Zur Entwicklung der Psychopathenfürsorge

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2450 KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 7. JAHRGANG. Nr. 51 x6. DEZEMBER 1928 Das Ziel ]eder wirkungsvollen Rachitisbehandlung und Rachitisprophylaxe ist die gesunde Entwicklung des Skeletts in in allen seinen Teilen. Dabei spielen Xsthetische Rficksichten eine viel geringere Rolle als durchaus ~rztliche Gesichtspunkte. Wir ffirchten vor allem die Formver~nderungen des Thorax und der Rfiekenwirbels~ule, weil sie auf Lungen und Herz augerordentlich ungfinstig wirken k6nnen, die Deformit~ten des Beckens, deren Gefahren sich bei Frauen oft erst im 2. und 3. Lebensjahrzehnt zeigen und das Leben der nXchsten Ge- neration bedrohen. Verkrfimmungen der Extremit~ten- knochen sind vielleicht nicht yon so vitaler Bedeutung, k6nnen aber doch die k6rperliche Leistungsf~higkeit beeintr~tchtigen. Es w~re deshalb ein durchaus einseitiger Standpunkt, wollte man Rachitisbehandlung und -verhfitung allein auf er- n~hrungstherapeutische MaBnahmen, direkte und indirekte Strahlentherapie beschr~nkenl Alles, was die gesunde Ent- wicklung des Slceletts ]6rdert, geh6rt unbedingt mit zu einer wir- kungsvollen Rachitisbehandlung und -prophylaxe und dar] bei der modernen Rachitisbehandlung nieht vergessen werden. Auch auf diesem Gebiete sind bedeutungsvo]le Fortschritte in den letzten Jahren zu verzeichnen. Sie grfinden sich vor allem auf die Erkenntnis, dab neben der Belastung die Ent- wicklung der Muslculatur die Formbildung des wachsenden Knochens in hervorragendem Marie beein/luflt. Man kann allerdings feststellen, dab die wichtigen praktischen Folge- rungen, welche sich aus dieser Erkenntnis ergeben, in ~rztlichen Kreisen unvergleichlich viel weniger Interesse gefunden haben als die vorher geschilderten Behandlungsmethoden, ja es be- steht geradezu die Gefahr, dab manche wertvolle Errungen- schaft auf diesem Gebiete durch Nichtbeachtung verlorengeht. Die Zeit ist noch nicht allzu fern, in der man glaubte, Formver~nderungen der Wirbels~ule und des Brustkorbs durch Geradehalter, Stfitzkorsetts nnd ~hnliche Apparate bessern zu k6nnen, oder aber Kindern zur Verhfitung rachitischer Knochendeformit/iten fixierende Gipsverb~nde angelegt hat. Die v611igen MiBerfolge dieser Behandlungsverfahren im Ver- ein mit experimentellen Untersuchungen haben dargelegt, dab Entlastung und Ruhigstellung au/ die Entwicklung des wachsenden Knochens schdd~gend einwirken. An die Stelle der mit erzwungener Muskelentartung arbeitenden NIaB- nahmen setzen wir deshalb heute die Stdrkung der Muslcel- Junktion. Es kann nieht rneine Aufgabe sein, in diesem ohnehin schon allzu umfangreichen I~berblick diese Methoden im ein- zelnen zu schildern, nut einige wenige Gesiehtspunkte seien betont. Die moderne Rachitisbehandlung muB jedes feste Einwickeln der Kinder verbannen, im Gegenteil yon Anfang an ffir m6glichst ausgiebige Bewegungsfreiheit zur StXrkung aller Muskelgruppen sorgen und wenn n6tig die Muskelschlaff- heit dutch Massage und Gymnastik zu beheben suchen. Dazu geh6rt auch, dab das Kind schon im ersten Jahre nicht in weichen Federbetten, sondern auf harter Unterlage ruht, um so mehr, je schlechter die 1Rfickenmuskulatur und der Thorax entwickelt sind. Andererseits muB die moderne Rachitisbehandlung die 19berlastung und f]bermiidung ver- meiden: das Kind soll erst frei sitzen, wgnn es den Riicken selbst~ndig gerade zu halten vermag, gehen und stehen dann, wenn die Knochen das Gewicht des K6rpers zu tragen ver- m6gen. Nicht daran, ob, sondern wie das Kind sitzt, steht oder l~uft, erkennt man das Fehlen oder den Grad der Rachitis. W~ihrend die rachitischen Ver~nderungen des Thorax, die yon so weittragender Bedeutung ffir die Gesundheit des Kindes sind, oft wenig beachtet werden, sieht man, dab ganz harmlosen Formver~inderungen der Beine auBerordentlicher Wert beigemessen wird. Wie wir vor allem aus den Dar- legungen SPITZYS gelernt haben, hat das Kind, welches zu lau- ]en beginnt, ein /lachbogig verlcri~mmtes O-Bein, das dutch Selbstlcorrelctur in ein X-Bein ~gebergeht. W/~hrend der ersten Lebensjahre ist das Kind ferner physiologisch /lachJ,aflig; erst im Laufe der folgenden Jahre bildet sich die W61bung des FuBes. Diese physiologischen Erscheimmgen im Gehbeginn als Zeichen einer 1Rachitis aufzufassen und zu behandeln, ist ein Grundirrtum ! Gerade die Ergebnisse der neueren Forsehungen, nach denen der JFufl des Kindes w~hrend des Gehbeginns racist mit ganzer Sohle au/tritt und daher einen Abdrucl~ gibt, welcher dem des Platt]ufles beim Erwachsenen in vieler Beziehung ghnlich sieht, scheinen in weiten Kreisen yon J~rzten und auch yon Ortho- p~den nicht bekannt zu sein. Darauf ist es wohl zurfickzuffihren, dab in zunehmendem Mal3e jungen Kindern PlattJufleinlagen verordnet werden. Mit Recht bezeiehnet SPITZY diese durchaus unzweelcmdfiige Behandlung direkt als ,, Un]ug", weil nXmlich dutch das Tragen der Einlagen die Muskelarbeit auJgehoben wird, so daft sich die betro/]enen Muskelgruppen schwgchen. Wollen wir der Flachffigigkeit und den Deformierungen, die die Rachitis h~ufig in mehr oder minder ausgesprochenem Mage zurficklXl3t, entgegenarbeiten, so darf das nur dutch zweelcmdflige Muslceli~bungen erfolgen. I(echt einfache Mittel wie Zehengang, zeitweiliges Tragen eines Knopfes unter dem FuBgew61be nach SPITZY, vielleicht auch l~bungen auf der NncMA~schen SchwaehfuBleiter genfigen in den meisten Fiillen vollkommen. Nut die F~lle mit scharfen Abknickungen und kurzbogigen Verbiegungen erfordern orthop~disches Eingreifen, ein Geraderichten auI unblutigem oder blutigem Wege. Die Zahl dieser F~lle, heute sehon gering, wird wahrscheinlich immer seltener werden, ]e /ri~hzeitiger und zielbewuflter die Behandlung der Raehitis durchge]i~hrt wird. Diese Behandlung dar] sich aber nieht au/ eine einzelne Marl- nahme sti~tzen, sondern muff wirlclich das Ri~stzeug der bewdhrter~ Behandlungsver/ahren sinngemi%fl heranzuziehen bestrebt sein. OFFENTLICHES GESUNDHEITSWESEN. ZUR ENTWICKLUNG DER PSYCHOPATHEN- FORSORGE. Von Direktor des Erziehungsheimes SchloB Flehingen in Baden. Das Wesen der Psychopathie als eines Grenzzustandes normaler und krankhafter Geistesverfassung bringt die Psy- chopathenfiirsorge in n~here Beziehung zur oftenen Ffirsorge ffir Geisteskranke. Die Einwirkung der benachbarten Schweiz, in welcher unter Ftihrung ]~LEULERS wesentliche wissen- schaftliche und praktische Fortschritte der offenen Ffirsorge geschahen, bereitete in Baden den Boden vor, auf dem die yon KOLB inaugurierte moderne Ffirsorge ffir entlassene Geisteskranke, zu denen auch viele Psychopathen z~hlen, sich rasch entwickeln konnte. Naturgem~g ist in dieser Weise zuerst flit die schwersten F~lle gesorgt worden, welche die Gesellschaft am meisten beunruhigen. Der kausal Denkende wird aber lieber die in Kindern und Jugendlichen keimende Psychopathic erfassen wollen, um so dem ihm vorschwebenden Ziele am n~chsten zu kommen, das vollends zu erreichen, eine tiefgreifende Um- schiehtung yon Lebensverh~ltnissen voraussetzt, die wit nut dutch eine mtihsame Aufkl~rung im Sinne der sozialen Hy- giene beeinflussen k6nnen. Freilieh sind gerade in der aller- letzten Zeit in der neuentdeckten psychischen Hygiene Be- strebungen im Gange, welche dutch ihren internationalen Charakter zu den sch6nsten Hoffnungen berechtigen. Ehe diese sich aber erfiillen, diirfte noch jene Psyehopathen- ffirsorge als die erfolgreichste gelten, welche sich an den werdenden Menschen wendet und durch Beeinflussung der jugendlichen Seele den Charakter zu bilden bzw. vor der psychopathischen Deformierung zu bewahren sueht. Hier wurde der praktischen und theoretischen Arbeit ein weites Feld durch jene Forscher er6ffnet, welche den Nachweis erbracht haben, dab die Mehrzahl der Ffirsorgez6glinge

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2450 K L I N I S C H E W O C H E N S C H R I F T . 7. J A H R G A N G . Nr. 51 x6. DEZEMBER 1928

Das Ziel ]eder wirkungsvollen Rachitisbehandlung und Rachitisprophylaxe ist die gesunde Entwicklung des Skeletts in in allen seinen Teilen. Dabei spielen Xsthetische Rficksichten eine viel geringere Rolle als durchaus ~rztliche Gesichtspunkte. Wir ffirchten vor allem die Formver~nderungen des Thorax und der Rfiekenwirbels~ule, weil sie auf Lungen und Herz augerordentlich ungfinstig wirken k6nnen, die Deformit~ten des Beckens, deren Gefahren sich bei Frauen oft erst im 2. und 3. Lebensjahrzehnt zeigen und das Leben der nXchsten Ge- neration bedrohen. Verkrfimmungen der Extremit~ten- knochen sind vielleicht nicht yon so vitaler Bedeutung, k6nnen aber doch die k6rperliche Leistungsf~higkeit beeintr~tchtigen. Es w~re deshalb ein durchaus einseitiger Standpunkt, wollte man Rachitisbehandlung und -verhfitung allein auf er- n~hrungstherapeutische MaBnahmen, direkte und indirekte Strahlentherapie beschr~nkenl Alles, was die gesunde Ent- wicklung des Slceletts ]6rdert, geh6rt unbedingt mit zu einer wir- kungsvollen Rachitisbehandlung und -prophylaxe und dar] bei der modernen Rachitisbehandlung nieht vergessen werden.

Auch auf diesem Gebiete sind bedeutungsvo]le Fortschri t te in den letzten Jahren zu verzeichnen. Sie grfinden sich vor allem auf die Erkenntnis, dab neben der Belastung die Ent- wicklung der Muslculatur die Formbildung des wachsenden Knochens in hervorragendem Marie beein/luflt. Man kann allerdings feststellen, dab die wichtigen praktischen Folge- rungen, welche sich aus dieser Erkenntnis ergeben, in ~rztlichen Kreisen unvergleichlich viel weniger Interesse gefunden haben als die vorher geschilderten Behandlungsmethoden, ja es be- steht geradezu die Gefahr, dab manche wertvolle Errungen- schaft auf diesem Gebiete durch Nichtbeachtung verlorengeht.

Die Zeit ist noch nicht allzu fern, in der man glaubte, Formver~nderungen der Wirbels~ule und des Brustkorbs durch Geradehalter, Stfitzkorsetts nnd ~hnliche Apparate bessern zu k6nnen, oder aber Kindern zur Verhfitung rachitischer Knochendeformit/iten fixierende Gipsverb~nde angelegt hat. Die v611igen MiBerfolge dieser Behandlungsverfahren im Ver- ein mit experimentellen Untersuchungen haben dargelegt, dab Entlastung und Ruhigstellung au/ die Entwicklung des wachsenden Knochens schdd~gend einwirken. An die Stelle der mit erzwungener Muskelentartung arbeitenden NIaB- nahmen setzen wir deshalb heute die Stdrkung der Muslcel- Junktion. Es kann nieht rneine Aufgabe sein, in diesem ohnehin schon allzu umfangreichen I~berblick diese Methoden im ein- zelnen zu schildern, nut einige wenige Gesiehtspunkte seien betont. Die moderne Rachitisbehandlung muB jedes feste Einwickeln der Kinder verbannen, im Gegenteil yon Anfang an ffir m6glichst ausgiebige Bewegungsfreiheit zur StXrkung aller Muskelgruppen sorgen und wenn n6tig die Muskelschlaff- heit dutch Massage und Gymnastik zu beheben suchen. Dazu geh6rt auch, dab das Kind schon im ersten Jahre nicht in

weichen Federbetten, sondern auf harter Unterlage ruht, um so mehr, je schlechter die 1Rfickenmuskulatur und der Thorax entwickelt sind. Andererseits muB die moderne Rachitisbehandlung die 19berlastung und f]bermiidung ver- meiden: das Kind soll erst frei sitzen, wgnn es den Riicken selbst~ndig gerade zu halten vermag, gehen und stehen dann, wenn die Knochen das Gewicht des K6rpers zu tragen ver- m6gen.

Nicht daran, ob, sondern wie das Kind sitzt, steht oder l~uft, erkennt man das Fehlen oder den Grad der Rachitis. W~ihrend die rachitischen Ver~nderungen des Thorax, die yon so weittragender Bedeutung ffir die Gesundheit des Kindes sind, oft wenig beachtet werden, sieht man, dab ganz harmlosen Formver~inderungen der Beine auBerordentlicher Wert beigemessen wird. Wie wir vor allem aus den Dar- legungen SPITZYS gelernt haben, hat das Kind, welches zu lau- ]en beginnt, ein /lachbogig verlcri~mmtes O-Bein, das dutch Selbstlcorrelctur in ein X-Bein ~gebergeht. W/~hrend der ersten Lebensjahre ist das Kind ferner physiologisch /lachJ,aflig; erst im Laufe der folgenden Jahre bildet sich die W61bung des FuBes. Diese physiologischen Erscheimmgen im Gehbeginn als Zeichen einer 1Rachitis aufzufassen und zu behandeln, ist ein Grundirrtum !

Gerade die Ergebnisse der neueren Forsehungen, nach denen der JFufl des Kindes w~hrend des Gehbeginns racist mit ganzer Sohle au/tritt und daher einen Abdrucl~ gibt, welcher dem des Platt]ufles beim Erwachsenen in vieler Beziehung ghnlich sieht, scheinen in weiten Kreisen yon J~rzten und auch yon Ortho- p~den nicht bekannt zu sein. Darauf ist es wohl zurfickzuffihren, dab in zunehmendem Mal3e jungen Kindern PlattJufleinlagen verordnet werden. Mit Recht bezeiehnet SPITZY diese durchaus unzweelcmdfiige Behandlung direkt als ,, Un]ug", weil nXmlich dutch das Tragen der Einlagen die Muskelarbeit auJgehoben wird, so daft sich die betro/]enen Muskelgruppen schwgchen. Wollen wir der Flachffigigkeit und den Deformierungen, die die Rachitis h~ufig in mehr oder minder ausgesprochenem Mage zurficklXl3t, entgegenarbeiten, so darf das nur dutch zweelcmdflige Muslceli~bungen erfolgen. I(echt einfache Mittel wie Zehengang, zeitweiliges Tragen eines Knopfes unter dem FuBgew61be nach SPITZY, vielleicht auch l~bungen auf der NncMA~schen SchwaehfuBleiter genfigen in den meisten Fiillen vollkommen. Nut die F~lle mit scharfen Abknickungen und kurzbogigen Verbiegungen erfordern orthop~disches Eingreifen, ein Geraderichten auI unblutigem oder blutigem Wege. Die Zahl dieser F~lle, heute sehon gering, wird wahrscheinlich immer seltener werden, ]e /ri~hzeitiger und zielbewuflter die Behandlung der Raehitis durchge]i~hrt wird. Diese Behandlung dar] sich aber nieht au/ eine einzelne Marl- nahme sti~tzen, sondern muff wirlclich das Ri~stzeug der bewdhrter~ Behandlungsver/ahren sinngemi%fl heranzuziehen bestrebt sein.

OFFENTLICHES GESUNDHEITSWESEN. ZUR ENTWICKLUNG DER PSYCHOPATHEN-

FORSORGE. Von

Direktor des Erziehungsheimes SchloB Flehingen in Baden.

Das Wesen der Psychopathie als eines Grenzzustandes normaler und krankhafter Geistesverfassung bringt die Psy- chopathenfiirsorge in n~here Beziehung zur oftenen Ffirsorge ffir Geisteskranke. Die Einwirkung der benachbarten Schweiz, in welcher unter Ftihrung ]~LEULERS wesentliche wissen- schaftliche und praktische Fortschri t te der offenen Ffirsorge geschahen, bereitete in Baden den Boden vor, auf dem die yon KOLB inaugurierte moderne Ffirsorge ffir entlassene Geisteskranke, zu denen auch viele Psychopathen z~hlen, sich rasch entwickeln konnte.

Naturgem~g ist in dieser Weise zuerst flit die schwersten F~lle gesorgt worden, welche die Gesellschaft am meisten

beunruhigen. Der kausal Denkende wird aber lieber die in Kindern und Jugendlichen keimende Psychopathic erfassen wollen, um so dem ihm vorschwebenden Ziele am n~chsten zu kommen, das vollends zu erreichen, eine tiefgreifende Um- schiehtung yon Lebensverh~ltnissen voraussetzt, die wit nut dutch eine mtihsame Aufkl~rung im Sinne der sozialen Hy- giene beeinflussen k6nnen. Freilieh sind gerade in der aller- letzten Zeit in der neuentdeckten psychischen Hygiene Be- strebungen im Gange, welche dutch ihren internationalen Charakter zu den sch6nsten Hoffnungen berechtigen. Ehe diese sich aber erfiillen, diirfte noch jene Psyehopathen- ffirsorge als die erfolgreichste gelten, welche sich an den werdenden Menschen wendet und durch Beeinflussung der jugendlichen Seele den Charakter zu bilden bzw. vor der psychopathischen Deformierung zu bewahren sueht.

Hier wurde der praktischen und theoretischen Arbeit ein weites Feld durch jene Forscher er6ffnet, welche den Nachweis erbracht haben, dab die Mehrzahl der Ffirsorgez6glinge

I6. DEZRMBER 1928 K L I N I S C H E W O C H E N S C H R I F T . 7. J A H R G A N G . Nr. 5I 245I

psychopathisch veranlagt ist. I)a die eingehendsten Studien fiber die Ursachen der Verwahrlosung yon GRUItLE I9071 in Flehingen vorgenommen wurden, so lag es nahe, dab in Baden auch beh6rdlieherseits die mit der wissenschaftlichen Erkenntnis der Praxis gestellten Aufgaben friihzeitig erfaBt wurden und bald nach Kriegsende eine Entwieklung der Psychopathenftirsorge einsetzen konnte, welche nicht mehr bet den krassen F~illen der Fiirsorgeerziehung haltmacht, sondern Friihiormen aller IKategorien zu erfassen sucht.

Es sind zwei Tatbest~inde, bet denen unser praktisches Handeln eingreifen muf3, wenn wir den Zugang zu jugendlichen Psychopathen Iinden wollen: Verwahrlosung und Schwer- erziehbarkeit. Erstere fordert fiir die schweren Formen eine geschlossene Fiirsorge in der Anstalts- oder tteimerziehung, letzterer suchen wir in der offenen Fiirsorge zu begegnen, welche auch die leichteren F~ille yon Verwahrlosung begreift und eine gesetzliche Regelung in der Schutzaufsicht gefunden hat, w~hrend die leichtesten Fiille der Verwahrlosung bzw. die Schwererziehbaren in der heilp~idagogischen Beratung er- folgreich betreut werden.

Infolge der durch die Zeitverh~ltnisse gebotenen 0ko- nomie an Mitteln haben die Einrichtungen in Baden in lang- samer, aber systernatischer Arbeit einen planm~Bigen Ausbau erfahren, welcher stiindiger wissenschaftlicher Kontrolle unterliegt.

Wie in allen L~indern Deutschlands ist auch in Baden der gr6Bte Teil der Ftirsorgeerziehungsanstalten-yon caritativen Vereinigungen begriindet. Ihre Einstellung auf die dutch die Psychiatrie aufgezeigten Aufgaben ist rasch durch die Arbeitsgemeinschaft mit den staatlichen Erziehungsanstalten erfolgt, welche psychiatrischer Leitung anvert raut wurden. Wesentliche Gesichtspunkte fiir die planm~iBige Organisation sind in der st~ndigen psychiatrischen ]3eratung der privaten ErziehungsanstaIten gegeben, ferner in einer Gliederung und Vereinfachung der Aufgabe, welche an die Schwierigkeit des Falles anknfipit, endlich im Prinzip der ]3eobachtung kri- tischer Fiille.

Nach den in meiner Beobachtungsstation in Flehingen gemachten Erfahrungen, fiber die nXchstens ein Artikel in der Zeitschrift ftir iKinderforschung berichten wird, muB ich reich zu dem Grundsatze bekennen, dab ]eder Z6gling, bei dem AnstaltsJi~rsorgeerziehung in Frage kommt, einer psyehiatriseh geleiteten Beobaehtungsstation zugewiesen wird. Eine solche kann ihre Au]gabe am beaten 15sen, wenn sie einer Erziehungs- anstalt angegliedert ist, denn neben spezifisch ~rztlichen, muB sie auch praktisch-p~tdagogische Aufgaben eriifllen. Ich denke besonders an die bei Jugendlichen so auBerordentlich wichtige und bei Psychopathen so schwierige Frage der Igerufswahl. Die Erfahrung lehrt, dab bei ihnen die iibliche Berufseignungsprtifung nicht ausreicht, ein bestimlntes Urteil vielmehr erst abgegeben werden kann, wenn man den Z6gling in einem Lehrbetrieb arbeiten l~gt. Derartige M6glichkeiten sind natiirlich nur an einer Erziehungsanstalt zu gewinnen . Psychiatrische iKliniken wiirden ihrem Wesen ganz ent- fremdet, wenn sie sich auI dieses Gebiet begeben wollten. Aber auch die Betriebe an Heil- und Pflegeanstalten sind tiir der- artige Aufgaben ungeeignet. Beobachtungsstationen an beiden Orten erscheinen nur ftir einen Teil jugendlicher Psychopathen erwfinscht, welche SCHRODER als ,,Monstra" bezeichnet hat.

Die gedaehte ]3eobachtungsabteilung bietet die beste M6glichkeit, Fiirsorgez6glinge in einwandfreier Weise auf die zutreffenden Erziehungsanstalten zu verteilen. Das ]3ild, welches die Beh6rden yon einem Z6gling gewinnen k6nnen, ist dazu oft keineswegs ausreichend, und es werden heute noch viele Mittel und Zeit damit vergeudet, dab Z6glinge nicht gleich an den richtigen Ort gelangen. Mal3gebend daftir sind in erster Linie Faktoren, welche in der Natur des Z6glings gelegen sind, doeh hat man auch billigerweise Wiinschen der Anstalten Rechnung zu tragen, die sich auf bestimmte p~tda- gogische Ziele einstellen, aber auch Berticksichtigung ihrer lebenswichtigen ]3etriebe fordern.

Mittels einer Beobachtungsstation ist es allein m6glich, die heute allgemein anerkannte und verschiedentlich auch landesgesetzlich geregelte psychiatrische Versorgung von

Erziehungsanstalten einwandfrei durchzuitihren. Es sollte keinem Psychiater zugemutet werden, Psychopathen reihen- oder gruppenweise zu untersuchen und danach Diagnosen zu s tolen und p~idagogische Direktiven zu erteilen. Der sog. Landespsychiater Iiir jugendliche Psychopathen wird erst dann eine ersprieBliche T~itigkeit entfalten k6nnen, wenn er die ihm anvertrauten Fiille auf einer yon ihm geleiteten Beobachtungsstation kennenlernt und sp~tter in den ein- zelnen Erziehungsanstalten nachuntersueht.

Unter den Erziehungsanstalten haben sich in den letzten Jahren einzelne zu besonderen Psychopathenheimen ent- wickelt. Es ist klar, dab diese einer fortlaufenden psychiatri- schen Aufsicht bediirfen, und auf die Dauer kann sich ein mit derartigem Material belegtes Heim nur dann erspriel31ich ent- wickeln, wenn ein psychiatrischer Facharzt an seiner Spitze steht. Zu den Psychopathenheimen mtissen naturgem~tl3 jene H~iuser oder Abteilungen gezlihlt werden, welche in der Differenzierung der Erziehungsaufgaben die schwerst erzieh- baren Ftirsorgez6glinge vereinen. Seit Jahresfrist ist an der staatlichen Erziehungsanstalt Sinsheim in Baden ein dazu eigens erbautes Haus fiir 28 Z6glinge in Betrieb, dem die schwierigsten rn~innlichen Fiirsorgez6glinge aus allen badi- schen Anstalten zugewiesen werden k6nnen. Vorgeschaltet ist die Beobachtungsabteilung fiir schulentlassene ZSglinge in Flehingen. Es hat sich dabei die interessante Tatsache ergeben, dab mancher als schwersterziehbar geltende Z6gling dies in Wirklichkeit gar nicht ist, sondern unter ]3eriick- sichtigung seiner psychischen Anomalien keine besonderen

' Schwierigkeiten macht. ]:)as Prinzip eines Hauses ]i~r schwer erziehbare Fi~rsorge-

z6glinge beruht darauf, dab darin die p~dagogischen Be- mfihungen dutch eigens ausgebildetes Personal verst~rkt werden, fiir angemessene Besch~ftigung ausreichend gesorgt ist, die Entwicklungsm6glichkeiten m6glichst eingeschr~inkt werden, die Z6glinge in Einzelzimmern schlafen und auch sonst die psychische Infektion vermieden wird. Es war auch Ifir reich iiberraschend, Iestzustellen, wie unter diesen ]3e- dingungen Z6glinge ffir das Erziehungswerk im Sinne der ak- riven P~dagogik~ gewonnen und ihre diffusen Strebungen auf einheitliche und soziale Ziele gerichtet werden k6nnen.

Ihren zweiten Stiitzpunkt finder die moderne Ffirsorge ffir jugendliche Psychopathen in der hei~pf~dagogischen Beratung. Wit k6nnen yon da aus am weitesten wirken, da wir so nicht nur mit allen Volksschichten, sondern auch mit vielen Organen wie Pfarrern, Lehrern, Jugendiimtern und Gerichten in Verbindung treten. Man wird bet tieferer Er- Iassung der Aufgabe, schwer erziehbare Jugendliche in oftener Ffirsorge zu betreuen, allerorts auf Liicken und M/ingel stoBen, deren Folgen keineswegs durch 1Ratschl~ige und An- ordnungen zu beheben sind. Das Wohl der Jugendlichen zwingt vielmehr zu aktivem Vorgehen, welches ich darin sehe, dab die heilpddagogische Beratungsstelle selbst den Ursachen der Schwererziehbarkeit nachgeht und sie zu beheben sucht, sieh Einbliclc in die hfiuslichen Verhf~ltnisse verscha]]t, das Kind in der Schule beobachtet, namentlich abet ]ortlau]end sich mit den Kindern spielend und belehrend, ]ormend und ausgleichend beschd]tigt. Dazu ist natiirlieh ein gewisser Apparat von Pers6nliehkeiten und R~umen, Untersuchungs- und Be- sch~ftigungsmitteln erforderlieh, dessen Aufwand aber in keinem Verh~iltnis auch nu t zu den Ersparnissen an I(osten ffir Anstaltserziehung steht, die auf diese Weise vielfach un- nStig wird. A n der Spitze dieser Beratungsstelle muff heute der heilpddagogisch gebildete Psychiater stehen, der allein den psychischen, biologischen, pathologischen und soziologischen Mechanismus itbersehen und zielsichere Direktiven geben kann. Natfirlich bedarf er zu deren Ausffihrung sowie zur Vorbe- reitung seiner Untersuchungen psychologisch, padagogisch und ffirsorglich gut ausgebildeter Mitarbeiter. Eine yon mir in dieser VCeise mit dem Jugendamt Karlsruhe begriindete Beratungsstelle hat in wenigen Jahren eine sehr glficldiche Entwickelung genommen.

Von verschiedenen Seiten wurde die Frage angeregt, die heilp~dagogische Beratung mit der o]]enen Fi~rsorge ]i~r GeisteMcranke zu verbinden. Es handelt sich dabei abet doch

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blog u m eine homologe En twicke lung , welche i n t e r e s s a n t e Pa ra l l e l en n a e h al len R i c h t u n g e n e r k e n n e n laBt. Das Ma- t e r i a l i s t a b e t doch zu versch ieden , u m in de r gle ichen F o r m b e t r e u t w e r d e n zu k 6 n n e n ; m a n un t e r s chA t z t zu le ich t den W e r t u n d die Schwier igke i t de r heilp~tdagogischen B e r a t u n g , a b e r a u e h die E m p f i n d l i e h k e i t s e ine r Kl i en ten . D e r Aufgabe k a n n n u r ein P s y c h i a t e r ge rech t werden , de r als Le i t e r e iner E r z i e h u n g s a n s t a l t ode r h a u p t a m t l i c h e r B e r a t e r t i ne s g r6ge ren J u g e n d a m t e s v611ig in de r He i lp~dagog ik a u f g e h t und so t iber eine m a x i m a l e E r f a h r u n g verf t igt . Als A n h g n g s e l e iner I r r e n - a n s t a l t oder Kl in ik dt i r f te de r he i lp~dagog i schen B e r a t u n g ke in w e i t g e h e n d e r Er fo lg besch ieden se in .

D a m i t i s t die W a n d l u n g angedeu te t , die in den l e t z t en Jal~ren u n s e r e Auf fassung de r p s y c h i a t r i s c h e n Jugendf t i r - sorge e r f a h r e n ha t . Noch 1922 k o n n t e C-]RUHLE auI d e m hell-

p~dagogischen KongreB zu Mf inchen den S t a n d p u n k t min - des tens t i ne s Teiles der P s y e h i a t e r d a h i n pr~tzisieren, dab sie sich n u r gezwungenerweise als B e r a t e r der E rz i ehe r ftihlen, die j eden Augenb l i ck zu r t i ckzu t r e t en b e r e i t sind, soba ld ih re Aufgabe erfi i l l t ist. H e u t e wissen wir, dag die E rz i ehungs - au fgaben bei P s y c h o p a t h e n vie l zu kompl i z i e r t und zu schwie- r ig sind, u m sich d a r a u f b e s c h r ~ n k e n zu k6nnen , E rz i ehe r zu b e r a t e n u n d s i t m i t e in igem p s y c h i a t r i s c h e n Wissen zu ver- sehen. Der Psychiater selbst muff zum Pddagogen werden und als solcher sein psychiatrisches, Wissen in den Dienst der Er- ziehung ]ugendlicher Psychopatt~en steUen.

L i t e r a t u r : 1 H. GRU~LE, :Die Ursachen der jugendlichen Verwahrlosung und Kriminaiit~tt. Berlin: Jul. Springer 1912. - 2 GR]~GOR, Uber aktive P~dagogik in der ~'. E. Zbl. f. Vor- mundschaftswesen I92z.

NATURWISSENSCHAFT UND HEILKUNDE*. Won

Prof. WILHEL M TRENDELENBURG. Aus dem Physiologischen Institut der Universitfit Berlin.

Es k a n n k e i n e m Zweifel un te r l i egen , d a b die Physiologie , die ih re r se i t s wieder auf den e x a k t e n N a t u r w i s s e n s c h a f t e n gegr t inde t ist, g r6g te B e d e u t u n g Itir die p r a k t i s c h e Mediz in besi tz t , f Jber den U m f a n g dieser B e z i e h u n g e n w u r d e n in neuere r Zei t l e b h a f t e E r 6 r t e r u n g e n gef~hr t , be i denen m a n c h e r - lei Gegens~tze h e r v o r t r a t e n .

Es h a n d e l t sich, sowei t ich sehe, vo rwiegend u m zwei G r u n d f r a g e n : ers tens , wiewei t die H e i l k u n d e a u g e r de r N a t u r - wis senschaf t n o c h a n d e r e n W i s s e n s c h a f t e n zugeh6r t , u n d zweitens, inwiewei t in der H e i l k u n d e auge rwis senscha f t l i che F a k t o r e n eine e n t s c h e i d e n d e Rol le spielen.

D u r c h a u s zu t r e f f end is t n u n zun~chs t die Fes t s t e l lung , (KREHL, E. MEYER, O. MULLER), d a b es ein Feh le r w~re, die He i lwissenschaf t res t los in N a t u r w i s s e n s c h a f t auf lbsen zu wollen. N e b e n d e m k6 rpe r l i chen K r a n k s e i n dar f das Seelisehe n i ch t ve rnach l~ss ig t werden . D e r A r z t m u g den Menschen in se inem s u b j e k t i v e n Leid v e r s t e h e n u n d in de r p sych i schen ~3edingeheit seines Leidens . U nd de r A r z t m u g we i t e rh in a u c h seine ganze Pe r s6n t i chke i t au f den K r a n k e n wi rken lassen. D a m i t t r i t t die Psychologie ganz in den V or de r g r und , die n i c h t N a t u r w i s s e n s c h a f t ist. Wi r k 6 n n e n n iemals d u t c h Ver fo lgung de r p h y s i s c h e n E r s c h e i n u n g s r e i h e n in das Psych i sche h ine in - g e l a n g e n . Das k a n n a u c h die phys io logische Psychologie n ich t . D e s h a l b i s t s i t abe r ke ine a n sich ve r feh l t e R ich tung . Es g e h 6 r t m i t zu r W i s s e n s e h a f t v o m Seelischen, seine Bezie- h u n g e n zum K6rp e r l i chen zu erfassen. Abe r es m u g auch das Seelische in se inem Geschehen ffir s ich u n t e r s u c h t werden . Es is t na t f i r l i ch n i c h t die Aufgabe t i ne s t h e o r e t i s c h e n NIedi- ziners, zu u n t e r s u c h e n , ob und wieviel yon Jkrzten d u r c h Ver- nachlXssigung des P s y c h i s c h e n gefehl t wurde . N u r die eine F rage liege Ifir uns h ie r vor, ob es im W e s e n tier echten , d. h. also auch de r sich ih re r G r enzen bewug ten , na tu rw i s sen - s cha f t l i chen t3e t r ach tungswe i se liege, das Seelische als be- langlos oder im m a t e r i a l i s t i s e h e n S inne als F u n k t i o n des K6rpe r l i chen beise i te zu schieben. Diese F rage muB v e r n e i n t werden .

A n d e r e B e a n s t a n d u n g e n be t r e f f en m e h r das ganze G r u n d - p r inz ip de r n a t u r w i s s e n s e h a f t l i c h e n Fo r schung . Dieses be- s tehe dar in , so is t e twa de r G e d a n k e n g a n g , dag eine Zergl iede- r u n g (Analyse) der zu u n t e r s u c h e n d e n m e h r oder weniger ver- wickeKen E r s c h e i n u n g e n V or genom m en wird. Es erggbe sich dabe i die Gefahr , d a b die Dinge n i c h t m e h r in ih re r Ganz- he i t e r f a g t werden, s onde r n als N e b e n e i n a n d e r v o n Einzel- h e i t e n e rsche inen .

A b e r in j eder W i s s e n s c h a f t b i l de t die Syn these , die zum G e s a m t b i l d f t ihr t , die ErgXnzung der Analyse . A u c h der Gesch ich t s fo r sche r k a n n n u r d u t c h A n a l y s e alas, was i h m wesen t l i ch e rschein t , yon d e m U n w e s e n t l i c h e n t r e n n e n .

* N a c h e inem a m 19. Mai I928 zu r 5o-Jahr fe ie r des ~ r z t e v e r e i n s N a h e g a u iia Kreuznach geha l t enen Vor t r ag . . . . .

Aus d e m h i e r n a c h vor l iegenden, a n E inze lhe i t en g rmeren , an O 'bers ich t l i chke i t r e icheren T a t s a c h e n m a t e r i a l b a u t n u n der H i s to r ike r in n a c h s c h a f f e n d e r P h a n t a s i e das G e s a m t b i l d auf, so w i t es s ich i b m dars te l l t . Neuere K r i t i k a n de r n a t u r - wissenschaf t l i chen MetEode will e twas Neues, nS.mlich t i n solehes G e s a m t b i l d f inden ohne Analyse , n u r in r e inem An- sehauen . N u r das k a n n die F o r d e r u n g bedeu ten , dab wir den B l t i t e n b a u m als Ganzes e r leben sollen (SAuERBRUC}t). Das k 6 n n e n wir nu t , w e n n wir ledigl ich dem k t ins t l e r i schen Naturgenufi nachgehen . Wol len wir abe r den B l t i t e n b a u m im wissenschaf t l i chen Naturerkennen (das wohl auch yon SAIJERBRUCH g e m e i n t ist) , , e r leben" , so mt issen wir auch seine Einzel te i le er leben, mt i ssen fes ts te l len, wozu die BlOtter u n d t31titen u n d W u r z e l n da s ind u n d welches die Kr~f t e sind, die das zum L e b e n u n d W a c h s e n N o t w e n d i g e de r E rde en t - n e h m e n u n d im S t a m m e h o c h t r e i b e n -- und ande res mehr . So werden wir i m m e r v o m Er l eben des G a n z e n z u m E r l e b e n de r Teile gef t ih r t u n d h a b e n a u c h h ie rbe i die groi3e, s te t s neue Fo r sche r f r eude a m groBen W u n d e r de r N a t u r .

Die Frage yon SAOE~BR~C~ 2 ,,wer die wahre Vorstellung von dem Baum ha t : der, der ihn in seiner Gesamtheit , in seiner Pracht erschaut, ihn mit allen seinen Sinnen in sich aufnimmt und erlebt, oder derjenige, dem das alles kein Erlebnis ist, der daftly abet ana- tomische und physiologische Eigenschaften und Einzelheiten seines Aufbaues und seiner Funkt ionen kennt" , ist nicht schwer zu be- antworten. Die ,,wahre Vorstellnng" ha t gewiB der nicht, d e r n u r das ~ugere ,,erlebt", und auch der nicht, d e r n u r die Einzelheiten des inneren Betriebes zu erforschen versucht, sondern nut der, wel- cher die auBere Erscheinung und das inhere Geschehen ergriindet und in Beziehung setzt und sich daraus eine Gesamtvorstellung auf- baut . Und das ist eben die Aufgabe der Naturforschung stets ge- "~vesei1.

Die zur v e r e i n f a c h t e n A n s c h a u u n g f t ih rende S y n t h e s e i s t o tme v o r a n s g e h e n d e k r i t i sche und ins e inzelne gehende Ana - lyse unm6gl ich . Beide geh6ren eng zue inander , l )as ganze n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e F o r s c h e n -- n i c h t n u t die Lehre -- i s t m i t A n s c h a u u n g unl6s l ich v e r b u n d e n . A u c h bei a l len T h e o r i e n liege die B e d e u t u n g im Anschau l i chen . 0eo)~o~a he ig t j a Anschauen , B e t r a c h t e n . So h a t z. B. die chemische S t ruk - t u r t h e o r i e d u r c h ihre u n m i t t e l b a r e A n s c h a u l i c h k e i t eine so grol3e heu r i s t i s che u n d , , s y n t h e t i s c h e " t3edeu tung -- n i c h t n u r im chemischen S inne gemein t : Sie g ib t ein , ,We l tb i l d " eben de r g rogen W e l t chemische r Z u s a m m e n h g n g e . I n a l len Theo- r ien s t e c k t b i l d h a f t e Anschau l i chke i t .

I n de r H e i l k u n d e soll es zwei Wege de r E r k e n n t n i s geben. Sowei t die H e i l k u n d e m i t E x p e r i m e n t e n , B e o b a c h t u n g e n u n d SchluBfo lgerungen arbei te , sei s i t Heilwissensehaft, Eine a n d e r e E r k e n n t n i s f o r m a b e t e rhebe s i t zur Hell/curtsY, u n d diese Erke lnn tn i s fo rm sei die , , I n t u i t i o n " .

W a s abe r i s t I n t u i t i o n ? I s t es e ine besonde re Gabe des g r0gen Arztes , die sein T u n h 0 e h f iber die Arbe i t n a t u r w i s s e n -