stimme der These zu, aber nur auf den ersten Blick, nämlich quasi ,,Job-weise", gesehen. Denn diese Behauptung traf sicher zu, als ich als Statistikerin in der Medizinischen Großfor- schung in München tätig war und viele der anfallenden Daten mit t-Tests, Varianzanaly- Sen, logistischen Regressionen, Korrelationen etc. ausgewertet werden konnten. Und dies

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geschah selbstverständlich nur mit SAS und BMDP (obwohl auch noch andere Sta- tistiksoftware, wie SPSS oder S-Plus, vorhanden war). Die These 1 traf genauso zu, als ich als Statistikerin in der Zentralstelle f i r Datenauswertung der Abt. Psychologie der Univ. Dortmund tätig war, wo natürlich immer die Faktorenanalyse die Methode der Wahl war. Und übrigens alles in SPSS ausgewertet wurde (obwohl auch hier SAS ver- fügbar war, meine jahrelange SAS-Erfahrung bekannt, und ich den Umgang mit SPSS dazu erst neu lernen mußte). Und die These traf genauso auch zu, als ich als Statistikerin bei der Lufthansa-Tochterfirma AMADEUS die Verfigbarkeitsdaten der weltweiten AMADEUS-Computernetze statistisch auswerten sollte. Natürlich ging es um Quality Control Problems und natürlich waren Pareto Charts das Mittel der Wahl und natürlich benutzte man SASIMXG zum Auswerten. Heute berate ich gelegentlich Kollegen an der FH Hannover an unserem interdisziplinären Fachbereich „Informations- und Kommuni- kationswesen". Dabei setzt sich dasselbe Muster quasi „inhouse" fort. Ein Kollege ist Soziologe und führt selber oft Nutzerbefragungen in Bibliotheken durch; wenn er mich um Rat fragt, geht es immer um SPSS. Ein anderer Kollege analysiert Umweltschäden an historischen Bauwerken und Fresken; ihm geht es ausschließlich um Clusternanalysen, gerechnet mit SY STAT.

D.h. die These 1 galt und gilt innerhalb jedes Anwendungs- und Arbeitsgebietes. Sie löst sich jedoch in Wohlgefallen auf, sobald man über den ,,eigenen Tellerand" hinwegschaut. Deshalb liegt die Frage nahe, ob es sich hier nicht vielleicht um die zum Beispiel aus der Wirtschaft bekannte 20:80 Pareto-Regel handelt? Und die ist alt bekannt, z.B. jedem im Verkauf Tätigen vertraut und in jedem Time-Management-Buch zu finden: 80 Prozent der wichtigsten Tätigkeiten werden in 20 Prozent der vorhandenen Zeit getan. Ich habe vorhin hier von einem Vorredner zum erstem Mal gehört, daß in der Medizin und Biologie Vergleichbares auch gilt. Also scheint es sich um ein grundlegendes ,,Gesetzu zu handeln. Warum sollte das bei der statistischen Beratung bzw. bei Statistiksoftware anders sein?

Zu These 2: Hier komme ich wieder nach langem Hin- und Herüberlegen zu einem „Jeinc'. Diese These stimmt nach meiner Erfahrung, was die wissenschaftliche Fachwelt (z.B. die Großforschung) angeht. Dort zählen nur wissenschaftliche Publikationen. Dabei verbringt man als beratende Statistikerin sehr viel Arbeit und Zeit mit Datenaufbereitung und -Strukturierung, die sich dann nach Monaten (manchmal Jahren) als Publikation mit dem eigenen Namen an 5. Stelle (nach 4 Medizinern) niederschlägt. Die These stimmt auch, wenn ich an mein persönliches Steckenpferd denke: die Didaktik. Sich um gute Lehre zu kümmern steht in wissenschaftlichen Fachkreisen auch (immer noch) nicht sehr hoch im Kurs. Dabei können durch eine entsprechende Aufbereitung des Stoffes weit

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mehr Studierende „erreichtu und motiviert werden. Es ist unbedingt erforderlich, gerade im Bereich der Biometrie Statistik-Lernende, - Nutzende (und vor allem auch Lehrende!) zu motivieren, und damit den (oftmals mit Vorurteilen verbauten) Zugang zur Welt der Statistik zu erleichtern. Als ,,Spätfolgenu solcherart vermittelter Statistikkenntnisse kann man sich eine leichtere Verständigung und damit auch verbesserte Kooperation zwischen Statistik und Medizin in der Pharmaindustrie ebenso denken, wie auch großzügiger von Gremien und Ministerialen für statistische Betreuung von Klinischen Studien bewilligte Mittel. Und das gilt meiner Meinung nach auch fast identisch für die Beratung!

Deshalb, wie andere Vorredner auch schon gesagt haben, stimmt diese These nach meiner Erfahrung auch wiederum nicht, wenn ich an meine zehn Jahre Berufserfahrung in der Medizinischen Großforschung zurück denke. Ich war damals auf Zeitvertrags-Basis angestellt. Und es waren nicht zuletzt die Ärzte der zu beratenden Klinik, die damals tat- kräftig (und mit Erfolg!) die Verlängerungen meiner Arbeitsverträge unterstützt (und bewirkt) haben, weil sie meine statistische Beratung schätzten. Als ich dann später von der Großforschung in die Industrie gewechselt habe, hatte ich (im Vergleich zu anderen Kolleginnen aus der theoretischen Forschung) viel mehr Chancen in der Industrie eine attraktive Anstellung zu finden, eben weil ich angewandte statistische Beratungserfah- rung besaß. Bei meinen Bewerbungsgesprächen zählte deutlich meine Beratungserfah- rung, und dabei gerade die von Medizinern, weil diese im Ruf stehen, ein besonders „schwieriges Klientel" zu sein.

Zu These 3: Dieser Gedanke kommt mir selber sehr bekannt vor, aber auch was Mitar- beiterlnnen der eigenen Facharbeitsgruppe (DokumentarInnen, Studentische Hilfskräfte etc.) angeht. Verbirgt sich hier eventuell das weitverbreitete, generelle Problem, delegie- ren zu lernen? Andererseits: In einer Großforschungseinrichtung oder Firma, in der ver- schiedene Disziplinen und die entsprechenden WissenschaftlerInnen über Jahre hinweg miteinander arbeiten, ist das Anlernen von Statistik und Programmpaket-Nutzung an Interessierte (Mediziner, Soziologen etc.) durchaus denkbar. Geeignete Strukturen, um das erforderliche Wissen gut und solide weiter zu vermitteln, lassen sich sicher finden. Zum Beispiel in Form von Kursen (da wären wir auch wieder bei dem Thema ,,Qualität der Lehre"!). Wenn meine Gedanken zur These 1 (daß je nach Anwendungsgebiet immer nur ein kleines Methodenrepertoire wirklich gebraucht wird) stimmt, läßt sich das ja quasi „Umfeld abhängigcc! mit Leichtigkeit ,,maßgeschneidertu konzipieren.

Zu These 4: Die leichte Zugänglichkeit von Statistikpaketen führt zur Kunstfehler-Ver- mehrung. Das kann ich persönlich aus meiner Praxis nicht bestätigen. Vielleicht sind die echten Selbstnutzer nie bis zu mir vorgedrungen? Meistens haben - nach meiner Erfah- rung - die Studierenden, Doktoranden, Mediziner eher Angst vor Statistik bzw. Stati-

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stiksoftware - trotz der leichten Verfügbarkeit. Das sind oft die spätfolgen der schlechten Erfahrungen mit der Statistikvorlesung (da wären wir schon wieder beim Thema Didak- tik).

Zu These 5: Die existierenden Statistik- Programmpakete bieten keine Erleichterung für die Beratenden mit den 3 Unterthesen. Somit bleiben 3 Möglichkeiten:

a) Einarbeitung in das Programmpaket des Ratsuchenden. Ich persönlich habe das des öfteren gemacht - bzw. machen müssen (siehe meine Ideen zu These 1; z.B. bei den Psy- chologen wäre etwas anderes als SPSS nie akzeptiert worden). Ich habe auf diese Weise neben SAS auch BMDP und SPSS und SYSTAT solide gelernt und mir ein breites, soli- des Statistikprogrammpaket-Wissen erarbeitet, was mir heute oftmals zu Gute kommt. b) Einarbeitung des Ratsuchenden in das Programmpaket S.O.: meine 2. Hälfte bei These 3. C) Selber Durchführen der Auswertung durch den Statistik-Berater. Das ist nach meinem Selbstverständnis als Statistikerin eine unserer Hauptaufgaben. Es mag vielleicht von Projekt zu Projekt Unterschiede geben, aber bei einer interessanten Studie - von der Da- tenerhebung, über die Auswertung bis zur Formulierungshilfe bei der Publikation - eine statistische Beratung durchzuführen, ist doch eigentlich gerade das, was das Interessante und Reizvolle meines Berufes als Statistikerin ausmacht.

Lassen Sie mich abschließend noch ein paar Punkte herausstellen: Mir scheint, die heute diskutierten „Problemeu in Beratungssituationen und auch der Lehre existieren nicht zu- letzt auch deshalb, weil von StatistikerInnen und DokumentarInnen (da ich an der Fach- hochschule DokumentarInnen ausbilde, ist deren Berufsbild natürlich schwerpunktmäßig mein Thema) auch andere ,,Qualifikationenc' gefordert sind, als ,,nurcc statistische Formeln und Verfahren zu kennen, und das richtige Programmstatement. Das Wort ,,Schlüs- selqualifikationen" ist ja in aller Munde zur Zeit, und vielleicht nicht ohne Grund. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal an den Vortrag von Herrn Riedwyl von vorhin erinnern, der sagte, daß neben der Methodenkenntnis bei statistischer Beratung wichtig ist, Hinhören zu können, und die richtigen Fragen zu stellen, die Sprache der Substanzwissenschaftler und Manager zu verstehen und zu sprechen. Ich glaube, daß zwischenmenschliche Kommunikation in den nächsten Jahren immer wichtiger werden wird, gerade auch je mehr die Technik sich weiter entwickelt. Entsprechendes Training sollte Teil der Ausbildung von StatistikerInnen und DokumentarInnen werden, weil eben gerade die Statistische Beratung von Fachleuten anderer Disziplinen (mithilfe von Stati- stik-Programmpaketen) unser Job ist!

Zur Diskussion: Was ich für mich persönlich aus dieser Veranstaltung heute mitnehme ist folgendes: a) Ich werde versuchen ein Konzept zu finden, wie ich konkrete praktische

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statistische Beratung mehr zum Inhalt meiner Lehrveranstaltungen machen kann. b) Der Beitrag von Herrn Unwin hat mich motiviert, mich doch bald einmal konkret mit der nächsten Generation von Statistiksoftware, wie z.B. Datadesk vertraut zu machen. Und beides führt mich zu etwas, was vorhin auch schon einer meiner Vorredner angeschnitten hatte: daß ich den Focus sowohl für mich selber als auch für meine Studierenden wieder auf einen wichtigen Punkt bei der Arbeit als statistisch Beratende bringen will, nämlich der Lust an dieser Art der Arbeit. Und dazu gehört auch die Lust am Lösen von Proble- men!

**

ANTONY UNWIN (Augsburg): Prof Dr; Studium in Cambridge, London, Dublin; Er- fahrung in der Praxis: 2 Jahre bei Ford, 1,5 Jahre bei Mars, Dozent in Dublin, Professor für Rechnerorientierte Statistik und Datenanalyse, Universität Augsburg; Beratungs- schwerpunkte: Medizin, Psychologie, Informatik, Politologie, u.a.; Methoden: Interaktive Statistische Graphik, Entwurf und Analyse von Umfragen, Regression, Wahrschein- lichkeitsmodelle, Analyse räumlich verteilter Daten. Allgemeine Bemerkungen: Am Anfang einer Beratung stehen keine spezifischen Fragen und Antworten, sondern eine Diskussion. Man muß die Hintergründe,lernen, die Ziele er- kennen und den Mensch kennenlernen. Es kann gefährlich sein, eine Meinung sofort zu bilden, was derldie Ratsuchende eigentlich braucht.

2)

Beratungen können lang oder kurz, aufwendig oder einfach, innovativ oder routinemäßig sein, aber in allen Fällen ist es wichtig, daß man sich gut versteht. Dazu gehört eine gute Atmosphäre und der Wille, mit anderen zu kooperieren. Software kann dazu beitragen, wenn sie uns Werkzeuge liefert, die die Zusammenarbeit erleichtern. Neue Entwicklun- gen in der interaktiven statistischen Graphik sind hier besonders hervorzuheben. Damit kann man sehr schnell Daten untersuchen, Qualität überprüfen und, insbesondere, zu- sammen mit dernlder Wissenschaftlerlin die Probleme und Aufgaben besprechen. Gra- phische Darstellungen sind allen verständlich und die Möglichkeiten, die Plots interaktiv abzufragen und flexibel zu gestalten, hilft und ermuntert enge Zusammenarbeit auf der Basis eines gemeinsamen Verständnis des Stoffs.

Interaktive graphische Methoden werden von Anhängern anderer Systeme deshalb kriti- siert, weil sie zu einfach zu handhaben sind. Es gibt natürlich immer jene, die glauben, daß Arbeit nur dann Arbeit sei, wenn es einem weh tut. Benutzer haben aber Spaß mit interaktiver Software. Sie sind eher bereit sind, die notwendigen Untersuchungen zu ma- chen (einschließlich Diagnostiken zu berechnen und Empfindlichkeitsanalysen durchzu- führen). Sie finden Resultate schneller und sie arbeiten flexibler. Probleme wie Ausreißer, fehlende Werte, nichtlineare Strukturen sind leichter zu beobachten und zu behandeln.

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Wichtig ist es, daß Schlüsse, die aus graphischen Untersuchungen gezogen werden, womöglich mit analytischen Methoden überprüft werden, und natürlich andersherum. Interaktive Methoden ermuntern die Anwendung von mehreren Methoden aus verschie- denen Gesichtspunkten.

Es fehlt noch vieles in der heutigen Software, das bei Beratungen hilfreich sein könnte. Zwei wichtige sind bessere Datenmanipulation (Datensätze tauchen in den merkwürdig- sten Formen auf) und interaktives Modellieren (z.B. um die Struktur von multivariaten Modellen klar darzustellen und zu bearbeiten). Der Erfolg von Beratungen hängt haupt- sächlich vom Grad der erreichten Kooperation und, in meiner Erfahrung, mehr vom Ein- satz von einfacheren Methoden, die demlder Wissenschaftlerlin verständlich sind, als von komplizierten Analysen. Nur muß derldie Statistikerlin selbst das Wissen haben, um zu beurteilen, wenn fortgeschrittene Modelle was bringen würden.

Zu den Thesen: These 1: 90 Prozent der Arbeit in Beratungsfallen wird überhaupt nicht von Software gedeckt. Sie braucht gemeinsames und gegenseitiges Verständnis, womög- lich eine Beobachtung der Datenerhebung, Übersetzung des Problems in eine statistische Sprache und Rückubersetzung der statistischen Resultate. Dazu fehlen bei den meisten Produkten eine freundliche und flexible Implementierung von explorativen Methoden.

These 2: Durch Beratung kann man gute Verbindungen knüpfen, schöne Beispiele ken- nenlernen und neue Forschungsideen und -motivationen bekommen. Wie George Box so treffend sagte: ,,Keiner hat Schwimmen in einem Klassenzimmer gelernt." ( Box 1979).

These 3: Erfolgreiche Beratung hängt oft davon ab, das Problem genau zu verstehen, um dann vielleicht grob zu analysieren. Es lohnt sich selten, ein grobverstandenes Problem genau zu analysieren. Glücklicherweise tauchen immer Fälle auf, wo man neues ent- wickeln muß, aber ich habe das nicht als die Regel empfunden.

These 4: Statistische Methoden sollen kein Geheimnis sein. Wenn Leute mit Hilfe von Software einige Analysen durchführen, lernen sie zwei Sachen: erstens etwas über ihre Daten und zweitens warum sie ab und zu eineln Statistikerlin brauchen. Ich kann selbst schöne Berichte mit meinem Rechner vorbereiten, aber jetzt weiß ich auch, warum ich einen Designer brauche, wenn es um Wichtiges geht.

Noch etwas zu dem t-Test Beispiel der Organisatoren. Es ist zwar technisch richtig, aber bei weitem nicht so wichtig als der Rat, daß man die Daten anschauen sollte. Die An- nahmen für den t-Test sind sowieso kaum erfüllt (normalverteilt, unabhängig ...) und ob man weiß, daß die berechneten p-Werte nicht „korrektcc sind oder nicht (In welchem Sinne? Da man wahrscheinlich schon mehrere andere Tests mit den selben Daten ge-

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macht hat.), ist uninteressant, wenn die graphische Darstellung der Daten andere Pro- bleme aufweist. Um Daten anzuschauen und Annahmen zu überprüfen, ist statistische Software sehr produktiv.

These 5: Beratung sollte hoffentlich manchmal der Anfang von einer Kooperation sein. In diesen Fällen möchte man schon, den Ratsuchenden in hilfreiche Software einweisen. Daher ist es unerläßlich, daß derldie Beraterlin passende Software dafür benutzt und nicht darauf besteht, daß andere auch gigantische Pakete kennenlernen müssen.

REINHARD WITTENBERG (Nürnberg): Dr., Studium der Soziologie in Hannover, Mün- ster, Bielefeld; Wiss.Ass. in Bielefeld, Essen, Köln und Hagen. Seit 1983 an der Universi- tät Erlangen-Nürnberg, Lehrstuhlvertretung an der Universität Leipzig. Seit über 10 Jah- ren Beratung: vorwiegend Soziologen, aber auch Ökonomen, Politologen, Psychologen, Biologen, Mediziner: Beratungsschwerpunkte: Stichprobenprobleme, SignzJikanztests, bi- und multivariate Verfahren. Beratung, die ich betreibe, findet meist statt im Rahmen meiner normalen Sprechstunden, sofern das anstehende statistische Problem nicht einer speziellen zeitlichen Behandlung bedarf. Meine Beratungstätigkeit stellt daher nur einen kleinen, aber interessanten Teil meiner Tätigkeit dar, besteht die zu beratende Klientel doch nicht nur aus Sozialwis- senschaftlern, mit denen man ja eh täglich umgeht, sondern, infolge universitätsweit an- gebotener Datenanalysekurse, auch aus Ökonomen, Politologen, Psychologen, Medizi- nern, Biologen etc. Die Kooperation mit Kollegen in gemeinsamen Forschungszusam- menhängen stellt sich anders dar; für diese Zusammenarbeit möchte ich den Begriff ,,Beratungu vermeiden.

Zu These 1 : Sie kann nicht bestehen bleiben, ist der Beratungsbedarf doch stark abhängig von der jeweiligen Klientel, die Rat erheischt: So variiert das zu behandelnde Me- thodenspektrum doch sehr stark in Abhängigkeit davon, ob Studierende des Grundstudi- ums oder ob Diplomanden, Doktoranden und Kollegen oder gar externe Interessenten, U. U. mit kommerziellen Interessen, zu einem kommen. Das zur Beratung anstehende Me- thodenspektrum ist in meinem Fall deutlich umfangreicher, als es in der These quantifi- ziert wird.

Zu These 2: Im großen und ganzen stimmt es, daß mit Beratung keine Ehre erworben werden kann. Dennoch: In meinem alltäglichen Arbeitsablauf macht diese ,,Nebensacheu jedoch auch Spaß, man wird unmittelbar belohnt, wenn man jemandem durch Hinweise auf die mögliche Lösung seiner statistischen Probleme individuell weiterhelfen kann. Die normale Lehre fürs „Kollektiva, die Fertigstellung von wissenschaftlichen Aufsätzen oder

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gar Büchern ist vergleichsweise frustrierend: Wenn überhaupt ein feedback erfolgt, dann erst nach geraumer Zeit, wenn man längst andere Projekte verfolgt.

Zu These 3: Sofern nicht ein Mitglied des eigenen Forschungsteams „beratencc wird, ver- suche ich immer, Daten nicht selbst zu analysieren, sondern möglichst maßgeschneiderte Hinweise zur Lösung des Problems zu geben, das auf den Tisch gelegt wird, z.B. auf ge- eignete statistische Verfahren, Softwareprodukte und Literatur. Die Ratsuchenden müssen ja schließlich selbst die Verantwortung dafür übernehmen, was sie mit meinem Rat an- fangen - ich bin schließlich kein Mediziner, Geograph, Chemiker und somit auch nicht mit den inhaltlich-theoretischen Aspekten methodischer Fragen hinlänglich vertraut. Ich kann nur sagen, das und das wäre unter Umständen gerechtfertigt, keine lineare, sondern logistische Regression wäre angebracht, und kann ein geeignetes Verfahren u.U. exem- plarisch vorführen und das Ergebnis detailliert erläutern.

Zu These 4: Im völligen Gegensatz zur These halte ich statistische Programmpakete für sehr produktiv, eigentlich unersetzlich. Voraussetzung ist allerdings, daß auch eine, den Ansprüchen empirischer Wissenschaften genügende, fachspezifische methodologische, methodische und statistische Grundausbildung stattgefunden hat. Beispielsweise besu- chen die Studierenden der Sozialwissenschaften an der Wirtschafts- und Sozialwissen- schaftlichen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg im Grundstudium zwei Stunden „Mathematische und methodologische Grundlagen der Sozialwissenschaften", 12 Stun- den deskriptive und schließende Statistik, acht Stunden „Methoden der empirischen So- zialforschung" sowie einen siebentägigen Crash-Kurs zur Einführung in die computerun- terstützte Datenanalyse mittels SPSS für Windows. Sie sind damit im Schnitt bestens ge- rüstet, um im Hauptstudium z.B. an Lehrforschungsprojekten teilzunehmen, in denen ganz konkret wissenschaftliche Fragestellungen in all ihren Phasen abgearbeitet werden. Ich kann mir heutzutage nur vage vorstellen, obwohl ich mich an entsprechende Zeiten gut erinnern kann, daß empirische Wissenschaften, die sich nicht auf Einzelfalle kaprizie- ren wollen, ohne statistische Programmpakete wie BMDP, SAS oder SPSS auskommen können: Ihr Analysespektrum wäre arg eingeengt, die mögliche Effizienz der Forschung eingeschränkt. Wo fundierte Grundausbildung zu finden ist wie in Nürnberg, wird die statistische Beratung auf BMDP, SPSS, SAS oder andere Statistiksoftware selbstver- ständlich zurückgreifen wollen. Wo hingegen eine entsprechende empirische Fundierung im Studium fehlt, wird dies 'u.u. anders aussehen.

Zu These 5: Auch dieser These kann ich nicht zustimmen, es sei denn, ich bin für das Er- gebnis selbst verantwortlich, z.B. als Projektmitglied. In anderen Fällen - Beratung von Diplomanden, Doktoranden, Kollegen - muß es, oft schon aus prüfungsrechtlichen Grün- den, reichen, einen Lösungsweg aufzuzeigen, und dann dafür zu sorgen, daß eine Kon-

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trollberatung stattfindet, mittels derer die Ratsuchenden Schritt für Schritt, vom Berater begleitet, unter Verwendung der Programmpakete ihre Analyseprobleme lösen. Auf diese Weise kommt man als Berater selten in die Gefahr, selbst Hand anlegen zu wollen. Wich- tig ist außerdem, daß Ratsuchende zusätzlich auf Informations- und Hilfsmöglichkeiten hingewiesen werden, die sich durch die Nutzung von User-Lists im Internet ergeben. Und für Fortgeschrittene, nicht für ,,einfache6' Studierende, ist es wichtig, daß sie sich nicht auf ein einzelnes Paket konzentrieren, sondern daß sie über den jeweiligen Tellerrand schauen und die Analysepotentiale anderer Pakete ausloten - und nutzen.

Zur Diskussion: M.E. muß die Grundausbildung der Studierenden im Zentrum der Be- mühungen um eine adäquate Anwendung statistischer Methoden stehen. Erst wenn diese wirklich gut erfolgt, kann ein Gespür für die Probleme empirischer Forschung geschaffen werden, auf das später aufgesattelt werden kann. Wenn gesagt wird, man müsse sich auf jedes neue Problem wieder neu einlassen, dann ist das sicher richtig; wenn seitens der Klientel jedoch ein methodisches Gespür vorhanden ist, stellt es völlig andere Fragen - das Methodenspektrum ändert sich erheblich.

Was die eingesetzte Statistiksoftware anbelangt, so ist es selbstverständlich wesentlich, daß man sich auf Weniges konzentriert. So kann man m.E. nicht, obwohl es hervorragend ist, das Apple-Produkt „Data Desk" anpreisen, wenn die eigene und fast alle anderen Hochschulen Deutschlands in der DOS-, Windows- oder Unix-Welt zuhause ist oder sind. Und ich kann zumindest von ,,einfachenu Studierenden nicht erwarten, daß sie mehr als ein Statistikpaket im Laufe ihres Studiums verwenden lernen, sondern ich muß mich konzentrieren, und zwar auf das Paket, das didaktisch vergleichsweise leicht zu vermit- teln ist.

Zum Abschluß möchte ich noch einmal betonen, daß es „dieu Beratung nicht gibt, weil die Kundschaft, die Rat sucht, heterogen ist: Die universitätsinterne Klientel, die in unse- rem Hochschulsystem selbstverständlich ohne gesondertes Honorar zu versorgen ist, ist zu unterteilen in solche Studierende und Kollegen, denen man einen Hinweis auf die ge- eignete Literatur zur Lösung ihres Problems geben kann, und in solche Studierende und Kollegen, die kontinuierlicher Beratung bedürfen, wo der Aufwand also beträchtlich sein kann, wo die Verantwortung an das Endprodukt allerdings dennoch beim Ratsuchenden bleibt. In der Kooperation mit anderen Kollegen in gemeinsamen Forschungsprojekten, die ich, wie gesagt, allerdings nicht als Beratung definiert sehen möchte, übernehme ich selbstverständlich genauso Verantwortung für das Forschungsprodukt wie ich sie auch beim - finanziell honorierten - Consulting universitätsexterner Klientel trage.

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BERNHARD WUNDER (Landau): Dipl. -Stat., Studium Dortmund (Nebenfach Soziolo- gie), Wiss. Mit. Rechenzentrum Universität Koblenz-Landau; Beratung: Psychologen und Pädagogen; Methoden: Einfache Beschreibungsweise -- SPSS-Module BASE und AD- VANCED STA TISTICS, CATEGORIES und PROFESSIONAL STATISTICS.

Besser andere lernen lassen!

In Anspielung auf die vorgegebenen These 3 habe ich einen ähnlich pointierten Titel für 3) meinen Beitrag gewählt. Pointiert auch deshalb, weil er den Eindruck erweckt, ich wolle

mich vor der statistischen Beratungsarbeit drücken. Irgendwie will ich das zwar auch, aber nur vor der Art statistischer Beratung, die darin besteht, der ~atsuchenden~) ihre Fragestellung abzunehmen und sie für sie zu bearbeiten. Basis dieser Ausarbeitung ist meine mittlerweile fast 10jährige Beratungspraxis an einer recht kleinen Hochschule (mittlerweile Ca. 3.500 Studierende), deren Schwerpunkt die Ausbildung von Grund-und Hauptschullehrerinnen, von Dip1.-Psychologinnen sowie Diplom-Pädagoginnen ist. Ich bin mir im Klaren darüber, daß dies in vieler Hinsicht idealtypische Zustände für statisti- sche Beratung sind, da meine Klientel in ihrer fachlichen Ausrichtung sehr homogen ist, das nachgefragte Methodenspektrum durchaus eng genannt werden kann, die zu verwen- dende Statistiksoftware fast standardisiert ist und die kleine Zahl von Ratsuchenden nicht zur ,,Massenabfertigung" zwingt. Prinzipiell dürften meine Überlegungen aber auch für eine sehr inhomogene Klientel an einer ,,Massenuniversität" gelten, nur werden sie dort - wie vieles andere auch - schwerer zu realisieren sein.

Im Gegensatz zu der unter statistischen Beratern nicht allzu selten anzutreffenden Auf- fassung, „die Ratsuchenden können nichts, verstehen nichts undloder wollen zuminde- stens nichts tunc', bin ich der Meinung, daß die Probleme der statistischen Beratung vor allem aus der Qualität der statistischen Ausbildung resultieren und damit weniger in den Ratsuchenden selber als in ihren Ausbildungsinhalten oder - bedingungen begründet sind. Belegen läßt sich dies u.a. durch einfaches Nachfragen bei den Ratsuchenden, ob, wann und mit welchem Lernerfolg sie an Lehrveranstaltungen im Bereich Statistik oder Stati- stiksoftware teilgenommen haben. Durchaus bewußt ist mir dabei, daß die Probleme der statistischen Beratung auch noch von anderen Faktoren beeinflußt werden, wie z.B. ge- rade geltenden Modeströmungen hinsichtlich bestimmter (unpassender) Statistikmetho- den oder aber der Kommunikationsfahigkeit der Ratsuchenden und des Beratenden. Ge- nannt werden muß in diesem Zusammenhang auch, der sich erst in den letzten Jahren etwas auflösende Widerspruch zwischen der (vermeintlich) unbegrenzten Einsetzbarkeit von Statistiksoftware und der sehr begrenzten Literatur, die dem ,,Statistik-Laien" ver- ständlich erklärt, was die Software wirklich macht.

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Osterrnann/Vach: Statistische Beratung zwischen Anspruch und Wirklichkeit 159

Akzeptiert man meine Grundhypothese, ergibt sich als zwingende Folgerung, daß derjenige scheitern muß, der versucht, im Rahmen seiner statistischen Beratungen, die Versäumnisse der Ausbildung wettzumachen. Hauptansatzpunkt der Verbesserung der statistischen Beratung muß folglich die Verbesserung der Statistik-Ausbildung sein. Gute Erfahrungen habe ich in diesem Zusammenhang mit der Durchführung von interdisziplinären Lehrveranstaltungen gemacht. So bieten eine Kollegin aus dem Fachbereich Psychologie und ich seit 1989 gemeinsam eine Hauptstudiurnsveranstaltung ,,Multivariate Verfahren in der Persönlichkeitspsychologie" (2 SWS) und ein darauf ausgerichtetes SPSS-Praktikum (2 SWS + 2 SWS Betreutes Üben) an. Die Kollegin stellt die Verfahren (Faktorenanalyse, Clusteranalyse, NMDS) vor und begründet ihre Anwendung aus psychologischer Sicht. Bei mir lernen die Studentinnen, wie sie die Verfahren unter Verwendung der ,,völlig überalterten" SPSS-Syntax-Version benutzen können.' Später stellt es für die Studentinnen in der Regel kein Problem dar, die erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten auch bei der Anwendung der SPSS/Windows-Version oder anderer Statistikprogramrnpakete zu nutzen. Von uns gemeinsam werden die Ergebnisse anhand der erstellten Ausdrucke aus psycholo- gischer und statistischer Sicht diskutiert. Grundlage beider Veranstaltungen ist das Buch von Backhaus\Plinke (1990), in dem ein ähnliches Konzept allerdings mit wirtschaftswissen- schaftlichen Daten verfolgt wird. Hinzukommen Auszüge aus den SPSS-Handbüchern, die die statistische Modellierung zusätzlich erläutern.

Der Erfolg der Veranstaltung für meine statistische Beratungspraxis hat sich in vielerlei Hinsicht erwiesen: Die Ratsuchenden stellen qualifizierte Fragen; der Aufwand für den einzelnen Beratungsfall nimmt ab; es bleibt mehr Zeit f i r die ,,schwierigen Fällec' und ich lerne die Denk- und Sprechweise der Ratsuchenden besser kennen.

Aufgrund einer Änderung der Prüfungsordnung wird unsere Veranstaltung in Zukunft als Veranstaltung im Grundstudium angeboten. Wir planen deshalb für das kommende Jahr die Durchführung eines Methodenkolloquiums, an dem alle teilnehmen müssen, die sich statistisch beraten lassen wollen. In diesem sollen die Teilnehmerinnen ihre Fragestellung formulieren, ihre Vorstellung zur statistischen Bearbeitung vorstellen und diese mit anderen diskutieren. Das Kolloquium wird für alle Interessentinnen an statistischer Bera- tung offen sein, also auch für Forschungsprojekte oder Externe. Abschließend möchte ich noch einmal betonen, daß statistische Beratung ohne Statistiksoftware heute kaum noch vorstellbar ist. Dies liegt zum einen daran, daß erst ihre Verfügbarkeit den Bedarf nach statistischer Beratung schafft. Zum anderen muß aber die Lücke zwischen dem statistisch Möglichen und dem statistisch Verantwortbaren geschlossen werden, sowohl von den Beratern durch einen Beitrag zur besseren Ausbildung als auch durch die Software- hersteller durch bessere Dokumentation ihres Produkts.

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Abschließende Bemerkungen (OSTERMANN, VACH)

Zunächst einmal möchten sich die Organisatoren recht herzlich bei den Teilnehmern be- danken, daß sie sich nicht nur die Mühe gemacht haben, nach Heidelberg zu kommen, um an unserer Diskussionsrunde teilzunehmen, sondern daß sie auch noch bereit waren, ihren jeweiligen Beitrag schriftlich auszuformulieren. Danke schön.

Beim Durchlesen der einzelnen Beiträge fallen einem mehrere Punkte auf, die wir nun im einzelnen kommentieren möchten. So wird von mehreren Diskutanten explizit auf die hohe Affinität der statistischen Beratung zur Lehre und Ausbildung in der Statistik hin- gewiesen. Ganz deutlich tritt dies bei den Beiträgen von DUTTER, SCHULZ und WUNDER zu Tage, wobei es da doch einige Unterschiede gibt. Während SCHULZ und WUNDER mehr den klassischen Ausbildungsbereich in Form von allgemeinen Lehrveranstaltungen sehen, tritt bei DUTTER mehr der Aspekt des Einzelunterrichtes hervor. Dieser wichtige Aspekt der statistischen Ausbildung ist natürlich in einem hohen Maße ausschlaggebend fiir den Kontrakt, den DIRLICH erwähnt. Er betont zurecht die Erwartungshaltung beider Parteien an die statistische Beratung. Nur wenn eine Seite nicht zu viel erwartet, kann es über die Form und Qualität der Beratung keine Enttäuschung geben. Dieser Aspekt ist in etwas anderer Form auch von LÜDTKE aufgegriffen worden, auch wenn er sein Klientel auf eine bestimmte Gruppe einschränkt. Wäre aber ein sauber und gut formulierter Kon- trakt im DIRLISCHEN Sinne vorhanden, so würde er sich nicht als Rechenknecht sehen.

Bei dieser Sichtweise von LÜDTKE ist es nur verständlich, daß ,,er schnell zur Sache kommen will", da es sich mehr oder minder um eine „Massenabfertigung" von Dokto- randen handelt. Eine etwas andere Auffassung wird von UNWIN vertreten (obwohl seine Einstellung auch von DUTTER in dieser Hinsicht kritisiert wird). Er sieht in jeder Bera- tung eine neue Herausforderung und möchte deshalb eine gute Atmosphäre schaffen (während der Diskussion sprach er auch von der Möglichkeit, Beratungsgespräche in der Kneipe abzuhalten). Wir sehen die Bereitstellung der einer derartigen guten, harmoni- schen Atmosphäre als eine Form der Kontraktgestaltung an, damit beide Seite nicht ent- täuscht sind.

Es wird von den Diskutanten aber auch noch in anderer Form zwischen verschiedenen Beratungen unterschieden. So sehen insbesondere WITTENBERG und DIRLICH einen prin- zipiellen Unterschied, ob man eine ,,fremdeu Person berät, oder ob man dies bei einem Kollegen (vielleicht sogar in einem gemeinsamen Forschungsprojekt) vornimmt. Bei UNWIN tritt sogar der Aspekt hervor, daß aus einer anfänglichen ,,fremdenu Beratung später sich ein gemeinsames Forschungsprojekt entwickeln kann.

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SCHULZ und DUTTER betonen, daß man den Erfolg statistischer Beratungstätigkeit sehr wohl am eigenen Leibe spüren kann. Nämlich dann wenn man durch seine erfolgreiche Beratungstätigkeit eine spezielle Qualifikation für die nächste berufliche Position be- kommt. WITTENBERG sieht den Erfolg mehr im kleinen. Es erfreut einen, wenn man so- fort einen positiven Response über die geleistete Beratungstätigkeit erhält.

Die Einstellung von WITTENBERG, daß es (fast) nicht zumutbar sei, daß Ratsuchende (und Studierende) sich Kenntnisse über mehr als ein Statistik-Programmpaket aneignen soll- ten, kann wohl nicht als allgemeiner Konsens angesehen werden. Hier spielt wohl auch die jeweilige persönliche berufliche Situation eine große Rolle.

Die Diskussionsbeiträge legen nahe, daß es zur Zeit (scheinbar?) keinen Konsens über das Selbstverständnis des Statistikers in der Beratung gibt. Die Meinungen und Vorstel- lungen über die Aufgaben und den Verantwortungsbereich gehen teilweise weit ausein- ander. Dies spiegelt sicherlich teilweise die unterschiedlichen Erwartungshaltungen und Anforderungen wider, die an den Statistiker gestellt werden. In einer ,,Idealvorstellung" hat der Ratsuchende eine genaue Vorstellung von dem, was er will, und der Statistiker muß ihm nur noch die richtige Auswertungsmethode sagen. Es scheint Bereiche zu ge- ben, die diesen Vorstellungen recht nahe kommen. Genauso häufig scheint es jedoch zu sein, daß der Statistiker mit vollkommen naiven Erwartungen konfrontiert wird, was die Aussagemöglichkeit mittels quantitativer Methoden, oder noch allgemeiner mittels (un- systematischer) Datenerhebung betrifft. Darüber, was in der jeweiligen Situation unter welchen Bedingungen [im Rahmen (kostenloser) Beratungstätigkeit - als (bezahlter) Auftragnehmer, als Partner in einer Kooperation] von Statistikern erwartet werden darf und soll, scheint eine Konsensbildung dringend notwendig. Das Fehlen eines derartigen Konsens, der zuerst unter Statistikern zu bilden und dann gegenüber den Ratsuchenden zu vertreten ist, scheint ein Grund für viele Probleme zwischen Berater und Ratsuchenden zu sein.

Es ist auffällig, daß nicht nur hier, sondern auch in vielen anderen Aspekten alle Dis- kussionsteilnehmer bemüht waren, den Schwarzen Peter für die Probleme nicht bei ande- ren zu suchen. Defizite in der Ausbildung wurden mehrfach angesprochen; hier stellt sich jedoch die prinzipielle Frage, inwieweit in typischen Beratungsfeldern der Statistik tat- sächlich verlangt werden kann, daß Fachwissenschaftler statistische Kenntnisse besitzen, oder ob dieser Bereich nicht von so geringem Stellenwert für das Fach ist, daß eine gele- gentliche Beratung durch Statistiker ausreicht. Kritik an statistischer Software wurde nur in geringem Umfang geäußert, da die Beeinträchtigung der Beratung durch nicht ad- äquate Softwareprodukte im Vergleich zu anderen Problemen als marginal angesehen wird. Dennoch wurde von mehreren Diskussionsteilnehmern der Wunsch nach Software-

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produkten, die besser die statistische Beratung unterstützen, erwähnt, so daß hier eine Aufgabe für Softwarehersteller verbleibt.

Korrespondenzadresse DI: Rüdiger Ostermann Universität Siegen 57068 Siegen E-mail: ruedige~:[email protected]

Anmerkungen

1) Für die hier vorliegende schriftliche Ausarbeitung wurde auch auf den Tonmitschnitt zurückgegriffen. Diese schriftliche Ausarbeitung geht zum Teil über den ,,wahren Ver- lauf ' der Diskussion hinaus. Sie spiegelt also die durchgeführte Diskussion nicht korrekt wider.

2) Beispiele da& sind auch in der Diskussion aufgetaucht. Deshalb möchte ich nicht so- fort zu den fünf Thesen Stellung nehmen.

3) Der Beitrag faßt die von mir in der Diskussion vertretenen Positionen zusammen, ohne sich jeweils explizit auf die vorgegebenen Thesen zu beziehen. Dies scheint mir sinnvoll, da es die Lesbarkeit und Verständlichkeit deutlich erhöhen dürfte.

4) Da es sich bei meiner Klientel aufgrund der Struktur unserer Hochschule vor allem um weibliche Studierende bzw. Doktorandinnen handelt, wird im weiteren stellvertretend immer die weibliche Form benutzt.

5) Die Syntax-Version benutzen wir, weil die Studentinnen so unmittelbarer erfahren können, welch unsinnige Voreinstellungen es gibt und wie wichtig fundierte Statistik- kenntnisse für den qualifizierten Softwareeinsatz sind.

Literatur Backhaus, E.\Plinke, W. 1990: Multivariate Analysemethoden: eine anwendungsorien- tierte Einführung, 6. überarb. Auflage, Berlin.

Box, G. 1979: Some problems of Statistics and Everyday Life. Journal of the American Statistical Society, 74: 1-4.

Hilgers, R.A. 1988: Elementary nonparametric tests: A review. Statistical Software Newsletter 14: 4- 18.

Sawitzki, G. 1994a: Numerical Reliability of Data Analysis Systems. Computational Sta- tistics & Data Analysis 18: 269-286.

Sawitzki, G. 1994b: Report on the numerical reliability of data analysis systems. Statisti- cal Software Newsletter 18: 289-30 1.

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Andreß/Lipsmeier/Salentin: Erfahrungen mit Direktmarketingadressen 163

ERFAHRUNGEN MIT DIREKTMARKETINGADRESSEN.

BEV~LKERUNGSUMFRAGEN IM UNTEREN EINKOMMENSBEREICH

HANS-JURGEN ANDREJ, GERO LIPSMEIER UND KURT SALENTIN

D *)

ieser Bericht aus einem laufendem Forschungsprojekt informiert über die Erfahrun- gen mit dem Adreßmaterial kommerzieller Direktmarketingfmen (DM-Firmen). DM-

Adressen erlauben eine einfache und schnelle Abwicklung schriftlicher Umfragen (insbe- sondere in Kooperation mit Mailing-Firmen). Dabei ergeben sich deutlich geringere Kosten als bei anderen Befragungsformen. Das Adreßmaterial kann aber auch für telefonische und mündliche Umfiagen verwendet werden. Ein besonderes Potential gewinnen diese Adressen durch ihre Zusammenführung mit vielfältigen sozio-demographischen Informationen aus anderen Quellen. Im Rahmen einer schriftlichen Umfrage wurden entsprechende Angaben über die Kaufkrafi der ausgewählten Haushalte benutzt, um eine disproportional geschichtete Stichprobe zu ziehen, die den unteren Einkommensbereich überrepräsentiert. Betrachtet man die Angaben über das verfiigbare Haushaltseinkommen in den zurückgesandten Fragebögen, so scheint diese Überrepräsentation an Hand des Kaufkraftindikators gelungen zu sein. Das Adreßmaterial beruht auf den Einträgen in amtlichen Telefonbüchern und deckt nach unseren Erfahrungen nur einen Teil aller Personenadressen in einer Kommune ab. Dies gilt im besonderen Maße für die "neuen" Bundesländer, in denen die Telefondichte noch eher gering ist. Auf Grund der Überrepräsentation männlicher Personen in den Adressen sind außerdem besondere Vorkehrungen bei der Feldarbeit notwendig.

T his report fiom an ongoing research project') summarizes experiences with addresses fiom commercial direct marketing firms. Mai1 surveys are easily and quickly done with

such direct marketing (DM) addresses (especially in cooperation with mailing f m s ) at much lower costs than other forms of surveying. However, DM-addresses can also be used for tele- phone and face-to-face interviews. A particular characteristic of these addresses is the fact that they can be merged with socio-demographic information fiom other sources. Within a mail survey, information about the purchasing power of private households was used to draw a disproportionally stratified sample that overrepresents low income households. According to the data about household income in the questionnaires, this sarnpling strategy of overrepre-

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sentation was successful. All addresses were obtained from oficial telephone directories which our experience shows, do not Cover all private addresses of the corresponding geo- graphical region. This is especially true for the "new" states where the telephone density is still low. Additionally specific precautions have to be taken during field work because of the overrepresentation of male persons with (telephone) addresses.

1 Einleitung

"Vor dem Hintergrund steigender Arbeitslosenzahlen, der Kürzungen im System der sozialen Sicherung und der verstärkten Bedeutung von Arbeitslosigkeit als Hauptursache fiir den Be- zug von Sozialhilfe wurde Armut und Arbeitslosigkeit zum herausragenden Thema der 80er Jahre" (Hauser/Neumann 1992: 241f.). Im Zuge der deutschen Vereinigung und dem damit insbesondere in Ostdeutschland ausgelösten Stnikturwandel droht eine weitere Verschärfung dieses Problems, so daß die wissenschaftliche Erforschung von Marginalisierungs- und Ver- armungsprozessen innerhalb der bundesdeutschen Bevölkerung mehr als je zuvor dringend geboten erscheint. Eine notwendige Voraussetzung dafür sind aktuelle Mikrodaten, die über die konkrete Lebenslage der Bundesbürger Auskunft geben, insbesondere über die Personen am (unteren) Rand der Gesellschaft. Bis Mitte der 80er Jahre waren adäquate Daten jedoch kaum verfügbar - und wenn sie vorhanden waren, dann waren sie, wie etwa die Einkom- mens- und Verbrauchsstichprobe, für die sozialwissenschaftliche Forschung nur schwer zu- gänglich. Mit der VertUgbarkeit des ~ozio-Ökonomischen Panels (SOEP, vgl. Projektgmppe Panel 1993) hat sich der Zugang zu repräsentativen Mikrodaten zwar fur die Sozialwissen- schaft wesentlich verbessert, jedoch wird auch gerade dieser Datenquelle "ein deutlicher 'Mittelschicht-Bias'" vorgeworfen, "der Armut und Sozialhilfe weit weniger in den Blick kommen läßt", als dies von einigen gewünscht wird (LeibfiiedNoges 1992: 11). Als positives Vorbild zitieren die Kritiker die US-amerikanische Panel Study of Income Dynamics (PSID), die durch ein entsprechendes Stichprobendesign den unteren Einkornmensbereich so überre- präsentiert, daß sowohl differenzierte Analysen der Armutspopulation als auch repräsentative bevölkerungsweite Hochrechnungen möglich sind.

Disproportional geschichtete Zufallsstichproben gehören zum Alltag der Umfiageforschung, insbesondere wenn es sich bei den Schichtungskriterien um mehr oder weniger offensichtli- che Personenmerkrnale, wie 2.B. Geschlecht, Nationalität, Alter, Rasse usw. handelt oder um regionale Zugehörigkeiten, wie 2.B. Ost- versus Westdeutschland, Land versus Stadt usw. Das beste Beispiel ist das SOEP selbst, in dem die deutsche Bevölkerung in Ost- und West- deutschland mit einem unterschiedlichen Auswahlsatz vertreten ist und in dem die zahlen- mäßig starken "Gastarbeiterw-Nationen in Westdeutschland überrepräsentiert sind. Eine ana- loge Überrepräsentation des unteren Einkornmensbereiches in Repräsentativurnfiagen ist je-

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Andreß/Lipsmeier/Salentin: Erfahrungen mit Direktmarketingadressen 165

doch aus mehreren Gründen nicht ganz einfach: Zum einen ist das Einkommen einer Person oder eines Haushaltes nicht direkt beobachtbar; es müßte also erst erfragt werden, um zu ent- scheiden, welcher Schicht der Haushalt bzw. die Person zuzurechnen ist. Gleichzeitig gehört aber gerade die Erhebung von Einkommensangaben zu den besonders sensiblen Themen der Umfiageforschung, bei denen mit hohen Verweigerungsraten zu rechnen ist. Es kommt daher nicht von ungefähr, wenn von den insgesamt Ca. 1900 Studien des maschinenlesbar ausgelie- ferten Datenbestandskataloges des Zentralarchivs fur empirische Sozialforschung (Köln) le- diglich zwei Studien Einkommen als Auswahl- oder Schichtungskriterium verwenden: die StudienNr. 116 und 1001.

Eine disproportionale Schichtung nach dem Einkommen funktioniert in der Umfragepraxis entweder durch indirekte Auswahlverfahren oder durch Rückgriff auf vorhandene Adressen, fu, die durch fnihere Erhebungen das Einkommen bereits bekannt ist. Das Sample der ein- kommensschwachen Haushalte der Panel Study of Income Dynamics (PSID) beruht bei- spielsweise auf einer (nachträglichen) Auswahl von 1872 der insgesamt Ca. 30.000 Haus- halte, die bereits ein Jahr zuvor im Rahmen des Survey of Economic Opportunity befiagt wurden (Hill 1992: 4). Da solche Vorerhebungen in der Regel sehr teuer und aufwendig sind und, wie das Beispiel zeigt, auch einen recht großen Stichprobenumfang haben müssen, um hinreichend viele einkommensschwache Haushalte auswählen zu können, werden aus prakti- schen Erwägungen häufig indirekte Auswahlverfahren bevorzugt. Eine solche indirekte Me- thode ist beispielsweise die überproportionale Auswahl kleinräumiger Einheiten, von denen man aus anderen Datenquellen weiß, daß dort durchschnittlich mehr einkommensschwache Haushalte und Personen wohnen. Diese externen Datenquellen können entweder direkte Einkommensangaben enthalten oder Variablen, die in mehr oder weniger direktem Zusam- menhang mit der Einkommensposition der Einwohner stehen, wie z.B. Erwerbs- oder Be- rufsstatus. Diese indirekte Methode nutzt die räumliche Segregation der Wohnbevölkerung, die aus einsehbaren Gründen u.a. mit dem Einkommen variiert. Sie wurde z.B. in der be- kannten Armutsstudie von Townsend (1979: 927) verwendet und setzt voraus, daß sowohl räumlich differenzierte Haushalts- oder Personenadressen vorliegen als auch externe Daten, die mit dem Adreßmaterial verknüpft werden können. Beide Datenquellen sind ebenfalls nicht ohne Kosten verfigbar.

Im Rahmen eines Forschungsprojektes des Schwerpunktprogramms "Sozialer und politischer Wandel im Zuge der Integration der DDR-Gesellschaft (SPP 188)" der Deutschen For- schungsgemeinschaft wurde unter Verwendung von Adressen einer kommerziellen Direkt- marketing-Firma der Versuch unternommen, durch einen ahnlichen Ansatz den unteren Ein- kommensbereich der bundesdeutschen Bevölkerung in Ost und West in besonderem Maße zu berücksichtigen. Im Vordergrund der Projektarbeit stand natürlich die inhaltliche Fragestel-

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lung, während die hier berichteten methodischen Erkenntnisse über das Auswahlverfahren eher ein Nebenprodukt der Projekttätigkeit sind. Zeitliche und finanzielle Restriktionen ha- ben es auch verboten, verschiedene mögliche Optionen einer Überrepräsentation des unteren Einkommensbereichs vergleichend zu untersuchen. Der Beitrag hat daher eher den Charakter eines Erfahrungsberichtes über das von uns gewählte Verfahren. Uns interessieren dabei vor allem zwei Fragen: Sind Direktmarketing-Adressen tauglich fur Umfragen im unteren Ein- kommensbereich, und wie zuverlässig ist die Selektion aufgrund der Einkommensindikatoren des Adressenanbieters? Auch wenn es sich um singuläre Erfahrungen handelt, hoffen wir dennoch, daß der Beitrag für andere Umfi-ageforscher interessant ist, die ähnlich wie wir nach einer kostengünstigen und schnell verfiigbaren Adreßquelle suchen, die zudem eine Selektion nach verschiedenen sozio-demographischen Merkmalen erlaubt. Unabhängig von der beschriebenen Überrepräsentation des unteren Einkommensbereiches ist der Beitrag da- her auch ein erster Test des Nutzens kommerzieller Adreßbestände fur die wissenschaftliche Umfrageforschung.

2. Direktmarketingadressen - Grundgesamtheit und Selektionskriterien

Die Adreßbestände kommerzieller Direktmarketing-Firmen stammen durchweg aus den Te- lefonteilnehmerverzeichnissen. Die Gewinnung ist erstaunlich trivial: Entweder werden sie bei der Telekom erworben oder es werden schlicht die Telefonbücher über Scanner in ma- schinenlesbare Form übertragen. Eine erste Einschränkung der Repräsentativität fur die Wohnbevölkerung ist auf diese Art vorgegeben, denn Stichproben aus derartigen Adreßbe- ständen beziehen sich auf die Grundgesamtheit der Telefonteilnehrner. Über Verzerrungen wird man zumeist nur spekulieren können, doch ist beispielsweise die Ausstattung mit Tele- fonanschlüssen in den ostdeutschen Bundesländern gegenwärtig noch weitaus weniger dicht als im Westen. So beläuft sich der Anteil der über ein Telefon verfügenden deutschen Haus- halte in den alten Bundesländern auf 94,9 Prozent (ausländische Haushalte hier 85,l Pro- zent), während die Quote sich in den neuen Bundesländern nur auf 44,9 Prozent beläuft

1) (Quelle: SOEP, 10. Welle, 1993, eig. Berechnungen). Im Bundesdurchschnitt liegt der An- teil bei 85,4 Prozent (Quelle: ebenfalls SOEP). Und auch in den untersten Einkommensgrup- pen muß eine etwas schlechtere Versorgung angenommen werden.

Die zweite Einschränkung hängt mit dem Umstand zusammen, daß Eintragungen ins Tele- fonbuch seit der Liberalisierung der entsprechenden Bestimmungen im Jahr 1991 auf Frei- willigkeit beruhen und sich theoretisch Verzerrungen durch vermehrte Nichtaufnahme be- stimmter sozialer Gruppen einstellen können. Eine spontane Hypothese könnte ja lauten, daß sich gerade "die Reichen" und "die Prominenten" durch geheime Telefonanschlüsse der Öf-

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AndreJ/Lipsmeier/Salentin: Erfahrungen mit Direktmarketingadressen 167

fentlichkeit entziehen. Zu dieser Frage liegen bislang keine Veröffentlichungen vor. Die Te- lekom teilte aber auf Anfrage mit (Telekom-Generaldirektion, Bonn, 2 1.4.94), daß zum einen die Quote nicht in die Fernsprechbücher aufgenommener Teilnehmer bei gewissen regiona- len Schwankungen 1994 insgesamt nur 4,2 Prozent beträgt und daß es zum anderen ohne er- kennbare Abhängigkeit vom Einkommen im wesentlichen Frauen aller Altersgruppen sind, die sich aufgrund sexueller Belästigungen am Telefon, der Nachstellungen geschiedener Ehemänner oder ähnlicher Gründe gegen eine Bekanntgabe ihrer Telefonnummer entschei- den. Die Quote besonders exponierter Personen, deren Rufnummer z.B. aus Sicherheitsgrün- den nicht bekanntgegeben wird, liegt bei 0,019 Prozent. Solange bei den Teilnehmern keine stärkere Tendenz zur Geheimhaltung der Telefonverbindungen zu verzeichnen ist, spricht also das Argument der Freiwilligkeit des Eintrags nicht grundsätzlich gegen den Einsatz tele- fonbasierter Adreßdaten.

Ferner sind aus dem Adreßbestand die 330.000 in der sogenannten Robinson-Liste geführten Personen ausgeschlossen, die schriftlich erklärt haben, daß sie keine adressierte Werbung er- halten möchten, sowie die Namen aus den Telefonbüchern, die nach jeweils aktueller Erfas- sung über keine Postadresse verfiigen und daher auch nicht angeschrieben werden können.

Im Vorfeld der weiter unten beschriebenen Untersuchung wurde das Angebot von fUnf über- regional tätigen, kommerziellen Adreßanbietern an Hand schriftlicher Firmenunterlagen und weitergehender fernmündlicher Auskünfte geprüft (Salentin 1994). Der Telefonteilnehmer- bestand wird in allen fünf Unternehmen um diverse andere Quellen (Versandhauskunden etc.) ergänzt, auf die in der Untersuchung jedoch nicht zurückgegriffen wurde. Der Umfang der angebotenen Bestände reicht für die gesamte Bundesrepublik je nach Unternehmen von 24 Millionen bis 35 Millionen. Inwieweit es sich bei der Bezugseinheit "Adresse" um Tele- fonteilnehmer, d.h. in der Regel um Haushalte oder Haushaltsvorstände, oder um beliebige Einzelpersonen handelt und ob Telefonbestände mit Adressen anderer Herkunft zusammen- geführt wurden, darüber werden erst auf Nachfrage präzise Aussagen gemacht. Die von uns genutzten Adressen entstammen ausschließlich den Telefonbüchern. Daraus folgt, daß die Bestände praktisch nur Haushaltsvorstände und kaum weitere Haushaltsangehörige enthal- ten. Männer sind gegenüber Frauen (zumal Hausfrauen) deutlich überrepräsentiert. Ein An- bieter f3u-t beispielsweise einen Bestand 6 Millionen weiblicher gegenüber 15,8 Millionen männlicher Einträge.

Gegen die Verwendung von Telefonbucheinträgen ließe sich schließlich der Einwand erhe- ben, daß die dort vorliegende Vermischung privater und gewerblicher Einträge fur eine Um- frage unter Privathaushalten kaum hinreichend rückgängig gemacht werden kann. Tatsäch- lich lassen sich jedoch die meisten Geschäftsadressen an Hand von Branchenbezeichnungen, Angaben zur Rechtsform u.a. eindeutig identifizieren, während Privateinträge am Fehlen sol-

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cher Charakteristika zu erkennen sind. Der größte Teil der Adreßbestände ist somit maschi- nell durch Abgleich mit sogenannten Zusatzbegriffskatalogen der einen oder anderen Kate- gorie zuzuordnen. Eine kleine Restmenge von Adressen, deren Zuordnung nicht eindeutig möglich ist (z.B. Müller Hans Architekt) wird sowohl dem privaten als auch dem gewerbli- chen Bestand zugeordnet.

Ein besonderes Potential gewinnen die Daten durch Zusarnmenflihrung mit vielfältigen so- ziodemographischen Informationen aus anderen Quellen, die eine Selektion von Adreßstich- proben nach bestimmten Kriterien ermöglichen. Wir unterscheiden interne und externe An- reicherungsverfahren. Ein Teil der Information über individuelle Adreßeinträge wird durch Analyse ihres Kontextes im Gesamtbestand gewonnen (interne Anreicherung). So wird die Zahl der Telefonanschlüsse je Hausnummer ermittelt. Bei nur einem Anschluß liegt die An- nahme nahe, daß es sich um ein Einfamilienhaus handelt und eine gehobene Kaufkraft der Bewohner vorliegt. Bei sehr großen Wohneinheiten, z.B. Hausnummern mit über 25 Tele- fonanschlüssen, werden entgegengesetzte Einkommensrückschlüsse gezogen. Anhand weib- licher Vornamen im Eintrag wird häufig auf einen Single-Haushalt geschlossen, während die Präsenz sowohl eines männlichen als auch eines weiblichen Vornamens als Kennzeichen ei- nes jungen Paares mit aufgeschlossenem Lebensstil gewertet wird. Basierend auf der Grundannahme, daß in kleinräumigen Einheiten Menschen mit ähnlichen Lebensverhältnis- sen leben, werden weitere Merkmale ermittelt. So weisen viele Einträge mit akademischen Graden und Titeln auf hohen Bildungsgrad und hohes Einkommen in einem Stadtviertel hin.

Mit externer Anreicherung soll hier allgemein die Zusammenfiihnmg der Telefondaten mit Informationen aus anderen Quellen bezeichnet werden. Sie vermag einen weitaus größeren Informationszugewinn zu leisten als die interne Anreicherung. Die Vornamenanalyse ist in diesem Sinn ein zur Altersbestirnmung häufig herangezogenes Verf&en. Die Anbieter ana- lysieren die Verteilung der Vornamen über Geburtsjahrgänge bei Personen, für die beide Merkmale bekannt sind, und ordnen bei unbekanntem Alter einer Person die Altersklasse zu, in der ihr Vorname am häufigsten vorkommt. Wie alle anderen Verfahren ist auch dieses mehr oder weniger fehlerbehaftet, doch zeigen Häufigkeitsverteilungen für eine Reihe von Vornamen eine deutliche Korrelation mit dem Lebensalter. Der Name Boris tritt beispiels- weise hauptsächlich in den Altersgruppen unter 30 Jahren auf, während Bertha praktisch nur von über 50jährigen getragen wird.

Während dieses Verfahren durchgängig von fast allen Anbietern eingesetzt wird, unterschei- den sich die Firmen hinsichtlich weiterer zur Anreicherung des Informationspotentials ge- nutzter Daten. Unser Interesse gilt Kriterien, die mit der Einkommenslage der Haushalte zu- sammenhängen. Da dies auch für kommerzielle Anwender ein bedeutsamer Selektionsfaktor ist, verwenden die Anbieter hierauf besondere Aufinerksamkeit. Daten über den Kraftfahr-

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zeugbestand, insbesondere über Pkw-Dichte und Fahrzeugmarken, -typen und Durch- schnittsalter, dienen bei regionaler Aufgliederung als Kaufkraftindikator. Auch Daten der amtlichen Bevölkerungsstatistik (Anteile der Selbständigen, Angestellten, Arbeiter, Rentner, Erwerbslosen, Ausländer; Anteile der Schulabschlüsse; Einkünfte pro Lohnsteuerpflichtigen und pro Einwohner etc.) werden ausgewertet. Auf der Ebene der Gebietskörperschaften wer- den zusätzlich statistische Daten zu Einzelhandelsumsatz, Kaufkraft etc. und Volkszählungs- ergebnisse eingearbeitet.

Bekanntlich herrscht innerhalb der geographischen bzw. politischen Einheiten, für die derar- tige allgemeinstatistische Angaben verfügbar sind, eine beträchtliche Varianz soziodemogra- phischer Merkmale. Als Beispiel seien die oben angeftihrten KFZ-Bestandsdaten genannt. Das Kraftfahrt-Bundesamt macht sie bis hinunter zur Ebene der Kommunen zugänglich, wo- bei in großen Kommunen eine weitere Untergliederung möglich ist, und zwar bis hin zu den ehemals selbständigen Gemeinden der heutigen Verbandsgemeinden oder zu Ortsteilen grö- ßerer Städte. Dies gilt jedoch nur für die großen Automarken, während aus Datenschutz- gründen Angaben über seltene Marken teilweise nur auf Regierungsbezirksebene veröffent- licht werden. Und auch innerhalb eines Stadtteils wird die durchschnittliche KFZ-Ausstat- hing nur eine eingeschrankte Aussagekraft fur einzelne Haushalte besitzen. Andererseits ist aber in noch kleineren Einheiten mit mehr sozialstruktureller Homogenität zu rechnen. Aus diesem Grund streben die Anbieter eine mikrogeographische Disaggregation ihrer Selek- tionsgrundlagen bis zur Ebene von Straßen und Straßenabschnitten an. Da hierbei jedoch auf nicht öffentlich zugängliche Daten zurückgegriffen werden muß, können die Firmen die kleinsträurnige Differenzierung und Anreicherung nicht mit einheitlicher Güte leisten. Es ist daher für den Anwender ratsam zu prüfen, ob das anbietende Unternehmen eigene Erhebun- gen durchftihrt, bewährte Datenbestände von dritter Seite nutzt oder nur behelfsweise die in- terne Anreicherung bis zur regionalen Mikroebene ausdehnt.

Für die entsprechenden Details verweisen wir auf die Arbeit von Salentin (1 994). Hervorm- heben ist lediglich ein Anbieter, der von 1989 bis 1992 in der alten BRD eine aufwendige ei- gene Erhebung durchgefiihrt hat. Bei flächendeckenden Begehungen mit eigens fur diesen Zweck geschultem Personal wurden 13 Millionen Gebäudebewertungen vorgenommen. Je Erhebungseinheit (Gebäude) wurden 9 Merkmale erfaßt, aus denen ein Gesamtscore errech- net wurde, der "eine nachweisliche Korrelation" mit dem Einkommen aufweist. Aus dieser Begehung gingen Daten hervor, die für die Zuordnung zu 35 Milionen Privatadressen ver- wertbar sind. Diese Firma ist daher die einzige, die Zielgruppen auf jeder geographischen Einheit bis hin zur einzelnen Hausnummer definieren kann. Selektionen sind möglich nach Kaufkraft, Gebäudecharakteristik, Gebäudealter, Wohniyp (eigentlich Wohnlage unter Be- rücksichtigung der Gemeindegröße), jeweils strukturiert nach Geschlecht und Lebensalter.

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Alle Angebote der geprüften Firmen umfassen einerseits eine Gliederung etwas größerer re- gionaler Gebilde, die unter verschiedenen Bezeichnungen angepriesen werden, jedoch stets auf eine Zahl von Ca. 60.000 auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik kommen und hinter denen sich offensichtlich die Stimmbezirke der Bundestagswahlen verstecken. Andererseits existieren etwas feinere Gliederungen, die sich wohl als Straßenzüge bezeichnen lassen und deren Zahl sich wiederum fi die alten Bundesländer in der Größenordnung von 1 Million bewegt. Darüber hinaus bieten sie die Selektion nach postalischen Gebieten (Postleitzah- lenbereiche, Telefonbücher, Vorwahlnummern), Gebietskörperschaften (Bundesländer, Re- gierungsbezirke, Kreise, Gemeinden) und Ortsgröße an.

3. Nutzung der Adressen im Rahmen eines Projektes

3.1 Untersuchungsziele der Umfrage "Alltag in Deutschland'" Unser Forschungsprojekt beschäftigt sich mit den Versorgungsstrategien privater Haushalte im unteren Einkommensbereich. Als empirisches Material dienen Leitfadeninterviews mit ausgewählten Haushalten und Repräsentativbefiagungen fiir die gesamte Bundesrepublik wie etwa das SOEP. Aus der Sicht des Projektes ergänzen sich beide Zugangsweisen, unterliegen aber auch spezifischen Beschränkungen. Während die Leitfadeninterviews detaillierte Ein- blicke in die Mikrowelt einzelner Haushalte im unteren Einkornmensbereich vermitteln, er- lauben Datenquellen wie das SOEP generalisierende Aussagen über größere Bevölkerungs- gruppen an Hand standardisierter Kriterien. Wie eingangs erwähnt, ist der untere Einkom- mensbereich im SOEP allerdings nur gemäß seinem Anteil an der Gesamtbevölkerung ver- treten, so daß multivariate Analysen sehr schnell in Fallzahlproblerne geraten. Weiterhin sind spezifische Armutsgruppen wie etwa die Sozialhilfe-Empfänger nur geringfiigig vertreten, und fi viele Fragen im Zusammenhang mit dem Projektthema fehlen die entsprechenden Daten.

Aus diesem Grunde wurde eine eigene Umfiage konzipiert, die im Gegensatz zu den 0.g. Leitfadeninterviews eine größere Anzahl von Haushalten erfassen und spezifische, armutsre- levante Untersuchungsthemen abdecken sollte. Neben Einkommensangaben (einkommens- basiertes Armutskonzept) und sozio-demographischen '~erkmalen wurden im wesentlichen vier Befiagungsschwerpunkte vertieft: a) finanzielle Belastungen und Einschränkungen, b) notwendiger Lebensstandard in der Bundesrepublik und Lebensstandard des befragten Haus- haltes (deprivationsbasiertes Armutskonzept), C) psychische Armutsbewältigung in Alltagssi- tuationen sowie d) soziale Unterstützung. Angesichts des finanziellen Umfangs des SPP 188 und der Vielzahl der in diesem Programm geforderten Projekte war eine in der Regel teure mündliche (face-to-face) Befragung von vorneherein ausgeschlossen. Auch eine telefonische Befi-agung war angesichts der Schwierigkeit des dritten Themas (Verhalten in Alltagssitua-

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tionen) nicht durchflihrbar. Aufgnind dieser Restriktionen verblieb daher nur noch die Mög- lichkeit einer schriftlichen Umfrage, von der allerdings bekannt ist, daß sie nur geringe Rücklaufquoten erzielt und hohe Anforderungen an die Lese- und Schreibfähigkeiten der Be- fragten stellt. Außerdem können die Ergebnisse aufgrund'des nicht kontrollierbaren Teilnah- meverhaltens einem starken Selektivitätsbias unterliegen. Betrachtet man diese Umfrage je- doch als nicht-repräsentative Ergänzung der 0.g. Datenquellen, dann ist die Durchführung ei- ner solchen Umfrage sicherlich besser als der Verzicht auf jegliche differenzierte Informatio- nen aus dem unteren Einkommensbereich.

In diesem Sinne waren die methodischen Vorgaben unserer Umfrage "Alltag in Deutschland" erstens die überproportionale Berücksichtigung des unteren Einkommensbereiches und zweitens die Berücksichtigung spezieller armutsrelevanter Personengnippen, zu denen vor allem die Sozialhilfe-Empfänger gehören sollten. Drittens sollte die Umfrage Vergleiche zwi- schen Ost- und Westdeutschland erlauben und als Zielpopulation wurde viertens die bundes- deutsche Wohnbevölkerung im Alter zwischen 25 und 65 Jahren vorgesehen. Die Altersbe- grenzung wurde so gewählt, daß man davon ausgehen konnte, daß die ausgewählten Perso- nen sich weder im Rentenalter, noch im Aus- und Berufsbildungssystem befanden, mithin zur erwerbsfähigen Bevölkerung gehören und daher nicht vorwiegend auf staatliche Versor- gungssysteme angewiesen sind.

Uns war von Anfang an klar, daß sich die obigen vier Untersuchungsziele nicht gleichzeitig mit einer Adreßquelle allein realisieren lassen. Eine Überrepräsentation des unteren Ein- kommensbereiches ist, wie beschrieben, prinzipiell mit dem Adreßmaterial von Direktmar- ketingfirmen (DM-Adressen) möglich, jedoch lassen sich damit keine Ost-West-Vergleiche durchfiihren, da die Telefondichte in Ostdeutschland (noch) sehr gering ist und Selektions- verfahren von den Firmen erst in Vorbereitung sind. Für Ostdeutschland müßte man daher zur Zeit noch auf Adressen aus den Melderegistern (MA-Adressen) zurückgreifen, die im Prinzip ähnlich selektiert werden können wie die DM-Adressen, falls die Adressen klein- räumigen kommunalen Einheiten (z.B. statistische Bezirken) zugeordnet werden können, über die zusätzliche sekundärstatistische Informationen vorliegen (vgl. unsere Vorstudie in Bielefeld; Andreß 1993). Die MA-Adressen der ostdeutschen Kommunen erlauben jedoch zur Zeit noch kaum kleinräumige Differenzierungen, m a l entsprechende sekundärstatisti- sche Informationen über die Raumeinheiten fehlen. Die als viertes Ziel vorgegebene Alters- begrenzung läßt sich dagegen relativ leicht mit MA-Adressen umsetzen, während aus den beschriebenen Gründen die Altersabgrenzung in den DM-Adressen sehr ungenau ist.

Wir haben uns daher aus pragmatischen Gründen dazu entschieden, unsere Ost-West-Stich- probe aus einer Kombination von DM- und MA-Adressen zu gewinnen. Wegen der MA- Adressen konnte es sich dabei nicht um eine Flächenstichprobe handeln, sondern die Stich-

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probe mußte sich auf ausgewählte städtische und ländliche Kommunen beschränken. Bei die- sem Verfahren war absehbar, daß wir Sozialhilfe-Empfänger nur äußerst selten erreichen würden. Um schließlich auch unser zweites Untersuchungsziel einigermaßen zu erreichen, haben wir in Ost und West eine Ergänzungsstichprobe von Sozialhilfe-Empfängern gezogen, deren Adressen wir durch Vermittlung verschiedener Sozialämter gewonnen haben (SA- Adressen). Im folgenden beschreiben wir unsere Erfahrungen mit der DM-Stichprobe be- züglich Adressengewinnung, Ausschöpfimg und Gewichtung. Die MA- und SA-Stichprobe werden nur zu Vergleichszwecken herangezogen (die Gewinnung der MA-Adressen erklärt sich von selbst, zur Gewinnung der SA-Adressen verweisen wir auf das a u s ~ l i c h e Ar- beitspapier: Andreß et al. 1995). Von besonderem Interesse ist dabei natürlich die Frage, ob uns die Überrepräsentation des unteren Einkommensbereichs gelungen ist.

3.2 Adressengewinnriung Wegen der Verwendung von MA-Adressen mußten zunächst entsprechende Kommunen in Ostdeutschland ausgewählt werden. Gemäß den Vorgaben einer angemessenen Repräsenta- tion von städtischen und ländlichen Bevölkerungsgruppen entschieden wir uns fiir zwei grö- ßere Städte und eine kleinere Gemeinde: Magdeburg, Halle und Naurnburg an der Saale. Aus jeder dieser Gemeinden wurden 600 MA-Adressen von Personen zwischen 26 und 66 Jahren zufällig ausgewählt (aus technischen Gründen konnte die ursprünglich geplante Altersbe- grenzung nicht exakt eingehalten werden). Mit den Daten der Direktmarketingfirmen wäre eine ~lächenstich~robe zwar einfach realisierbar, aus Gründen der Vergleichbarkeit mit der Ost-Stichprobe mußten wir jedoch auch hier drei Gemeinden auswählen. Da diese Gemein- den möglichst gut zu den im Osten verwendeten "passen" sollten, befi-agten wir mehrere Ex- perten und fihrten mit Daten der Bundesforschungsanstalt & Landeskunde und Raumpla- nung eine Clusteranalyse durch. In dieser Clusteranalyse fanden folgende Variablen Verwen- dung: Bevölkerungsentwicklung von 1985 bis 1990, der Anteil der sozialversicherungs- pflichtig Beschäftigten im tertiären Sektor, Industriebeschäftigte je 1000 Erwerbsfähige und der Anteil der Studierenden an den 18-24jährigen. Ausgewählt wurden letztendlich Karls- ruhe als Entsprechung zu HalleISaale, Braunschweig zu Magdeburg und Diepholz zu Naum- burg. Die beiden größeren Städte sind dabei jeweils auch Partnerstädte.

Aufgrund unserer Sichtung der Angebote verschiedener Direktmarketingfirmen fiel unsere Wahl auf den Anbieter, der aufgrund eigener Erhebungen von Gebäudecharakteristika die aus unserer Sicht zuverlässigste Datenquelle zur Selektion unterer Einkommensschichten bot (s. Abschnitt 2 und Salentin 1994). Die ausgewählte Firma kann innerhalb eines Monates Adressen aus jedem gewünschten Postleitzahlgebiet liefern, differenziert nach f G d Kauf- kraftklassen. Aus den von uns bestimmten drei Gemeinden wurden jeweils 300 Adressen aus der niedrigsten und jeweils 300 aus den übrigen 4 Klassen gezogen, so daß wir auch im We-

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sten eine Stichprobe von insgesamt 1800 Adressen vorliegen hatten. Eine Altersabgrenzung wie in den drei Ost-Kommunen wurde aus den genannten Gründen nicht vorgenommen. Da auch minderjährige Kinder mit Erlaubnis der Eltern ein Telefon anmelden dürfen, kann man jedoch nicht davon ausgehen, daß es sich bei den ausgewählten Adressen ausschließlich um erwachsene Personen handelt. Wie hoch der Prozentsatz der Minderjährigen tatsächlich ist, läßt sich leider nicht abschätzen. Keiner der an uns zurückgesandten Fragebogen wurde je- doch von einer Person unter 18 Jahren ausgefullt. Von daher kann man annehmen, daß sich nur erwachsene Personen von unserer Umfrage angesprochen fuhlten. Da in Mehr-Personen- Haushalten auch heute noch ein Großteil der Telefonanschlüsse auf den Namen von Männem angemeldet wird, war der Anteil der Männer in der DM-Stichprobe erwartungsgemäß hoch: Für alle drei Kommunen zusammen belief er sich auf 73,4 Prozent. Prinzipiell kann man diese stichprobentechnischen Schieflagen der DM-Adressen durch geeignete Auswahlregeln in der anschließenden Feldphase korrigieren (zu unseren diesbezüglichen Überlegungen s. Abschnitt 3.3).

Ein wichtiger Unterschied zwischen der MA-Stichprobe und den beiden anderen Stichpro- ben besteht in den Auswahleinheiten. In den Melderegistern sind alle Personen der Auswahl- gesamtheit enthalten. Jede Person hat die gleiche Chance, in die Stichprobe zu gelangen. An- ders jedoch bei den beiden anderen Adreßbeständen: Da Sozialhilfe an sogenannte Bedarfs- gemeinschaften gezahlt wird, ist in der Regel nur eine Person pro Haushalt in den Adreßda- teien der Sozialämter gespeichert. Deshalb haben wir es hier mit einer Auswahl auf Haus- haltsebene zu tun. Ebenso bei der Stichprobe auf Basis der kommerziellen Adressen: Da Haushalte in der Regel nur über einen Telefonanschluß verfügen, handelt es sich auch hier um eine Stichprobe auf Haushaltsebene. Dieser Unterschied zwischen den Stichproben be- trifft in erster Linie die unterschiedlichen Auswahlwahrscheinlichkeiten für Personen in un- terschiedlich großen Haushalten. Personen in kleinen Haushalten haben bei einer Stichprobe auf Haushaltsebene eine größere Chance, in die Stichprobe zu gelangen, als Personen aus größeren Haushalten. Dieser Unterschied zwischen Haushalts- und Personenstichproben kann jedoch durch entsprechende Gewichtungsverfahren ausgeglichen werden (vgl. Ab- schnitt 3.4).

Abschließend interessiert vielleicht noch, wie weit das Adressenmaterial der Direktmarke- tingfirrna die Gesamtzahl aller Haushalte ausschöpft. Für einige ganz grobe Abschätzungen findet man in Tabelle 1 die notwendigen Vergleichsdaten.

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Tabelle 1: Ausgewählte sozio-demographische Merkmale für die drei West-Kommunen

Karlsruhe Braunschweig Diepholz

Haushalte insgesamt 125101 128849 6202 Einwohner insgesamt 273 174 254729 15465

davon: Männer 131960 121989 7426

davon: Frauen 141214 132740 8039

Direktmarketingf?rma Adressen insgesamt 84279 82966 4356

Kaufkraftklasse 1-4 68998 5 1889 3950

Kaufkraftklasse 5 15281 3 1077 406

Brutto-Stichprobe Adressen insgesamt 600 600 600 davon: ~ ä n n e r ' ) 72,4% 70,7% 77,1%

davon: rauen') 27,696 29,3% 22,9%

Netto-Stichprobe Fragebögen insgesamt 132 144 96

davon: ~ ä n n e ? ) 7 1,7% 67,5% 82,9% davon: rauen^) 32,0% 30,6% 15,8%

1) Designgewichtet; 2) Design- und transformationsgewichtet (wg. fehlender Werte Summe 0 100%). Quellen: Karlsruhe (Stand 12/92): Karlsruher Statistik. Daten, Fakten, Informationen 1993. Haushalte lt. VZ 1987. Braunschweig (Stand 12/93): Braunschweiger Statistische Monats- berichte, 54. Jahrgang, Nr. 1 (Januar 94). Haushalte lt. VZ 1994. Diepholz (Stand 6/92): Stadtinformationen 1993.

Die Datenbasis enthält z.B. im Jahr 1994 für Karlsruhe 84.279 Adressen, während es laut Volkszählung 1987 rund 125.000 Haushalte in Karlsruhe gab. Die Unterdeckung ist also zum Teil ganz erheblich und kann nicht alleine auf den Anteil der Haushalte ohne Telefonan- schluß zurückgeführt werden. Entsprechende Nachfragen bei der Lieferfirma ergaben weitere Hinweise auf Abweichungen zwischen beiden Datenquellen, sie erklären jedoch nicht diesen großen Unterschied. So werden solche Teilnehmer nicht übernommen, deren Name oder An- schriR unvollständig ist (z.B. nur Familienname oder keine Straße eingetragen, Straßenan- gabe so abgekürzt, daß sie maschinell nicht einem Postleitzahlenbereich zuzuordnen ist) oder die in einer Straße wohnen, von deren Namen es mehrere verschiedene in einem Telefonbuch gibt (so 2.B. in Köln). Außerdem gehen solche Adressen nicht in den Bestand ein, fiir deren

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Gebäude keine Begehungsdaten vorliegen. Die Begehung, aus der die Mikrodaten der Firma hervorgegangen sind, wurde zwar 1989 bis 1992 durchgefiihrt, wird aber laufend aktualisiert. Die Aiciualisierung bezieht dabei aber nicht alle Adressen ein. Sie kommt nur zum Tragen, wenn erhebliche Veränderungen in der Namenszusammensetzung zu verzeichnen sind (Neu- baugebiete, ganzer Wohnblock abgerissen), nicht aber bei einzelnen Neubauten.

3.3 Feldarbeit, Stichprobenausschöpfung und Kosten der Befragung Da sich die Befi-agungspersonen auf wenige Kommunen konzentrierten, konnten die Befi-a- gungsunterlagen kostengünstig per Info-Post, die eine räumliche Konzentration der Sendun- gen voraussetzt, verschickt werden. Für die Empfänger waren die Briefe durch den Absender "Universität Bielefeld" und einen neutralen DIN-C4-Umschlag deutlich von Werbesendun- gen zu unterscheiden. Ein Nachteil der Info-Post ist, daß man die Ernsthaftigkeit der Zustel- lung nicht nachprüfen kann und über nicht-zustellbare Sendungen nur dann informiert wird, wenn dieses ausdrücklich vermerkt und durch einen höheren Preis bezahlt wird. Aus Kosten- gründen haben wir darauf verzichtet und können daher auch für die folgenden Ausschöp- fungsquoten keine bereinigten Brutto-Stichproben berechnen.

Neben dem Interesse an dem Untersuchungsthema und der Unterstützung der Wissenschaft sollten die angeschriebenen Personen durch ein Los der Deutschen Fernsehlotterie im Werte von 5,- DM zur Mitarbeit motiviert werden, das sie dann erhielten, wenn sie ihren ausgefüll- ten Fragebogen nebst ausgefulltem Losformular an eine Postfachadresse der Deutschen Fern- sehlotterie schickten. Von dort, so erfuhren die Befragten im Begleitschreiben, wurde der Fragebogen ohne ihre Adreßangaben (also ohne das Losformular) an die Forschungsgruppe an der Universität weitergeleitet. Auf diese Weise wurde die Anonymität der Befragten ge- wahrt. Während der Feldphase standen fiir die Befragten mehrere Telefonnummern an der Universität Bielefeld zur Verfügung, um Nachfi-agen mit Mitgliedern der Projektgruppe zu klären. Relativ zur Anzahl der versandten Fragebögen hielten sich die Rückfi-agen in Gren- zen. Sie bezogen sich wie üblich auf Fragen, was das Ganze denn solle, wieso gerade sie ausgewählt wurden und wie wir an ihre Adresse gekommen sind. Am häufigsten wurde ge- fi-agt: "Wie funktioniert das mit dem Los?" Mangels Vergleichsdaten ist es schwierig einzu- schätzen, welche positiven oder negativen Effekte das versprochene Los hatte (vgl. ausf3-r- licher das entsprechende Arbeitspapier: Andreß et al. 1995).

Wir sind davon ausgegangen, daß die namentlich angeschriebene Person sich angesprochen flihlt (Auswahl per Anrede). Das war bei den MA-Daten problemlos, da es sich dabei um eine Personenstichprobe handelt und auch der vollständige Vor- und Zuname vorlag. Anders dagegen bei der DM-Stichprobe: Hier handelt es sich um eine Haushaltsstichprobe, bekannt ist nur der oder die Telefonbesitzerlin. Verglichen mit der MA-Stichprobe haben die DM-

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Adressen zudem die beiden fur uns unerwünschten Eigenschaften, daß sie altersmäßig nicht eingegrenzt sind und Männer deutlich überrepräsentieren (s. Tabelle 1). Um diesen beiden Schieflagen entgegenzutreten, haben wir die Auswahl per Anrede in zweierlei Hinsicht durch folgende Formulierung im Begleitschreiben für die DM-Adressen erweitert: "Der Fragebo- gen wird nur von einem Mitglied ihres Haushaltes ausgefillt. Wenn Sie nicht allein leben, entscheiden Sie, ob Sie selbst oder Ihr Partner b m . lhre Partnerin den Fragebogen ausfüllt." Durch diese Anweisung sollten sich nur erwachsene Personen angesprochen W e n und durch die Öffnung für die Partnerlinnen sollte die Überrepräsentierung der Männer nach unten "komgiert" werden. Auswahltechnisch ist diese Formulierung natürlich ungenau, flir die schriftliche Umfrage haben wir jedoch ganz bewußt eine hoffentlich einladend wirkende, eher alltagsweltliche Formulierung gewählt, um die angeschriebene Person nicht unnötig durch technische Anweisungen abzuschrecken. Wie bereits erwähnt, haben in der Tat nur Personen über 18 Jahre den Fragebogen ausgefillt, wie wir jedoch in Abschnitt 3.4 sehen werden, hat die "Ö&ung" flir die Partner nicht den gewünschten Effekt auf die Geschlech- terverteilung in der DM-Stichprobe gehabt. Ob eine Anweisung, wie sie häufig in Telefo- numfragen zur nifälligen Auswahl der Befragungsperson benutzt wird ("Der Fragebogen soll von der erwachsenen Person beantwortet werden, die zuletzt Geburtstag hatte."), wesentlich bessere Ergebnisse geliefert hatte, kann bezweifelt werden. Ohne weitere Erläuterungen, die man eben im Rahmen schriftlicher Umfragen nur bedingt machen kann, wirkt diese Aus- wahlregel fiir den Adressaten unverständlich und provoziert zusätzliches Mißtrauen.

Die Befragungsunterlagen der DM- und MA-Stichprobe wurden in der 39. Woche des Jahres 1994 verschickt. Die Versendung der SA-Stichprobe zog sich dagegen aus technischen Gründen über einen längeren Zeitraum hin. Abbildung 1 gibt einen Überblick über den zeit- lichen Verlauf des Fragebogenrücklaufs, der allerdings dadurch verzerrt ist, daß einige SA- Stichproben erst später ins Feld gingen. Erkennbar ist der Effekt einer schriftlichen Erinne- rungsaktion, die wir in der 43. Woche durchführten. Allerdings ließ sich der Rücklauf durch die Erinnerung nicht wesentlich steigern, so daß wir, auch wegen der vielen verständnislosen Nachhgen von Untersuchungspersonen, die bereits geantwortet hatten, von weiteren Erin- nerungsaktionen absahen.

Insgesamt konnte mit der DM-Stichprobe eine Rücklaufquote von 20,9 Prozent und mit der MA-Stichprobe eine Rücklaufquote von 23,3 Prozent erzielt werden (vgl. Tabelle 2). Die Rücklaufquoten für die SA-Stichproben sind nicht vergleichbar, da es sich dabei um eine positive Vorauswahl von Sozialhilfe-Empfängern handelte, die bei der Adressengewinnung per Antwortkarte bereits ihre grundsätzliche Teilnahrnebereitschaft erklärt hatten. Insgesamt hatten wir uns natürlich eine höhere Teilnahmequote gewünscht, angesichts der Schwierig- keit der Befragungsihemen (insb. zum Verhalten in ambivalenten Alltagssituationen), der ab-

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schreckenden Wirkung von Fragen nach Einkommen und Lebensstandard (wer berichtet schon gerne über seine finanzielle Situation, zumal wenn sie schlecht ist) und der schwer zu- gänglichen Zielpopulation (unterer Einkornmensbereich und Armutsgruppen) muß man je- doch mit dem erreichten Ergebnis zufrieden sein.

Abbildung 1: Umfragerücklauf nach Kalenderwochen

Fragebögen

Drinversand

39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 1 2 3 4

Woche

Abschließend wollen wir noch kurz über die Kosten der schriftlichen Umfiage informieren, um abzuschätzen, ob die gewählte Befragungsform wirklich sehr viel billiger war als eine mündliche (face-to-face) Befragung. Wir beschränken uns dabei auf die DM-Stichprobe und lassen Kosten für den Druck der Befragungsunterlagen inkl. Materialkosten (Papier, Adreß- aufkleber, Umschläge) außer Acht, da diese bei allen Befragungen, ob mündlich oder schrift- lich, gleichermaßen anfallen.

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Tabelle 2: Feldphase und Rücklaufquoten für die einzelnen Stichproben

Region ~ornrnuneiKKK') versand2) ~ r u t t o ~ ) Nett Quote 0

WesiiStadt Braunschweig KKK 1-4 39 298 74 24,8% Braunschweig KKK 5 39 298 70 23,5% Karlsruhe KKK 1-4 39 298 66 22,1% Karlsruhe KKK 5 39 296 66 22,3%

WesdStadt Insgesamt KKK 1-4 39 596 140 23,5% Insgesamt KKK 5 39 594 136 22,9% Insgesamt 1190 276 23,2%

WestILand Diepholz KKK 1-4 39 296 63 21,3% Diepholz KKK 5 3 9 297 33 11,1% Insgesamt 5 93 96 16,2%

West Insgesamt 1783 372 20,9%

OsiiStadt Maszdeburg. 39 587 121 20.6% HalleISaale 39 599 165 27,5%

OsiiStadt Insgesamt 1186 286 24,1% OstILand Naumburg/Saale 3 9 580 126 21,7% Ost Insgesamt 1766 412 23,3%

Sozialhilfe-Empfänger (SHE) WesiiSHE Bielefeld + Daun 26 121 85 70,2%

Wiesbaden 47 8 1 51 63,0% Offenbach 42 14 10 71,4%

WesiiSHE Insgesamt 2 16 146 67,6% OsiiSHE Schwerin 29 5 5 38 69,1%

Dresden 3 4 65 38 58,5% Leipzig 36 125 71 56,8% F r a n W O d e r 3 8 99 46 46,5% Wittenberg 42 145 78 53,8%

OsiiSHE Insgesamt 489 271 55,4%

1) Kaufkraftklasse; 2) Kalendenvoche 1994; 3) Brutto bereinigt um (wenige) unzustellbare Sendungen.

Die Kosten f i r den Ankauf der Adressen bei der Direktmarketingfinna beliefen sich auf Ca. 1600 DM (fur eine zweimalige Nutzung der Adresse). Für den Versand der Befiagungsunter- lagen und der Erinnerungsschreiben waren Ca. 2250 DM Porti notwendig (Versendung wei-

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testgehend als Infopost). Für die insgesamt 372 zurückgesandten Fragebögen der DM-Stich- probe waren pro Fragebogen 5 DM Loskosten an die Deutsche Fernsehlotterie und Ca. 4 DM Bearbeitungsgebühren an die Mailing-Firma zu überweisen. Legt man alle diese Kosten auf die 372 Fragebögen um, so hat ein verwertbarer Fragebogen der DM-Stichprobe Ca. 19 DM gekostet. (Würde man auch noch die Kosten für die Fragebogenerstellung umlegen, ergäbe sich ein Preis von Ca. 28 DM.) Die Kosten für den Ankauf der MA-Adressen betrugen Ca. 1300 DM, so daß sich hier bei gleichen sonstigen Kosten ein geringGgig niedrigerer Preis pro verwertbarem Fragebogen ergibt.

Auch hier ist der Vergleich mit einer mündlichen Befiagung interessant: Als wir 1991 Ange- bote einschlägiger Umfiageinstitute fur eine 45-60minütige Befragung mit den 0.g. Themen- schwerpunkten einholten, lag der Preis eines Interviews etwa zwischen 140 und 200 DM. Alle Angebote enthielten spezielle Auswahlverfahren zur Überrepräsentation des unteren Einkommensbereichs: Das erklärt die gegenüber üblichen Random-Route-Erhebungen leicht höheren Fallkosten. Dazu wollte Institut A auf eigene Erhebungen aus früheren Jahren zu- rückgreifen, und Institut B wollte dem eigentlichen Interview ein Auswahlinterview vor- schalten. Diese zusätzlichen Kosten sind natürlich bei dem Preisvergleich zu berücksichtigen, genauso wie unsere Personalkosten, die in die Kostenkalkulation der schriftlichen Umfrage nicht eingehen. Von daher relativieren sich die Preisdifferenzen etwas mehr.

3.4 Direktmarketingadressen ergeben Haushaltsstichproben und ü berrepräsentieren Männer

Es ist klar, daß die Überrepräsentation der untersten Kaufkraftklasse in der DM-Stichprobe immer dann kontrolliert werden muß, wenn man verallgemeinernde ("repräsentative") Aus- sagen mit den Daten machen möchte. Diese qua Stichprobendesign in den Daten angelegte Ungleichverteilung kann man durch eine entsprechende Umgewichtung (Designgewichte) ausgleichen. Die Frage ist, ob man auch einige der anderen Unterschiede zwischen den drei Stichproben durch Gewichtung ausgleichen kann und soll.

Wie oben bereits erwähnt, handelt es sich bei den MA-Adressen um eine Stichprobe auf Per- sonenebene, während die beiden anderen Stichproben auf Haushaltsebene gezogen wurden. Bei einer Stichprobe auf Personenebene findet die Auswahl der Befiagungspersonen direkt aus einer Liste dieser Personen statt. Bei der MA-Stichprobe handelt es sich also um eine ein- fache Zufallsauswahl von Personen zwischen 26 und 66 Jahren. Jede dieser Personen hat somit die gleiche Chance, in die Stichprobe zu gelangen. Anders bei der DM-Stichprobe: Macht man die Annahme, daß sich nur Personen über 18 Jahren durch unsere Befiagung an- gesprochen fuhlen, so sinkt die Wahrscheinlichkeit, in die Befiagung zu gelangen, proportio- nal zur Anzahl der Erwachsenen im Haushalt (fur die SA-Stichprobe gilt das gleiche).

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Für Analysen auf Personenebene ist deshalb ein Gewicht erforderlich, das die beiden Haus- haltsstichproben so transformiert, daß die Verteilung der Personen auf unterschiedlich große Haushalte der Auswahlgesarntheit entspricht. Ein solches Gewicht nennt man deshalb Trans- formationsgewicht. Jede Person in der Stichprobe erhält zu diesem Zweck ein Gewicht, das proportional zur Zahl der Erwachsenen in "ihrem" Haushalt ist. Personen aus Haushalten mit nur einem Erwachsenen gehen deshalb mit einem geringeren Gewicht in die Auswertungen ein als Personen aus Haushalten mit mehreren Erwachsenen.

Wie in Tabelle 1 zu erkennen ist, hat sich an der ungleichen Geschlechterverteilung der DM- Stichprobe bei den zurückgesandten Fragebögen nichts wesentliches geändert. Die "Öff- nung" der Befragung für die Partner im Begleitschreiben hat also nicht die gewünschte "Um- verteilung" mgunsten der Frauen zur Folge gehabt. In Bezug auf die Variable "Geschlecht" unterscheidet sich also die DM-Stichprobe ganz wesentlich von den beiden anderen, was ihre Vergleichbarkeit bei Analysen personenbezogener Merkmale erheblich einschrankt, da das Geschlecht eine zentrale Bedingungs- und Moderatorvariable ist. Für Analysen haus- haltsbezogener Merkmale (z.B. Haushaltseinkommen) dürfte dieser Effekt nicht ganz so ver- zerrend wirken, da haushaltsbezogene Variablen auch in anderen Befragungen (z.B. im SOEP) über den Haushaltsvorstand erfaßt werden. Gleichwohl liegt der Gedanke nahe, die schiefe Geschlechterverteilung in der DM-Stichprobe durch ein geeignetes Gewichtungsver- fahren zu "korrigieren".

Solche Verfahren sind unter dem Namen Redressment bekannt und werden in der Fachlitera- tur teilweise sehr kontrovers diskutiert (vgl. z.B. AndreßIPopken 1992; Rothe~Wiedenbeck 1993). Alle diese Verfahren beruhen auf mehr oder weniger komplizierten Verfhen einer SollAst-Gewichtung. Ohne diese Diskussion hier darstellen zu wollen, seien die beiden unse- rer Einschätzung nach wichtigsten Gegenargumente kurz genannt. Zum einen gehen solche Gewichtungsverfahren von der impliziten Annahme aus, daß die Befragungspersonen, deren Anteil in der Stichprobe "hochgewichtet" wird, quasi repräsentativ fur alle Personen mit der gleichen Merkrnalskombination sind. Wird also in der DM-Stichprobe der Anteil der Frauen durch Gewichtung erhöht, so betrachtet man im Ergebnis die in der Stichprobe vertretenen Frauen als repräsentativ für die Grundgesamtheit aller Frauen. Diese Annahme ist jedoch häufig verletzt bzw. sie ist aufgrund fehlender Daten nicht überprüfbar. Bei der DM-Stich- probe ist diese Annahme mit hoher Wahrscheinlichkeit verletzt, denn man kann davon aus- gehen, daß es sich bei den in Telefonbüchern ausgewiesenen Frauen vor allem um alleinle- bende Personen bzw. um Personen mit spezifischen Eigenschaften handelt.

Das zweite Argument gegen Redressmentverfahren bezieht sich auf Unsicherheiten, die durch solche Verfahren in die Analyse eingebracht werden. Durch eine Anpassung der Stich- probe an externe Merkmale erhofft man sich, daß die mit der Gewichtung erzielten Schätzer

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auch für die bei der Gewichtung nicht berücksichtigten Merkmale näher an den "wahren" Werten der Grundgesamtheit liegen als ohne Gewichtung. Auch wenn sich diese Annahme in der Forschungspraxis kaum je überprüfen läßt, da man die "wahren" Werte der Grundge- sarntheit nicht kennt, kann man schon anhand einer einfachen Simulation zeigen (Andreßl Popken 1992), daß unter bestimmten Voraussetzungen sogar Verschlechterungen der Schätzwerte möglich sind. Insbesondere dann, wenn der Teilnahrneprozeß (oder wie in unse- rer Umfrage: der Auswahlprozeß) mit der zu schätzenden Größe zusammenhängt, ist mit sol- chen Verzerrungen zu rechnen. Da das Ausmaß und die Richtung der Verzerrung gerade bei komplizierten Gewichtungen mit vielen externen Merkmalen nur sehr schlecht oder gar nicht abzuschätzen sind, handelt man sich also für den Vorteil möglicher Verbesserungen ein zu- sätzliches Potential an Unsicherheiten ein.

Wollte man in unserem Fall trotz dieser Argumente die sehr schiefe Geschlechterverteilung in der DM-Stichrobe mit einem Redressmentverfahren korrigieren, so würde man dazu eine einfache SolMst-Gewichtung mit nur einem Anpassungsmerkrnal verwenden. In der Ge- samtbevölkerung der Bundesrepublik betrug 1992 der Anteil der Frauen 5 1,47 Prozent und der Anteil der Männer entsprechend 48,53 Prozent (Statistisches Bundesamt 1994: 66, eigene Berechnung). Diese Zahlen stellen das "Soll" der Gewichtung dar, während die tatsächliche Verteilung in der Stichprobe das "Ist" darstellt. Die entsprechenden Gewichte berechnen sich also fur die DM-Stichprobe einfach als Quotient aus Soll und Ist: Wenn man die (design- und transformationsgewichteten) Werte fw die gesamte DM-Stichprobe zugrundelegt, dann erhalten Frauen ein Gewicht von 1,72 (51,47130,O) und Männer ein Gewicht von 0,69 (48,53170,O). Aufgrund der großen Unterschiede wurde diese Gewichtung tatsächlich jedoch getrennt für die drei Kommunen und differenziert nach Kaufkraftklassen durchgeflhrt.

Um die Einflüsse der Design-, der Transformations- und der Redressmentgewichte auf prak- tische Datenanalysen zu veranschaulichen, soll abschließend der Einfluß verschiedener Va- riablen auf das Haushaltsnettoeinkommen im Rahmen eines multiplen Regressionsmodells mit Dummy-Variablen untersucht werden. Als Datengrundlage verwenden wir nur die MA- und die DM-Stichprobe. Die Hypothese, die beispielhaft getestet werden soll, läßt sich wie folgt in Worte fassen: Das Nettoeinkommen eines Haushaltes (HHEINK) steigt mit der Haushaltsgröße und dem Alter der Befiagungsperson (ALTER). Gleichzeitig liegt es bei männlichen Befi-agungspersonen (MANN=l) höher als bei weiblichen (MANN=O) und im Osten (OST=l) niedriger als im Westen (OST=O). Formal ergibt sich aus diesen Überlegun- gen folgende Regressionsgleichung:

HHEINK = a + ßlHHGR + ß2ALTER + ß3MANN + ß40ST

Es wurden drei Regressionsmodelle geschätzt, in denen nacheinander die verschiedenen Gewichte berücksichtigt wurden (zu den Einzelheiten der Berechnung der Gewichte vgl.

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Lipsmeier 1995). Die Ergebnisse finden sich in Tabelle 3. Der Anteil erklärter Varianz be- trägt in allen drei Modellen Ca. 20 Prozent und alle Regressionskoeffizienten mit Ausnahme des Alterseffektes sind auf dem 1%-Niveau signifikant. Betrachtet man zunächst die Ergeb- nisse der ungewichteten Schätzung (Modell I), so ist festzustellen, daß sich die oben formu- lierte Hypothese über den Zusammenhang der Variablen weitgehend bestätigt. Alle geschätz- ten Effekte weisen in die erwartete Richtung.

Ein Vergleich zwischen der ungewichteten Schätzung und der Schätzung mit Design- und Transformationsgewichten (Modell 2) zeigt die deutlichsten Unterschiede bei der Regres- sionskonstanten und bei dem Einfluß des Ost-Dummys: beide nehmen deutlich zu. Dieses dürfte im wesentlichen durch die mit der Designgewichtung erfolgte Korrektur der Überre- präsentation des unteren Einkommensbereiches in der DM-Stichprobe (West) zu erklären sein: Haushalte aus der niedrigen Kaufkrafiklasse gehen mit einem geringeren Gewicht in die Auswertungen ein, was zur Folge hat, daß in dieser DM-Stichprobe das Durchschnittsein- kommen steigt. Das erklärt sowohl die höhere Konstante als auch den größeren Unterschied zwischen Ost und West.

Tabelle 3: Wirkung verschiedener Gewichtungsverfahren auf eine Einkomrnensschätzung

Modell 1 : ungewichtete Schätzung; Modell 2: Design- und Transformationsgewichte; Modell 3 : Design-, Transformations- und Redressmentgewichte.

Effekt

Konstante

Haushaltsgröße

Alter

Mann

Ost

R~

N

Wird zusätzlich noch das oben beschriebene Redressmentgewicht verwendet (Modell 3), so nehmen die geschätzte Konstante sowie der OsWest-Effekt wieder ab und der Einfluß des Geschlechts nimmt zu. Durch das Redressment wird also der Einkommensunterschied zwi- schen Männern und Frauen stärker abgebildet. Wenn man sich weiterhin daran erinnert, daß dieses Gewicht nur in der DM-Stichprobe (West) verwendet wird, ist weder die Abnahme der

Modell 1

1447,75

714,13

8,04

367,09

-405,83

19,0%

755

Modell 2

2 185,75

634,96

2,18

292,35

-630,55

17,3%

755

Modell 3

1834,43

683,43

4,29

386,49

-547,82

18,5%

5 80

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Andreß/Lipsmeier/Salentin: Erfahrungen mit Direktmarketingadressen 183

Konstanten, noch das Sinken des Ost/West-Effektes verwunderlich, da durch die Höherge- wichtung einer Gruppe mit niedrigerem Einkommen in der West-Stichprobe das Durch- schnittseinkommen sinken muß und somit auch die Ost/West-Unterschiede wieder geringer werden müssen.

3.5 Ü berrepräsentation des unteren Ein kommensbereiches? Abschließend verbleibt die Frage, ob die Überrepräsentation des unteren Einkommensberei- ches gelungen ist. Das Netto-Haushaltseinkommen wurde in unserer Umfrage ähnlich wie im ALLBUS in klassifizierter Form abgefragt. Für die folgende Durchschnittsbetrachtung wur- den jeweils die Klassenmitten zugrundelegt. In Tabelle 4 wird für jede der drei Kommunen das arithmetische Mittel und der Median in der untersten und in den vier anderen Kaufkraft- klassen ausgewiesen. Der Einkommensabstand beträgt in den beiden Städten Ca. 1000 DM und in Diepholz 500-600 DM. Eine Selektion nach den Kaufkraftklassen des Adreßlieferan- ten liefert also deutlich unterschiedliche Netto-Haushaltseinkommen.

Allerdings ist das Haushaltseinkommen nicht immer ein geeigneter Indikator für die Wohl- fahrtsposition der in dem Haushalt lebenden Personen, denn es vernachlässigt die Frage, wieviele Personen sich dieses Einkommen "teilen" müssen. Um Personen aus unterschiedlich großen Haushalte miteinander vergleichen zu können, betrachtet man in der Regel Pro-Kopf- Einkommen, wobei durch geeignete Gewichtung die ökonomischen Vorteile gemeinsamen Wirtschaftens (economies of scale) und die unterschiedlichen Einkommensbedarfe bei- spielsweise alter und junger Personen berücksichtigt werden. In der bundesdeutschen Ar- mutsforschung ist eine Gewichtung mit den Regelsatzproportionen der Sozialhilfe üblich (vgl. Hauser et al. 198 1). Betrachtet man die entsprechenden Durchschnittswerte in Tabelle 4, dann sind Unterschiede zwischen den Kaufkraftklassen nur noch in Braunschweig erkennbar, in Karlsruhe sind sie marginal und in Diepholz haben sie sich umgekehrt. Da bei der Defini- tion von (relativen) Armutsgrenzen in der Regel die bedarfsgewichteten Pro-Kopf-Einkom- men verwendet werden, fGhrt die Selektion nach Kaufkraftklassen nur teilweise zu einer Überrepräsentation einkommensarmer Personen.

Die Erklärung fi dieses Phänomen findet sich ebenfalls in Tabelle 4: In allen drei Kommu- nen finden sich in den Kaufkraftklassen 1-4 durchschnittlich größere Haushalte und ältere Personen. Letztere erzielen in der Regel ein höheres persönliches Einkommen, was die ins- gesamt höheren Haushaltseinkommen erklärt, jedoch werden die Pro-Kopf-Einkommen durch die größere Zahl zu "versorgender" Personen wieder nach unten korrigiert. Da die Kaufkraftklassen des Anbieters auf einer Klassifikation von Gebäuden und Wohngebieten beruhen, wäre zu prüfen, ob die Kaufkraftklassen nicht eher verschiedene Haushaltstypen selektieren als Personengruppen mit unterschiedlichen Armutsrisiken. Umgekehrt wäre aber

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auch zu fragen, ob die bedarfsgewichteten Pro-Kopf-Einkommen ein valider Einkommens- indikator sind.

Tabeile 4: Nettohaushaltseinkommen und bedarfsgewichtete Pro-Kopf-Einkommen in den einzelnen Teilstichproben

Kommune Karlsruhe Braunschweig Diepholz

Kaufkraftklasse 1-4 5 1-4 5 1-4 5

HH-Einkommen')

Durchschnitt 4908,71 3933,21 4144,29 3285,35 4284,47 3668,lO

Std.abweichung 3 171,30 1276,35 2206,3 1 135 1,32 2932,99 742,OO

Median 3750,OO 2750,OO 3750,OO 2750,OO 3750,OO 3250,OO

Quartilsabstand 3500,OO 1900,OO 2900,OO 2250,OO 1750,OO 1900,OO

N 63 65 7 1 67 60 3 1

pro-~o~f-Einkommen2)

Durchschnitt 2094,OO 2054,96 20 12,O 1 17 16,38 1794,78 1869,26

Std.abweichung 1221,18 557,08 952,56 701,64 1135,43 461,3 1

Median 2000,OO 1833,33 2000,OO 1630,44 1805,56 1805,56

Quartilsabstand 1111,ll 1444,44 1180,56 1246,lO 1011,34 1438,89

H H - G ~ Ö ~ ~ ~ ' 2,73 2,28 2,59 2,3 1 3,Ol 2,7

~ l t e ? ) 45,37 40,41 46,04 42,53 49,08 50,19

1) Netto. 2) Bedarfsgewichtet gemäß Regelsatzproportionen der Sozialhilfe. 3) Durchschnitt. Ergebnisse design- und transformationsgewichtet.

4. Fazit

Als Meines Fazit wollen wir die Vor- und Nachteile von Direktmarketingadressen aufgnind unserer Erfahrungen zusammenfassen. DM-Adressen erlauben eine einfache und schnelle Abwicklung schriftlicher Umfragen (insbesondere in Kooperation mit Mailing-Firmen). Da- bei ergeben sich deutlich geringere Kosten als bei anderen Befragungsformen. Das Adreßma- terial kann aber auch für telefonische und mündliche Umfragen verwendet werden. Eine Se- lektion nach Kaufkraftklassen lieferte in unserem Fall eine Überrepräsentation niedriger Haushaltseinkommen. Die Frage, ob damit auch die gewünschte Überrepräsentation ein-

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Andreß/Lipsrneier/Salentin: Erfahrungen mit Direktmarketingadressen 185

kommensarmer Personen verbunden ist, konnte aufgrund der weniger deutlichen Unter- schiede bei den bedarfsgewichteten Pro-Kopf-Einkommen nicht eindeutig beantwortet wer- den. Ob eine Selektion nach anderen sozio-demographischen Merkmalen (z.B. nach dem Alter) ebenfalls zu einer Überrepräsentation der entsprechenden Gruppen fiihrt, wurde im Rahmen dieser Untersuchung nicht geprüft.

Nachteilig ist sicherlich die nicht vollständige Ausschöpfung aller Haushaltsadressen einer Kommune durch das Telefonbuch. Je nach Kommune war die Abweichung zwischen der Anzahl der Haushalte und der Anzahl der Telefonadressen zum Teil erheblich. Welche sozio- demographischen Gruppen dabei ausgeschlossen werden, konnte nicht geprüft werden. Auch läßt sich nicht abschätzen, wieviele Adreßausfalle beim Adreßanbieter selbst anfallen (z.B. durch den Ausschluß von Geschäfisadressen oder den Ausschluß von Adressen wegen feh- lender Zuordnung externer Daten). Auch zeigt das Adreßmaterial eine deutliche Überreprä- sentation der Männer: Auf zwei Männer kommt weniger als eine Frau! Schließlich sei auch darauf hingewiesen, daß die Unterlagen der geprüften Direktmarketing-Firmen mehr den Charakter von Werbebroschüren haben, so daß eine unabhängige Prüfung der Angebote und Adreßbestände - zu der wir dringend raten - nach wissenschaftlichen Kriterien nicht immer leicht fallt. Viele wichtige Details konnten erst bei Vorliegen der Adressen und dann auch nur auf persönliche Nachfrage geklärt werden.

Eine abschließende Wertung der Vor- und Nachteile fallt angesichts fehlender Vergleichsda- ten nicht ganz leicht. Der Männerbias ist aus unserer Sicht kein schwerwiegendes Problem, denn die Überrepräsentation bei den Telefonanmeldungen läßt sich durch geeignete Aus- wahlregeln in der Feldarbeit ausgleichen. Das ist besonders einfach bei Telefon- und mündli- chen Umfragen. Im Rahmen unserer schriftlichen Umfi-age wollten wir die Befragten damit nicht zusätzlich belasten, prinzipiell wären solche Auswahlregeln aber auch bei schriftlichen Umfragen möglich, jedoch sind sie dort kaum zu kontrollieren. Viel problematischer scheint uns die unklare Ausschöpfung der Grundgesamtheit aller Haushalte zu sein: Sie schränkt die Repräsentativität der Adreßdaten erheblich ein. Wenn stattdessen kleinräumige Regionalda- ten (unabhängig von Adressen) tur die Forschung zugänglich wären, könnte man die Selek- tion auch an Hand eigener Adressen (2.B. der Meldeämter) vornehmen, vorausgesetzt, die Adressen lassen sich den Raumeinheiten der Mikrodatenbasis zuordnen. Eine solche Daten- basis wird beispielsweise vom Institut für angewandte Sozialwissenschaft (Bonn-Bad Go- desberg) u.a. auf Wahlkreisebene zur Verftigung gestellt (Infas 0.J.). Die Nutzung dieses so- genannten Local-Systems von Infas ist jedoch wiederum eine Kostenfrage.

Kritisch muß natürlich auch gefragt werden, ob eine Überrepräsentation des unteren Ein- kommensbereiches nicht auch auf einfacheren Wegen und mit weniger Adreßausfallen erzielt werden kann. Mangels Vergleich können wir diese Frage nicht beantworten, es wäre jedoch

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denkbar, daß man das gleiche Ergebnis auch mit den in Abschnitt 2 beschriebenen internen Anreicherungsverfahren erzielt hätte. Da dabei keine externen Daten notwendig sind, erge- ben sich natürlich auch keine Ausfalle durch die Zusammenführung von Mikro- und Adreß- daten. Verwendet man jedoch solche regionalisierten Mikrodaten, dann wäre zu prüfen, ob vielleicht andere als die verwendeten Indikatoren die unteren Einkommensschichten und ins- besondere Personen mit hohen Armutsrisiken besser selektiert hätten. Um diese Fragen zu beantworten, sind weitere Forschungen über den Zusammenhang zwischen sozio-demogra- phischen Raurnindikatoren und Armutsrisiken der Wohnbevölkerung notwendig.

Pro$ Dr H.J. Andreß Universität Bielefeld FakultätJur Soziologie Postfach 1001 31 33501 Bielefeld

Anmerkungen *) Die in diesem Beitrag beschriebenen Forschungen wurden von der Deutschen For- schungsgemeinschafi finanziert (Aktenzeichen AN2 1011 -2).

1) Nach Erfahrungen mit empirischen Studien verschiedener Institute liegt die Telefon- dichte im Frühjahr 1995 in Ostdeutschland bei 50-60 Prozent (Anmerkung eines anonymen Gutachters).

Literatur Andreß, H.J., 1993: Zur Erreichbarkeit von Privathaushalten im unteren Einkommensbereich mit schriftlichen Befragungen. Eine Fallstudie in Bielefeld und Halle an der Saale. Bielefeld: Arbeitspapier Nr. 4 des DFG-Projektes "Versorgungsstrategien privater Haushalte im unteren Einkommensbereich".

Andreß, H.J./Lipsmeier, G./Salentin, K., 1995: Bevölkerungsumfi-agen im unteren Einkom- mensbereich: Erfahrungen mit Direktrnarketingadressen. Bielefeld: Arbeitspapier Nr. 19 des DFG-Projektes "Versorgungsstrategien privater Haushalte im unteren Einkommensbereich".

Andreß, H.J./Popken, H. 1992: Bessere Ergebnisse durch Gewichtung? S. 221-242 in: H.J. Andreß et al. (Hrsg.), Theorie, Daten, Methoden: neuere Modelle und Verfahren in den So- zialwissenschafien - Theodor Harder zum sechzigsten Geburtstag. München: Oldenburg.

Hauser, R./Cremer-Schefer, H./Nouvertnk, U., 1981 : Armut, Niedrigeinkommen und Unter- Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland. Bestandsaufnahme und sozialpolitische Per- spektiven. Frankfurt: Campus.

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Andreß/Lipsmeier/Salentin: Erfahrungen mit Direktmarketingadressen 187

Hauser, R./Neumann, U., 1992: Armut in der Bundesrepublik Deutschland. Die sozialwis- senschaftliche Thematisierung nach dem Zweiten Weltkrieg. S. 237-271 in: Leibfiied, S.1 Voges, W. (Hrsg.), Armut im modernen Wohlfahrtsstaat. Sonderheft 32 der Kölner Zeitschrift f i r Soziologie und Sozialpsychologie.

Hill, M.S., 1992: The Panel Study of Income Dynamics - A user's guide. Newbury Park: Sage.

Institut für angewandte Sozialforschung (INFAS), 0.J.: Mikrogeographische Analyse und Bearbeitung des Marktes. Eine Kurzdarstellung zu Konzept, Datenbasis, Methoden und Vor- gehensweise. Bonn: unveröff. Manuskript.

Koch, A./Gabler, S.Braun, M., 1994: Konzeption und DurchfGhrung der "Allgemeinen Be- völkerungsumfage der Sozialwissenschaften" (ALLBUS) 1994. Mannheim: Arbeitsbericht 9411 1 des Zentrums f i r Umfiagen, Methoden und Analysen e.V.

Leibfiied, S.Noges, W., 1992: Vom Ende einer Ausgrenzmg? - Armut und Soziologie. S. 9- 33 in: Leibfiied, S.Noges, W. (Hrsg.), Armut im modernen Wohlfahrtsstaat. Sonderhefi 32 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie.

Lipsmeier, G., 1995: Zur Gewichtung von Umfiagedaten bei heterogenen Stichprobenplänen am Beispiel der Umfage "Alltag in Deutschland". Bielefeld: Arbeitspapier Nr. 18 des DFG- Projektes "Versorgungsstrategien privater Haushalte im unteren Einkornmensbereich".

Projektgruppe Panel, 1993: Das ~ozio-Ökonomische Panel (SOEP) nach zehn Jahren. Vier- teljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 1-2.

Rothe, G./Wiedenbeck, M. 1993: Stichprobengewichtung: Ist Repräsentativität machbar? S. 46-6 1 in: Gabler, S./Hoffmeyer-Zlotnik, H.P./Krebs, D. (Hrsg.), Gewichtung in der Umfiage- praxis. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Salentin, K., 1 994: Direktrnarketingadressen für Umfragezwecke? ZUMA-Nachrichten 3 5 : 54-65.

Townsend, P., 1979: Poverty in the United Kingdom. A survey of household resources and standards of living. Harrnondsworth.

Statistisches Bundesamt 1994: Statistisches Jahrbuch 1994. Stuttgart: Kohlharnmer.

Zentralarchiv (ZA) für empirische Sozialforschung an der Universität Köln, 1994: Allge- meine Bevölkerungsumfiage der Sozialwissenschaften - Codebuch ZA-Nr. 2400. Köln.

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188 ZUM-Nachrichten 3 7, Jg. 19, November 1995

SCHENKUNG AN DIE WISSENSCHAFT

G FM-GETASIWBA hat zu seinem 50jährigen Jubiläum einen Studienpreis über fünf sozialwissenschaftliche Forschungsprojekte gestiftet. Der Preis beinhaltet die

kostenlose Organisation und Durchführung sozialwissenschaftlicher Studienprojekte in Form bundesweiter repräsentativer 15-Minuten-Beteiligungen am gemeinsam mit ZUMA durchgeführten Sozialwissenschaften-Bus. Die jeweilige Umfrage umfaßt 15 Minuten Befragungszeit bei 1000 Befragten in den alten und 500 Befragten in den neuen Bundesländern. Es wird jeweils ein Forschungsprojekt in den Jahren 1996, 1998, 2000,2002 und 2004 ausgeschrieben.

An der jeweiligen Jahresausschreibung teilnehmen können Angehörige von Hochschulen und universitätsnahen Institutionen aus unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Forschungsbereichen, wie z.B. der Familiensoziologie, der Religionssoziologie, der Stadt- und Regionalsoziologie, aber auch aus anderen Gebieten. Gefordert werden sollen nicht zuletzt Vorschläge, die eine längsschnittliche Perspektive aufweisen, also auch an in der Vergangenheit bereits erhobene Fragestellungen und Fragen anknüpfen. Beiträge zu wohlbegründeten neuen Problemstellungen sind jedoch ebenfalls willkommen.

Die Bewertung der in den jeweiligen Jahresausschreibungen eingereichten Untersu- chungsvorhaben und damit die Auswahl der Preisträgerinldes Preisträgers des jeweili- gen Jubiläums-Studienpreises übernimmt in der Funktion als Jury und wissenschaftli- cher Beirat ein Gremium von Sozialwissenschaftlern unter Vorsitz von Prof. Dr. Max Kaase (WZB Berlin). Verantwortlich in der GFM-GETASIWBA ist Barbara L. von Harder, Geschäftsführerin und Leiterin des Bereiches Sozial- und Gesellschaftsfor- schung. Für die Betreuung des Sozialwissenschaften-Bus und für eventuelle Rückfra- gen bei ZUMA ist Dr. Jürgen H.P. Hoffmeyer-Zlotnik zuständig (Tel.: 062 1 - 1246- 175), bei GFM-GETASIWBA übernimmt Frau Sabine Haars (Tel.: 040-80096-130) die spä- tere Projektbetreuung.

Der Vorschlag soll auf maximal fünf Seiten (30 Zeilen, 60 Anschläge) eine theoretische Grundlegung der Thematik und die Einordnung in die wissenschaftliche Diskussion/ Literatur vornehmen. Besonders begrüßt wird, wenn dem Vorschlag bereits ein Entwurf der zur Einschaltung vorgesehenen Fragen beigefügt ist.

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Mitteilungen 189

I P S O S I P S O S

17 n= 1.000 West, n= 500 Ost

Wissenschaftliche Auswahl-Jury und Beirat

Die Bewertung der in den jeweiligen Jahresausschreibungen eingereichten Untersuchungsvorhaben und damit die Auswahl der Preisträger des Jubiläums-Studien-Preises übernimmt, unter Vorsitz von Prof. Dr. Max Kaase (WZB, Berlin), ein mit acht Mitgliedern besetztes Professoren-Gremium

17 Verantwortlich in der GFM-GETASNBA: Barbara L. V. Harder

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190 ZUM-Nachrichten 3 7, Jg. 19, November 1995

Die Kommission wird spätestens vier Wochen nach Eingang der Vorschläge über diese entscheiden und umgehend die Teilnehmer an der Ausschreibung sowie die Veranstal- ter des Sozialwissenschaften-Bus über ihre Entscheidung informieren. Der Zuschlag ist an die Bedingung geknüpft, daß spätestens zwei Jahre nach der Datenerhebung die Studie mit der notwendigen Dokumentation dem Zentralarchiv für empirische Sozial- forschung an der Universität zu Köln für die kostenlose Weitergabe an die Gemein- schaft der Sozialwissenschaftler zur Verfügung gestellt wird. Es versteht sich von selbst, daß in den Publikationen, die auf diesen Daten beruhen, auf den Entstehungs- kontext hingewiesen wird und das GFM-GETASIWBA jeweils ein Belegexemplar er- hält.

Die Ausschreibungsfrist für die Jahresausschreibung 1996 endet am 3 1. Januar 1996. Ihren Vorschlag senden Sie bitte in zehnfacher Ausfertigung an Prof. Dr. Max Kaase, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Reichpietschufer 50, D-10785 Ber- lin.

Die Preisträgerinlder Preisträger wird bis Anfang März 1996 ermittelt und benachrich- tigt. Die Datenerhebung geschieht über eine Einschaltung in den Sozialwissenschaften- Bus 211996 mit Pretestbeginn am 25.03.96. Nähere Einzelheiten zum Sozialwissen- schaften-Bus entnehmen Sie bitte dem entsprechendem Beitrag in diesem Heft.

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Mitteilungen 191

TERMINE UND PREISE

I n gemeinsamer Verantwortung von ZUMA und GFM-GETAS (Hamburg) wird drei- mal jährlich der Sozialwissenschaften-Bus durchgeführt. Diese 1985 als sozialwissen-

schaftliche Mehrthemenumfrage eingerichtete Umfrage bietet die Möglichkeit, kleinere Forschungsvorhaben mit begrenztem Themenkatalog (bis hin zur Einschaltung von Ein- zelfragen) mit hohem methodischem Anspruch hinsichtlich der Stichproben- und Daten- qualität zu realisieren.

Der in der Tradition des ZUMA-BUS stehende Sozialwissenschaften-Bus hat folgende Besonderheiten gegenüber den herkömmlichen Mehrthemenumfragen der Umfrageinsti- tute:

Durch die Spezialisierung auf sozialwissenschaftliche Fragestellungen wird eine zu große Fragenheterogenität im Interviewablauf vermieden. Als Statistik wird das "Grundmodul" der ZUMA-Standarddemographie erhoben. Da- durch ist eine den höheren Anforderungen der Sozialwissenschaften angemessene Auswertung möglich. Durch wahlweise Erweiterung der Standarddemographie um Spezialmodule kann der Forscher den Statistikteil um von ihm zusätzlich benötigte Demographieteile erwei- tern. Durch eine Rekodierung auf die Deutschen Demographischen Standards, zu denen die ZUMA-Standarddemographie kompatibel ist, ist der nationale Vergleich zu vie- len Datensätzen der Sozial- und Marktforschung sowie zur amtlichen Statistik ge- geben. Anders als bei den üblichen Buseinschaltungen findet vor Beginn des Hauptfeldes ein Pretest statt. Es werden jeweils 20 Interviews in West und Ost durchgeführt und ein Pretestbericht erstellt. Für die Durchführung der Feldarbeit gelten dieselben Erhebungsmodalitäten wie für methodisch anspruchsvolle sozialwissenschaftliche Exklusiv-Erhebungen. Durch Feldkontrollen und Datenbereinigung in einem bei Mehrthemenumfragen nicht branchenüblichen Ausmaß wird eine außergewöhnlich hohe Datenqualität ge- währleistet. Der SOZIALWISSENSCHAFTEN-BUS kann auch als Ausgangsstichprobe für Längsschnittstudien oder für vertiefende schriftliche oder telefonische Folgebefra- gungen genutzt werden, ebenso als Erhebungsinstrument für längerfristige Trendrei- hen.

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192 ZUM-Nuchrichten 37, Jg. 19, November 1995

Technische Daten

Grundgesamtheit: In Privathaushalten lebende wahlberechtigte Bevölkerung. Stichprobengröße (Standard): Zeitgleich in West und Ost durchgeführte Repräsen- tativ-Erhebungen mit 2.000 Fällen West und 1.000 Fällen Ost. Stichproben-Auf- stockungen und Teilbelegungen möglich. Stichprobe/Auswahlverfahren: Je 1.000 Interviews: Einsatz eines ADM-Stichpro- bennetzes mit jeweils 2 10 Sample-Points. Auswahl der Befragungshaushalte nach streng geregeltem Random-Route, Auswahl der Befragungsperson im Haushalt durch Schwedenschlüssel-Verfahren. Erhebungsmethode: Mündliche Interviews. Feldarbeit: Pro Untersuchungsgebiet und entsprechend Stichprobengröße: Einsatz von 200 bis 400 Interviewern der GFM-GETAS, mit Erfahrung in der Durchführung sozialwissenschaftlicher Forschungsprojekte. Ergebnisse: Die Daten werden in Form eines bereinigten Datensatzes (iterativ ge- wichtet) auf Diskette entweder als ASCII - oder SPSS-System-Datei (gegen Aufpreis mit Werte-Etiketten) übergeben. Zusätzlich wird ein ausführlicher Methodenbericht über alle Einzelheiten der technischen Studiendurchführung erstellt. Sonderwünsche/ModifiPtationen: Auftragsspezifische Sonderwünsche, wie 2.B. Stichprobenenveiterungen (Regionale Aufstockung, Herabsetzung der unteren Al- tersgrenze u.a.), oder eine Ergänzung des mündlichen Interviews mit schriftlichem Zusatzbogen oder die Übernahme von Auswertungsarbeiten (Grundauswertung und weiterführende Analyseverfahren, 2.B. multivariate Auswertungen, sowie graphische Ergebnispräsentationen) und andere Spezifikationen können gegen gesonderte Rech- nungstellung erfolgen.

Preise Sozialwissenschaften-Bus 1996

Die Abrechnung für die einzelnen Einschaltungen erfolgt nicht nach Anzahl und Art der Einzel-Fragen, sondern nach dem insgesamt vorgesehenen resp. benötigten Befragungs- Zeitaufwand für den gesamten Einschaltkomplex. Der von uns zugrunde gelegte Minu- ten-Preis entspricht dabei im Mittel einem Fragenpreis von 2.100 Mark in einer 2.000er Stichprobe. In diesem Preis ist bereits eine dem Gesamtaufwand der Einschaltung nor- malerweise entsprechende Anzahl von Befragungshilfen (z.B. Listen, Kärtchenspiele, Skalenvorlagen) eingeschlossen. Allen Preisen ist die gesetzliche Mehrwertsteuer hinzu- zurechnen. Andere Stichprobenmodifikationen sowie die Einschaltung von Einzelfragen werden nach Aufwand kalkuliert. Bei Mehrfacheinschaltungen ist ein Sonderrabatt mög- lich.

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Mitteilungen 193

Kosten pro Minute bei einem unter 15 Minuten Einschalt-Umfang von .. .. . 15 Minuten und mehr

Belegung Gesamt-Bus, n = 3.000 (n = 2.000 Westln = 1.000 Ost) 6.450 DM 6.150 DM

Sonderbelegungen n = 2.000 in nur einem Teilgebiet 4.250 DM 3.995 DM n = 1.000 in nur einem Teilgebiet 2.995 DM 2.900 DM

Im Preis sind folgende Leistungen enthalten:

Die Beratung bei der Fragenkonstruktion. Die Nutzung des Grundmoduls der ZUMA-Standarddemographie. Pretestdurchführung und - auswertung. Schreiben und Druck der Befragungsunterlagen. Durchfiihrung der Feldarbeit inclusive lnterviewerkontrollen. Datenerfassung und -bereinigung. Übergabe der analysefahigen, iterativ gewichteten Datensätze wahlweise auf Ma- gnetband oder auf Diskette entweder als ASCII- oder SPSS-System-Datei (gegen Aufpreis mit Werte-Etiketten). Methodenbericht. Zusätzliche Designwünsche wie Splits, aufwendiges Vorlagematerial, postalische Zusatzbearbeitung etc., sowie die Texterfassung, das Kopieren oder die Vercodung von offenen Fragen oder Berufsangaben können gegen gesonderte Rechnungsstel- lung jederzeit eingerichtet werden.

Termine

Bus 1/96 Bus 11/96 Bus 111196

Pretestbeginn: 16.01.96 25.03.96 02.09.96 Hauptfeldbeginn: 04.03.96 13.05.96 16.10.96 Hauptfeldende: 18.04.96 21.06.96 06.12.96 Datenauslieferung : 10.05.96 17.07.96 30.12.96

Der letzte Abgabetermin für die einzuschaltenden Fragen ist jeweils vier Wochen vor Pre- test-Termin, bei Verzicht auf eine ~retest-Überprüfung 14 Tage vor Beginn des Hauptfel- des.

Zuständig für Anfragen und Beratung: Dr: Jürgen H.P Hoflmeyer-Zlotnik, ZUMA, Mannheim, Tel.: 062 1 - 1246- 175. Sabine Haars, GFM-GETAS, Hamburg, Tel.: 040-80096-130.

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194 ZUM-Nachrichten 3 7, Jg. 19, November 1995

D er Klappentext verspricht "eine systematische Einführung in die

Theorien und Forschungsergebnisse der Stadtsoziologie".

JURGEN FRIEDRICHS "Stadtsoziologie"

Opladen: Leske + Budrich, 1995 182 Seiten. 24,80 Mark ISBN 3-8 100-1409-5

Eine systematische Einführung ist das vorliegende Buch nicht, es ist eine "Fort- führung" in "zentrale Theorien und Pro- bleme der Stadtsoziologie" (S. 13). Der Autor selbst betrachtet sein Buch ,,Stadt- soziologie" als eine "Fortführung" des von ihm 1977 vorgelegten Buchs "Stadtana- lyse" (S. 13).

In der „Stadtsoziologie" werden eine interessante Auswahl aktueller Probleme und Forschungsergebnisse anhand neuerer Literatur und einer Vielzahl von empiri- schen Befunden vorgestellt und diskutiert. Der zentrale Untersuchungsgegenstand ist die Analyse von sozial-räumlicher Diffe- renzierung. Der Autor betrachtet diesen Untersuchungsgegenstand auf drei analy- tischen Ebenen:

Auf der Makroebene von Gesellschaft und Stadt wird das analytische Instru- mentarium vorgestellt.

Auf einer Mesoebene werden die Pro- zesse von Entwicklung und Wandel von Stadtteilen und Quartieren disku- tiert. Auf der Mikroebene wird das Handeln von Individuen in der Stadt und deren Interagieren in Netzwerken analysiert.

Als Auftakt wird zunächst mit dem Nachvollziehen des Weges über die ge- sellschaftliche Arbeitsteilung und der daraus folgenden sozialen Differenzierung bis zu einem "urban mosaic" der Rahmen für die Analyse gespannt. Es folgt auf der Makroebene die Diskussion der Dimen- sionen der Analyse und ein Vorstellen des analytischen Instrumentariums, bestehend aus den Theorien der Stadtentwicklung, den Modellen der Stadtstruktur und der Verteilung von Nutzungen und Bevölke- rungsgruppen. Auf der zweiten Ebene, bei der Analyse von Prozessen des Struktur- wandels und des kleinräumigen Heraus- bilden~ dominanter bis homogener Bevöl- kerungsgruppen, wird ein Versuch der Verbindung von Makro- und Mikroebene unternommen: Die Prozeßanalyse erfor- dere sowohl die Korrelation von aggre- gierten Individualmerkmalen mit aggre- gierten Merkmalen der Wohnumwelt als auch Hypothesen über das Verhalten von Individuen. Auf dieser Ebene werden unter dem Oberthema "Struktur und Wan-

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Publikationen

del städtischer Teilgebiete" die Prozesse von Segregation, Suburbanisierung und spezielle Prozesse des Wandels wie Inva- sion-Sukzession, Gentrification und Zen- tralisierung vs. Dezentralisierung disku- tiert. Neben den theoretischen Erörterun- gen unter Berücksichtigung weniger zen- traler "Klassiker" und einer breiteren Auf- arbeitung neuer Literatur wird vor allem immer wieder auf empirische Untersu- chungen eingegangen und die Argumen- tation mit Daten unterlegt. Die Masse des hierbei verwendeten empirischen Materi- als stammt aus Projekten des Autors und seines näheren Umfeldes. Dadurch wer- den die Daten integrierter Bestandteil der Argumentation und belegen für den Leser nachvollziehbare Strukturen des eigenen Lebensraumes.

Die dritte Analyseebene wendet sich mikrosoziologischen Ansätzen zu. Diese Analyseebene findet man in der Stadtso- ziologie selten, geht es in der Regel doch um die Analyse von Aggregaten. Da aber Individuen ebenso Gegenstand der Ana- lyse, und "Prozesse der Stadtentwicklung auch durch individuelles Handeln zu er- klären" seien, daher würden individuali- stische Theorien benötigt (S. 143). Auf der Suche nach diesen individualistischen Theorien kehrt Friedrichs zunächst zu den Klassikern Simmel und Wirth zurück und analysiert derm Abhandlungen über das Verhalten von Individuen und den Bedin- gungen für deren Handeln. Als einen ak- tuellen Ansatz zur mikrosoziologischen Analyse des Verhaltens von Individuen im Raum "Stadt" wird im abschließenden

Kapitel die Netzwerkanalyse mit ihrem aktuellen Forschungsstand vorgestellt.

Hinter der vorliegenden "Stadtsozio- logie" stehen zwei zentrale Fragestellun- gen: (1) Wie sind die Prozesse der sozial- räumlichen Differenzierung zu erklären und darüber ein Strukturwandel der Stadt zu prognostizieren? Wie wichtig eine Antwort auf diese Frage ist, demonstriert Friedrichs mit einigen ausführlichen Standortbeschreibungen der Situation in ostdeutschen Städten. (2) Wie ist eine Ver- bindung von Aggregat- und Individual- ebene bei der Analyse von "Stadt" herzu- stellen?

Die "Stadtsoziologie" ist damit keine Einführung, sondern sie erfordert vom Leser ein gewisses Maß an Vorwissen - manche Passagen des Buches sind in der Kürze der Darstellung ohne die Begleit- lektüre der "Stadtanalyse" oder einer ent- sprechenden Lektüre nur schwer ver- ständlich. Die Argumentation, die sich auf eine Fortführung der "Stadtanalyse" unter dem Aspekt der oben genannten beiden Fragestellungen bezieht, ist ausführlich und über aktuelle Befunde neuerer Litera- tur und der Ergebnisse vielfältiger For- schungsprojekte des Autors auch mit em- pirischen Daten gut belegt. Damit ist die "Stadtsoziologie" ein Buch, das eine Viel- zahl der aktuellen Ergebnisse zur Analyse sozial-räumlicher Differenzierung zu- sammenfaßt und mit der Netzwerkanalyse eine neue Analyserichtung unterstreicht.

JURGEN H. I? HOFFMEYER-ZLOTNIK

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ZUM-Nachrichten 3 7, Jg. 19, November 1995

I m mittlerweile in der zweiten Auflage vorliegenden Band der Autoren werden

neben dem „Basis-Modul" des Programm- systems SPSS für Windows die Module ,,Professional Statistics" und ,,Advanced Statistics" beschrieben.

ACHIM BÜHL / PETER ZÖFEL SPSS für Windows Version 6.1.

Praxisorientierte Einführung in die moderne Datenanalyse.

2. überarbeitete und erweiterte Auflage. Addison-Wesley: Bonn 1995

623 Seiten, 79,90 Mark ISBN 3-893 19-902-0

Zu dem Buch gehört eine Begleitdis- kette, mit der man anhand von Daten-, Syntax-, Grafik- und ASCII-Dateien die besprochenen Verfahren am Beispiel üben kann. Nach einer kurzen Beschreibung der historischen Entwicklung von SPSS und den Neuerungen in Version 6.1 wird die Installation von SPSS erläutert. Daran schließt sich ein als einführendes Beispiel gedachtes Kapitel zur Datenbeschreibung und -eingabe an. Nach einer Darstellung der SPSS-Benutzeroberfläche wird der Leser mit einigen statistischen Grundbe- griffen kurz vertraut gemacht. Als erstes statistisches Verfahren wird sehr ausführ- lich auf die Häufigkeitsauszählung und ihre grafische Umsetzung eingegangen. Daran schließen sich Kapitel zu Datense- lektion und Datenmodifikation an. Nach den grundlegenden statistischen Verfah- ren, wie z.B. Kreuztabellen und Mittel- wertsvergleichen werden die komplexeren

statistischen Verfahren wie Regressions- analyse, Varianzanalyse, Faktorenanalyse, Loglineare Modelle, Überlebensanalyse, Diskriminanzanalyse, Clusteranalyse, Re- liabilitätsanalyse und Multidimensionale Skalierung abgehandelt. Nachdem die Erstellung tabellarischer Berichte gezeigt wurde, folgt eine ausführliche Beschrei- bung der Grafikoptionen. Den Abschluß bilden zwei kleinere ~ a ~ i t e l zur Übertra- gung der statistischen und grafischen Er- gebnisse nach Word für Windows und zur Programmierung.

Einführung. Auf der Suche nach einer Einführung in das Arbeiten mit SPSS bleibt man bei dem Kapitel "Von der Da- tenerhebung bis zur Auswertung" hängen. Hier wird am Beispiel eines Fragebogens die Variablendefinition und Dateneingabe beschrieben. Dieser Abschnitt endet ohne eine weitere Beschreibung der Analy- semöglichkeiten der Daten. Gerade für den Anfänger wäre hier ein Auswertungs- beispiel z. B. in Form einer Häufigkeits- auszählung wünschenswert gewesen.

Gut gelungen ist dagegen die Einfüh- rung in die SPSS-Benutzeroberfläche im nächsten Kapitel, weil der Leser dadurch in die Lage versetzt wird, sich selbständig im Menüsystem zurechtzufinden.

Dateneingabe. Hinweise zur Datenbe- schreibung finden sich nur in der Einfuh- rung. Wesentliche Hinweise, wie z.B. auf die Verwendung von Vorlagen für die Definition bei gleichen Variableneigen- schaften fehlen. Die Möglichkeit des Einlesens von Rohdaten im ASCII-Format wird ebenfalls nicht beschrieben. Auch

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Publikationen

das Einlesen von portablen SPSS-Dateien und die Übernahme von Dateien aus ande- ren Systemen (z.B. dBase, Excel) wird nicht erwähnt.

Datenselektion und Datenmodzfikation. Bei der Datenselektion fallt die ausführli- che Erläuterung der logischen Operatoren (AND, OR, NOT) angenehm auf. Als Hil- festellung für den SPSS/PC+-Umsteiger wird jeweils auch die Syntax der Daten- selektionsbefehle gezeigt. Leider fehlt für die Umsteiger der Hinweis auf die unter- schiedlichen Ergebnisse bei fehlenden Werten in logischen Ausdrücken zwischen SPSS/PC+ und SPSS für Windows. Bei den Datenmodifikationen werden nicht alle Möglichkeiten, die SPSS dem Nutzer bietet, beschrieben. Es ist nicht nachvollziehbar, nach welchen Gesichts- punkten hier eine Auswahl erfolgte. Zum Beispiel vermissen wir eine Besprechung der MATCHIMERGE-Funktionen.

Statistiken. Die statistischen Verfahren werden an einem Beispiel demonstriert und die erhaltenen Ergebnisse anschlie- ßend interpretiert. Beispiele für eine grafi- sche Umsetzung runden die Kapitel ab. Auf der dem Buch beiliegenden Diskette finden sich die dazugehörenden Daten und Grafiken, so daß der Leser die be- sprochenen Verfahren selbst nachvollzie- hen kann. Die mathematisch-statistischen Grundlagen werden nur fiir die zum Base- Modul gehörenden Statistiken etwas aus- führlicher behandelt. Die Autoren gehen bei der Darstellung der Statistiken nicht auf jede verfügbare Option ein, sondern geben einer eher praxisorientierten Dar-

stellung den Vorzug, die die grundlegende Wirkungsweise der besprochenen Verfah- ren vermittelt. Die Darstellung der statisti- schen Prozeduren richtet sich dabei insbe- sondere bei den komplexeren Verfahren an einen Leserkreis, der mit dem statisti- schen Vokabular bereits vertraut ist. So wird nur den erfahrenen Statistikanwender die zum Teil doch recht knappe Darlegung der Prozeduren zufriedenstellen. Gut ge- fallen hat uns, daß sich überall - und nicht nur im Statistikteil - Hinweise finden, wie die entsprechenden Befehle und Optionen im Syntaxfenster von SPSS lauten. Ge- rade erfahrene SPSS-Anwender, die sich nicht der Menüsteuerung überlassen wol- len oder eine Eingabe über die Tastatur vorziehen, werden dies begrüßen. Zudem sind einige Optionen in SPSS nicht über die Menüsteuerung, sondern nur über die Syntax verfügbar, so daß Kenntnisse der Syntax erforderlich sind.

Grafiken. In dem Grafik-Kapitel wird gezeigt, wie die erzeugten Grafiken wei- terverarbeitet werden können und welche Möglichkeiten dafür zur Verfbgung ste- hen. Die Beschreibung der Grafikoptionen ist sehr locker und anschaulich gelungen, wobei auf die Umsetzung statistischer Berechnungen in eine ansprechende Gra- fik auch schon bei den einzelnen Statistik- Menüs eingegangen wurde. Nützlich sind die Tips dazu, für welche Daten der je- weilige Grafiktyp sinnvoll einzusetzen ist. Auch bei der Besprechung der Grafiken werden nicht alle verschiedenen Optionen präsentiert, sondern eine Auswahl vorge- stellt.

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ZUM-Nachrichten 3 7, Jg. 19, November 1995

Als Fazit läßt sich festhalten, daß sich das Buch weniger an den unerfahrenen Statistikanfanger richtet, da für diesen die Erklärungen zu den statistischen Grundla- gen der verschiedenen SPSS-Prozeduren vermutlich zu knapp ausgefallen sind. Dieser Leserkreis wird ohne ein vertiefen- des Begleitstudium von Fachliteratur nicht immer zurechtkommen. Dazu findet sich im Anhang eine Zusammenstellung aus- gewählter Literatur mit Hinweisen, für welche Statistikverfahren sie besonders relevant ist.

Als reines Nachschlagewerk ist das Buch wegen der nicht vollständigen Be- schreibung aller verfügbaren Optionen weniger geeignet.

Für den Nutzer mit Statistikkenntnissen und den „Umsteigeru, der den Wechsel vom Großrechner oder von SPSS unter DOS vollziehen will und Hilfestellung bei der Windows-Version sucht, ist das Buch dagegen eine wertvolle Arbeitshilfe.

MICHAELA THOMA/~ORNELIA ZULL

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Publikationen 199

PUBLIKATIONEN

AUTORITARISMUS UND GESELLSCHAFT Trendanalysen und vergleichende Jugenduntersuchungen 1945- 1993

Gerda LederedPeter Schmidt (Hrsg.)

Opladen: Leske + Budrich 1995. ISBN 3-8100-1283-1.424 Seiten. 88 Mark.

F ast 50 Jahre nach Erscheinen der berühmten Studie über die Autoritäre Persönlichkeit in den USA liegt mit diesem Buch einerseits eine umfassende empirische Be-

standsaufnahme der vielen Aspekte des Autoritarismus zu verschiedenen Zeitpunkten und im interkulturellen Bereich vor. Andererseits wird der Autoritarismus in einen erweiterten theoretischen Rahmen eingebettet. Im Mittelpunkt steht dabei die bisher eher vernachläs- sigte Frage nach Ursachen und Wirkungen des Autoritarisrnus. Der Band enthält folgende Bei- träge: Die autoritäre Persönlichkeit: Geschichte Gerda Lederer einer Theorie; Die Studien von McGranahan und Peter Schmidt (Hrsg.)

Kagitcibasi; Trendanalysen und internationaler Vergleich des Autoritarismus; Wandel des Au- 1 Aut~ritarismu~ 1 toritarismus unter Jugendlichen in den USA; Wandel des Autoritarismus bei Jugendlichen in Westdeutschland 1945- 199 1 ; Wandel des Au- toritarismus bei Jugendlichen in Österreich; Internationale Vergleiche; Qualitative Untersu- chungen zu autoritären Merkmalen bei ostdeut- schen Jugendlichen; Entwicklung einer Kurz- skala zur Messung von Autoritarismus; Autori- tarismus, Politikverdrossenheit und rechte Ori- entierungen; Die Deutschen und der Golfkrieg; Autoritarismus, Anomie und Ethnozentrismus;

und Gesellschaft

Trendanalysen und vergleichende

Jugenduntersuchungen 1945-1993

Leske + Budrich

Stabilität und Wandel des Autoritarismus; Fami- I I

lienstruktur, Eltemwahmehmung und Auto- ritarismus; Fremdenfeindliche Gewalt und Lichterketten, Epilog.

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200 ZUM-Nachrichten 3 7, Jg. 19, November 1995

FACET THEORK: FORM AND CONTENT Ingwer Borg/Samuel Shye

London, New Delhi: Sage Publications 1995. Advanced Quantitative Techniques in the

Social Sciences, Volume 5. ISBN 0-8039-4756-9 cloth. 203 Seiten. & 26.95.

D as Buch ist eine Einführung in die Facettentheorie für erfahrene Sozialwissenschafi- ler. Es stellt die Denkweisen und Werkzeuge des Facettendesigns dar, insbesondere

Abbildungssätze. Es erklärt - mit Schwerpunkt auf Konzeptuellem und Angewandtem - die datenanalytischen Methoden, die sich im Kontext der Facettentheorie entwickelt ha-

ben. Es verbindet Facettendesian und -analysen - durch Explikation der Hauptformen von Korre- spondenzhypothesen, die sich in der For- schungspraxis bewährt haben. Das Buch illustriert alle formalen und theoreti- schen Überlegungen durch Beispiele, die über- wiegend aus Fragebogenerhebungen stammen. Die Beispiele sind so gewählt, daß sie für jeden Sozialwissenschaftler hinreichend interessant sein sollten. Alle Beispiele sind zudem in der Li-

I I teratur publiziert und können dort weiter nachge-

Ingwer Borg Saniuel Shye

lesen werden. Im Umfragekontext ist die Facettentheorie vor allem als Instrument für das Design von Items nützlich. Dazu ist es nicht erforderlich, für diese Items eine facettentheoretische Hypothese zu testen. Zudem können diese Daten auch mit eher

I I traditioneller Statistik analysiert werden. Das Buch zeigt an Beispielen aus der älteren und

jüngeren Literatur, wie schwer man sich ohne ein solches Design in der Formulierung von Items tut; wie ganze Klassen von Items übersehen werden, oder wie die in der Formulie- rung der Items verborgene Struktur und die damit verbundenen empirischen Hypothesen verdeckt bleiben.

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Publikationen 201

Nachfolgend sind die ZUMA-Arbeitsberichte, die seit Juni publiziert worden sind, in Form von Abstracts kurz dargestellt. ZUMA-Arbeitsberichte werden Interessenten auf Anfi-age zu- gesandt. Bestellungen sind zu richten an:

Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen ZUMA-Publikationen Postfach 12 2 1 5 5 68072 Mannheim

Michael Häder/Sabine HädedAndreas Ziegler: Punkt- vs. Verteilungsschätzung: Ergeb- nisse eines Tests zur Validierung der Delphi-Methode. ZUM-Arbeitsbericht 95/05. Dieser Bericht schließt inhaltlich an den ZUMA-Arbeitsbericht 94/05 an, indem die Be- mühungen um eine Validierung von Delphi-Befragungen fortgesetzt werden. Nach einer theoretischen Einbettung der bei Delphi ablaufenden Prozesse unter Bezugnahme auf die Kognitionspsychologie wird ein weiterer Test dokumentiert. Er beinhaltet wiederum die Schätzung von Antworten einer Bevölkerungsumfrage durch Versuchspersonen in drei Wellen. Schwerpunkt des Arbeitsberichtes ist die Darstellung der Ergebnisse eines bei diesem Test unternommenen speziellen Experiments, dessen Gegenstand der Vergleich der Ergebnisse von Punkt- und Verteilungsschätzungen mit Hilfe eines Splitts war.

Achim Bühl: Das Wertewandel-Modell Ronald Ingleharts. Methodenausbildung anhand des ALLBUS. ZUM-Arbeitsbericht 95/06. Im Arbeitsbericht wird gezeigt, wie der ALLBUS in der Methodenausbildung von Stu- denten eingesetzt wurde. Schwerpunkt des im Sommersemester 95 am Institut für Sozio- logie der Universität Marburg durchgeführten ALLBUS-Seminars bildete die Überprü- fung des Wertewandel-Theorems Ronald Ingleharts mittels geeigneter Verfahren anhand des ALLBUS von 1991. Methodisch wurden dabei Überprüfungen U. a. anhand der Fak- torenanalyse, des Chi-Quadrat-Tests, der Diskriminanzanalyse, des logit-loglinearen Ver- fahrens sowie der CHAID-Analyse vorgenommen. Benutzt wurde das Programm SPSS für Windows. Version 6.

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202 ZUM-Nachrichten 3 7, Jg. 19, November 1995

D ie vorläufige Planung der ZUMA-Tagungen des Jahres 1996 wird hier im ersten Überblick bekanntgegeben. Pro Halbjahr werden die anstehenden Tagungen in den

ZUMA-Nachrichten separat angekündigt, mit Erläuterungen zum Tagungsthema, dem Programmüberblick, dem Teilnehmerbeitrag und der maximalen Teilnehmerzahl. Es gibt drei Arten von ZUMA-Tagungen:

Der Workshop dient der Fortbildung. Hier werden neue Software oder weniger bekannte Ver- fahren der Datenerhebung oder -analyse vorgestellt, vertieft undIoder geübt. Die Teilnahme steht jedermann offen. Allerdings sind die Teilnehmerzahlen aus veranstaltungstechnischen Gründen beschränkt. Bei Workshops mit ~ ~ ~ - - ü b u n ~ e n können maximal 20 Personen teil- nehmen, bei anderen Workshops sollte eine Teilnehmerzahl von 30 nicht überschritten wer- den. Der Teilnehmerbeitrag wird dem jeweiligen Kostenaufwand entsprechend kalkuliert und ist der separaten Tagungsankündigung zu entnehmen. Die Teilnahmegebühren fur ZUMA- Workshops reduzieren sich für Studenten und arbeitslose Wissenschaftler auf die Hälfte des jeweils angegebenen Beitrags, mindestens jedoch 25 Mark; fur Teilnehmer aus den neuen Bundesländern reduzieren sich die Teilnahmegebühren auf den Anteil Ihres Gehalts, gemessen an entsprechenden Positionen in den alten Bundesländern. Dieser reduzierte Teilnehmerbei- trag ist bei der Anmeldung unter Angabe des Beschäfiigungsstatus zu beantragen.

Das Symposium ist als Gesprächsrunde ausgewahlter und eingeladener Experten zu verste- hen. Thema ist in der Regel ein Schwerpunkt der aktuellen ZUMA-Grundlagenforschung. Das Symposium dient dem Erfhgsaustausch und ist nur in Ausnahmefällen einem kleinen, über die Runde der geladenen Experten hinausgehenden Kreis von Interessenten zugänglich.

Die Konferenz bietet einen Bereichsüberblick, z.B. über den aktuellen Stand der Software- Entwicklung. Der Referentenauswahl geht ein „call for papers" voraus. Der Teilnehmerkreis ist offen, die Teilnehmerzahl nicht limitiert. Die jeweilige Teilnehmergebühr ist aus der sepa- raten Ankündigung ersichtlich.

Die Anmeldung zu den einzelnen ZUMA-Tagungen erfolgt über das ZUMA-Tagungssekre- tariat, Postfach 12 21 55, 68072 Mannheim. Für inhaltliche Rückfi-agen ist der ZUMA-Be- treuer Ansprechpartner. Verantwortlich für die Koordination der Tagungen und des Tagungs- sekretariates ist J ü ~ e n H.l? Homeyer-Zlotnik.

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Übersicht über die Veranstaltungen 1996

Veranstaltung

Symposium

Workshop

Workshop

Symposium

Symposium

Workshop

Workshop

Workshop

Workshop

Symposium

Workshop

Workshop

Workshop

BetreuerlReferent

Gabler Hoffmeyer-Zlotnik

Schwarz

Schmidt Thurner Eymann

Mohler

Braun

Mohler Troitzsch Gilbert

Hoffmeyer-Zlotnik Blasius

Michael Häder Sabine Häder

Geis/Mohler/ZüII

Faulbaum/Schmidt Glöckner-RistlKlüver

Mohler

Prüfer Rexroth

Wieden beck Schmidt

Thema

Vergleich von Stich- probenverfahren

Kognition und Umfrageforschung

Multiattributive Discrete Choice-

Analyse

ISSP Drafting Group on Religion

ISSP Drafting Group on Work Orientations

Simulation for the Social Sciences

Einführung in die Kor- respondenzanalyse

Delphi-Methode

Einführung in die cui mit TEXTPACK PC

Die Rolle theoreti- schen Wissens in der

Modellierung

Interkultureller Workshop (ISSP)

Multi-Method- Pretesting

~anelanal~se

Datum

23.-24. April

18.-19. Juni

26.-27. Juni

3 Tage, März

3 Tage, Frühjahr

3.-5. September

8.-10. Oktober

November

Herbst

2. Halbjahr

Herbst

November

Herbst

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204 ZUM-Nachrichten 3 7, Jg. 19, November 1995

Symposium „Vergleich von Stich probenverfahren"

23. UND 24. APRIL 1996

Um Informationen über Personen in einer Population zu gewinnen, werden Stichproben gezogen. Die Art und Weise, wie die Auswahl zu erfolgen hat, regeln die verschiedenen Stichprobenverfahren. Die in den Sozialwissenschaften wichtigsten Verfahren sind Ran- dom Route, Auswählen über Einwohnermeldeämter oder aus Telefonverzeichnissen und Quotenverfahren. Die einen Verfahren gehorchen wohldefinierten Wahrscheinlichkeitsge- setzen; das Quotenverfahren gehört zur Klasse der bewußten Auswahlverfahren. Die Unterschiede der verwendeten Verfahren schlagen sich nicht nur in den Kosten nieder. Oft ist es auch eine Frage der Zielsetzung der Untersuchung und die Frage der Anforde- rung, die an sie gestellt wird. Lassen sich generell die einzelnen Stichprobenverfahren vergleichen? Welche Vor- und Nachteile bieten die verschiedenen Auswahlprozeduren? Wo werden in der Praxis die Verfahren eingesetzt? Referenten aus der Praxis und von ZUMA werden die Verfahren vorstellen und kritisch hinterfragen sowie Vergleichsmöglichkeiten darstellen. Interessen- ten werden gebeten, sich bis zum 15.3.1996 bei Siegfried Gabler oder Jürgen H.l? Hoff- meyer-Zlotnik zu melden. Die Teilnehmerzahl ist auf 15 Personen begrenzt.

Workshop ,,Fragen verstehen und beantworten: Kognitive und kommunikative Grundlagen

von Befragungen"

18. UND 19. JUNI 1996

Umfragedaten sind nur so nützlich wie die Antworten, die Befragte zu Protokoll geben. Die kognitiven und kommunikativen Prozesse, die der Datenerhebung zugrunde liegen, sind daher von essentieller Bedeutung. Der Workshop gibt einen Überblick über relevante und theoretische Konzeptualisierungen, experimentelle Befunde und ihre praktischen

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Z U M - Tagungen 1996 205

Implikationen. Zentrale Themen sind: (1) Probleme des Fragenverständnisses; (2) die Validität retrospektiver Berichte; (3) die Entstehung von Kontexteffekten in der Ein- stellungsmessung; (4) die Nutzung kognitiver Methoden in der Fragebogenentwicklung. Interessenten werden gebeten, sich bis zum 1.5.1996 beim Tagungssekretariat anzumel- den. Für die Teilnahme wird ein Beitrag von 80 Mark erhoben. Die Teilnehmerzahl ist auf 20 Personen begrenzt. Die Leitung hat Norbert Schwarz (Institute for Social Research & Department of Psychology, University of Michigan, Ann Arbor, USA).

Workshop ,,Angewandte Multiattributive Discrete Choice-Analyse für Sozial- und

Wirtschaftswissenschaftler"

26. UND 2 7. JUNI 1996

Multiattributive Discrete Choice-Modelle erlauben die Modellierung der Entscheidung zwischen wechselseitig sich ausschließenden Alternativen auf der Grundlage von Attribu- ten der Alternativen sowie der Entscheidungsträger. Sie ermöglichen die attributgestützte Erklärung von Auswahlentscheidungen und somit die Prognose beispielsweise der Markt- anteile von Produkttypen oder der Stimmenanteile von Parteien. Der Workshop richtet sich an Sozialwissenschaftlerlinnen und Marktforscherlinnen. An- hand von konkreten Übungsbeispielen aus der Wahlsoziologie und der Konsumforschung werden Strategien des Modellbaus, der Modelldiagnostik und der Modellevaluation vor- gestellt. Einen Schwerpunkt bildet hierbei die Modellierung von mehrstufigen Nested Logit-Modellen. Für die Anwendung praktischer Beispiele werden die Software-Pakete LIMDEP 7.0 und das SYSTAT-Modul LOGIT verwendet. (Voraussetzungen sind Kennt- nisse der multiplen Regression). Interessenten werden gebeten, sich bis zum 1.5.1996 beim Tagungssekretariat von ZUMA anzumelden. Für die Teilnahme wird ein Beitrag von 60 Mark erhoben. Die Teilnehmerzahl ist auf 20 Personen begrenzt. Der Workshop wird von Peter Schmidt, Paul Thurner und Angelika Eymann geleitet.

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Sie erreichen die Mitarbeiter unter der Nummer (062 1) 1246-(Durchwahlnummer); die Zentrale unter 1246-0. Sie ist von Montag bis Donnerstag von 8.30 bis 17.00 und freitags von 8.30 bis 15.30 besetzt. Die mit (S) bezeichneten Mitarbeiterinnen nehmen Sekretariatsaufgaben wahr.

Direktor Prof: Dr. Peter Ph. Mohler Lisbeth Koch (S) Jolantha Müllner (S) Dr. Angelika Glöckner-Rist

Stellv. Direktorin Carol Cassidy

Verwaltung Dip1.-KJin. Jost Henze Maite Femandez Maria Groh Petra Megginson (beurlaubt) Brigitte Dusberger Silvia Sigmundczyk Dipl. Volksw. Kirsten Schiller Petra Siener Dip1.-Soz. Angelika Stiegler

WISSENSCHAFTLICHE LEITUNG

Wissenschaftliche Leiter Prof. Dr. Ingwer Borg 15 1 Prof. Dr. Peter Ph. Mohler 173 Prof. Dr. Peter Schmidt 141

Projektleiter Dr. Wolfgang Bandilla Dr. Michael Braun PD Dr. Frank Faulbaum (beurlaubt) Dr. Michael Häder Dr. Jürgen H.P. Hoffmeyer-Zlotnik Dipl. Soz. Michaela Thoma Dagmar Haas (S)

ABTEILUNGEN

Computerabteilung Carol Cassidy Heiner Ritter Hannes Wicher Comelia Züll

Feldabteilung Dip1.-Soz. Rolf Porst ~ i ~ l . - ~ s ~ c h . ~ e t e r Prüfer 227 Margrit Rexroth, M.A. 230 Dip1.-Soz. Michael Schneid 226 Christa V. Briel (S) 23 1

Abteilung Textanalyse, Medienanalyse, Vercodung Dr. Peter Schrott 222 Alfons J . Geis, M.A. 22 5 Ingrid Weickel 22 1

Statistikabteilung PD Dr. Siegf?ied Gabler 133 Dr. Sabine Häder 28 1 Dip1.-Math. Michael Wiedenbeck 283

Abteilung ALLBUS Dip1.-Soz. Achim Koch 280 Dipl.-Geogr. Carmen Eilinghoff 273 Dr. Janet Harkness 284 Dr. Karin Kurz 276 Dip1.-Soz. Martina Wasmer 273 Maria Kreppe-Aygün (S) 274

Abteilung Mikrodaten Dip1.-Soz. Bernhard Schimpl-Neimanns 263 Dr. Paul Lüttinger 268 Joachim Wackerow 262 Dip1.-Soz. Heike Wirth 269 Rita Kley (S) 265

Abteilung Soziale Indikatoren Dr. Heinz-Herbert No11 24 1 Dr. Caroline Kramer 244 Dip1.-Soz. Stefan Weick 245 Ursula Palm (S) 242

Abteilung Einkommen und Verbrauch Dr. Georgios Papastefanou 278

Spezielle Projekte Dr. Bernhard Krüger 279 Dr. Bettina Westle 277

NSD-HOTLINE 111

E-Mail [email protected]

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BESTELLUNGEN

Ich bitte um die Zusendung folgender Materialien:

ZUMA-Nachrichten Nr. ZUMA-Arbeitsbericht Nr. Informationsdienst Soziale Indikatoren (ISI) Nr. ZUMA-Jahresbericht 1993 ZUMA-Informationsbroschüre ZUMA-Publikationsliste Informationen zum ALLBUS Informationen zum ISSP Informationen zum Sozialwissenschaften-BUS GESIS-Informationsbroschüre GESIS-Jahresbericht 1992193 Sonstiges:

Name ...........................................................................................................

Institut ...........................................................................................................

Anschrift

......................................................................................................................................... OrtIDatum Unterschrift

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ADRESSENÄNDERUNG (BITTE IN DRUCKBUCHSTABEN)

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NEUAUFNAHME (BITTE IN DRUCKBUCHSTABEN)

Ich bitte ab sofort um die Zusendung der ZUMA-Nachrichten und ZA-

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ZUMA ist Mitglied der Gesellschaft Sozialwissenschaftlicher Infrastruktureinrichtungen (GESIS) e.V.