Zur Frage der chronischen Morphinpsychose und des Zusammenhangs von Sinnestäuschungen und Wahnideen

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Zur Frage der chronischen Morphinpsychose und des Zusammenhangs yon Sinnest~iuschungen und Wahnideen. Von Kurt Schneider. (Aus der psychiatrischen Klinik der Akademie fiir praktische Medizin in CS]n [Prof. Dr. G. Aschaffenburg].) (Eingegangen am 17. Juli 1913.) Die Frage, wann man yon einer ,,chronischen" Intoxikationspsychose im Gegensatz zu einer ,,akuten" sprechen kann, ist nicht ganz leicht zu beantworten. Die n~chstliegende Abgrenzung nach dem kiirzeren oder li~ngeren Verlauf ist sehr unsicher und vSllig willkfirlich. Das Wesent- lichste ist wohl, dal~ die Psychose auch nach We~all der direkten ur- s~chlichen Sch~dlichkeit nicht heilt bzw. in einen geistigen Schw~che- zustand fibergeht. Man wird mi¢ Recht einwenden, dab damit in den Begriff des Chronisehen der des Unheilbaren hineingetragen wird, aber tats~chlich ist es fiblich geworden, unter einer ,,chronischen Intoxika- tionspsychose" eine mehr oder weniger unheilbare Krankheitsform zu verstehen. Auch Kraepelin 1) hat dies vor kfirzerer Zeit ziemlich ein- deutig ausgesprochen: ,,yon den akuten ffihren flieBende Uberg~nge zu den chronischen paranoiden Alkoholpsychosen hinfiber, die nichts an- ders sind, als ungeheilte Endzust~nde jener ersteren." Es ist bekannt, dal~ solche chronische Intoxikationspsychosen heute viet seltener diagnostiziert werden, als frfiher. Die Psychiatrie ist mill trauischer geworden, sie nimmt es mit der Annahme eines ~tiologisehen Faktors nicht mehr so leicht, selbst wenn dieser aLff der Hand zu liegen seheint. Die Entwieklung unserer Anschauungen fiber chronisehe A1- koholpsyehosen illustrieren dies am deutlichsten. Am radikalsten war wohl G r ~ t e r 2), der,,das Vorkommen einer den Trinkern zukommen- den ehronischen Psyehose paranoider Art" als ,,nicht bewiesen" betrach- tet und in allen F~llen Kombinationen yon Dementia praecox und Alkoholismus annimmt. Von kombinierten Psychosen diirfen wir nach G aupp a) spreehen ,,werm sich entweder zu angeborenen Anomalien 1) Uber paxanoide Erkrankungen. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. Orig. II, 629. 1912. 3) Dementia praecox mit Alkoholismus chronicus. Leipzig 1909. J. A. Barth. a) Zur :Frage der kombinie~en Psychosen. Centralbl. f. Nervenheflk. u. Psych. ~6, 775. 1903.

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Zur Frage der chronischen Morphinpsychose und des Zusammenhangs yon Sinnest~iuschungen und Wahnideen.

Von Kurt Schneider.

(Aus der psychiatrischen Klinik der Akademie fiir praktische Medizin in CS]n [Prof. Dr. G. Aschaffenburg].)

(Eingegangen am 17. Ju l i 1913.)

Die Frage, wann man yon einer ,,chronischen" Intoxikationspsychose im Gegensatz zu einer , ,akuten" sprechen kann, ist nicht ganz leicht zu beantworten. Die n~chstliegende Abgrenzung nach dem kiirzeren oder li~ngeren Verlauf ist sehr unsicher und vSllig willkfirlich. Das Wesent- lichste ist wohl, dal~ die Psychose auch nach We~al l der direkten ur- s~chlichen Sch~dlichkeit nicht heilt bzw. in einen geistigen Schw~che- zustand fibergeht. Man wird mi¢ Recht einwenden, dab damit in den Begriff des Chronisehen der des Unheilbaren hineingetragen wird, aber tats~chlich ist es fiblich geworden, unter einer ,,chronischen In toxika- t ionspsychose" eine mehr oder weniger unheilbare Krankheitsform zu verstehen. Auch K r a e p e l i n 1) hat dies vor kfirzerer Zeit ziemlich ein- deutig ausgesprochen: ,,yon den akuten ffihren flieBende Uberg~nge zu den chronischen paranoiden Alkoholpsychosen hinfiber, die nichts an- ders sind, als ungeheilte Endzust~nde jener ersteren."

Es ist bekannt, dal~ solche chronische Intoxikationspsychosen heute viet seltener diagnostiziert werden, als frfiher. Die Psychiatrie ist m i l l trauischer geworden, sie n immt es mit der Annahme eines ~tiologisehen Faktors nicht mehr so leicht, selbst wenn dieser aLff der Hand zu liegen seheint. Die Entwieklung unserer Anschauungen fiber chronisehe A1- k o h o l p s y e h o s e n illustrieren dies am deutlichsten. Am radikalsten war wohl G r ~ t e r 2), der , ,das Vorkommen einer den Trinkern zukommen- den ehronischen Psyehose paranoider Ar t " als ,,nicht bewiesen" betrach- te t und in allen F~llen Kombinat ionen yon Dementia praecox und Alkoholismus annimmt. Von kombinierten Psychosen diirfen wir nach G a u p p a) spreehen ,,werm sich entweder zu angeborenen Anomalien

1) Uber paxanoide Erkrankungen. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. Orig. II, 629. 1912.

3) Dementia praecox mit Alkoholismus chronicus. Leipzig 1909. J. A. Bar th . a) Zur :Frage der kombinie~en Psychosen. Centralbl. f. Nervenheflk. u. Psych.

~6, 775. 1903.

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(]eistesstSrunge~ als erworbene Prozesse hinzugesellen, oder wenn eine Geisteskrankheit durch andere, manchmal mehr zufiillige Himsch~di- gungen (Alkoholvergiftung, Btutgef~I]erkrankung, senile Rindenver- 5dung) kompliziert und in ihrem klinischen Bride und Verlaufe ver~ndert wird." In diesem letzteren Sirra sind fiir G r a t e r die ehronischen para- noiden Alkoholpsychosen Kombinationspsychosen. Aber seine Ansicht vermochte doch nieht durchzudringen, und trotz mancher Streichungen blieben die chronischen Alkoholpsychosen in der psychiatrischen Systematik.

Sie sind aber die einzigen chronisehen Intoxikationspsychosen, die bis heute dem Ansturme der Kri t ik widerstanden haben, wenn wir yon den nach Blei-, Ergotin- und Pallargavergiftung beschriebenen Ausg~ngen in Demenz absehen wollen. Die ebronischen C o c a i n p s y e h o s e n sind auch verschwunden, und mit grSBter Vorsicht und Kritik trat vor kur- zem H e i l b r o n n e r 1) an der Hand eines fraglichen Felles wieder an die YiSglichkeit ihres Bestehens heran, ohne sie bejahen zu k6imen : ,,es muB sogar - - ganz abgesehen yon der Frage der spezifisehen Symptome - - bezweifelt werden, ob es iiberhaupt eine ehronische Psychose infolge Coeainmfl]braueh gibt."

W~hrend wenigstens die akute Cocainpsychose siehergestellt ist, wird dem Morphin iiberhaupt die lVI6glichkeit, Psyehosen hervorzurufen, abgesprochen. Nameatlieh die chronische M o r p h i n p s y e h o s e haben s~mtliche Autoren fallen gelassen. Auch dar/iber waren die fr/iheren anderer l~einung, so war der gr/lndlichste ~ltere Kenner des l~/Iorphinis- mus, A. E r l e n m e y e r 2 ) , fest davon /iberzeu~, dab der chronische Morphinismus Psyehosen mit absolut schlechter Prognose zur Folge haben kann. Es handle sich in den allermeisten F~llen um unheilbare Formen im Bilde des Sehwachsinns. ,,Die h~iufigste Form der Intoxi- kationspsyehose ist die Verr/iektheit. Veffolgungs- und GrSI]enwahn, mit oder ohne Halluzinationen, bilden das Krankheitsbild, dessen ~Vesen die p~yehische Sehw'~ehe darstellt ." Unter den 50 mitgeteilten Krank- heitsgeschiehten schildert er aber nur einen einzigen Fall, in dem reiner Morphinismus zu einer unheilbaren Psychose ffihrte. Es handelte sieh um eine erblieh belastete 41jEhrige Frau, die nachdem schon einige Jahre vorher wenige Tage lang Halluzinationen bestanden hatten, pl6tzlich wieder mit solchen erkrankte und ,,Spuren geistiger St6rung" zeigte. Sic waft Spritze und Morphinl6sung weg, abet auch naehdem die Ab- stinenzerseheinungen abgeklungen waren, besserte sieh der psychische Zustand nieht. ,,Sie titt an typiseher Paranoia mit sehr erhebliehem Gr6Benwahn und Veffolgungswahn. Halluzinationen bestanden fort- wahrend. Bei der Aufnahme wog die Patientin 90 Pfund, bei der Ent-

1) Cocainpsychose? Zeitschr. f. d. ges. ~Neur. u. Psych. J~, 420. 1913. 3) Die Morphiumsucht und ihre Behaudlung. 3. Aufl. 1887.

und des Zusammenhangs yon Sinnestauschungen und Wahnideen. 27

lassung 164. Die psychische E r k r a n k u n g ist unhei lbar . Pa t i en t in be-

f indet sich in einer I r r e n a n s t a l t . " Aueh bier ist es n u n sehr fraglich, ob wir wirklich den Morphinismus

als Ursaehe der Psychose a n n e h m e n diirfen, eine K o m b i n a t i o n mit einer der Dement ia -praeeox-Gruppe zuzurechnenden E r k r a n k u n g ist naeh den sonst igen Er fah rungen viel wahrscheinlieher. Sicher ist, dab wir eine typische Morphinpsychose nicht ke lmen u n d so werden wir mi t ihrer Diagnose stets in der Luf t stehen, wie aueh J a s p e r s 1) betont : ,,im Einzel- fall ist die kaus~le Zuordnung n u t einwandfrei , wenn es sich um typische, bei dem betreffenden Gift h~ufig beobachte te Psychosen handel t . I n anderen Fgl len besteht die lV[6glichkeit, dal] es sieh u m eine ganz ~nders- art ige Psychose bei einem ~uch nebenbe i ehroniseh vergif teten Ind iv i - d u u m h~nde l t . "

Ob es sich bei einer , ,ehronisehen Morphinpsychose" immer u m eine K o m b i n a t i o n hande ln mul~ ? - - Der folgende Fal l wird diese Frage zwar n icht 16sen, er ist abet so bemerkenswer t u n d so veil yon Problemen und R~tseln, dab eine eingehende Da rs te l lung u n d Epikrise sich wohl lohnen mag.

Der am 8. III. 1866 geborene Arzt Dr. med. N. stammt aus einer Familie, in der zahlreiche 2qervenkrankheiten vorgekommen shad. Der Vater sei sehr nerv6s gewesen und habe be[ doppetseitiger Tanbheit an schweren Ohrgerauschen gelitten. Die Mutter sei ebenfalls geistig abnorm gewesen mid wie friar yon ihren Geschwistern an Lungensehwindsueht gestorben. Ein Bruder yon ihr babe in einer Irrenanstalt geendet. Die einzige Schwester des Put. starb mit 12 Jahren an einem Unfall, der einzige Bruder, ebenfalls Arzt, war Morphinist, ftik~e ein sehr ~41des Leben, trank, erschoB in geisteskrankem Zustand einen Grol]onkel, war dann mehrere Jahre in einer Irrenanstalt, wurde geheflt entlassen, wanderte nach Brasilien aus und ist dort verschollen; auch er sell auf einem Ohr taub gewesen sein.

Dr. N. sei als Kind ziemlich kr~nklich gewesen, habe gut gelernt, aber immer ein reizbares und mil~trauisches Wesen gezeigt. Als Student babe er sehr viel getrunken, aber das Staatsexamen zur reehten Zeit gemacht.

Sehon im 9. Semester (Winter 1889) habe er zum erstenmal 3[orphium ge- nommen. Er sei in dieser Zeit wegen vieler Sorgen um den Bruder und wegen seines damals beginnenden Geh5rleidens sehr in seiner Stimmung gedriickt ge- wesen. Aber erst etwa vom Jahr 1892/93 an sei er habitueller Morpkin]st geworden. Naeh dem Staatsexamen sei er in Dresden und Berlin Assistenzarzt gewesen und habe sieh dann 1892 in R. als praktischer Arzt nnd Frauenarzt niedergelassen. Im Jahre 1893 habe er zum erstenmal Stimmen gehSrt; er habe damals ein Ver- haltnis gehabt und geglaubt, dal~ das M~dehen ihm untreu sei. Sobald er an sie gedacht habe, habe er Stimmen gehSrt, die fiber sie sprachen und sie verd~chtigten. Mitunter seien es bekannte, mitunter unbek~nnte Stimmen gewesen, manchmal h~tten sie sich selbst vorgestellt. In der Zeit habe er auch geheiratet, ohne aber das Verh~tltnis aufzugeben. Die Ehe sei ganz glficklich gewesen, auch die Praxis sei ordentlich vorangegangen, doeh babe er nur schwer die nStige Energie auf- bringen und sich nie zu einem Krankenbesuch entsehlieBen k6nnen, ohne vorher zu spritzen. Seit dieser Zeit sei er iiberhaupt chronischer Morphinist geworden, daneben habe er, hauptsachlich um veto Morphium loszukommen, mitunter sehr

1) Allgemeine Psychopathologie. Berlin 1913. Verlag yon Julius Springer.

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viel, namentlich Sekt, getrunken und ganz selten auch Cokain gebrancht. Ohne Spritze habe er den Leuten nicht in die Augen sehen kSnnen, wenn er gespritzt babe, sei er ein anderer Mensch gewesen. Er sei viel verstimmt gewesen: mit dem damals in derselben Stadt lebenden Vater habe er schleeht gestanden, und die Aff~re des damals in einer franzSsischen Irrenanstalt internierten Bruders habe ihn schwer gedriickt. Im Lanfe der Jahre habe das GehSr anf dem reehten Ohr immer mehr abgenommen, seit etwa 1896 sei er rechts vollkommen tanb. Er habe ira rechten Ohr schon l~nger Ranschen und Musik, mitunter ganze Melodien geh6rt, dann seit 1893 immer mehr jene deutliehen Stimmen, die sich in erster IAnie auf das VerhMtnis, atlm~hlich aber anch anf andere ihm wichtige Dinge bezogen; so habe er gelegentlich die Stimmen seiner Patienten gehSrt.

Etwa 1896 habe er ein sehr hiibsches I)ienstm~dchen gehabt und sich ein- gebildet, jeder, der in seine Spreehstunde komme, komme mtr des M~tdchens wegen. Lebhafte Stimmen h~tten seinen Verdacht best~tigt mad Jim immer erregter gemaeht: , ,¥erhau sie, schiel~ sie t o t ! " Er babe das M~dchen mehrere Tage ein- geschlossen, sei h~ufig auf sie losgegangen und babe sie 5frets gepriigelt, wobei er eine gewisse Befriedigung verspiirt habe.

Durch Vermittlung eines verwandten Arztes sei er dann in eine nahegelegene Universit~tsklinik und yon dort nach wenigen Stunden in ein Sanatorium zur Entziehung des Morphiums gebraeht worden. Dort sei es nicht besser geworden, er sei namentlieh gegen den Anstaltsleiter eingestellt gewesen, habe geglaubt, er gebe ihm Cocain zur EntwShnung des Morphiums, habe h~tufig gemeint, man woUe ihn mit Fleisch vergiften, habe massenhaft Stimmen gehSrt, die sein friiheres Verh~ltnis und das Dienstm~tdehen betrafen, sei immer erregter geworden, habe die W~rter angegriffen, sei im Sommer 1896 in die Heilanstalt zu H. 1) gekommen. Dort sei ihm das Morphium entzogen worden, die Halluzinationen seien bedeutend zuriickgetreten, doch habe er immer noch Stimmen gehSrt, namentlich solche, die ihn wegen der begangenen Gewalttaten und Verfehlungen im Beruf Vorwiirfe machten. Er habe sieh viel mit Sport, namenthch Radfahren, besel~ftigt und viel mit andern Kranken verkehrt; yon den gemeinsamen Ausfliigen seien sie h~tufig betrunken nach Haus gekommen. Nach etwa einem Monat sei er wieder miB- trauisch geworden, habe sich yon den andern Kranken vollkommen zuriiek- gezogen, habe masserrhaft Stimmen geh6rt und sei schwer tobsiichtig in der Zelle gewesen. Er habe geglaubt, yon Freimaurern festgehalten zu werden, babe sio spreehen gehSrt, ihnen auf ihre aufreizenden Reden geantwortet, sich mit itmen herumgestritten. Er babe geglaubt, yon der Regierung als Gedanken- beobaehter angestellt zu sein, um Anarehisten und Sozialdemokraten aufzu- spfiren, habe geglanbt, man kSnne mit Telegraphie und Telephonie ohne Draht (damals noch nicht erfunden) Sinneseindriicke yon einem zum andern iibertragen, habe sich h~ufig fiir hohe PersSnlichkeiten gehalten, z. B. gemeint, er sei in Fiirstenried und der geisteskranke KSnig Otto yon Bayern, darm wieder ein in mediziniseher Beziehung hochinteressanter Menseh, mit dem man Versuehe mache. Das Medizinische habe in den Halluzinationen iiberhaupt e]nen Sehwerpunkt gebfldet, er habe geglaubt, dab er seinen Vater, den er w~hrend dessen letzter Krankheit behandelt hatte, mit Morphium vergiftet, wie anch viele andere seiner friiheren Patienten. Dafiir werde er jetzt gestraft, indem man Personen seiner Umgebung diesen ~hnlieh mache und die Verstorbenen so er- seheinen lasse. In engstem Zusammenhang mit diesen Halluzinationen habe er Parasthesien gehabt, mitunter sogar heftigste Sehmerzen an den KSrperteilen,

x) l~fit l~iieksieht auf den Kranken mul3 ich selbst die Anfangsbuchstaben der betreffenden Anstalten ver~tndern; mein Dank fiir die ~-bertassung der Kranken- blotter ist darum nicht weniger aufrichtig.

und des Zusammenhangs yon Sinnest~uschungen und Wahnideen. 29

an denen die fr/iher behandelten Kranken ihre Leiden gehabt hatten. Die Stimmen und Vorwiirfe dieser yon ibm vergifteten Personen habe er st~ndig geh6rt.

Es habe sieh dann die Idee bei ihm festgesetzt, er wolle in dieselbe Heilanstalt L., aus der der kranke Bruder seinerzei~ so raseh entlassen worden sei, and man babe ihm den Wunsch im Somme 1897 auch erfiillt.

Aus dem Krankenblatt der Heilanstalt H. geht hervor, dab Dr. N. dort yore 20. VI. 1896 bis 19. V. 1897 aufgenommen war. Er bot zun~ehst das Bild des chronisehen Morphinlsmus, war unzufrieden, unruhig, mi~traulsch, sehlaflos, dr~ngte fort. Bald wurde er zufriedener, beteiligte sieh an Ausflfigen, fuhr viel Rad. August 1896 begann er verstimmt, einsflbig, argwShniseh zu werden, bezog alles auf sieh, glaubte sieh beobachtet. Dann traten Sinnest/~uschungen hinzu, er roeh Leiehengerueh, sah TotenkSpfe, unterhielt sieh mit Stimmen, die auf elektrischem Wege oder dutch Telephonie zustande kamen. Er besehuldigte Arzt und W~rter, an den ngchtliehen Vorkommnissen sehuldig zu sein, bedrohte sie und zertriimmerte h~ufig MSbel. Er wurde dann ruhiger, doch bestanden die Sinnestguschungen fort, und es trat keine Krankheitseinsieht auf. Er riehtete Besehwerdesehriften an versehiedene Beh6rden; in einem 9 Seiten langen sehr sauberen und, obgleieh mitunter der Satzbau verloren geht, ~uBerlich korrekten Sehriftstiick an den Justizminister schreibt er folgendes:

, ,Trotzdem ich nun seit Juni vorigen JaMes morphiumfrei und vollkommen schuldlos und harmlos bin, wendet man auf reich eine perfide und unmoralisehe Gedankenkontrolle an, seit dem ersten Mai bis zur jetzigen S e k u n d e . . . Die raffiniert ausgefibte GedankenkontroUe hat reich schon h~ufiger dem Wahnsirm nahegebraeht, gerade abet in letzteren l~omenten, wo diese Beeinflussungen aufs /~uBerste gespannt waren, so daft ieh es nur einer g6ttlichen F/igung zu verdanken habe, dab ieh geistig intakt geblieben bin. Auch jede Naeht seit meiner Anwesenheit in H. weekt man reich, um reich dureh H611enl~rm der in den Nachbarzellon Unter- gebrachten sowie dureh die Gedankenkontrolle zu schinden und zu qu~len. Meine Tr/~ume beeinfluSt man in der sehamlosesten Weise, ieh kann es nur frevent]Jehe Experimente nennen. Aueh den Wahn, ich sei ein jetzt noch regierender deutscher Ffirst, ha~ man mir vorfibergehend a n s u g g e r i e r t . . . "

Am 19. V. wurde Dr. N. auf seinen Wunsch nach L. iibergef/ihrt. Dort sei sein Zustand fiinf Jahre derselbe gewesen wie in H., doeh habe er

daran teilweise eine nur undeutliehe Erinnerung. Er sei h/~ufig sehr gewaltt~tig und ganz unzug~nglieh gewesen, babe im wesentlichen im selben Sinne wie friiher halluziniert und seine Wahnideen yon Gedankenfibertragung und Gedanken- zentrale immer mehr zum System ausgesponnen. Ende Februar 1902 sei er dutch einen ZufaU wieder mit andern Patienten in Berfihrung gekommen, und sein Zustand habe sich darauf so gebessert, dab er mit voller Krankheitseinsicht, aber dabei immer noeh welter halluzinierend, bald entlassen worden sei.

Nach dem Krankenblatt der Heilanstalt L., in der Dr. N. bis zum 28. II . 1902 also fast f/inf Jahre, blieb, war der Zustand etwa der: Die Stimmung war immer erregt, er war reizbar, grob, riieksiehtslos, schimpfte oft sehr heftig. Die Sinnes- t/~uschungen spielten sieh haupts/~chlieh auf dem Gebiet des Geh6rs ab, daneben bestanden Gesichts-, Geschmacks- und Geruchst~usehungen und lebhafte kSrper- liehe lYfi/3empfindungen. Immer mehr wurde aus den Wahnideen ein System:

Er wird yon Beobaehtern verfolgt, die seine Gedanken bewaehen und ihn zwingen, zu denken und zu handeln, wie sie wollen. Naeh der Ausspraehe unterseheidet er besonders zwei, einen norddeutsehen und einen sfiddeutsehen Beobachter oder ,,Transferenten". Die Transferenten beeinflussen a u / d e m Wege der Suggestion aber auch die Lebensvorg~nge seines KSrpers. Die Beeinflussung gesehieht dureh das ,,Autosuggestionstelephon". Auch J~rzte und W~rter werden

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in ihrem Handeln und Denken yon den Transferenten ganz beherrscht und gegen ihn aufgehetzt~ ebenso werden allerlei Tiere, M~tuse, Katzen, Fliegen gezwungen, ilm zu ~rgern, selbst leblose Gegenst~tnde mfissen dies tun. Alle Zeitungen und Bfieher sind seinetwegen gedruckt, die Anstalt ist eigens ffir ihn eingerichtet, die Kranken sind seinetwegen hergeschafft, besondere Spezialgesetze sind ffir seinen Fall erlmssen.

Mit der Zeit glaubte er, die Personen seiner Umgebung st~,nden nieht mehr gezwungen unter der Macht der Transferenten, sondern lieBen sich mit ihrem Einverst~ndnis yon ihnen gebrauchen. So wurde er im Frfihjahr 1899 immer feind- seliger and unvertr~glicher, vernachl~tssi@e such sein AuBeres, wurde immer ausfallender und stSrender und deshalb schliefllich yon den andern Kranken entfernt und auf seinem Zimmer gehalten. Er sehrieb umfangreiche Briefe an seine Frau, Verwandte und BehSrden, beschwerte sich fiber da~ Treiben der Trans- ferenten, drohte ihnen die sehlimmsten Strafen an, w~thrend seiner und seiner Frau eine gl~nzende Entsch~digung aus 6ffentliehen Mitteln und eine glfiekliche Zukunft warte.

Am 7. X. 1899 wurde Dr. N. entmfindigt, nachdem er sehon am 11. I I I . 1898 wegen unheilbarer Paranoia als dauernd erwerbsunf~hig erklart worden war. In dem Entmfindigungsgutachten heiBt es, ,,er ist vSllig unf~hig, jegliches Vor- kommnis, jegliehe Angelegenheit, die mit seiner PersSnlichkeit in irgendeiner Beziehung steht, riehtig zu bmurteflen; all sein Denken fiber die Beziehungen seiner PersSnlichkeit zur AuBenwelt, all sein Urteil, die daraus entstehenden Entschliksse und sein Handeln stehen unter der Beherrsehung der geistigen Krankheit, des Beeintr~tchtigungs- and des GrSBenwahns, wie er ausgesprochener kaum gedaeht werden kann. Der Kranke ist daher vollkommen unf~thig, seiner Person vorzustehen und seine Angelegenheiten selbst~ndig zu verwalten. Die Krankheit ist unheflbar."

Dr. N. wurde immer sehwieriger. Schon Frfihjahr 1900 konnten die J/~rzte nieht mehr mit ibm verkehren; sobald man ilm anspraeh oder such nur grfiBte, sehimpfte er in der rohesten Weise, das Wartepersonal hatte bei seinen Dienst- leistungen sehr zu leiden. Er vernachl~ssigte sich ~uBerlich immer mehr, blieb allein auf seinem Zimmer, zeigte ein finsteres Gesicht, war still, wenn man ihn in Ruhe lieB, brfillte, schrie, schimpfte, wenn jemand eine Anrede versuchte, er frug nie nach Frau oder Verwandten, sehrieb auch keine Briefe mehr.

1901 wurde die Ehe geschieden. In dem im .~pril 1901 abgegebenen Gutaehten heiBt es: ,,Abgesehen yon seinem feindseligen Verhalten hat das Wahnsystem des Kranken eine solch ausgedehnte and tiefe StSrung und F~lsehung der gesamten Denkf~higkeit herbeigeffihrt, dab er einerseits unf~hig is~ zu irgendeiner riehtigen Auffassung und zu einem richtigen Urteil, andererseits aber aueh v6llig unf~hig, auch nur die geringste Belehrung anzunehmen. Und wenn such die MSgliehkeit besteht, dab die hoehgradige Aufregung sieh mindcrt, so karm doch mit Bestimmt- h e r angegeben werden, dab beziiglich des Wahnsystems des Kranken keine Besse- rung mehr eintreten wird. Und es ist damit such der Ausspruch begrfindet, dab eine Wiederherstellung der geistigen Gemeinsehaft ausgeschlossen ist ."

Ganz unerwartet t rat aber bereits im September 1901 eine vollst~tndige ~n- derung ein. Dr. N. wurde freundlicher, ruh!ger, alle ~uBeren Krankheitserschei- nungen einsehliefllich des Wahnsystems versehwanden vollkommen, dan KSrper- gewicht stieg auffallend, das Benehmen wurde v611ig geordnet, ebenso die Stimmung, nur ein leichtes MiBtrauen bestand noch fort, doeh verschwand auch dieses. Am 28. II . 1902 konnte er als nicht mehr geisteskrank entlassen werden and gab an, er wolle sich in Argentinien als Arzt niederlassen. ,,Sein Zustand bei der Entlas- sung wurde nur als Besserung, nicht als vSUige Heilung lediglich aus dem Grunde bezeichnet, weil man mit einem Rfieksehlag rechnen muBte. Er wurde zur Zeit der

und des Zusammenhangs yon Sinnestiiusehungen und Wahnideen. 3 I

Entlassung fiir fahig erachtet, seinen ~rztlichen Beruf auszuiiben und seinen Unter- halt zu verdienen."

Naeh dieser Entlassung sei er gleich nach Amerika gegangen; 8 Jahre habe er in San Franzisko, 2 Jab_re in l~Iexiko gelebt. Seine Stimmung sei dauernd so gedrfickt gewesen, dab er sehr bald wieder Morphium gespritzt und innerheh genommen habe. Zu einer Arbeit sei er wegen der iibergroBen Nervosit~t nicht~ f~hig gewesen, 1906 habe er aus Verzweiflung dariiber, dab er ohne Examen nicht praktizieren duffte und sieh auf die Examensvorbereitungen nicht konzentrieren kormte, einen ernstliehen Selbstmordversuch gemacht. Wiederholt habe er versucht, die Aufhebung der Entmiindigung zu erreiehen, 1907 sei dies auf Grund eines konsulari~rztlictien Zeugnisses auch gegliickt. Ende 1911 sei er, da seine Mitte~ erschSpft gewesen seien, wieder nach Europa gekommen und prozessiere seither gegen den zweiten Mann seiner im Jahr 1903 verstorbenen Frau, der zu seinem Unterhal t verpflichtet sei, da er sich selbst nicht ern/~hren kSnne. Das betr~cht- liche VermSgen der Frau sei auf den zweiten Mann iibergegangen, der behaupte~ er kSnne wieder seine i~rztliche T~tigkeit ausiiben, und so die Unterhaltspflicht. bestreite. Im Mi~rz 1913 sei er alff Grund einer zweimaligen Untersuchung im April 1912 yon dem Gerichtsarzt in J . begutaehtet und als bedin~ arbeitsf~hig erkli~rt worden, allerdings babe er seine Halluzinationen aus Furcht vor neuer Internierung verheimlicht und auch yon dem Heroingebraueh geschwiegen. E r kSnne sieh mit diesem Gutachten nieht zufrieden erk]i~ren, da er sieh durehaua unf~hig ffihle, ~rztlich zu arbeiten.

In dem betreffenden Gutachten heiBt es: ,,Nach der Mitteilung des Direktors der Irrenanstalt L., den eigenen :4_ngaber~

des Kli~gers und dem Ergebnis meiner jetzigen Untersuehung ist der KA~ger seit 1902 nicht mehr geisteskrank. Derselbe hat aueh dureh die langji~hrige Geistes- krankheit naeh der Verstandesseite hin in bezug auf das Ged/~chtnis und Intellekt keine erkennbare EinbuBe erhtten, so dal] man positiv sagen kann, dab der Kl~ger aus diesen Griinden in der Lage ist, eine ~rztliche T~tigkeit zu betreiben, um sc~ mehr, als aueh das Geh6rleiden ihn daran nieht hindert. Der Kli~ger ist erheblich belastet, war selbst immer eine psychopathische PersSnliehkeit und ]ange, bevor er geisteskrank war, Morphinist, und so ist die Pers6nlichkeit, w/e sie sieh objektiv und subjektiv gibt, kein Wunder, d. h. an der Tatsache, dab derselbe an INeur- asthenie leidet, daft nicht gezweifelt werden.

Das Charakteristische dieses Leidens ist vielfaeh ein sehlaffes, energieloses~ wenig widerstandsfahiges Wesen, das mit einer chronischen Verstimmung, aUerlei hypochondrisehen Ideen und Zwangsgedanken gepaart ist.

Es liegt in der Natur dieses Leidens, dab die Kranken ihre Beschwerden bewuBt und unbewuBt/ibertreiben. Sieher ist es aber keine Frage, dab die Arbeits- f~higkeit derartiger 1Naturen wesentlieh herabgesetzt ist. Andererseits w~re es schon vom ~,rztliehen Standpunkt aus ganz verkehrt, solehen Leuten die Arbeit. zu untersagen, da ganz im Gegenteil ein gewisser Zwang zu passender Beseh~ftigung yon den Besehwerden ablenkt, also direkt giinstig einwirkt, wie es denn aueh Ta t - saehe ist, dab zahllose ~'eurastheniker durchaus ihre Stellung im Leben versehen und ihren Unterhalt erwerben k S n n e n . . .

Eine besondere Organerkrankung ist bei dem Kl~ger nieht vorhanden, wi~ denn derselbe auch weir jfinger aussieht, als seinem Alter entspricht. Er hat den Morphinismus fiberwunden und so eine erhebliche Energie bewiesen, dab er t r o t z der vielen Beschwerden, die er auBert, nieht wieder dieser Sucht verfallen ist und iiberhaupt nur selten Mittel gebraucht.

Auch das muB ieh hier erw~hnen, dab der Kl~ger zu einer Zeit, in der allerle~

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Besehwerden bestanden, d. h. vor dem Ausbrueh der eigentliehen Geisteskrankheit, trotzdem ~rztliche Praxis ausfibte.

Wenn er endlich setbst die Konzession macht, dab er vorfibergehend wohl etwas arbeiten kSnne, dann bin ich der Ansicht, dal] derselbe aueh zurzeit in seinem ~rztlichen Berufe, sei es in praktischer Besch~ftigung auf irgendeinem Gebiet der weiten Medizin, sei es in schriftstetlerlschen Leistungen als Rezensent fiir ZeRungen tatig sein kann.

Ich beantworte also die mir gestellte Frage dahin, dab der Klager zurzei~, d. h. seit Erhebung der Klage, imstande ist, einen ~rztlichen Beruf auszuiiben.

Habe ich damit racine Aufgabe erledigt, so habe ieh doch die Pflicht, darauf hinzuweisen, dab es sich, wie ich schon betonte, bei dem Klager um keine volle Arbeitskraft handelt, dab der Zustand desselben vielmehr angemessene Schonung und Ruhepausen effordert. Der Kl~ger wird also kaum in der Lage sein, seinen roUen Unterhalt zu verdienen."

Soweit die Vorgesehichte. Dr. N. kam im Friihling 1913 auf einige Tage zur Beobachtung in die psyehiatrisehe Klinik in KSln. Er ist ein schmachtiger, graziler, mittelgroSer Mann yon blassem Aussehen. Es besteht doppelseitiger Leistenbrueh, die innern Organe bieten nichts Krankhaftes, periphere Arterioskle- rose ist nicht nachweisbar, der Blutdruck konnte mit Riicksicht auf die auBerst empfindliehe Haul nieht geprfift werden. Am ganzen KSrper, besonders in der INacken- und Riickengegend linden sich leieht druekschmerzhafte AbseeBnarben. Die Pupillen sind sehr eng, beiderseits gleieh weir, yon guter Rundung und normalen Reaktionen, die Reflexe sind iiberall in normaler Starke auslSsbar, die vorgestreelrbe Zunge und die gespreizten Hande zittern leicht. Das iibrige Nervensystem zeigt normale Verhaltnisse. Auf dem rechten Ohr besteht vollkommene Taubheit, das Trommelfell ist sklerotiseh verdiekt, das HSrvemSgen auf dem linken Ohr ist normal.

Dr. N. erzahlte den Verlauf seiner Krankheit, wie er oben angegeben ist, fiber seinen augenblickliehen Zustand sagte er folgendes: seit etwa 3 Jahren nehme er start des Morphiums Heroin, er brauehe in 8 Tagen davon 5 g, die er zum Preis yon 8,50 M. yon einem Drogisten beziehe. Andere Narkotiea nehme er nicht, auch trinke er gar nichts mehr. Sobald er versuehe, seinen Verbrauch an Heroin auch nur etwas herabzudriicken, komme er in einen unbeschreiblichen Zustand: die Stimmung werde denkbar schlecht, schwere Angstzustande treten auf, er kSnne keinen klaren Gedanken mehr fassen, sei in fortgesetzter Unruhe, dazu kamen starke ])urchfalle, Wadenkrampfe, SchweiBausbriiehe und Anfalle yon Herz- klopfen. Vor jedem wiehtigeren Vorhaben, jeder gelstigen Anforderung, jeder Unterredung mit Rechtsanwalt oder Arzt miisse er Heroin spritzen, sons~ sei es ¢s ibm unmSglieh, seine Gedanken zusammenzuhalten, er vergesse die wiehtigsten Dinge, sei aufgeregt und kopflos. Namentlich mache ihn jede irgendwie verant- wortungsvolle Tatigkeit ganz verwirrt.

Auch bei regelmaBigem Heroingebraueh fiihle er sieh nicht gesund, sondern racist abgeschlagen und mild, nut kurze Zeit nach einer Injektion sei er frisch. Jeder unangenehme Gedanke, jede geringste Lappalie veffolge und quale ihn dau- ernd, mit unbedeutenden Kleinigkeiten schlage er sich tagelang herum, jede geistige oder gemfitliehe Inanspruehnahme steigere deshalb seinen Heroinverbrauch. Am sehlimmsten leide er unter der hartnaekigen ScMaflosigkeit, er sehlafe erst gegen Morgen ein und erwache ohne sieh erquiekt zu fiihlen.

Das Leben sei am ertr~glichsten wenn er sieh ganz ruhig verhalte, viel tube, wenig lese. Seine Stimmung sei meist gleichmaBig leicht gedriiekt. Er lebe bewul~t in den Tag hinein, vermeide a11es, was itm etwa erregen kSrme, aueh jeden Verkehr, den er durchaus nieht vermisse. Obgleieh er abends nieht spat zu Bert gehe,

und des Zusammenhangs yon Sinnestauschungen und Wahnideen. 33

s tehe er erst um 2- -3 Uhr auf, er beseh•ftige sich damit, im Caf~ die Zeitungen zu lesen und gehe viel in die Kinematographen, das Theater strenge ihn zu sehr a n und wegen seiner SchwerhSrigkeit verstehe er auch nieht viel.

In seinem Benehmen war Dr. N. vollkommen geordnet, namentl ich zeigte .er n icht die geringsten Andeutungen yon Manieren in seiner spraehlichen Aus- drueksweise oder seinem motorischen Verhalten. Auffallend war hSchstens, da~ er sich seinem Prozel~ gegeniiber ziemlieh s tumpf zeigte, und es ihm keineswegs peinlieh oder besch~mend schien, yon einem ihm vSllig fremden Menschen unter- ha l t en zu werden. Auf selbst wiehtige Ereignisse mui3te er sieh oft besinnen, er ~chien ziemlieh vergeJ~lieh und aueh naeh Heroingenul~ sehr ermiidbar und wenig frisch. Ers t auf die Frage, seit warm die Sinnest~usehungen verschwunden seien, k a m er darauf, zu erzi~hlen, dab er i iberhaupt nie aufgehSrt habe zu halluzinieren. Er sagte uns dari iber wSrtlieh dies:

, ,Voraussehicken mui3 ich, daB die Stimmen, die ich h6re, mieh nicht mit meinem reehten iNamen rufen, sondern mich immer ,mein Moritz' oder ,mein Gold ' nennen und mieh manchmal duzen, manehmal per Sie mit mir reden, aber vom ersten Auftreten seit langen J a h r e n bis heute nennen sie reich ,~or i t z ' oder ,Moritzchen'. Ieh fiihre dies darauf zuriick, dab ieh selbst vor ]angen J a h r e n mehrere gelungene jiidische Witze eifrig verbreitete, deren Hauptgegenstand eine jiidische Figur ,~or i t z ' bildet. Aufgefallen ist mir yore ersten Auftreten dec Hal luzinat ionen an, dab ieh nicht in riehtigem korrektem Deutsch halluzinierte, sondern in teilweisen Worten mit MiBbildungen, z. B. a n Stelle des Wortes ,be- handeln ' , ,miBhandeln' best~ndig entweder ,miBbehandeln' oder ,behundeln ' , ,mi~behundeln ' , oder an Stelle yon .miserabel behandeln ' wird gewShnlich ,berabeln oder ,berabel behandeln ' gesetzt u. a.

W~hrend ieh friiher manchmal tagelang in Reimen St immen h6rte, kommen mir diese neuerding nicht mehr vor. Mit den St immen sind auch heute noch nur verwirrende Sinneseindrficke, Schmerzen in isolierten Zehen bis zu Wadenkr~mpfen u. it. verbunden. Besonders interessant wirkt auch heute noeh, dab die S t immea ungeheuer hiiufig gewissen Ereignissen, die ich erwarte, ein giinstiges Ergebnis voraussagen, wi~hrend gew6hnlieh das Gegenteil eintri t t .

Meine heutigen Halluzinationen sind aufs engste verkniipft mit meinen Gedanken ; manchmal enthal ten sie Antworten auf Fragen, die ieh in Gedanken mir stelle. Vom ersten Moment der Halluzinationen bis heute waren dieselben h~ufig so, da~ sie aus der Luft zu kommen schienen, sehr hi~ufig waren sie abet taktm~Big an Ger~usehe lokalisiert, yon dem Summen einer Fliege bis zu Kon- zerten, an das Pli~tsehern des Wassers, ja, mi tun te r geht es so, dab meine Halluzi- na t ionen an wirkliche Worte, die ich in der Umgebung hSre, lokalisiert sind. Alsdann hSre ich nur das, was ieh halluziniere, und das, was mir die betreffenden Personen mitteilen, kommt mir erst nach mehrmaligem weiterem Fragen und atlm~hlieh zum Bewul3tsein.

Meine heutigen GehSrserscheinungen kommen vielfaeh auch auf das zuriiek, was ich friiher, width'end meine Krankhe i t auf dem HShepunkt war, gehSrt habe. I n fri iherer Zeit hSrte ich, jeder ~Ienseh, der mit mir in Berfihrung komme, sei yon einer Zentralstelle suggeriert, und kein Mensch habe freien Willen, weder zum Guten noch zum Sehleehten, sondern sei eine mechanisehe Ausfiihrungsstelle dessen, was die Zentralstelle ihm suggeriere. Damals gaben mir diese Suggerenten als ihren Aufenthal tsor t einmal B., dann S. an. In meinen heutigen Halluzinationen h a t dies insofern eine }:_uderung erfahren, als mir die Stimmen, die ich hSre, mitteilen, sie seien eine hShere Gewalt, als die mensehliche Gewalt sie repr~sentiere, und ba t t en keinen besti~ndigen Aufenthal t gefunden, sondern seien als hShere Gewalt, yon der alles Irdische abhgnge, iiberall. Und diese Ubiqui tgt sei der Grund, warum

z. f. d. g. Neut. u. Psych. O. XIX. 3

34 K. Schneider: Zur Frage der chronischen Morphinpsychose

ich diese Stimmen, ob ieh nun fiber das Meer gehe oder im Land selbst lebe, in jeder Lebensbedingung hSre. Das teilen mir diese Stimmen, die sich mir als h6here ~lacht vorstellen, immer noch mit, dab kein Mensch und kein Tier, nichts Le- bendes fiberhaupt, einen primi~ren Willen babe, sondern dab alles Lebende nur mechanische Ausfiihmngsstelle dessen sei, wozu die hShere Gewalt es bef~hige. Auch alle Gedanken und sonstigen Fi~higkeiten riihrten von dieser Gewalt her, ja diese h6here GewaIt gehe sogar so welt, dab alles, was auf Erden gesehehe, schon bis in seinen letzten indifferenten Einzelheiten im voraus pri~destiniert sei und im voraus auf unbegrenzte ferne Zeit bis in die indifferenten Einzelheiten sozusagen auch existiere. Der l~ensch sei iiberhaupt kein abgeschlossenes Indi- viduum, sondern vegetiere kollektivistisch als Objekt jener hShern l~Iacht, die Ubiquit~t besitze. '°

Diese Sinnesti~uschungen hSrt Dr. N. nur in dem rechten tauben Ohr. Er bewahrt ihnen gegeniiber voUe Objektivi~i~t, weiB, dab es sich um krankhafte Erscheinungen handelt, an die er so gew6hnt ist, dab er sie nicht einmal besonders wichtig nimmt, kniipft keinerlei Wahnideen daran an. Von den frfiheren Verfol. gungs- und Gr5Benideen ist nichts mehr vorhanden, Dr. N. ist sich vSllig dessen bewuflt, dab es sich um krankhafte Ideen gehandelt hat.

F ragen wit uns nun, u m was fiir eine Erk rankung karm es sich bei Dr. N. handeln, welche klinische Stellung k o m m t dieser in ihrem Verlauf so eigenart igen Psychose zu ?

Wenn wir kurz zusammenfassen : ein yon Jugend an psyehopath ischer Mensch, der seit seinem 23. Lebens jahr gelegentlich, seit seinem 27. habi- tuell Morphinm n i m m t und dabei s tark t r inkt , beginnt mit e twa 28 Jah - ren St immen zu h6ren und Wahnideen vorziiglich im Sinn der Eifersucht zu entwickeln. Die S t immen werden in dem tauben rechten Ohr geh6rt , in dem schon vorher h~ufig Rauschen und Musik gehbrt worden war. Die En tw6hnung jeglicher Gifte bessert nicht, im Gegenteil, es t r i t t ein ganz abenteuerliches paranoides "System auf mit Sinnest~uschungen auf allen Gebieten, vorwiegend auf dem das Geh6rs, und dieses besteht bis zu dem 36. Lebensjahr . Darm verschwinden fast pl6tzlich alle G16Ben- und Verfolgungsideen, volle Krankhei tseinsicht t r i t t auf, naeh 6jEhrigem Anstal tsaufenthal t wird der Kranke als prakt isch geheilt und berufs- fEhig entlassen. Die SinnestEuschungen bestehen abet, obgleich sie nicht mehr wahnhaf t verwertet werden, fast unver~ndert fort. Der Kranke wird nach der Ent lassung fast sofort wieder tVIorphinist bzw. He- roinist und bietet nun niehts weiter, als das gewohnte Bild eines arbeitsunf~higen energielosen yon neurasthenischen Beschwerden aller Ar t geplagten in seinem ethisehen Feingefiihl geseh~digten Morphi- nisten.

Zun~chst f~llt uns das Zusammentreffen der Psychose mit der E n t : wieklung eines zur einseitigen Taubhei t fiihrenden G eh 5 r l e i d e n s a u f . Merkwiirdig ist das famili~re Auf t re ten dieses Leidens: Der Vater war auf beiden Ohren t aub und lift un ter sehweren Ohrger~uschea, und aueh der geis teskmnke Bln~der war t aub auf einem Ohr. ~Vir kennen bei Schwerh6rigen zwei Fo rmen paranoider Erkrankungen, die mi tun t e r

und des Zusammenhangs yon Sinnestauschungen und Wahnideen. 35

auch ineinander iibergreifen: Die eine ist die yon K r a e p e l i n 1) so be- zeichnete ,,Psychose der SchwerhSrigen und Tauben", es handelt sich dabei um ,,eine bestimmte Art des Verfolgungswahns, der in engster urs~Chlieher Beziehung zu der Unf~higkeit der Kranken zu stehen scheint, den -~u[~erungen ihrer Umgebung zu folgen."

Die zweite Form, die hier allein in Betracht kommt, ist die wahnhafte Auslegung yon in dem kranken Ohr auftretenden Ohrger~usehen, ,,die Kranken geben sich schlie~lich ihren Sinnest~uschungen bin und suchen sieh fiir sic eine bestimmte Erkl~rung zu schaffen, d. h. sie unterlegen ihren l=ialluzinationen eine f~lsche Bedeutung, und so kommt es dann zuletzt zur Entwicklung wirklicher Wahnideen." [ B e c h t e r e w @ ] Die Zahl der einwandfrei beschriebenen F~lle ist nicht grol], es w~ire vielleicht sehr lohnend, sich einmal grfindlich mi~ diesen Fragen zu besch~ftigen, da ihre Bea.ntwortung aufs engste mit der allgemeinpsychiatrisehen Frage verknfipft ist, auf die ich sparer noch zu reden komme: K6nnen Wahnideen aus Sinnest~usehungen entstehen ?

Aueh B e e h t e r e w beobachtete dieses ,,halluzinatorische Irresein bei Affektionen des Geh6rgangs" zumeist bei ,,mehr oder weniger pr~dis- ponierten Individuen" und fand ,,die psychopathische Heredit~t nicht ohne Bedeutung" ffir ihre Entstehung. Ob bei einem sonst psychisch ge- sunden, d. h. nicht paranoid veranlagten oder senti dementen Mensehen aus organischen Ohrerkmnkungen mit Ger~uschen eine Psychose ent- stehen kann, ist jedenfalls nicht erwiesen. B e c h t e r e w s Kranke be- wahrten h~ufig ihre Selbstkritik, eine INeigung zu progressiver Ent- wicklung der Erkrankung hat er nie beobachtet. Wir werden nach dem allen wohl kaum bei der Psychose des Dr. N. ernstlich an einen urs~eh- lichen Zusammenhang mit dem Geh6rleiden denken diirfen, obschon das anf~ngliehe H6ren yon Rauschen, Musik, Melodien, die konstante Lokalisation der Sinnest~usehungen auf das taube Ohr, ihr taktm~l]iges Ankniipfen an allerlei Ger~usche, endlich die jetzt Wieder vorhandene Objektivit~t daran denken lassen kSnnten. Auch wenn wir als Grundlage da~ schwer psychopathische paranoid veranlagte Individuum annehmen, l~l~t sich die Psychose, die zudem auf allen Gebieten Sinnest~usehungen zeigt, als aus dem Ohrleiden entstanden kaum erkl~ren.

Wenn wir diese MSglichkeit aussehalten, so bleiben eigentlieh nut noch zwei MSgliehkeiten iibrig, d. h. die ganzen diagnostischen Erw~- gungen gipfeln in der einen Frage : handelt es sieh um eine Intoxikations- psychose oder um eine paranoide Form der Dementia praecox, die in ihrem Verlauf und Bild dureh die Imtoxikation kompHziert wurde ? Zur Zeit des Krankheitsbeginns hat :Dr. N. zweifeUos viel Alkohol und

1) 1. e. S. 634. 2) Uber halluzinatorisches Irresein bei Affektionen des GehSrgangs. Monatsschr.

f. Psych. u. Neur. 14, 205. 1903.

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36 K. Schneider: Zur Frage der chronischen Morphinpsychose

Morphium, sicher aueh etwas Cocain gebraueht. Die Psyehose erinnert in ihrem Beginn mit Stimmen und "Wahnideen im Sinne der Eifersucht und mit den damit zusammenh~ngenden Gewalttaten zweifeUos ganz an den Alkohol- oder Cocainwahnsinn. An eine C o c a i n p s y c h o s e k6nnten im weiteren Verlauf h6chstens die mitunter auftretenden Par~sthesien und damit verbundenen WahnvorsteHungen denken lassen, sonst aber nichts, und zudem hat Dr. N. ahem nach so wenig Cocain ge- nommen, dab dieses als Ursache der ganzen Psychose niche glaubhaft erseheint. Der Alkoho l k~me eher in Betracht, aber auch bei den doch sieher am genausten bekannten A l k o h o l p s y c h o s e n wurde nie ein derartiger Verlauf beobachtet: I)as vielseitige System, die lange Dauer der Psychose bei vollkommener Abstinenz ohne Eintritt einer alkoholi- schen Verbl6dung, das jahrzehntelange Forthalluzinieren trotz einge- tretener Einsicht, der merkwfirdige Charakter und Inhalt der jetzigen GehOrst~uschungen, das allem Anschein nach st~ndige Fehlen aller deliri6ser Erscheinungen, jeder Zust~nde yon Bewul~tseinstriibung, das Vermissen jeder alkoholisehen Ziige in der PersSnlichkeit des Dr. N. machen die Annahme einer paranoiden Alkoholpsychose ebenfalls denk- bar gehwer.

Kann das M o r p h i a , die aueh jetzt noch wirkende Seh~idigung, die Ursache der Psychose sein? Wir haben gesehen, dab die Existenz chronischer ~¢Iorphinpsychosen noch mehr angezweifett wird als die der chronischen Cocainpsychosen. Auch wenn wir annehmen wiir- den, dab die yon E r l e n m e y e r beobachteten F~lle yon chronischen ~Iorphinpsyehosen nicht auf T~uschung beruhten, so k6nnen wit seine !Beobachtungen doch nicht mit dem l~aH Dr. N. in Einklang bringen, er betont ja gerade die sch!echte Prognose (ira Gegensatz zu den Ab- stinenzpsychosen bei Morphinismus) und den Ausgang in unheilbaren Schwachsinn. Aueh der Umstand, dal~ die neue Morphiumintoxikation die Psychose nicht wieder aufflackern liel~, erschwert ohne Zweifel die Annahme des ~Iorphins als ~tiologischen Faktor bedeutend. Urn eine typische Erkrankung k6nnte es sich sicher nieht handeln, die Er- fi~hrungen sprechen gegen die Morphinpsychose, aber da in dem Leben des Dr. N. Morphinismus und Psychose atypischer Art so vollkommen das Bild beherrschen, wird man die M6glichkeit kausaler Zusammen- h~nge nicht g~nz ablehnen kSnnen.

Oder liegt ~hnlich wie bei den F~llen Gra te r s eine K o m b i n a t i o n yon I n t o x i k a t i o n u n d D e m e n t i a praeco x vor? W~re die Krank- heitseinsicht, das v611ige Korrigieren aller Wahnideen nicht einge- treten, wiirde man kaum an einer derartigen Kombination zweifeln, man wiirde Morphinismus und Dementia praecox als voneinander unabh~ngig entstandene Kinder der gemeinsamen degenerativen Ver- anlagung atfffassen. Die Art der Sinnest~iuschungen, das Gedankenlaut-

und des Zusammenhangs yon Sinnest~uschungea und Wahnideen. 37

werden, die sinnlosen Wortverdrehungen der Stimmen, die kSrperlichen Beeinflussungsideen, das abenteuerliche System mit seinem vietfach physikalischen Inhalt , das negativistische Verhalten der Umgebung gegenfiber, das Einspinnen in sieh selber - - diese Symptome rechtfer- tigten, bevor man den Ausgang kannte, die Diagnose der , ,Paranoia chronica" vollkommen. Allerdings erfolgte kein Zerfall der PersSnlieh- keit, aueh WillensstSrlmgen wurden nicht beobachtet, und das Affekt- leben blieb ungeschw~cht. Wenn Dr. N. aueh ohne Zweifel eine etwas defekte PersSnlichkeit ist und namentlich in seinem Verhalten dem Prozel~ gegenfiber eine gewisse Indolenz und Stumpfheit zeigt, hiel]e es den Dingen doeh Gewalt antun, wollte man in seinem Zustand einen schizophrenen Defektzustand sehen, namentlich fehlen jede Manieren, fehlt jede Andeutung yon Absonderliehkeit und Verschrobenheit, und die gemfitliche Stumpfheit geht nicht fiber das hinaus, was man sonst nach jahrelangem Gebrauch yon Morphin beobaehtet. Von einem Zer- fall der Pers6nliehkeit im Sinne der Dementia praecox kann jedenfalls ke ineRede sein. Aber aueh zu den neuerdings yon K r a e p e l i n als P ~ r a p h r e n i e beschriebenen Formen, die sieh gelegentlich nach ehxo- niseher Alkoholintoxikation entwickeln sollen und die den inneren Zusammenhang der Pers6nliehkeit weniger zerstSren, aueh keine aus- gepr~gten Gemiits- und Willensst6rungen zur Folge haben, will die vor- liegende Psychose nicht passen. Allein in Betracht k~me die ,,syste- mat ica" , aber gerade ein Haup t symptom, das sekund~re, oft erst nach jahrelangem Bestehen der Krankhei t auftretende Einsetzen der Sinnes- t~uschungen trifft hier ganz und gar nicht zu. Was aber die Diagnose sowohl der Dementia praecox als der Paraphrenie vollkommen aus- schliet]t, selbst wenn man einen Defektzustand im Sinne dieser Erkran- kungen bei Dr. N. annehmen wollte, ist das v611ige Korrigieren der Wahn- ideen, die Kri t ik und K r a n k h e i t s e i n s i c h t , das zweifellose Genesen vor der ,,Verrficktheit" be i F o r t b e s t e h e n d e r S i n n e s t ~ u s c h u n - g e n. Dieser Ausgang erinnert sicher eher an eine Intoxikationspsychose, obsehon das Gesundbleiben trotz neuer Intoxikat ion auch dazu nieht ganz st immen will.

Wir sind so nicht imstande, zu einer sicheren Diagnose zu kommen. Die Annahme, dal~ hier der Morphingebrauch (vielleicht kombiniert mi t Alkohol und Cocain) atff dem Boden der schweren degenerativen Ver- anlagung zur Ursache einer so eigenartigen Psychose wurde, ist viel- leicht immer noch die wahrscheinlichste L6sung, wenn man sich nicht mit der vagen Pseudodiagnose, ,,degeneratives Irresein" begniigen will. In der ganzen medizinischen Diagnostik bemfiht man sich im einzelnen Fall die Symptome popular gesagt ,,unter einen Hu t zu bringen". Ging man, als man die chronische Morphinpsychose strich, nicht vielleicht doch zu radikal vor ? wurden nicht vielleicht einzelne F~lle deshaIb fiber-

38 K. Schneider: Zur Frage der chronischen Morphinpyschose

sehen, weft man yon vorn herein nicht mehr an die MSglichkeit glaubte ? Sicher ist im Gebrauch der , ,kombinier ten Psychosen" Vorsicht am Platz, denn sie wiirden zu einem absoluten Nihilismus, zu einem ret tungs- losen Zefflie•en, zu einem AuflSsen aller Systematik im letzten Ende fiihren.

Eine allgemeine psychiatrische Frage mSchte ich an der H a n d unseres Falles noch beriihren, n~mlich die schon oben erw~hnte: k 5 n n e n W a h n i d e e n a u s S i n n e s t ~ u s c h u n g e n e n t s t e h e n ?

Diese Frage wu~de friiher und wird heute noch fast allgemein bejaht , so dab es sich eriibrigt, Belege dafiir anzufiihren. Nur einige wenige besonders markante seien angefiihrt. So sagt G r i e s i n g e r z) ,,Von ganz besonderem Einflul3 sowohl auf die Bfldung solcher Wahnideen iiber- haupt, als auf ihren speziellen Inha l t sind alle Halluzinationen; sie sind so h~ufig, bieten ein so lebhaft aufgedrungenes und oft so konstantes Material ffir Erkl~rungen dar, dal3 wit effahrungsgem~13 in ihnen den gewShnlichen Ursprung der Wahnideen finden miissen." K a u m weniger eindeutig drfickt sich K r a f t - E b i n g U ) aus: ,,Wahnideen entstehen nicht selten aus Sinnest~uschungen, wie ja auch das gesunde Vorstellen best~ndig dutch Sinneswahrnehmungen beeinflul3t und bereichert wird. ': Aber auch in neuerer und neuster Zeit sind diese Anschauungen sehr verbreitet, ich mSchte sagen durchaus die iibliehen. So sagt B i n s - w a n g e r a) : ,,Eine besondere Bedeutung ffir die Wahnbfldung besitzen die Illusionen und Halluzinationen. Einmal schiei3en als Reizsymptome einzelne Halluzinationen und Illusionen - - man kann sie geradezu als haUuzinatorische Einf~lle bezeichnen - - hervor, w~hrend im fibrigen die Bewu~tseinst~tigkeit verlangsamt, ersehwert, die Assoziation mehr oder weniger gelockert ist. Die ttaUuzination halter lest und wird der Aus- gangspunkt bestimmter, um den Kern der IehvorsteUung gruppierter Wahnideen im Sinne des Erkl~rungs- und Beziehungswahns. Diese A r t yon halluzinatorischer Wahnbildung linden wit vornehmlich bei der Ament ia ."

Nicht ganz eindeutig sind Z iehens~) Auffassungen. W~hrend er sagt: ,,ira Grunde genommen mul~ man sogar zugeben, dab selbst in den F~llen, wo die Halluzination der bewul3ten Wahnvorstellung vorausgeht, die latente Disposition eben schon bei der speziellen Gestal tung der Halluzination mitge~irkt ha t " und auch einmal zu dem Satz ,,aus den Halluzinationen und Illusionen "entwiekeln sich Wahnvorstel lungen" in der Ful3note bemerkt ,,oder vielmehr sind die Halluzinationen und Illusionen bereits der Ausdruek latenter WahnvorsteUungen", wider-

z) Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten. S. 58. Stuttgart 1845. 2) Lehrbuch der Psychiatrie. 3. Aufl. Bd. 1, S. 61. Stuttgart 1879. 3) Lehrbuch der Psychiatrie S. 33. Jena 1904. 4) Psychiatrie S. 108. 4. Aufl. 1911.

und des Zusammenhangs yon Sinnestauschungen und Wahnideen. 39

spricht er namentlich im speziellen Teil diesen Ansichten sehr oft; Wendungen wie (bei der Besprechung des Verfolgungswahns) ,,unge- mein h~ufig ist die ~ Entstehung aus Halluzinationen oder Illusionen" (S. 115), ,,die unmittelbar aus den SinnestEuschungen hervorgegangenen Wahnideen" (bei Paranoia hallueinatoria acuta S. 436) oder,,Die Sinnes- tEuschungen der chronisehen halluzinatorischen Paranoia fiihren stets zu zahlreichen sekund~ren ~Vaknvorstellungen" (S. 475} kehren h~ufig wieder.

Selbst K r a e p e l i n 1) la[tt in dieser Frage die gewohnte Klarheit vermissen. Er nimmt an, dab Wahnideen ,,nicht selten an wirkliche Wahrnehmungen oder SinnestEusehungen anknfipfen", setzt aber hinzu ,,ira letzteren Falle ist ihr Ursprung aus den inneren Zust£nden trotz der Verlegung der TEusehung naeh auBen augenseheinlich genug". Im klinischen Teil weicht er yon dieser •berzeugung anscheinend doch mitunter ab. So sagt er anlEBlich des halluzinatorischen Wahnsinns der Trinker (II. S. 185) ,,es handelt sich dabei um die meist akute oder subakute Entwicklung eines zusammenhEngenden Veffolgungswahns, vorzugsweise auf Grund yon Geh6rstEuschungen, bei nahezu v611iger Klarheit des Bewu~tseins" und fiber die Verfotgungsideen bei Dementia praecox (III. S. 695) dab bei ihrer Gestaltung, ,,die Geh6rstEuschungen meist eine wesentliche Rolle spielen".

Nur B l e u l e r 2) hat sich energisch gegen die ,,halluzinatorischen Wahnideen" und das sekundEre Auftreten der Wahnvorstellungen gewandt, indem er v611ig klar und eindeutig sehrieb: ,,Wit erfassen die AuBenwelt nicht direkt mit den Sinnesorganen, sondern mfissen sie erst durch Synthese und logisehe Sehtfisse aus dem durch die Sinne gegebenen Material in uns schaffen. Die Aberrationen des Gedanken- ganges ffihren deshalb zu Falschungen in der Auffassung der Wirklich- keit. Diese FElschungen linden ihren klarsten Ausdruck in Wahnideen, abet auch in Sinnes- und GedEchtnistEuschungen. E s g e h t nic h t a n, d ie W a h n i d e e n s e k u n d a r a u s H a l l u z i n a t i o n e n u n d I l l u s i o - n e n d e r S i n n e u n d des G e d a c h t n i s s e s a b z u l e i t e n . Es h a n d e l t s ich u m k o o r d i n i e r t e S y m p t o m e , d ie a l l e d e r A u s d r u e k de r n E m l i e h e n W i r k l i c h k e i t s f a l s e h u n g s i n d . "

Der Fall Dr. N. ist wie kaum einer geeignet, die Anschauung Ble u- le rs zu unterstreichen. Dr. N. erkrankte anscheinend zuerst mit Sinnes- t~uschungen, aus denen sekundEr die Wahnideen zu entstehen schienen. Viele Jahre gingen Sinnestausehungen und Wahnideen nebeneinander her, aber dann verschwanden die letzteren, das heft]t: obgleieh die Sin- nest~uschungen fast in tier alten StErke, jedenfalls mit dem alten Inhalt weiterbestehen, fehlt jede Wahnbildung. Daraus geht hervor, dal] die

1) Psychiatrie I. 8. Aufl. 1909. S. 311. -~) Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien S. 311. 1911.

40 K. Schneider: Zur Frage der chronischen Morphinpsychose

S i n n e s t ~ u s c h u n g e n n i c h t d ie U r s a c h e d e r W a h n i d e e n sein konnten, sondern dab es sieh um einander k o o r d i n i e r t e S y m p t o m e handelte. Wir miissen so mit B l e u l e r jede kausalen Zusammenh~nge yon Sinnest~uschungen und Wahnbildung ablehnen und kSnnen daher aueh nicht sagen, dab die Sinnest~uschungen der ,,Ausdruek la tenter Wahnideen" sind. Beides sind einander parallele Symptome der unbe- kannten ,,inneren Zusti~nde". Diese sind im Fall Dr. N. ohne Zweifel ausgeheilt, und damit ist das sehwerere der beiden Symptome, sind die Wahnideen verschwunden. Wenn das andere Symptom -- die Sinnes- t~uschungen - - noeh fortbesteht, so ist das nut so zu erkl~ren, dab die ,,ilmeren Zust~nde" StSrungen geschaffen haben, die jetzt trotz Auf- hSren des urs~ehlichen Reizes noch rein meehanisch fortarbeiten. DaB dabei Ohrger~usche eine unterstii tzende Rolle spielen, ist durch die Tat- sache, dab fast nur GehSrst~uschungen geblieben sind, und dureh die Lokalisation auf das taube Ohr als sehr wahrscheinlich anzunehmen.

N~her auf diese Dinge einzugehen, ist bier nicht der Ort. Es mag auch dahingestellt bleiben, ob sich was die Beziehungen yon Sinnest~uschun- gen zu Wahnideen anlangt, besonnene und nicht besonnene Kranke unterscheiden. Es erseheint fraglich, ob die Sinnest~usehungen des Deliranten derselbe ProzeB sind, wie die des besolmenen Paranoikers, und es ist auch wohl denkbar, dab der D e l i r a n t aus seinen Halluzina- tionen fliichtig auftauehende Wahnideen bildet. Mit dem BewuBtsein trfibt sieh die korrigierende Krit ik. Aueh bei den Wahnideen muB man wohl verschiedene Prozesse annehmen: die wahnhaften Einfi~lle des Deliranten, das Wahnsystem des Paranoikers, der demente Wahn des Paralytikers haben wohl in ihrem Wesen und ihrer Entstehung wenig gemein.

Nur ganz kurz mSchte ich noch auf einige praktisehe Punkte im Fall Dr. N. hinweisen.

I m Jahre 1899 wurde Dr. N. auf Grund yon § 61 entmtindigt, zwei- fellos mit vollem Recht, denn er war damals nicht imstande, seine An- gelegenheiten zu besorgen. Auch mit der Wiederaufhebung der Ent- miindigung 1907 wird man sieh vSllig einverstanden erklgren. Aber mit der zweifellos jetzt wieder bestehenden G e s c h i i f t s f g h i g k e i t f~llt die B e r u f s f ~ h g k e i t keineswegs zusammen. Nut die Tatsache, da~ jener Kreisarzt nicht wuBte, da~ Dr. N. andauernd halluziniert und vor allem noch immer Heroifi gebraucht, lassen es verstehen, dal~ er ihn als bedingt fghig erklgrte, den grztlichen Beruf auszuiiben. Dr. N. besitzt auch, abgesehen yon der geistigen und kSrperlichen Unfghig- keit, Arzt zu sein, keine medizinischen Kenntnisse mehr, nachdem er jahrzehntelang sieh nieht mehr mi t seinem Beruf beseh~ftigt hat. Auch zu einer referierenden T~tigkeit gehSren Faehkenntnisse, eine praktische Ausfibung des grztlichen Berufs wird man dem dauernd halluzinierenden,

und des Zusammeahangs yon Sinnest~iuschungen und Wahnideen. 41

energielosen, heroinsiichtigen Kranken sehon irn Interesse der Allge- rneinheit nicht erlauben dtiffen.

Naehdem die E h e irn Jahre 1901 auf Grund v o n § 1569 BGB. ge- s e h i e d e n worden war, fibernahm n a c h § 1583 die Unterhaltspflieht die Frau und nach deren Ted ging sie nach §§ 1604 und 1581 auf ihren Erben iibcr, ihren zweiten Mann. Da Dr. N., wie auch in einern Gut- achten yon Professor A s c h a f f e n b u r g ausgesprochen wurde, ,,au~er- stande ist, sieh selbst zu unterhalten", wird der Proze]] wohl sicher zu- gunsten des Dr. N. entschieden werden.

DaB bei Anwendung yon § 1569 arztlicherseits gr68te Vorsicht geboten ist, zeigt dieser Fall ebenfalls wieder. Man nahrn eine Paranoia chroniea an, und damit sehien jede Aussicht auf Wiederherstellung der ehelichen Gemeinsehaft ausgeschlossen. Hat te man daran gedaeht, die Diagnose der Intoxikationspsychose zu stellen, ware die Scheidung rnit ihren enormen praktischen Folgen sicher unterblieben. Aber selbst wenn es sich urn eine sichere Dementia praecox handelt, ist bei dieser an ~berrasehungen so reiehen Krankhei t Vorsicht am Platze; streng genommen kann sogar eine De me n t i a p r a e c o x n ie E h e s e h e i d u ngs - g r u n d sein, da selbst in den sehwersten Fallen immer derartige Besse- rungen vorkomrnen kSnnen, dab eine Wiederherstellung der geistigen Gerneinschaft irn Sinn des Gesetzes sehr wohl eingetreten ist. Man muB aueh hier natfirlich praktische und psychiatrische Genesung unterscheiden. Vor kurzer Zeit begegnete uns folgender Tall: Eine Ehe war vor Jahren geschieden worden, weft die Frau an einer sehweren typisehen Dementia praeeox erkrankt war. Naeh jahrelangem Anstaltsaufenthalt wurde sie gebessert entlassen. Sie zog mit dern Mann wieder zusarnrnen und ffihrt ihrn nun schon fiber ein Jahr v611ig geordnet den Haushalt . Es handelt sich urn eine sturnpfe harrnlose affektiv sehr wenig regsame, im psychiatri- schen Sinn sicher nieht geheilte Frau, eine geistige Gemeinschaft mit dem Ehegat ten ist aber, wenn man darunter bewuBte Interessenge- rneinschaft und Verst/indnis ffir die Pfliehten des ehelichen Verhalt- hisses versteht, sieher wieder vorhanden. Die beiden Eheleute leben nun ]rn Konkubinat , und die Frau bemfihte sieh bisher vergebens, das Zur Wiederverheiratung erforderliehe arztliche Gesundheitszeugnis zu bekornmen.

In dern Fall des Dr. N. hat te jedenfaUs die Diagnose einer Intoxi- kationspsyehose den Dingen einen ganz anderen Lauf gegeben, u n d e s ist einmal wieder erwiesen, wie notwendig die Stellung einer Diagnose ist, was heute yon vielen psychiatrisehen Skeptikern geleugnet wird. Gerade die Effahrungen des praktischen Lebens effordern im Gegensatz zur reinen Symptornefforsehung dringend ein immer seh/~rferes Heraus- arbeiten yon Krankheitseinheiten.