ZUR KANTISCHEN BEGRÜNDUNG DER MATHEMATIK UND DER NATURWISSENSCHAFTEN

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ZUR KANTISCHEN BEGRÜNDUNG DER MATHEMATIK UND DER NATURWISSENSCHAFTEN von Stephan Körner, Bristol Eine Philosophie wie die Kantische, die die Ergebnisse der naturwissenschaft- lichen Forschung ernstlich zur Kenntnis nimmt, setzt sich dadurch nicht nur einer immanenten philosophischen Kritik, sondern auch Einwänden aus, die der wissen- schaftlichen Forschung entstammen. Es ist im Falle einer solchen Philosophie zu erwarten, daß die sozusagen von innen und außen kommenden Einwände ein- ander ergänzen und sich dadurch sowohl auf die Philosophie als auch auf die von ihr untersuchten Wissenschaften auswirken werden. In diesem Vortrag will ich Kants Lehren von der Begründung der synthetischen Urteile a priori in der Mathe- matik und der Physik im Lichte einiger späterer Ergebnisse dieser Wissenschaften untersuchen. Das soll in beiden Fällen so geschehen, daß erstens die Unvereinbar- keit der Kantischen Annahmen über die Möglichkeit dieser Wissenschaften mit deren heutigem Stand aufgedeckt wird, und daß zweitens diese Unvereinbarkeit auf eine der Begründung bedürfende, ihr aber unzugängliche Voraussetzung zu- rückgeführt wird. Als Einleitung mögen einige Bemerkungen über die transzen- dentale Methode dienen, als Abschluß einige Bemerkungen über ihre bleibenden Ergebnisse. 1. Eine Schwierigkeit in Kants Begriff der transzendentalen Erkenntnis Das Ergebnis einer jeden transzendentalen Deduktion ist eine transzendentale Erkenntnis, d. h. nach Kant nicht eine Erkenntnis, die schlechthin a priori ist, sondern eine solche, „dadurch wir erkennen, daß und wie gewisse Vorstellungen (Anschauungen oder Begriffe) lediglich a priori angewandt werden, oder möglich sind" 1 ). Eine transzendentale Erkenntnis ist also eine Erkenntnis a priori, die eine synthetische Erkenntnis a priori zum Gegenstand hat. Nun ist klar, daß eine Er- kenntnis über eine andere Erkenntnis von gleicher oder ungleicher Art sein kann wie diese. So gibt es analytische Urteile über empirische, z. B. wenn richtig be- hauptet wird, daß ein empirisches Urteil ein anderes logisch impliziert; und empi- rische Urteile über analytische, z. B. wenn richtig behauptet wird, daß manche Mathematiker beim Schließen die Anwendung des tertium non datur vermeiden. Ein eine transzendentale Erkenntnis ausdrückendes Urteil kann, der Kantischen Einteilung der Urteile nach, nur entweder ein synthetisches Urteil a priori oder ein analytisches sein, da Kants Definition der transzendentalen Erkenntnis die Mög- lichkeit ausschließt, daß es synthetisch a posteriori sei. B 80, siehe auch z. B.: &2S, 117. 463 Brought to you by | Penn State - The Pennsylvania State University (Penn State - The Pennsylvani Authenticated | 172.16.1.226 Download Date | 5/28/12 9:17 AM

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ZUR KANTISCHEN BEGRÜNDUNG DERMATHEMATIK UND DER NATURWISSENSCHAFTEN

von Stephan Körner, Bristol

Eine Philosophie wie die Kantische, die die Ergebnisse der naturwissenschaft-lichen Forschung ernstlich zur Kenntnis nimmt, setzt sich dadurch nicht nur einerimmanenten philosophischen Kritik, sondern auch Einwänden aus, die der wissen-schaftlichen Forschung entstammen. Es ist im Falle einer solchen Philosophie zuerwarten, daß die sozusagen von innen und außen kommenden Einwände ein-ander ergänzen und sich dadurch sowohl auf die Philosophie als auch auf die vonihr untersuchten Wissenschaften auswirken werden. In diesem Vortrag will ichKants Lehren von der Begründung der synthetischen Urteile a priori in der Mathe-matik und der Physik im Lichte einiger späterer Ergebnisse dieser Wissenschaftenuntersuchen. Das soll in beiden Fällen so geschehen, daß erstens die Unvereinbar-keit der Kantischen Annahmen über die Möglichkeit dieser Wissenschaften mitderen heutigem Stand aufgedeckt wird, und daß zweitens diese Unvereinbarkeitauf eine der Begründung bedürfende, ihr aber unzugängliche Voraussetzung zu-rückgeführt wird. Als Einleitung mögen einige Bemerkungen über die transzen-dentale Methode dienen, als Abschluß einige Bemerkungen über ihre bleibendenErgebnisse.

1. Eine Schwierigkeit in Kants Begriff der transzendentalen Erkenntnis

Das Ergebnis einer jeden transzendentalen Deduktion ist eine transzendentaleErkenntnis, d. h. nach Kant nicht eine Erkenntnis, die schlechthin a priori ist,sondern eine solche, „dadurch wir erkennen, daß und wie gewisse Vorstellungen(Anschauungen oder Begriffe) lediglich a priori angewandt werden, oder möglichsind"1). Eine transzendentale Erkenntnis ist also eine Erkenntnis a priori, die einesynthetische Erkenntnis a priori zum Gegenstand hat. Nun ist klar, daß eine Er-kenntnis über eine andere Erkenntnis von gleicher oder ungleicher Art sein kannwie diese. So gibt es analytische Urteile über empirische, z. B. wenn richtig be-hauptet wird, daß ein empirisches Urteil ein anderes logisch impliziert; und empi-rische Urteile über analytische, z. B. wenn richtig behauptet wird, daß mancheMathematiker beim Schließen die Anwendung des tertium non datur vermeiden.Ein eine transzendentale Erkenntnis ausdrückendes Urteil kann, der KantischenEinteilung der Urteile nach, nur entweder ein synthetisches Urteil a priori oder einanalytisches sein, da Kants Definition der transzendentalen Erkenntnis die Mög-lichkeit ausschließt, daß es synthetisch a posteriori sei.

B 80, siehe auch z. B.: &2S, 117.

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Hier nun begegnen wir einer Schwierigkeit. Wenn ein transzendentales Urteilanalytisch wäre, könnte es zwar feststellen, was aus unseren philosophischen Vor-aussetzungen, welcher Art sie auch sein mögen, deduzierbar sei, könnte diese Vor-aussetzungen aber keinesfalls begründen. Ein analytisches Urteil kann das Resultateiner logischen, nicht aber einer transzendentalen Deduktion sein. Wenn anderer-seits ein transzendentales Urteil synthetisch a priori wäre, dann bedürfte es imSinne Kants selbst einer Begründung. Die Begründung synthetischer Urteile apriori durch transzendentale synthetische Urteile a priori usw. würde also zueiner unendlichen Regression führen. Obgleich sich Kant der Wichtigkeit seinerUnterscheidung zwischen transzendentalen und anderen Urteilen a priori wohlbewußt ist, geht er auf diese Schwierigkeit nicht ein. Im großen und ganzen scheinter transzendentale Urteile als synthetische Urteile a priori über synthetische Urteilea priori anzusehen.

Daß transzendentale Urteile ihre Aufgabe, synthetische Erkenntnis a priori zubegründen, weder erfüllen können, wenn sie analytisch, noch wenn sie synthetischa priori sind, wurde von Fries und später von Leonard Nelson erkannt. DiesePhilosophen folgten Kant in der scharfen Unterscheidung zwischen den einerBegründung bedürfenden synthetischen Urteilen a priori und den sie begründendenUrteilen, und sie meinen den Ausweg aus dem Dilemma darin zu finden, daß sie diebegründenden Urteile nicht als a priori, sondern als a posteriori betrachten, näm-lich als zu einer empirischen introspektiven Psychologie gehörend, deren Gegen-stand die synthetische Erkenntnis a priori ist. Auf diesen interessanten neuen An-satz, der in gewisser Hinsicht an das Hilbert'sche Programm einer metamathema-tischen Beweistheorie erinnert, will ich hier nicht eingehen, zumal da der Fries-Nelson'sche Versuch, abgesehen von verhältnismäßig geringen Änderungen, die-selben synthetischen Prinzipien a priori begründen soll wie die transzendentaleDeduktion Kants.

Dunkle Stellen und selbst Fehler in einem Beweis oder einer Begründung be-deuten natürlich nicht, daß die mangelhaft bewiesenen oder begründeten Sätzefalsch sind oder daß sie nicht auch makellos bewiesen oder begründet werdenkönnen. Doch läßt sich, wenn keine solche Begründung und kein solcher Beweisvorliegt, die Frage nicht abweisen, ob es nicht gute Gründe gebe, weshalb sie an-geblich gesicherten Sätze als falsch abgelehnt oder wenigstens in ihrer Allgemein-heit beschränkt werden müssen. Im Falle der Kantischen transzendentalen Deduk-tion sind die Gründe des Zweifels an ihrer Gültigkeit heute nicht schwer zu finden,wenn man bedenkt, daß die Aufgaben für eine transzendentale Deduktion durcheine metaphysische Erörterung von Begriffen gestellt werden, d. h. durch eineErörterung, die für jeden Begriff „dasjenige enthält, was den Begriff, als a priorigegeben, darstellt"2). Sie stützt sich in der transzendentalen Ästhetik darauf, daßdie Mathematik ihre Objekte „ganz rein", in der transzendentalen Analytik darauf,

2) B 38.

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daß die Physik ihre Objekte „wenigstens zum Teil rein" bestimmt3). Es ist hiervon einer Mathematik und einer Physik die Rede, so daß eindeutig bestimmt ist,was diese Wissenschaften als ihre Objekte rein oder zum Teil rein bestimmen. DieGebietserweiterung der Mathematik und der Physik nach Kant, insbesondere dieGabelungen nicht-monomorpher geometrischer und mengentheoretischer Axio-mensysteme, sowie die neuere Relativitäts- und Quantenphysik, zwingt jedenPhilosophen, der Kants Werk ernst nimmt, zu der Untersuchung, inwiefern Kantsmetaphysische Erörterung und folglich seine transzendentale Deduktion der Prin-zipien der Mathematik und der Naturwissenschaften im Lichte ihrer späteren Er-gebnisse aufrecht erhalten werden können. Auf dieses Problem richten sich diefolgenden Bemerkungen.

II. Die Lehre der transzendentalen Ästhetik und die Gabelung mathematischer Theorien

Wie fast alle seine Vorgänger lehrt Kant, daß die Axiome und Theoreme dermathematischen Theorien in der Wirklichkeit wahr sind, daß ihre Wahrheit dermathematischen Forschung im Prinzip zugänglich ist und daß das begrifflicheDenken die nicht begriffliche oder vor-begriffliche mathematische Wirklichkeitvollständig und unzweideutig reflektiert. Das Gödel'sche Unvollständigkeitstheo-rem (1931) und das Church'sche Unlösbarkeitstheorem (1935) zeigen zumindest,daß die ihnen vorhergehenden philosophischen Thesen über die Zugänglichkeitder mathematischen Wahrheit, der prinzipiellen Lösbarkeit aller Klassen von ma-thematischen Problemen und der vollständigen Reflexion der mathematischenWirklichkeit im Denken revidiert oder präziser formuliert werden müssen. Dochwill ich diese Fragen übergehen — nicht nur, weil sie sehr häufig diskutiert wor-den sind, sondern auch weil sie nicht den eigentlichen Kern der Lehre Kants be-treffen. Sogar die in ihrem Mittelpunkt stehende Auffassung der mathematischenWirklichkeit als einer nur empirischen, aber nicht transzendentalen Realität4) willich hier außer acht lassen.

Die für die heutige Philosophie der Mathematik wichtigste philosophischeThese Kants ist, wie die formalistische und intuitionistische Grundlagenforschungerkennen läßt, die Behauptung, daß die Axiome und Theoreme der Mathematiksynthetische Urteile a priori sind. Das widerspricht Leibniz', Freges und RussellsTheorie,, wonach die Axiome und Theoreme logisch wahr sind, das heißt wahr injeder möglichen Welt, einschließlich der wirklichen; und das widerspricht auchder oft angenommenen, aber philosophisch nicht ausgearbeiteten Lehre, daß dieAxiome und Theoreme nur „in einer möglichen Welt wahr sind", d. h. nicht imstrengen Sinne des Wortes. Die für die philosophische Bewertung der KantischenPhilosophie des Mathematik und ihrer philosophischen Rivalen wichtigsten ma-thematischen Entdeckungen sind das, was ich hier „metamathematische Gabe-

3) BX.4) B 44, 52.

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lungsthcoreme" nennen will, insbesondere das Theorem, daß sowohl die Eukli-dische als auch die nicht-Euklidische Geometrie widerspruchsfrei sind und dasCohcn'sche Theorem (1963), wonach sowohl die Zermelo'sche als auch die nicht-Zcrmclo'schc Mengenlehre widerspruchsfrei sind. Dabei verstehe ich unter jenerein mcngentheoretischcs Axiomcnsystcm, das neben den gebräuchlichen Axio-men der Mengenlehre und der engeren Prädikatcnlogik die Kontinuum-Hypothe-se ( , = 2* °), unter dieser ein Axiomensystcm, das an Stelle der Kontinuum-Hypothesc ihr Ncgat als Postulat enthalt.

Es sei hervorgehoben, daß diese Gabelung der Mengenlehre, die nicht die ein-zige ist, sich auch auf die Arithmetik auswirkt. Wenn nämlich die natürlichen Zah-len mit Hilfe von Qualifikationen über Mengen oder Prädikaten definiert werden,dann entsprechen verschiedenen Mengenlehren verschiedene Quantifikationsbe-reiche für Mengen, also verschiedene Mengen — und daher auch verschiedeneZahlbegriffe. Zu dieser Unterscheidung verschiedener Zahlbegriffe in der klassi-schen Mathematik kommt noch der Unterschied zwischen dem Zahlbegriff" derintuitionistischen und dem der klassischen Mathematik, da sich eine natürlicheZahl, die einer nur potenziellen Unendlichkeit als Element angehört, von einernatürlichen Zahl, die Element einer unendlichen Totalität ist, grundsätzlich un-terscheidet.

Man sieht leicht ein, daß die metamathematischen Gabelungstheoreme mit derKantischen Lehre in höherem Maße vereinbar sind, als mit der Leibniz'schen. Sozeigt der Beweis der Unabhängigkeit des fünften Euklidischen Postulats, d. h.dessen widerspruchsfreie Ersetzbarkeit durch sein Negat, daß es im Sinne Kantssynthetisch ist. Daß es a priori ist, d. h. ein „von der Erfahrung und selbst vonallen Eindrücken der Sinne unabhängiges Erkenntnis" ist, steht nicht in Frage.Daß eine Entscheidung zwischen Euklidischer und nicht-Euklidischer Geometrieauf Grund von Beobachtungen möglich sei, beruht auf einem Mißverständnis.Denn wofür man bestenfalls so entscheiden kann, sind physikalische Theorien,die einerseits die Euklidische Geometrie, anderseits eine nicht-Euklidische Geo-metrie neben spezifisch physikalischen Hypothesen über Längen- und Zeitmes-sungen usw. enthalten. Einstein, auf dessen allgemeine Relativitätstheorie mansich hier oft beruft, ist diesem Mißverständnis nicht unterlegen.

Obgleich Kant selbst die Möglichkeit einer nicht-Euklidischen Geometrie er-wogen hatte, zog er die Wahrheit der Euklidischen Geometrie im strengen Sinne,d. h. in der Wirklichkeit, nicht in Zweifel. Darin bestärkte ihn gewiß auch dieTatsache, daß die Newton'sche Physik die Euklidische Geometrie voraussetzt.Nach der Entdeckung der nicht-Euklidischen Geometrien und besonders nachihrer erfolgreichen Verwendung in der Physik, entsteht nicht nur die Frage, wel-che Geometrie auf die Wirklichkeit anwendbar ist, sondern auch, worin die An-wendbarkeit einer Geometrie auf die Wirklichkeit besteht. Zumindest kann nichtmehr behauptet werden, daß die Auffassung, wonach die Euklidische oder irgend-eine andere Geometrie die Struktur „des Raumes" beschreibe, keiner Begründungbedürfe.

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Man muß sich, wie Nelson5), Bernays und andere erkannt haben, hier beson-ders mit der These von Felix Klein auseinandersetzen, wonach „die Rauman-schauung zunächst etwas Ungenaues" ist, „welches wir zum Zwecke der mathe-matischen Behandlung in den sogenannten Axiomen idealisieren"6). Nelsonstimmt mit Klein darin überein, daß die Ergebnisse der Beobachtung „stets nurinnerhalb bestimmter Genauigkeitsgrenzen und unter bestimmten Bedingungengelten". Doch wendet er ein, daß jede Idealisierung ein Ideal voraussetzt, dasnicht „der Beobachtung entlehnt sein kann, da es ja gerade die Norm zu Korrekturder Beobachtung bilden soll" (loc. dt.}. Und er schließt daraus, daß dieses Ideal diereine Anschauung im Sinne Kants ist.

Daraus, daß ein Ideal nicht der Beobachtung entlehnt ist, folgt jedoch nicht,daß es nur ein einziges gibt und daß verschiedene Geometrien nicht verschiedeneIdeale der Raumanschauung repräsentieren. Es ist hier ratsam, wie es Kant gele-gentlich selbst tut, z. B. wenn er von regulativen Prinzipien spricht, zwischen Ur-teilen und Prinzipien zu unterscheiden: Urteile stehen zueinander in logischenBeziehungen, z. B. der Vereinbarkeit und Unvereinbarkeit und sind wahr oderfalsch. Prinzipien, zu denen nicht nur Urteile, sondern u. a. auch Regeln gehören,stehen ebenfalls in logischen Beziehungen zueinander, aber müssen nicht wahroder falsch sein. Dann kann man der Möglichkeit verschiedener Geometrien oderverschiedener Ideale oder Idealisierungen gerecht werden, wenn man die Axiomeeiner Geometrie als Prinzipien auffaßt, die zwar synthetisch sind, d. h. wider-spruchsfrei verneinbar und a priori, d. h. keinem möglichen Beobachtungsurteilwidersprechen, aber dennoch nicht wahr oder falsch, sondern nur „in einer mög-lichen, und nicht wirklichen, Welt wahr sind". Wer dies bestreitet und die Ansichtteilt, daß die Philosophie der Mathematik deren Ergebnisse nicht ignorieren darf,muß, wie es Nelson versucht hat, ein Gegenargument vorbringen. Er kann sichnicht auf die transzendentale Deduktion der Euklidischen Geometrie stützen, dadiese die Wahrheit der synthetischen Prinzipien a priori dieser Geometrie nichtbegründet, sondern ohne Begründung voraussetzt.

Was die metamathematischen Gabelungstheoreme, insbesondere das Cohen'-sche Theorem der Unabhängigkeit des Kontinuum-Postulats anbelangt, so erge-ben sich ähnliche Folgerungen, die jedoch ganz allgemein sind, da jede mathema-tische Theorie innerhalb der klassischen Mengenlehre formuliert werden kann.Man könnte hier einwenden, daß zwar die Gabelung der Geometrie beim fünftenEuklidischen Postulat der Gabelung der Mengenlehre beim Kontinuum-Postulat(beim Auswahlaxiom, oder noch früher) analog ist, daß aber die elementaren

5) Bemerkungen über die Nicht-Euklidische Geometrie und den UrsprungdermathematischenGewissbeit, in: Abhandlungen der Fries'schen Schule, Neue Folge Band L (1905/1906).

6) Über die Arithmetisierung der Mathematik in: Nachr. von der K. Gesellschaft derWissenschaften %u Göttingen, 1895.

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Begriffe und Sätze der Mengenlehre und Arithmetik — wie ,Menge*, ,Eine Mengeenthält eine andere', ,Zwei', ,Eins und Eins sind Zwei* — selbst exakt sind undnicht durch exakte Idealisierungen ersetzt werden müssen, um der mathematischenBehandlung zugänglich zu werden. Doch ist, wie ich glaube, dieser Einwandnicht berechtigt. Da empirische Attribute wenigstens zum Teil immer mit Hilfevon Beispielen und Gegenbeispielen ihrer Anwendung oder der Anwendungihrer Dcfinientia definiert sind, so sind die ihnen entsprechenden Umfange, d. h.empirischen Mengen, nicht exakt, sondern lassen Grenzfälle zu. Es kann daherauch die Zahl einer solchen Menge nicht immer eindeutig entschieden werden,d. h. z. B. ob sie nur ein Element hat, ein Paar ist, ein Tripel ist oder nicht. Wennsehr umfangreiche empirische Mengen vorliegen oder die mathematische Induk-tion ins Spiel kommt, so besteht wohl kaum ein Zweifel an der Notwendigkeit,empirische Mengen durch mathematische Idealisierungen zu ersetzen. Übrigenserledigt sich der Einwand, daß elementare empirische Begriffe wie »zwischen* einergeometrischen Idealisierung nicht bedürfen, da sie selbst schon exakt sind, aufähnliche Weise.

Von der Behauptung, daß die Prinzipien der Mathematik synthetische Prin-zipien a priori sind, die nur in einer möglichen Welt wahr sind, muß man die posi-tivistische Ansicht, daß sie sinnlose Sätze oder Konventionen sind, wohl unter-scheiden. Diese Ansicht beruht auf einer Dichotomie aller sinnvollen Sätze in logi-sche und empirische, die ohne guten Grund Prinzipien, die sinnvoll sind, in einembesonderen Sinne „sinnlos" nennt und sie dann echten unsinnigen Sätzen,wie z. B.„Die Identität ist die Mutter der grünen Farbe" als gleichartig hinzugesellt.

Die These, daß mathematische Behauptungen die Sinneserfahrung nicht be-schreiben, sondern idealisieren, kann durch eine tiefergehende Analyse erhärtetwerden. Hierbei muß man den Unterschied zwischen der gewöhnlichen, empiri-schen Sprache und der Sprache der Mathematik und der mathematischen Wissen-schaften ins Auge fassen. Diese Wissenschaften sind in einen logisch-mathemati-schen Rahmen eingespannt, der aus der engeren Prädikatenlogik und der Theorieder Identität besteht und nach Bedarf durch zusätzliche logisch-mathematischeBegriffe und Postulate erweitert ist, z. B. durch die Theorie der reellen Zahlen unddamit durch die Differential- und Integralrechnung. Die Prädikatenlogik erzwingtdie Ersetzung inexakter durch exakte Begriffe, die Theorie der Identität die Er-setzung empirischer nicht-transitiver Beziehungen der perzeptuellen Unterscheid-barkeit durch die transitive, mathematische Gleichheit. Mit der Erweiterung deslogisch-mathematischen Rahmens über die eigentliche Logik hinaus vermehrensich auch die modifizierenden Beschränkungen, welche den empirischen Begriffenund Urteilen auferlegt werden. Zum besseren Verständnis der Modifizierungen desmit Hilfe der gebräuchlichen logisch-mathematischen Theorien systematisiertenempirischen Materials müßte man auch die relevanten Züge der logischen Struk-tur der gewöhnlichen, empirischen Sprache explicit klar machen. Erst wenn diesgeschehen ist, kann die Idealisierung durch den Vergleich ihres Gegenstandes,d. h. empirischer Begriff und Sätze, mit ihrem Resultat, d. h. mit mathematischen

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Begriffen und Sätzen, völlig verstanden werden. Eine nähere Ausführung dieserAndeutungen ist hier nicht am Platze7).

Die Mathematik auf die Sinneserfahrung anwenden heißt also nicht, die Sinnes-erfahrung oder, wie Kant behauptete, die ihr als reine Anschauung zugrunde lie-gende raumzeitliche Struktur beschreiben. Die Anwendung der Mathematik be-steht in der Identifizierung von Sätzen (nicht notwendigerweise allen Sätzen)einer mathematischen Theorie mit ihnen entsprechenden, aber nicht logisch äqui-valenten, empirischen Sätzen in gewissen mehr oder minder bestimmten Zusam-menhängen und zu gewissen mehr oder minder klar bestimmten Zwecken. Sche-matisch ausgedrückt ist also diese Anwendung eines mathematischen Satzes /*,der zu einer mathematischen Theorie M gehört, auf ein durch einen empirischenSatz e formuliertes Beobachtungsergebnis so zu verstehen: In einem gegebenenZusammenhang und für einen gegebenen Zweck ist #/, z. B. ein Satz über einEuklidisches Dreieck, mit e, z. B. einem Satz über ein Lichtstrahlendreieck, iden-tifizierbar. Ein solcher Satz, der über einen mathematischen und einen empirischenSatz spricht, ist selbst empirisch.

Was bleibt nun von der mathematischen Anschauung übrig bei dieser Auffas-sung von mathematischen Prinzipien als zwar synthetisch und a priori, jedoch alsnur „in einer möglichen Welt wahr" ? Man scheint nämlich einem unbequemenDilemma gegenüberzustehen. Wenn zwei nicht-äquivalente, mathematischeTheorien zwei mögliche Welten zum Gegenstand haben, dann sind sie miteinandervöllig vereinbar. Und wenn zwei nicht-äquivalente, mathematische Theorien die-selbe mögliche Welt zum Gegenstand haben, dann sind sie miteinander völligunvereinbar. Anderseits steht jedoch fest, daß verschiedene mathematische Theo-rien miteinander mehr oder weniger übereinstimmen können, und man kann mitRecht verlangen, daß diese teilweise Übereinstimmung oder ihre Abwesenheiterklärt werde.

Die verkngte Erklärung ergibt sich leicht, wenn man die Beziehung der Ma-thematik zur Sinneserfahrung untersucht. Denn wenn zwei zu verschiedenen ma-thematischen Theorien gehörende mathematische Sätze mit Bezug auf dieselbenZusammenhänge und Zwecke mit demselben empirischen Satz identifizierbarsind, dann ist eben diese „Koidentifizierbarkeit", wie ich kurz sagen will, dasihnen Gemeinsame. Dieser Begriff der Koidentifizierbarkeit von mathematischenSätzen, die verschiedenen mathematischen Theorien angehören, läßt sich leichtauf zweckentsprechende Weise auf verschiedene mathematische Theorien aus-dehnen. Es kann dann sinngerecht gesagt werden, daß solche Theorien denselbenGegenstand haben, nämlich insofern sie mit denselben Sinneserfahrungen, odergenauer, denselben sie formulierenden, empirischen Sätzen, koidentifizierbar sind.Gegenstand der angewandten Mathematik ist also nicht die von ihr beschriebene,sondern, gemäß der eben gegebenen Erklärung, die durch sie idealisierte und mit

*) Sie findet sich z. B. in Deductive Unification and Ideali^ation, Brlttsh Journal for thePbilosophy of Science (Vol. XIV, 1964).

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ihr identifizierte Sinnescrfahning. Es sei hierzu noch bemerkt, daß Koidentifizier-barkcit von Isomorphismus wohl zu unterscheiden ist: zwei auf verschiedeneGegenstände angewandte Theorien sind nicht koidentifizierbar; und zwei nichtisomorphe Theorien, wie z. B. die Geometrie des Kreises und die eines regelmä-ßigen Polygons mit sehr vielen Seiten, sind koidentifizierbar.

Kant hat, wie historisch verständlich ist, die Möglichkeit einer Gabelung undder Verschiedenheit mathematischer Theorien nicht beachtet. Ihre Möglichkeitfolgt heute trivial aus ihrer Existenz — ab esse adposse. Daß er auch den Unterschiedzwischen exakten mathematischen und inexakten empirischen Urteilen nicht er-wogen hat, ist vielleicht bemerkenswerter. Denn es ist zumindest plausibel zubehaupten, daß einige seiner Vorgänger diesen Unterschied ernst genommenhatten. Man denke vor allem an Pktons Gegenüberstellung der Sinneserfahrungund der Ideen und an seine sie miteinander in Beziehung bringende -Lehre. „Geometrie", sagt Kant, „ist eine Wissenschaft, welche die Eigenschaftendes Raumes synthetisch und doch a priori bestimmt"8), indem er annimmt, daß esnur eine solche Geometrie gibt. Und er nimmt ganz allgemein an, daß die Mathe-matik die raumzeitliche Erfahrung und die in ihr möglichen Konstruktionen nichtnur synthetisch und doch a priori, sondern auch eindeutig bestimmt. Dieses unbe-gründete Resultat der metaphysischen Erörterung des Raumes und der Zeit isteine wesentliche Prämisse der transzendentalen Deduktion der mathematischenPrinzipien. Weil diese Prämisse der Begründung bedarf, ihr aber — wenigstensbeim heutigen Stand der Mathematik — nicht zugänglich ist, ist die Philosophieder Mathematik gezwungen, nicht so sehr Kants Lösung seines Problems abzu-lehnen, als vielmehr seine Problemstellung zu ändern.

III. Die Lehre der transzendentalen Analytik und die Quantenpbysik

Das Verhältnis der Kantischen Philosophie der Naturwissenschaften zu ihremheutigen Stande ist in vieler Hinsicht analog dem Verhältnis seiner Philosophieder Mathematik zu ihrer gegenwärtigen Entwicklungsstufe, so daß ich mich hierkürzer fassen kann. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den synthetischenPrinzipien a priori der Mathematik und der Naturwissenschaften ist, daß nachKant jene anschaulich sind, d. h. also die Erfahrungswelt beschreiben, währenddiese nicht-anschaulich, aber dennoch auf die Erfahrungswelt anwendbar sind,da ihre Anwendbarkeit auf die Sinnesempfindungen die Gegenstände der Erfah-rung konstituiert. Kants Einsicht, daß Begriffe, die weder empirisch noch logischoder mathematisch sind, deshalb nicht leer sein müssen und daß Prinzipien, dieweder empirisch noch logisch oder mathematisch sind, sinnvoll sein können, istauch im Lichte der heutigen Physik leicht zu bestätigen.

Man betrachte z. B. die zweite Analogie der Erfahrung9): „Alle Veränderungengeschehen nach dem Gesetze der Ursache und Wirkung", worin „ein unentbehr-

8) B 40.9) B 232.

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iiches Gesetz der empirischen Vorstellung der Zeitreihe" enthalten ist, nämlichdaß „die Erscheinungen der vergangenen Zeit jedes Dasein in der folgenden be-stimmen, und daß diese, als Begebenheiten, nicht stattfinden, als sofern jene ihnenihr Dasein in der Zeit bestimmen, d. i. nach einer Regel festsetzen"10). Das heißt,daß die Gesetze der Physik deterministische Gesetze der Formj = f( ... xa, /)sind, die überdies11) als differenzierbar angesehen werden. Die Gesetze der New-ton'schen Physik sind von dieser Art.

Eine Analyse der orthodoxen Quantenmechanik zeigt bei Annahme ihrerWiderspruchsfreiheit, daß das angeblich unentbehrliche Kausalgesetz tatsächlichein synthetisches Prinzip a priori ist: Daß es a priori ist, steht nicht in Frage; daßes synthetisch ist, folgt daraus, daß es in der Quantenmechanik widerspruchsfreiverneint ist. Dieser Nachweis ist aber nur deshalb so einfach, weil er in der Haupt-sache darauf beruht, daß das Kausalprinzip, im Einklang mit der neuen Physikund im Gegensatz zu Kant, als für die Naturwissenschaft entbehrlich angesehenwird, weil durch ein entsprechendes statistisches Prinzip ersetzbar.

Doch folgt aus dieser meines Erachtens unvermeidlichen Revision der Kanti-schen Philosophie nicht, daß das Kausalprinzip falsch ist. Denn wie wir bei densynthetischen Prinzipien a priori der Mathematik gesehen haben, muß ein Prinzipnicht wahr oder falsch sein. Allerdings kann man das Kausalprinzip, welches— wie Hume und Kant erkannt haben — keine Anschauung beschreibt, nicht alsBeschreibung einer möglichen Anschauung auslegen. Man kann aber zum Ver-ständnis seines logischen Status und seiner Rolle im physikalischen Denken ge-langen, wenn man sich an Kants Unterscheidung zwischen regulativen und kon-stitutiven Prinzipien erinnert und das Kausalgesetz als ein regulatives Prinzip fürdie Konstruktion physikalischer Theorien auffaßt, d. h. als eine Norm, nach dersich bei der Konstruktion ihrer Theorien Newton und die klassischen Physiker,nicht aber z. B. Heisenberg, Born und Pauli richteten. Ein solches Prinzip ist mitder Erfahrung lockerer verbunden als die Sätze einer physikalischen Theorie, beideren Konstruktion es befolgt wird. Denn was durch die Erfahrung bekräftigtoder entkräftigt wird, ist ja nicht die Norm, nach der kausale oder statistischeTheorien aufgestellt werden, sondern es sind die aufgestellten Theorien selbst.Man kann daher jene heterodoxen Physiker, die wie Einstein und Schrödinger diestatistische Quantenphysik durch eine kausale ersetzen wollen, nicht der Unver-nunft beschuldigen, da es ja möglich ist, daß einmal eine dem regulativen Kausal-prinzip gemäß konstruierte physikalische Theorie der Erfahrung angemessenersein wird als die heutigen rein statistischen Theorien.

Auf ganz ähnliche Weise kann man an die beiden anderen Analogien der Er-fahrung herantreten. So ist die erste Analogie, nämlich der Grundsatz von der Be-harrlichkeit der Substanz, d. h. im Sinne Kants und Newtons der materiellenSubstanz, gewiß a priori. Und sie ist synthetisch, weil das Beharrlichkeitsprinzip

B 244.siehe z. B.: B 248.

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der Masse, wie bekannt, durch das Beharrlichkeitsprinzip der Massenenergiewiderspruchsfrei ersetzt werden kann. Es handelt sich hier also wieder um einsynthetisches Prinzip a priori, das, im Gegensatz zu Kants Ansicht, nicht unent-behrlich ist und daher entweder falsch oder ein regulatives Prinzip ist. In der Tatläßt sich die positivistischc Doktrin, daß metaphysische Prinzipien sinnlos sind,in vielen Fällen einfach dadurch widerlegen, daß man sie als regulative Prinzipienaufwcist12).

Es ist die Aufgabe der transzendentalen Deduktion, die Resultate der metaphy-sischen Erörterung zu begründen. Dies soll durch den Nachweis erreicht werden,daß die Kategorien, z. B. die apriorischen Begriffe der Substanz und der Kausali-tät, objektiv gültig sind. Das Prinzip der transzendentalen Deduktion besagt, daßdie Kategorien „als Bedingungen a priori der Möglichkeit der Erfahrung erkanntwerden müssen (es sei der Anschauung, die in ihr angetroffen wird oder des Den-kens)"13). Weil also die transzendentale Erörterung der Analytik ergab, daß jederGegenstand der Erfahrung u. a. notwendigerweise eine Substanz und ein Gliedeiner Kausalkette ist, müssen die erste und zweite Analogie der Erfahrung als Be-dingungen ihrer Möglichkeit nachgewiesen werden. Nun hat sich aber im Laufe derEntwicklung der nachkantischen Physik gezeigt, daß Gegenstände der Erfahrungunter anderen als den Kantischen Kategorien stehen können — z. B. unter derKategorie der Massenenergie und nicht der materiellen Substanz oder eines stati-stischen und nicht eines kausalen Zusammenhangs. Das Ergebnis der metaphysi-schen Erörterung ist also, was die Analogien der Erfahrung anbelangt, für derentranszendentale Deduktion eine wesentliche Prämisse, die der Begründung bedarf,ihr aber — wenigstens beim heutigen Stande der Naturwissenschaften — nichtzugänglich ist. Die heutige Philosophie der Naturwissenschaft ist, wie die heutigePhilosophie der Mathematik, gezwungen, nicht so sehr die Lösung des KantischenProblems abzulehnen, als vielmehr Kants Problemstellung abzuändern.

IV. Die bleibenden Ergebnisse der transzendentalen Methode

Der juristischen Metapher Kants gemäß setzt die quaestio juris der transzen-dentalen Begründung der Mathematik und der Naturwissenschaften die Beant-wortung der quaestio facti nach ihrem begrifflichen Besitz voraus. Wenn die vor-gehenden Ausführungen zutreffen, so folgt aus der unangemessenen Antwort aufdie Tatsachenfrage, daß die Rechtsfrage, wie sie Kant stellte, gar nicht entsteht:d. h. cadit quaestio. Daraus folgt natürlich keinesfalls, daß der philosophische An-satz Kants völlig zu verwerfen wäre. Im Gegenteil: Man muß seine Tatsachen-und seine Rechtsfrage aufs Neue auch für die heutige Mathematik und Naturwis-senschaft und nicht nur, wie er es nicht anders konnte, für die ihm bekannten Er-gebnisse dieser Wissenschaften stellen. Dann ergäbe deren metaphysische Erörte-

12) Hierzu siehe z. B. On Pbilosophical Arguments in Physics in: Observation and Inter-pretation (London 1957, New York: Dover Publications, 1960).

13) B 126.

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rung, daß wir in der Mathematik und den Naturwissenschaften im Besitze synthe-tischer Prinzipien a priori sind, welche jedoch nicht die Wirklichkeit beschreiben.Auf die Rechtsfrage, wie solche Prinzipien in der Mathematik möglich sind, ergäbesich die Antwort: als Idealisierungen von empirischen Urteilen, deren Anwen-dung auf die Erfahrung in der Identifizierung der empirischen Urteile mit ihrenIdealisierungen in bestimmten Zusammenhängen und für bestimmte Zweckebesteht. Auf die Rechtsfrage, wie solche Prinzipien in den Naturwissenschaftenmöglich sind, ergäbe sich die Antwort: als regulative Prinzipien zur Konstruktionvon Theorien, deren Verbindung mit der Sinneserfahrung nur mittelbar ist, indemdie ihnen gemäß konstruierten Theorien, aber nicht unmittelbar die Konstruk-tionsprinzipien, durch Experiment und Beobachtung prüfbar sind.

Darüber hinaus läßt sich, zumindest beim gegenwärtigen Stande der Wissen-schaften, sagen, daß Kant zwar im Unrecht ist, wenn er behauptet, daß die in derKritik der reinen Vernunft ans Licht gebrachten Kategorien und synthetischen Prin-zipien a priori für die Wissenschaft unentbehrlich sind; aber eine aus dieser Be-hauptung folgende, schwächere These trifft zu, die These nämlich, daß Katego-rien und synthetische Prinzipien a priori für die Wissenschaft unentbehrlich sind.Aus ihrer Richtigkeit folgt die Unrichtigkeit sowohl der positivistischen als auchder rationalistischen Philosophie der Mathematik und der Naturwissenschaften,da beide die Möglichkeit synthetischer Prinzipien a priori verneinen. Die Axiomeder Mathematik sind nicht, wie Hume und Leibniz meinten, analytisch, und dieNaturwissenschaft kommt, wie sogar die meisten modernen Positivisten zugeben,ohne theoretische Begriffe, d. h. Begriffe a priori, und ohne theoretische Sätze,d. h. synthetische Prinzipien a priori, nicht aus. Die Möglichkeit einer transzen-dentalen Deduktion bestimmter nicht-trivialer Kategorien und Prinzipien mußaber bezweifelt werden, da sie voraussetzt, daß der von ihr legitimierte begrifflicheBesitz unveränderlich ist. Da man rückblickend eine solche Unveränderlichkeitnicht wahrnimmt, ist es zumindest unvorsichtig, den gegenwärtigen Stand derWissenschaft oder des Alltagsdenkens auch nur zum Teil in die fernste Zukunft zuprojizieren. Auch das können wir lernen, wenn wir Kant ernst nehmen.

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