Zur Frage der nosologischen Selbständigkeit der Hypochondrie

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Zur Frage der nosologischen SelbstKndigkeit der Hypochondrie. ~) Von Dr. Max Sommer. (Aus den Dr. Erlenmeyerschen Anstalten fiir Gemiits- und Nervenkranke in Bendorf a. Rh.) ( Eingegangen am 22. Juni 1911.) Die Hypochondrie war in friiherer Zeit eine h~ufig diagnostizierte Erkrankung. Auch in der psychiat~ischen Literatur spielte sie eine nicht unerhebliche Rolle. Seit etwa drei Jahrzehnten ist aber das Interesse fiir die Hypochondrie immer mehr geschwunden; zurzeit ist sie aus dem Streit der Meinungen fast v611ig ausgeschieden. Zumeist gilt als gesicherter Besitzstand psychiatrischen Wissens der Satz: Die Hypochondrie ist keine Krankheitsform, sondern nur ein Krank- heitszustand, der bei den verschiedensten Psychosen vorkommt, -- das, was man friiher als eigentliche Hypochondrie auffa~te, ist nur eine Form der Neurasthenie beziiglich des neurasthenischen Irreseins. Und doch scheint es mir nicht unangebracht, diese scheinbar ab- geschlossene Frage wiederum anzuschneiden und zu er6rtern, ob man nicht doch zu welt gegangen ist, als man der Hypochondrie jede Selb- st~ndigkeit nahm und sie vSllig in andere Krankheitsformen auf- gehen liel~. Auf die i~ltere Literatur der Hypochondrie einzugehen, wiirde zu weir fiihren. Ich verweise in dieser Beziehung auf die Arbeiten von Wollenberg und Raecke. In den neueren Lehrbiichern der Psy- chiatrie wird die Hypochondrie als selbst~ndige Krankheitsform zu- meist abgelehnt, wenn sie auch aus praktischen Griinden zuweilen noch eine besondere Besprechung erfiihrt. Kraepelin rechnet die Hypochondrie zur chronischen nervSsen Ersch6pfung, also zur erworbenen Neurasthenie. In dem Binswanger-Siemerlingschen Lehrbuch behandelt Westphal die Hypochondrie, will darunter aber nur die hypochondrische Form tier Neurasthenie verstanden haben. Er erkennt eine in sich abge- schlossene selbst~ndige Krankheit Hypochondrie nicht an, da sich die 1) Nach einem Vortrag, gehalten auf der 86. Generalversammlung des Psyehiatrisehen Vereins der Rheinprovinz in Bonn am 17. Juni 1911.

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Zur Frage der nosologischen SelbstKndigkeit der Hypochondrie. ~)

Von

Dr. Max Sommer. (Aus den Dr. Erlenmeyerschen Anstalten fiir Gemiits- und Nervenkranke

in Bendorf a. Rh.)

( Eingegangen am 22. Juni 1911.)

Die Hypochondrie war in friiherer Zeit eine h~ufig diagnostizierte Erkrankung. Auch in der psychiat~ischen Literatur spielte sie eine nicht unerhebliche Rolle. Seit etwa drei Jahrzehnten ist aber das Interesse fiir die Hypochondrie immer mehr geschwunden; zurzeit ist sie aus dem Streit der Meinungen fast v611ig ausgeschieden. Zumeist gilt als gesicherter Besitzstand psychiatrischen Wissens der Satz: Die Hypochondrie ist keine Krankheitsform, sondern nur ein Krank- heitszustand, der bei den verschiedensten Psychosen vorkommt, - - das, was man friiher als eigentliche Hypochondrie auffa~te, ist nur eine Form der Neurasthenie beziiglich des neurasthenischen Irreseins. Und doch scheint es mir nicht unangebracht, diese scheinbar ab- geschlossene Frage wiederum anzuschneiden und zu er6rtern, ob man nicht doch zu welt gegangen ist, als man der Hypochondrie jede Selb- st~ndigkeit nahm und sie vSllig in andere Krankheitsformen auf- gehen liel~.

Auf die i~ltere Literatur der Hypochondrie einzugehen, wiirde zu weir fiihren. Ich verweise in dieser Beziehung auf die Arbeiten von W o l l e n b e r g und R a e c k e . In den neueren Lehrbiichern der Psy- chiatrie wird die Hypochondrie als selbst~ndige Krankheitsform zu- meist abgelehnt, wenn sie auch aus praktischen Griinden zuweilen noch eine besondere Besprechung erfiihrt.

K r a e p e l i n rechnet die Hypochondrie zur chronischen nervSsen Ersch6pfung, also zur erworbenen Neurasthenie.

In dem Binswanger-Siemerlingschen Lehrbuch behandelt W e s t p h a l die Hypochondrie, will darunter aber nur die hypochondrische Form tier Neurasthenie verstanden haben. Er erkennt eine in sich abge- schlossene selbst~ndige Krankheit Hypochondrie nicht an, da sich die

1) Nach einem Vortrag, gehalten auf der 86. Generalversammlung des Psyehiatrisehen Vereins der Rheinprovinz in Bonn am 17. Juni 1911.

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hypochondrischen Symptome bei den versehiedensten Formen psy- chischer Erkrankung finden. Er rechtfertigt die gesonderte Besprechung nur damit, weil in einer Reihe von Beobachtungen der psychische Faktor des hypochondrischen Fiihlens und Denkens bei dieser Er- krankungsform mehr hervortrete als bei der einfachen Neurasthenie, der Krankheit nicht selten ein besonders charakteristisches Gepr~ige verleihe.

Auch Zie h e n lehnt die Hypochondrie als selbst~ndige Krankheits- art durchaus ab. Fiir ihn ist die Hypochondrie ebensowenig eine Krank- heit wie Verfolgungswahn. Er betont, dab man auf den Inhalt der Vorstellungen niemals die Klassifikationen von Geisteskrankheiten griinden solle. Was man friiher Hypochondrie genannt habe, geh6re teils zur Melancholia hypochondriaca, teils zur Paranoia, teils zur hypochondrischen Form der Neurasthenic, teils endlich zum phreno- leptischen Irresein. Als phrenoleptisches Irresein bezeichnet er eine der Geistesst6rung durch Zwan~svorstellungen nahe verwandte, aber sehr viel seltenere Geistesst6rung durch iiberwertige, abnorme Vor- stellungen, ohne KrankheitsbewuBtsein. Die bezfiglichen Vorstellungen sind sehr h~ufig hypochondrischen Inhaltes. Der Verlauf ist meist remittierend.

Nach der Einteilung von W er n ic k e geh6ren die hypochondrischen Psychosen zu den Somatopsychosen. Er gibt an, dab die Somato- psychosen nur seltcn rein auftreten, sondern meist kombiniert mit auto- und allopsychischen Symptomen. Die Abgrenzung der hypo- chondrischen Psychose gegen die Neurose sieht W er n ic k e nicht darin, dab phantastische oder Erkl~rungswahnideen bei der letzteren ver- miBt werden. Vielmehr sei das unterscheidende Merkmal bier in dem Einflu[3 zu suchen, welchen die hypochondrischen Gefiihle auf das Handeln des Kranken ausiiben. Im groBen ganzen - - sagt W e r n i e k e - - miissen die akuten Somatopsychosen zu den heilbaren Geisteskrank- heiten gerechnet werden. An anderer Stelle spricht W e r n i c k e noch yon den hypochondrischen L~hmungen, die nach seiner Ansicht zu den groBen Seltenheiten geh6ren und fast ausschlieBlich bei schwerer hypochondrischer Psychose vorzukommen scheinen. Am h~ufigsten werde noch die hypochondrische Paraplegic beobachtet; allerdings mit flieBenden Uberg~ngen zur hysterischen Paraplegic.

R. So m m e r erkl~rt die meisten der als hypochondrisch bezeich- neten Beschwerden als hysterischer Natur. Die relativ seltenen F~lle von echter Hypochondrie geh6ren nach ihm durchaus ins Gebiet der Paranoia und sind als Halluzinationen des Gemeingeftihles mit einer den eigenen K6rper betreffenden Wahnbildung zu charakterisieren.

E s c h l e bespricht in seinen ,,Grundziigen der Psychiatrie" die Hypochondrie in einem besonderen Kapitel. Er charakterisiert die

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t typochondrie als einen depressiven Zustand, bei dem irrige Vor- stellungen, welche den eigenen K6rper zum Gegenstand haben, und an sie ankniipfende (also tats~chlich unbegrfndete) Befiirchtungen dauernd derartig im Vordergrund des Bewul~tseins stehen, dab sie mehr oder weniger das Seelenleben beherrschen. In den leichteren F~llen handle es sich um keine eigentliche Psychose, sondern nur um einen dieser nahestehenden nerv6sen Zustand; aber auch in ihrer aus- gepr~gteren Gestalt repr~sentiere die als Hypochondrie bezeichnete Psychoneurose die mildeste und m~[~igste - - wenn auch oft sehr hart- n~ckige - - Form des Irreseins. Aus dem Umstand, dal~ auch bei sonst gesunden, nicht psychopathischen Menschen auf psychischem Wege gelegentlich hypoehondrische Ideen entstehen k6nnen, folgert er, dab ersch6pfende Einfliisse nicht in dem Umf~ng als es gew6hnlich ge- schieht, als ~tiologische Faktoren der Hypochondrie heranzuziehea sind. Immerhin sagt auch E s c h l e , da~, im Gegensatz zu dem pri- m~ren hypochondrischen Gedankengange, die meisten als hypochon- driseh bezeichneten Leiden neurasthenischen Ursprungs sind und derjenige Grad derselben, welcher bereits alle Merkmale einer wirk- lichen Psychose an sich tNigt, durchaus als Teilerscheinung des neur- asthenischen Irreseins betr~ehtet werden diirfe. Mit dieser Auffassung steht es aber nicht ganz im Einklang, wenn er bei der n~heren Schil- derung des hypoehondrischen Krankheitsbildes sagt, d~l~ schliel~lich das Bild durch eine wirkliche Ersch6pfung an Nervenkraft, durch eine wahre Neurasthenie selbst da kompliziert werde, wo sie prim~ir nicht vorlag. Uber das Vorkommen und den Verlauf sprieht E s e h l o sich dahin bUS, dal~ die Hypochondrie fast niemals in der Kindheit beobachtet werde, zuweilen aber schon in der Pubert~tsperiode, recht h~ufig im Senium. Sie sei bei M~nnern h~iufiger als bei Frauen, der Verlauf sei im allgemeinen sehr langwierig. Bei Berichten von Ge- nesung in wirklich schweren F~llen handle es sich in der Regel nur um voriibergehende Remissionen.

Unter den Autoren, die in neuerer Zeit ffir die nosologische Selb- st~ndigkeit der Hypochondrie eingetreten sind, erw~ihne ich B o e t t i g e r und R a e e k e . Die Arbeit von B o e t t i g e r stammt aus dem Jahre 1898, R a e e k e s Aufsatz aus dem Jahre 1902. B o e t t i g e r 1) sieht in den ver~nderten Empfindungen das Prim~re der Hypochondrie, die Ver- ~nderung der Vorstellungst~tigkeit sei das Sekundgre. Er ffihrt zu- n~chst 4 F~lle an, die symptomatologisch am besten nach W e r n i c k e als Autopsychosen charakterisiert werden, da das Wesentliche der- selben in einer Ver~nderung der Selbstempfindung besteht. Die Krank- heit war meist in ziemlich jugendlichem Alter plStzlich entstanden,

1) Archiv f. Psych. 31, H. 1 u. o.

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dauerte Jahrzehnte, dabei waren die betreffenden Patienten in ihrem Beruf t~tig, die Frauen heirateten, besorgten den Haushalt. Die Kranken klagen, sie f[ihlten sich tot, leblos, wie im Traume, sie fiihlen sich selbst wie eine in Bewegung und TKtigkeit versetzte Maschine. Sie haben Krankheitsgefilhl und beffirchten in Geisteskrankheit zu verfallen, glauben nicht wieder gesund werden zu kSnnen. Ich habe groSe Bedenken, diese FKlle der Hypochondrie zuzuz~hlen, ganz abgesehen yon Fall III , bei dem diese Zust~nde alle Jahre 1--2real auftreten und nach mehreren Monaten wieder schwindcn. Die hypo- chondrische Verarbeitung dieser krankhaft ver~nderten Empfindungeu und Gefiihle t r i t t doch zu wenig hervor, die Handlungen werden kaum beeinflultt, die Umgebung merkt gar nicht, da$ sie es mit einem psy- ehisch Kranken zu tun hat. W e r n i e k e besehreibt z. B. einen ganz analogen Krankheitsfall, den er den hysterischen Psychosen zuz~hlt. Auch ich glaube, da$ man derartige Beobachtungen, die gar nicht so selten sind, besser der psychopathischen Konstitution resp. der Hysterie zurechnet. AuSerdem teilt B o e t t i g e r noch 2 F~lle von Hypo- chondrie mit, die, wie er sagt, nicht den geistigen, sondern den kSrper- lichen Anteil der PersSnlichkeit betreffen. Doch auch diese beiden Falle scheinen mir der eigentlichen Hypochondrie nicht anzugehSren. Bei der einen Beobachtung handelt es sich um eine 33j~hrige, geistig beschr~nkte Frau, die seit 3 Jahren krank ist. Sie glaubte unbegrSn- deterweise gravid zu sein, nach einer Uterusauskratzung meinte sie, sie habe jetzt einen groSen Blutklumpen im Leib, alles sei angesehwollen. Dabei bestand eine miBmutig-zornige Erregung. Die MSghchkeit, daf~ er sich hier um einen hysterischen Zustand bei einer debilen Person oder vielleicht auch um eine beginnende Katatonie handelt, ist wohl nicht yon der Hand zu weisen. Der andere Fall, der eine seit 1 Jahr kranke Frau betrifft, seheint dem maniseh-depressiven Irresein anzugehSren. Es besteht eine ausgesprochene Depression mit Angst und Urrrohe, Sorge um den Gang des Gesch/iftes, dann treten ziemlich plStzlieh hypoehondrische Ideen auf, die weiterhin das Krankheitsbild be- herrschen, doch bestehen immerhin daneben noeh andersartige de- pressive Ideen.

R a e c k e 1) teilt aus 18 ihm zur Verfilgung stehenden F~llen yon Hypoehondrie 9 Beobachtungen mit, bei denen der hypochondrische Symptomenkomplex sich eine Reihe yon Jahren hindurch fast un- ver~ndert erhielt, ohne in eine andere Irrsinnsform ilberzufiihren. Auch hier liegt der Beginn der Erkrankung meist im Beginn des 3. oder 4. Lebensdezenniums. Die Krankheit verhinderte durchaus nicht stets die Ausiibung der Berufst~tigkeit oder die MSgliehkcit der Ver-

*) Allgem. Zeitschr. f. Psych. 59.

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heiratung. Fast alle Kranken boten zahlreiche qu~lende Pariisthesien und Sensationen, im AnschluB daran bildeten sich hypochondrische Wahnideen. Doch muB ich gestehen, dab ich auch hier bei einem Teil der F~ille ~hnliche diagnostische Bedenken trage wie in B o e t t i g e r s Beobachtungen und auch bier glaube, daB teilweise eine andere Wertung der hypochondrischen Symptome und Beurteilung des ganzen Krank- heitsfalles mSglich ist. Dagegen mSchte ich Raec ke in seinen allgemein- diagnostischen ErSrterungen im wesentlichen folgen. Er betont z. B. gegeniiber der Melancholie das Fehlen der Hemmung, der Selbst- beschuldigungen, des Unwiirdigkeitsgefiihls, gegeniiber der Paranoia das Fehlen des Beziehungswahns, gegeniiber der Hysterie die Herab- setzung der Suggestibilit~it, den geringen Wechsel der Krankheits- erscheinungen, die fehlende Neigung zu bewuBten Ti~uschungen. Vor allem aber hebt er scharf die trennenden Momente gegenfiber der Neurasthenie hervor. ,,Wer immer die Hypochondrie als Teilerschei- nung oder gar als Kardinalsymptom der Neurasthenie ansieht" - - sagt Raecke - - ,,vernachl~issigt alle diejenigen F~lle, in welchen das neurasthenische Beiwerk fehlt, der iibersieht vor allem vollsti~ndig, dab gerade der charakteristische Zug der echten Hypochondrie, die jeder Kritik unzug~ingliche, wahnhafte Verarbeitung der krankhaften Empfindungen mit ihrer zwingenden Beeinflussung des gesamten tIandelns nichts mehr mit dem Wesen der Neurasthenie gemein hat. Dieser Zug bildet vielmehr durchaus etwas Eigenartiges: er riickt die Hypochondrie unter die Psychosen und n~hert sie noch am ersten der Paranoiagruppe an, w~ihrend er der neurasthenischen Geistes- stSrung im Sinne Gansers fehlt." Allerdings ist er der Ansicht, dab sich die Hypochondrie einer vorher vorhandenen Hysterie oder Neur- asthenie hinzugesellen kann. Er meint, dab es sich in den F~llen, in denen ein neurasthenisches Vorstadium zu fehlen scheine, vorwiegend um erblich schwer belastete Individuen oder direkt um Imbezille handle. Es lasse sich dann bisweilen eine gewisse hypochondrische Disposition bis in die Jugend zuriickverfolgen. In seinen SchluBs~tzen betont R a e c k e, dab die Hypochondrie eine selbstKndige, in sich abgeschlossene klinische Krankheitsform sei, die sich vorwiegend bei einem geschwKchten Zentralnervensystem - - bei Neurasthenie, Hysterie, schwerer erblicher Belastung - - entwickle. Ist die Hypochondrie zum Ausbruch gelangt, so nehme sie in der Regel einen gesetzm~iBigen chronischen Verlauf mit hi~ufigen Remissionen und gelegentlichcn Exacerbationen. Ob dauernde Heilung mSglich sei, erscheine zweifelhaft, niemals trete Demenz ein.

Zuletzt hat Wol l enbe rg 1) die Frage der nosologischen Stellung der Hypochondrie in einem Referat auf der XXX. Wanderversamm-

1) Centralbl. f. Nervenheilk. u. Psych. 1905, 28. Jahrg.

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lung der siidwestdeutschen Neurologen und Irren~rzte im Mai 1905 eingehend er6rtert. Er faBt die damals und wohl auch heute noch herrschende Anschauung kurz in dem Satz zusammen: Hypochondrie ist nur eine Teilerscheinung, ein Kardinalsymptom der Neurasthenie. W o l l e n b e r g selbst schlieBt sich im wesentlichen dieser Anschauung an und kommt zu dem SchluB, dab die Hypochondrie nur ein psycho- pathologischer Zustand, eine krankhafte psychische Disposition be- sonderer Art ist, die unter sehr verschiedenen Umst~nden vorkommt, abet eben doch nur eine symptomatische Bedeutung hat. Da aber dieses Symptom zuweilen eine dominierende Stellung im Krankheits- bild einnimmt, erscheint es W o l l e n b e r g aus praktischen Griinden gerechtfertigt, fiir diese F~lle die Bezeichnung Hypochondrie bei- zubehalten. Er unterscheidet dabei, je nachdem die Erkrankung wesentlich durch ~uf~ere, insbesondere erschOpfende Einfliisse oder durch in der origin~iren Eigenart der betreffenden Individuen liegende Umstiinde bedingt ist, eine ,,akzidentelle" und eine ,,konstitutionelle" Hypochondrie, will abet damit nicht die nosologische Selbst~ndigkeit der Hypochondrie aussprechen.

Im einzelnen crw~hnt W o l l e n b e r g das episodische oder sym- ptomatische Auftreten hypochondrischer Symptome: 1. bei der Para- lyse und im Senium, - - hier f~llt die besondere Absurdit~t und Mon- strosit~t des Wahns infolge der geistigen SchwKche auf; 2. bei der hypochondrischen Melancholie; 3. weist er auf die bekannten hypo- chondrischen Zust~nde im Beginn der Hebephrenie und 4. auf die selteneren hypochondrischen Symptome bei chronischen Alkoholisten und Kokainisten und bei Epilepsic besonders im Prodromalstadium der AnfSlle bin. Als Kr~nkheitsf~lle, in denen die hypochondrischen Symptome als selbstSndige Krankheitsbilder erseheinen k6nnten, fiihrt er an: 1. die traumatische Hypochondrie als Spezialform der traumatisehen Neurose, naeh K r a e p e l i n Sehreckneurose; 2. hypo- chondrisehe ZustEnde nach aufregenden Eindriicken, vor allem die sog. Medizinerhypochondrie; 3. hypoehondrische ZustEnde, die sich auf dem Boden angeborener psychopathischer Eigenart entwickeln. Unter dieser Gruppe begreift er gewisse FElle degenerativer Hysterie, die psychischen Zwangszustgnde und Phobien, die konstitutionell Verstimmten, bestimmte Psychopathen, die er als Fanatiker der Sorge um das eigene k6rperliche Wohl bezeichnet, die Pseudoquerulanten nach K r a e p e l i n und A s c h a f f e n b u r g ; 4. weist er auf gewisse F~lle hin, die sich durch die Entwicklung eines typischen hypochondrischen Wahnes, aber meist ohne eigentliche Systematisierung, auszeichnen und prognostisch giinstig sind, jedenfalls nicht zur VerblSdung fiihren. Er beschreibt 2 derartige F~lle, die er dem manisch-depressiven Irresein zuz~hlt.

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Diese kurzen Angaben aus der Literatur mSgen geniigen. Sic machen natiirlich keinen Anspruch auf Vollsti~ndigkeit. Wenn auch daraus zu ersehen ist, dab die im allgemeinen herrschende Anschauung dahin geht, die Hypochondrie der Neurasthenic unterzuordnen und nur wenige Stimmen sich fiir die nosologische Selbst~ndigkeit der Hypochondrie erheben, so wird man doch durchaus nicht den Eindruck haben, dab diese Frage naoh jeder Richtung gekl~rt und erledigt ist. Schon der Vorschlag W o l l e n b e r g s , aus praktischen Griinden fiir gewisse Fiille die Bezeichnung Hypochondrie beibehalten, jedooh damit die nosologische SelbstSndigkeit nicht aussprechen zu wollen, zeigt, dab dooh zumindest in einzelnen F~illen die Einfiigung der K_rank- heitsf~lle mit hypochondrischem Symptomenkomplex in andere be- kannte Krankheitsformen auf Schwierigkeiten stOl~t und der Sachlage nicht gerecht wird. Wir sehen aber auch, da]~ selbst bei den Autoren, die der Hypochondrie eine gewisse Selbst~ndigkeit einriiumen, durehaus nicht immer diesetben Krankheitszust~nde der Schilderung der Hypo- chondrie zugrunde liegen.

Auch ich mSchte die meisten Krankheitszustiinde mit dominierendem hypochondrischem Symptomenkomplex nicht als selbstiindige Krank- heitsform auffassen, die man als Hypochondrie von anderen Krank- heitsformen scharf trennen kSnnte. Fiir eine kleine Gruppe von F~llen mSchte ich aber doch die Forderung erheben, ihr unter der Bezeich- hung Hypoohondrie eine gewisse nosologische Selbst~ndigkeit ein- zuriiumen.

Keinesfalls rechne ich zur Hypochondrie die Krankheitsfiille, die in jugendlichem Alter entstehen bei Personen mit sog. neurasthe- nischen Symptomen. Diese Zust~nde gehSren zumeist der psycho- pathischen Konstitution und dem Entartungsirresein an. Hier haben die hypochondrischen Vorstellungen nur symptomatische Bedeutung. Neben ihnen bestehen noch andere Symptome, die fiir das Wesen der Erkrankung viel charakteristischer sind, prim~re Stimmungsanomalien, Zwangszustiinde, Phobien und dergleichen Symptome der Entartung. Man rechnet diese Krankheitszust~nde h~ufig zur Neurasthenie, und zwar zur konstitutionellen Form derselben oder, wie sich S c h a f f e r ausdriickt, zur Entartungsneurasthenie. Damit gestaltet man aber den Begriff der Neurasthenie zu einem Sammeltopf und begreift dar- unter wesensverschiedene Krankheitszust~nde. Ich mSchte unter Neurasthenie nur die erworbene Neurasthenie bzw. die ErschSpfungs- neurasthenic oder exogene Nervosit~t verstanden wissen. Wi~hrend nun bei der psychopathischen Konstitution und dem degenerativen Irresein sehr h~ufig hypochondrische Symptome auftreten, finden wir sie bei der Neurasthenie, im engeren Sinn, durchaus nicht in dieser I-I~ufigkei~, wie of~ angenommen wird, und nicht in dieser oh~rakte-

z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. Vl. 17

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ristischen Gestaltung. Sie entstehen hier durch falsche Deutung tat- s~chlich vorhandener pathologischer Empfindungen, z. B. hervor- gerufen durch tats~chlich existierende vasomotorische StSrungen, sind aber der Korrektur durch den Arzt zug~nglich und beherrschen nicht das Krankheitsbild. Der echte Neurastheniker ist der Erholung zug~nglich - - wenn auch oft nur fiir eine gewisse Zeit - - und mit der Erholung schwinden auch die eventuell vorhandenen hypochon- drisehen Vorstellungen. Diese nehmen nicht den Charakter von Wahn- vorstellungen an. Es ist auch nicht der Fall, dal~ nun stets oder auch nur meist bei Zunahme des neurasthenischen Leidens die hypo- chondrischen Symptome immer mehr in den Vordergrund treten mii~ten. Hypochondrie und Neurasthenie ist etwas Grundverschiedenes.

Ein groBer Teil der auf den ersten Bliek als Hypochondrie im- ponierenden F~lle geh6rt zu den Depressionszust~nden des manisch- depressiven Irreseins. Die Differentialdiagnose kann oft reeht sehwierig sein, zuweilen kann erst der weitere Verlauf der Erkrankung die sichere Entscheidung bringen. Man wird suchen, neben den hypoehondrischen noeh andere depressive Vorstellungen aufzufinden. Der Naehweis yon Beziehungsideen, Selbstbeschuldigungen, echte, anseheinend prim~re Angstzust~nde, ausgesprochene psychomotorische Hemmung, eventuell zeitweise Andeutung manischer Symptome, werden den Krankheits- fall Ms nicht der Hypoehondrie zugeh(irig erweisen. Dieser Nachweis wird aber - - wie gesagt - - zuweilen erst naeh l~ingerer, genauester Beobachtung gelingen. Ieh skizziere kurz einen derartigen Krankheitsfall.

St., 47j~hriger Kaufmann. Keine nachweisbare erbliche Belastung. Pat. war ein gutmfitiger, ruhiger Mensch, muBte in der Jugend stets hinter einem jfingeren Bruder zurfiekstehen, den der Vater bevorzugte. Er hatte immer etwas Scheues und Schfichternes im Benehmen. Vor drei Jahren dutch den Tod eines Kindes nachhaltige gemfitliche Erregung. Vor einem Jahr erkl~rte er plStzlich, cr habe Diabetes, ohne tats~chlich irgendwelche Symptome zu haben, die darauf hindeuten konnten. Die Untersuchung des Urins fiel negativ aus. Er bezweifelte die Diagnose des Arztes und konsultierte einen zweiten und dritten. Dann klagte er, er habe einen chronischen Rachenkatarrh. Ein Arzt sctmitt ihm ein Stfick der Uvula ab. Danach entstand bald die Idee, das sei sein Ungliick, er kSnne jetzt hie wieder gesund werden, daxan ginge er zugrunde, er mfisse das abgeschnittene Stiick wiederhaben. Er wurde innerlich erregt, iingstlich, nahm an Gewicht ab. 19. Okt. 1905 Aufnahme in die Anstalt. Die Untersuchung ergab das Bestehen eines Facialistie und eine symmetrische Steigerung der Sehnenreflexe, sonst einen durchaus normalen neumlogischen Befund, Gedachtnis und Sprache durchaus intake. Er erz~hlt ruhig und zusammenh~ngend, klagt fiber st~ndige Trockenheit in Rachen und Nase, er miisse sich immer ri~uspern, habe nicht genug Luft, die Operation der Uvula sei sein Ungliick, die Uvula sei eine Schutzvorrichtung, die sei nun fort.

Im Anfang der weiteren Beobachtung standen die Klagen bezfiglich der Nase und des Rachens im Vordergrund, er schnfiffette bestiindig, zog die Luft krampfhaft dureh die Nase ein, blies sie dann wieder hSrbar aus. Im Anschlul] an eine leichte Conjunctivitis tauchte die Idee auf, er werde erb]inden. Dann kam eine Periode,

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in der er meinte, ein unheilbares Blasenleiden zu haben. Bei Einl~ufen in den Darm sei die Blase verletzt worden, er klagte best~ndig fiber Schmerz und Druek in der Blasengegend, Naehtr~ufeln beim Urin[assen. Sp~ter traten dann wieder die hypoehondrisehen Nasenbeschwerden in den Vordergrund. Pat. stand vSllig unter dem EinfluB dieser hypochondrisehen Wahnideen, die er in gro$er Monotonio stets wieder vorbrachte. Keine Versfindigungs- oder andere depressive Wahn- vorstellungen. Dabei bestand aber eine deutliche psyehomotorische Hemmung. Er spraeh ira allgemeinen wenig, zeigte keine Initiative, blieb im Bert odor stand unt~,tig herum. Er hatte ffir niehts Interesse, war im Gegensatz zu friiher gleich- giiltig gegen seine FamilienangehSrigen, maehte einige, allerdings ziemtieh harm- lose, Suieidversuehe. Es bestand ein auffallender Gegensatz seines Verhaltens in den Morgen- und Abendstunden. Morgens war die Hemmung und die De- pression stets am ausgesprochensten, abends konnte er oft geradezu heiter sein, unterhielt sieh, maehte Ulk, tanzte sogar. Vorfibergehend kamen Perioden, in denen er im ganzen freier ersehien, mehr Initiative zeigte, weniger klagte, doch hielten diese Besserungen nur kurze Zeit an. Er konsultierte noeh einen Chirurgen, einen Halsarzt und lieB sieh in Wildungen die Blase untersuehen, war abet in seinen hypoehondrischen Ideen vSllig unbelehrbar. Am 10. Juli 1907 ver]iel~ er die Anstalt im wesentlichen ungebessert.

Wenn auch die hypochondrisehen Ideen das Krankheitsbild durehaus beherrsehten und keinerlei andere depressive Wahnideen bestanden, stellten wir doch, da wir eine Paralyse ausschlieten konnten, die Diagnose auf einen dem manisch-depressiven Irresein angehSrenden Depressions- zustand. MaBgebend war dabei die deutlich vorhandene Hemmung, der auffallende Unterschied des Verhaltens am Morgen und am Abend, das Benehmen abends bot oft geradezu manische Ziige. Wir stellten die Prognose dementsprechend giinstig. Tats~chlieh t ra t auch im Laufe des n~chsten Jahres v(~llige Heilung ein. Pat. war selbst mehrfaeh wieder besuchsweise in Bendoff, er ist jetzt durchaus gesund, hat voile Krankheitseinsicht.

Das Auftreten des hypochondrischen Symptomenkomplexes bei anderen Psyehosen, z. B. bei der Paralyse, der Dementia senilis, der Arteriosklerose, wird der Diagnostik keine Schwierigkeiten bereiten. Man wird in derartigen F~llen nicht in Versuehung kommen, an eine eehte Hypochondrie zu denken, lqur die Katatonie wird vielleicht gelegentlich in den Anfangsstadien zu diagnostischen Bedenken Anlaft geben. Ein Tell der im sp~teren Leben als hypochondrische Sonder- linge imponierenden Leute werden wohl Kata toniker sein.

Naeh Ausscheidung aller dieser anderen bekannten Krankheits- formen zugeh6rigen Krankheitsf~ille bleiben aber doch - - wie schon erw~ihnt - - einige iibrig, die einerseits untereinander eine derartige symptomatologische ~bereins t immung zeigen und auch in Entstehung und Verlauf ihre ZusammengehSrigkeit bekunden, anderseits nicht ohne Zwang in die anderen oben besproehenen Krankhei tsformen eingegliedert werden kSnnen, dal3 es gereehtfertigt erscheint, fiir diese Fglle die Bezeichnung Hypochondrie beizubehalten und derselben in

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dieser Umgrenzung eine nosologische Selbst~ndigkeit e inzur~umen. Ich gebe 2 derart ige F~lle etwas genauer wieder:

Albert I., Kaufmann, 59 Jahre ait. Keine Heredit~t. Stets etwas aufgeregt, herrischer Charakter, aber sonst

gesund. Vor 6--7 Jahren soil Pat. voriibergehend Zucker im Urin gehabt haben. Pat. ist verheiratet, hut drei gesunde Kinder. Leitet eine Fabrik, die ihm gehSrt. Im Oktober 1909 starke gemfitliche Erregung. Pat. wurde bei einer Bfirgsehafts- leistung ifir seinen Schwager hintergangen, hatte gr56eren Geldverlust. Im An- sehlull daran sehlief er die Ni~chte nicht, sprach immer vor sich bin yon Geld- angelegenheiten, klagte fiber ,,Klopfen" im Kopf. Anfang Dezember 1909 trat nach Angabe der AngehSrigen ein ,,Nervenchok" auf. Nachts stellte sieh plStzlieh starkes Herzklopfen ein, das nach 10 Minuten wieder schwand. Er ging morgens auf sein im selben Haus befindliches Bureau, kam aber bald in das Wohnzimmer zurfiek. Mit den Worten ,,es wird mir nicht gut" fiel er in einen Sessel, bekam Zuckungen im ganzen KSrper, allgemeines Zittern, keuchende Atmung, keine BewulttseinsstSrung. Der herbeigeholte Arzt erkl~rte, vom Herzen sei niehts zu beffirehten, es seien nur die Nerven. Dieser Zustand dauerte etwa zwei Stunden, danach war Pat. vSllig apathisch, blieb noeh aeht his zehn Tage zu Bett. In dieser Zeit wollte der Associ6 den Verkauf des Geseh~fts einleiten. Als Pat. wieder auf- stand, verhinderte er das sehr energisch, regte sich aber sehr dariiber auf. Er liell sieh nun vSllig gehen, all wenig, kam kSrperlieh sehr herunter, glaubte, er k~me ins Irrenhaus, war abet noch im Gesch~ft t~tig. Im Mai 1910 ginger yon zu Hause fort. Er besuchte ein Sanatorium nach dem anderen, hielt es iiberall nut kurze Zeit aus, brach jede Kur alsbald wieder ab, da es ihm doch nichts helle. In dieser Zeit klagte er plStzlich, es sei ihm ein Nerv abgestorben, jetzt sei er verloren. Von diesem Augenblick an traten die Geld- und Gesch~ftsangelegenheiten vSllig zuriick, er jammerte jetzt andauernd fiber den zersprungenen Xerven, der sei sein Unglfiek, er sei nicht mehr zu heilen. Eine Scheinoperation, in der ibm angeblich ein Knochenstfickchen entfernt wurde, braehte keine Besserung. Nach und naeh erholte er sieh kSrperlich etwas, der Appetit hob sich wieder, die hypochondrisehen Klagen blieben dieselben. Er hatte fi!'~rall Schmerzen, war sehr kurzatmig, konnte schlecht gehen.

29. Jan. 1911 Aufnahmc in unsere Anstalt. Der kSrperliehe Befund war ein durehaus normaler, keine nachweisbare Arteriosklerose. Er befand sich in leieht weinerlicher, gedriickter Stimmung, lamentierte mit vielen Worten, er werde nicht wieder gesund, er h~tte eher kommen miissen, jetzt sei alles zu sp~t, dabei gestiku- lierte er lebhaft mit den H~nden. Die Worte kamen stollweise heraus, die Spraehe war schwerf~llig, gelegentlieh wfirgte er geradezu an einzelnen Worten. Er war dabei vSllig klar und orientiert und bereit in der Anstalt zu bleiben. Am n~ehsten Tag begrfillte er die ~rzte bei der Morgenvisite freundlich, ruhige Atmung, un- gestSrte Spraehe. Sowie er aber nach seinem Befinden gefragt wird, wird er un- ruhig, die Atmung wird stark beschleunigt, keuchend, japsend, die Sprache miihsam, ringt nach Worten. Er ist beherrseht yon der Idee, dall er rettungslos verloren ist, dull ihm ein Nerv ,,abgefallen" sei, er zeigt dabei stets auf die rechte Supraorbi- talgegend, er habe ein dumpfes Geffihl in seinem Gehirn, erz~hlt immer wieder dieselbe Gesehichte, wie er plStzlieh einen Knacks geffihlt habe, da sei der Nerv gesprungen oder abgefallen, seitdem sei er rettungslos verloren. Im Laufe der Beobaehtung traten noch andere hypochondrisehe Klagen hervor, Sehmerzen im ganzen KSrper, Klagen fiber die Unfahigkeit zu gehen, blieb de~halb tagelang zu Bert liegen, wenn er aufstand, machte er kurze trippelnde Sehritte, konnte aber gclegentlich scheinbar unbeobachtet ganz flott aussehreiten. Auch die keuchende, dyspnoische, besehleunigte Atmung trab nut anfallsweise in Gegenwart yon Arzt

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oder Pflegern auf. Er befand sieh meist in gereizter, querulierender Stimmung, schimpfte, daB niehts mit ihm gemaeht werde, bezeiehnete aber jeden Behandlungs- versueh als aussiehtslos, befolgte die ~rztlichen Weisungen nieht, setzte allen therapeutischen Versuehen hartn~ekigen Widerstand entgegen. Gelegentlieh war er zug~nglieher, konnte dutch ein ihninteressierendes Gespr~ch der anderen Patienten abgelenkt werden, beteiligte sich dann an der Unterhaltung, verriet oft guten Humor. Die Intelligenz war durehaus ungestSrt, er verriet in allen Dingen, die ihn selbst nieht betrafen, gutes Urteil, zeigte keinerlei StSrung des Ged$iehtnisses. In bezug auf seine hypoehondrisehen Klagen war er vSllig unbelehrbar. Auf den Einwurf, dab das mangelnde GehvermSgen doeh nieht mit dem abgefallenen Nerven zusammenh~ngen kSnne, sagt er, ,,das h~ngt doeh irgendwie zusammen, dutch das Blut oder so". Er verlangte nach kurzer Zeit wieder naeh Hause. Ob- wohl er tagelang vor der Abreise zu Bett gelegen hatte mit der Behauptung, er kSnne keinen Schritt gehen, erwartete er die Toehter, als sie ihn abholte, selbst am Portal. Mit keuchender Atmung und kurzen trippelnden Sehritten mad den alten Lamentationen verlieB er am 28. Februar die Anstalt. Das gleiehe wird sich wohl in Zukunft an anderen Stellen noeh oft wiederholen.

Fritz M., 71 Jahre alt, Rentier. Pat. hatte ursprfinglieh Bergfach studiert, wurde sp~ter Ingenieur, war zuletzt

teehniseher Direktor an grSBerem Eisenwerk. Er ist verheiratet und hat zwei gesunde Kinder. Seit ca. ffinf Jahren hat er sieh zur Ruhe gesetzt mad lebt als Rentner. War frfiher kSrperlich sehr riistig, eifriger J~ger, stets gesund, nur sell er sehon in friiheren Jahren h~ufig an Obstipation gelitten haben. Die jetzige Er- krankung begann vor 11/2 Jahren, er klagte fiber Sehlaflosigkeit trod Verstopfung, bekam monatelang Sehlaflnittel und 5fters starke Abfiihrmittel, viel Einli~ufe und Massage. Doeh sell er jetzt schon seit vielen Monaten ohne Narkotiea gut schla~en nach Angabe der Frau. Pat. war best~ndig yon hypochondrisehen Ideen beherrscht, deren Inhalt oft wechselte. In letzter Zeit glaubte er, er kSnne keine feste Speise mehr zu sieh nehmen, da er dadurch Atembeklemmung bekomme. Seit zwei Tagen hat er v511ig abstiniert, nur fleiBig gegurgelt, auch wi~hrend der Eisenbahnfahrt, behauptete, vorgesetern sei ibm Milch in die Lunge gekommen, deshalb mfisse er das tun. Zeitweise klagte er, er sei so unsicher auf den FfiBen, liefl sich yon seiner Frau im Zimmer herumffihren. Seine Wohnung hatte er seit 1/2 Jahr nicht mehr verlassen. Pat. war starker Raueher, in alcoholieis m~i3ig. Keine Abnahme des Gediiehtnisses bemerkbar, interessierte sieh ffir Famflien- angelegenheiten und Politik, ermiidete aber angeblich leicht.

Pat. kommt am 5. Mai 1909 auf seinen eigenen Wunsch in die Anstalt, glaubt, dab er nicht wieder nach Hause komme, ist iiberzeugt, dab er bier sterben wird.

Der kSrperliehe Befund ist bis auf eine Arteriosklerose der R~liales ein nor- maler, keinerlei Ausfallssymptome yon seiten des Nervensystems. Voriibergehend tritt ein grobschli~giger Tremor des Kopfes und der Extremit~ten auf, der naeh einiger Zeit wieder sehwindet. Gang unsieher, trippelnd, Pat. geht leieht nach vorn ge- neigt, maeht vorsiehtig Schrittehen fiir Sehrittchen, li~Bt sich dabei fiih~en. Keinerlei Abnahme der Intelligenz bemerkbar, Merkf~higkeit durehaus intakt. W~hrend der Unterhaltung f~ngt er plStzlieh an laut zu stShnen und beschleunigt mid miilmam zu atmen. Er klagt, daft sieh sein Zustand in letzter Zeit versehlimmert babe, er babe nachts in allen Gliedem furehtbare Schmerzen, er kSnne nieht mehr gehen, habe Beschwerden beim Atemholen, das Essen bleibe ihm im Halse steeken. Da er aus diesem Grunde nieht essen wollte, wurde er die ersten Tage mit der Sonde gefiittert, was er sieh olme Widerstreben gefallen liefl. Er markierte stets den Sehwerkranken, sprach mit leiser, zitternder Stimme, jammerte, er miisse sterben, bekomme keino Luft mehr, verlangte in die Tobzelle oder in eine Zwangsjaeke, er g6hSre zu den

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unruhigen Kranken, schreit aus diesem Wunsch heraus manchmal nachts laut. Nach einiger Zeit gab er ganz spontan das Abstinieren auf und aB yon selbst wieder. Er wird taglich im Garten herumgefiihrt, hiilt dabei die Augen halb gesehlossen, bittet gelegentlich den Pfleger, ihn im Bett festzuhalten, da er sonst herausfalle. Den Angeh6rigen, die ihn besuchen, bringt er alle mSglichen Klagen vor fiber die schlechte Behandlung yon seiten der Pfleger, konfabulierte gelegentlich geradezu, berichtete, er babe naehts mit den Sozialdemokraten in den Haaren gelegen, die wollten, er solle Spektakel machen. Doch war aueh dies augenscheinlich nur dem Bestreben entsprungen, den AngehSrigen gegeniiber sein Leiden mSgliehst kraB darzustellen trod womSglich einen geistig verwirrten Eindruck zu machen. Ge- legentlieh verunreinigte er sigh. Stets jammerte er, braehte bald diese bald jene hypochondrisehen Ideen hervor, er kSnne nieht atmen, seine Ged~rme seien roll Luft, er habe Messer im Riicken, in seinem Bauch s~e ein Aas, das solle man herausschneiden, schnappt fSrmlich nach Luft, spricht mit leiser, ersterbender Stimme. Am 28. August wurde er in unver~ndertem Zustand nach Hause abgeholt.

Es handelt sich in den beiden vorstehenden F~llen um zwei Patienten in vorgeriicktem Lebensalter. Der eine steht bereits im Senium, der andere befindet sich im Pr/isenium. Beide Patienten waren friiher kSrperlich rfistige, gesunde, intelligente M~nner, die in ihrem Beruf Tfichtiges leisteten und leitende Stellungen innehatten. I m Fall I wird die psychische Erkrankung bei dem bisher gesunden Mann durch eine starke gemfitliche Erregung subakut ausgelSst. Die ersten Sym- p tome sind Schlaflosigkeit und Einengung des ganzen Denkens auf das betreffende Erlebnis, infolgedessen depressive Stimmung. Dabei treten Sensationen auf, die er als Klopfen im Kopf bezeiehnet. Es stellt sich dann ein allgemeiner Zitteranfall yon durehaus psychogenem Charakter ein, im AnschluI~ daran entwickelt sich der hypochondrisehe Symptomenkomplex. Es t r i t t die unkorrigierbare Wahnidee auf, ein Nerv sei gesprungen; diese Idee beherrseht weiterhin das Krank- heitsbild, daneben bestehen Geh- und Atemst6rungen, deren Ent- stehung dutch hypochondrische Vorstellungen unzweifelhaft ist.

Ira Fall I I begann die Erkrankung etwa 3 Jahre nachdem sich der Pat . zur Ruhe gesetzt hat te und als Rentner lebte. Ob dem Aus- bruch der Erkrankung irgendein affektbetontes Erlebnis vorausgegangen ist, l~i~t sich nieht eruieren. Pat . ldagte anfangs fiber Schlaflosigkeit und Verstopfung, bekam entsprechende Medikamente in grol3er Zahl. Es scheint aber, als ob diese Beschwerden mindestens zum Teil un- begrfindet oder fibertrieben, also schon hypochondrischer Natur waren. Der hypochondrische Charakter der mannigfachen neu auftauchenden Empfindungen und Vorstellungen wurde immer deutlicher. Sehliei~- lich beherrschte der hypoehondrisehe Symptomenkomplex den Kranken derartig, dab er, wie der Fall I , einen sehwer psyehotischen Eindruck maehte, ffir nichts anderes Interesse zeigte, mit gr61~ter Hartn~ekigkeit an seinen Wahnideen festhielt. Aueh hier treten Zitteranfiille und Gehst6rungen auf.

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Mit der Neurasthenie haben die beiden Krankheitsf~le nichts zu tun. Beide Patienten waren friiher keine Neurastheniker, auch w~hrend der psychischen Erkrankung traten durehaus keine eharakteristischen neurasthenischen Symptome hervor. Irgendwelehe auffallenden Er- sch6pfungs- und Ermiidungssymptome, eine allgemeine Steigerung der nerv6sen Erregbarkeit, eine allgemeine Hyper~sthesie bestanden in keinem der beiden F~ille. Im Fall II soil Pat. sehon in friiheren Jahren 6fters mit Obstipation zu tun gehabt haben. Augenseheinlieh hat diese Tatsaehe bei Ausbrueh der Hypoehondrie den Inhalt der ersten hypoehondrisehen Ideen bestimmt.

Gegen die Auffassung der Krankheitszust~nde als einleitende Phasen einer organischen Erkrankung, sei es einer Arteriosklerose oder einer Dementia senilis, sprieht der negative Befund der Untersuchung des Nervensystems und vor allem das Fehlen intellektueller und am- nestiseher St6rungen, DaI3 die etwa hieran erirmernden Erseheinungen im Falle II anders zu bewerten sind, erw~hnte ieh sehon.

Als Depressionszustand des maniseh-depressiven Irreseins oder als Depressionszustand auf anderer Grundlage k6nnen die Krank- heitsf~lle nicht aufgefaSt werden. Sie zeigen keine Hemmung und keine p r im~re Depression, sowohl im Beginn wie im weiteren Ver- lauf, aueh sp~terhin treten keinerlei andere depressive Wahnideen neben den hypoehondrisehen Vorstellungen auf. Im AnsehluB an die ~uI~erung der hypoehondrisehen Vorstellungen kommt es zu iiber- triebenen Affektausbriiehen, das viele Jammern und Klagen gibt dem ganzen Bild einen depressiven Farbenton, und doch hat man das Gefiihl, als ob die Grundstimmung eher einer geradezu indifferenten Gemiitslage entspreehe. Treten die hypochondrisehen Ideen zeitweise zuriiek, so ist von einer Stimmungsanomalie nichts zu bemerken.

Erheblich gr6$ere Sehwierigkeiten erwachsen bei der Abgrenzung gegeniiber der Hysterie. I~eiB 1) besehreibt in seiner Arbeit ,,Kon- stitutionelle Verstimmung und manisch-depressives Irresein" unter der Rubrik ,,Hysteriforme Depressionen des Pr~seniums" 2 F~lle von ~ngstlieh hypoehondrischen Verstimmungen yon - - wie er sagt - - typiseh hysterisehem Gepr~ge. Seine F~lle erinnern vielfaeh a~ unsere vorstehend mitgeteilten Beobaehtungen, unterseheiden sich freilieh auch in einigen nicht unwesentliehen Punkten.

Die nahen Beziehungen, die zweifellos zwisehen der Hypochondrie und der Hysterie bestehen, beruhen in der psyehogenen Grundlage beider Krankheitsformen. Wohl mit Reeht ist man davon abgekommen, jede psyehogene Krankheits~u~erung als hysteriseh zu betraehten. Man weft] jetzt, da[~ es neben den hysterisehen Krankheitszust~nden noch andere gibt, die trotz ihrer psychogenen Grundlage durehaus nieht

1) Diese Zeitschrift 2, 347. 1910.

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einfach der Hysterie zuzuz[ihlen sind. R aecke hat bereits auf die trennenden Momente der ttypochondrie gegeniiber der ttysterie bin. gewiesen. Im Gegensatz zur ttysterie ist bei der tIypochondrie die Suggestibilits zumal s Einwirkungen gegeniiber, herab- gesetzt. Der Hypoehonder ist unter dem EinfluB seiner Wahnideen unempfindlieh gegen fremde Kritik. Es kommt nicht zur Ausbildung des typisehen hysterischen Charakters. Dem tIypochonder fehlen die sog. Stigmata. Die hypoehondrisehen L~hmungen erstreeken sich weniger als bei der Hysterie auf einzelne Gliedabschnitte als auf ein- zelne BewegungsmSgliehkeiten und sind deutlich durch bewuBte Vor- stellungen hervorgerafen. In einer friiheren Arbeit 1) wies ieh sehon, in Anlehnung an B i n s w a n g e r s Ansieht, darauf bin, dab ein Tell der F~ille von Pseudoparesis spastica wohl der Hypoehondrie und nicht der Hys~erie zuzuz~hlen sei. Auf dieselbe Entstehungsursache sind auch die sog. psychischen Anfiille bei der Hypoehondrie zuriick- zufiihren. Im Gegensatz zur Hysterie ist fiir die Hypochondrie die Neigung zu eigenartiger Wahnbildung eharakteristiseh. Oft hat man den Eindruck, die Wahnideen entst~nden infolge krankhafter Deutung yon Empfindungen, seien es nun normale resp. physiologiseh bedingte Organempfindungen oder Par~sthesien und Sensationen, oft scheint es aber auch, zumal im weiteren Verlauf, als ob die hypochondrisehen Wahnideen auf andere Weise entstehen, ohne sich als die wahnhafte Verarbeitung krankhafter Empfindungen erkl~ren zu lassen, z. B. direkt dutch ein affektbetontes Erlebnis, durch zuf~llige Assoziationen. Auf einen wesentliehen Untersehied hat neuerdings S. M e y er 2) hinge- wiesen. Er betont, dal~ bei der Hypochondrie sieh keineswegs die tiefgreifenden FunktionsstOrungen entwickeln, die der Itysterie eigen sind, obwohl bei der Hypochondrie in sehwereren F~illen die Aufmerk- samkeit sehlieBlich lediglich auf die K(irperfunktionen eingestellt ist.

Alles das sind Momente, die uns wohl gestatten, die Hypochondrie vonder Hysterie zu trennen.

Gegen die Auffassung derartiger F~ille als Paranoia spricht - - wie friiher sehon erw~hnt - - d a s Fehlen der Weiterbfldung und Systematisierung der Wahnideen mit feindlichem Inbeziehungsetzen tier AuBenwelt zur eigenen Person. Aber auch der Charakter der Wahn- ideen seheint mir ein verschiedener. Wenn aueh der Hypoehonder seinen Wahnideen gegeniiber v611ig kritiklos ist und start an ihnen festh~lt, so hat man doeh unwillkiirlieh einen anderen Eindruek yon ihnen als bei den Walmideen des Paranoikers. Die Wahnideen werden so aufdringlieh, mit so viel Aufwand yon Affekt vorgebraeht, sind

x) Sommer, Zur Kenntnis der Pseudoparesis spastica, Wiener klin. Rund- schau 1903~ Nr. 39.

u) Diese Zeitschrift 5, 216. 1911.

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in ihren Folgeerscheinungen bezfiglich des ganzen Verhaltens der Kranken gleich so schwer, dall man gerade dadurch ihre psychogene Natur durehleuchten sieht und geneigt ist, trotz des ~ul~erlich schweren Kra~kheitszustandes die Situation nicht so tragisch aufzufassen. Ganz anders der echte Paranoiker, der im allgemeinen mit seinen Wahnideen zurfickh~lt, bei dem oft erst eine sorgf~ltige Beobachtung den Einflul~ der Wahnideen auf das Handeln des Kranken erkennen l~13t.

Fasse ich nach diesen Ausftihrungen meine Ansicht fiber die noso- logische Stellung der Hypochondrie kurz zusammen, so komme ich zu folgendem Schlu$: Hypochondrische Symptome kommen bei den verschiedensten Krankheitsformen, sowohl organischer wie sog. funk- tioneller Natur, vor. Ihr Auftreten hat an sich meist nut symptomatische Bedeutung und erweist daher noch nicht die ZugehSrigkeit des be- treffenden Krankheitsfalles zu einer bestimmten Krankheitsart. Sehr h~ufig treten z. B. hypochondrische Symptome bei der sog. Entartungs- neurasthenie und bei den erbhch-degenerativen GeistesstSrungen auf. Wenn auch die hypochondrischen Symptome bei diesen Krankheits- zust~nden zeitweise dominieren kSnnen, so finden sich doch immer noch andere Symptome, die ihre ZugehSrigkeit zu diesen auf dem Boden einer bestimmten Entartungsform erwachsenen psychotischen Krankheitsbildern erweisen. Bei der erworbenen ErschSpfungsneur- asthenie werden wohl einzelne hypochondrische Symptome sehr h~ufig beobachtet, nicht aber der ausgesprochene hypochondrische Sym- ptomenkomplex, es fehlt durchaus die charakteristische Neigung zur unkorrigierbaren Wahnbildung. Auch kann der hypochondrische Symptomenkomplex resp. ein hypochondrisches Zustandsbild nicht einfach als die Steigerung oder der Ausgang einer schweren Neurasthenie aufgefal3t werden, da man schwere Neurasthenien ohne derartigen Aasgang beobachtet und ~nderseits den schwereren hypochondrischen Krankheitszust~nden keine eigentliche Neurasthenie vorauszugehen pflegt. Wenn auch die Hypochondrie als selbstgndige Krankheitsform zweifellos nicht in der Ausdetmung bestehen bleiben kann, die man ihr in friiheren Jahrzehnten, besonders vor dem Aufkommen des Neurastheniebegriffes, gegeben hat, so hat man doch das l~echt, eine bestimmte Gruppe yon Krankheitsf~llen unter der Bezeichnung Hypo- ehondrie als Krankheitsart zusammenzufassen und ihr eine gewisse nosologische Selbst~ndigkeit einzur~umen. Sie gehSrt meines Erachtens der grol3en Gruppe der psychogenen Krankheitsformen als eine wohl- charakterisierte Unter- bzw. Spezialform an. Wenn auch die Frage noch nicht entschieden ist, ob man berechtigt ist, selbst~ndige psychogene Krankheitsformen aufzustellen - - ieh verweise auf den Aufsatz von B i rnbauml ) , - - so glaube ieh doch, daf~ sowohl theoretische Uber-

1) Diese Zeitschrift l, 27. 1910.

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262 M. Sommer: Zur Frage der nosologischen Selbstiindigkeit der Hypochondrie.

legungen als auch die praktischen Bediirfnisse der Psychiatrie eine derartige Auffassung rechtfertigen und verlangen. Manche Krankheits- bilder, deren Verst~ndnis und systematische Einordnung in die uns bekannten Krankheitsformen bisher erschwert war, erfahren dadurch erst ihre volle klinische Wiirdigung, erweisen ihre Zusammengeh6rigkeit und ihre Zugeh6rigkeit zu bestimmten Krankheitsformen. Aus diesen psychogenen Krankheitsformen hebt sich die Hypochondrie als scharf unu'issener Krankheitstyp heraus, charakterisiert, abgesehen yon der psychogenen Grundlage bei Entstehung der psychotischen Symptome, durch das Auftreten eines stets gleichen bestimmten Symptomenbildes - - die Wahnideen entstammen s~mtlich dem Gebiete des BewuBtseins der K6rperlichkeit und unterscheiden sich in bestimmter Weise von der Art der Wahnideen des Paranoikers - - und charakterisiert wahr- scheinlich auch durch den chronischen Verlauf der Erkrankung, die abcr nicht zu intellektueUen SchwEchezustEnden fiihrt. Es scheint, als ob die hypochondrische Psychose vorwiegend eine Erkrankung des h6heren Lebensalters sei. Es ist m6glich, dab die beginnenden Alters- verEnderungen den Boden fiir die Entstehung einer psychogenen Dis- position schaffen oder auch die Bahn frei machen, dab eine bisher la- tente Disposition in Erscheinung tritt. Aber selbst bei Annahme des Vorhandenseins der psychogenen Disposition bleibt die Frage un- gel6st, welche Umst~nde nun gerade die Hypcchochondrie, eine Erkrankung mit diesem eigenartigen und bestimmten Symptomen- komplex pl6tzlich entstehen lassen bei Personen, bei denen friiher keine Neigung zu hypochondrischer Denkungsweise zu erkennen war. Ich m6chte auch die Frage often lassen, ob die hypochon- drischen Zustandsbilder, die z. B. R a e c k e schildert, die in relativ jugendlichem und mittlerem Lebensalter entstehen und sich vor allem durch das massenhafte Auftreten von Par~sthesien und Sensationen aller Art bei oft erhaltener Arbeits- und Gesellschaftsf~higkeit von der Hypochondrie des h6heren Lebensalters nicht unwesentlich unter- scheiden, der eigentlichen Hypochondrie angehSren. Es scheint mir die Auffassung eine gewisse Berechtigung zu haben, in dieser hypo- chondrischen Neurose mit vorherrschenden Par~sthesien die leichtere Unterform - - wohl auf dem Boden der angeborenen psychogenen Disposition meist friiher entstehend -- , in der hypochondrischen Psy- chose des h6heren Lebensalters mit gr6[3erer Neigung zur Wahn- bildung die schwerere Unterform der Hypochondrie zu sehen.