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Die Volkswirtschaft12-2011 84. Jahrgang CHF 15.90 Serie Spotlight Dossier

Das Magazin fr Wirtschaftspolitik

Wachstumspolitik der Kantone: Aargau

Finanzmarktstrategie des Bundes

Bildungsrendite und Karriereverlufe

Monatsthema

Zuwanderung und ihre Herausforderungen

Eidgenssisches Volkswirtschaftsdepartement EVD Staatssekretariat fr Wirtschaft SECO

InhaltMonatsthema3 4 8 13 Editorial Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch Globale Migration und die schweizerische Migrationsaussenpolitik Eduard Gnesa Die demografische Dimension der neuen Zuwanderung in die Schweiz Ilka Steiner und Philippe Wanner Drittstaatskontingente: Festlegung im Sinne einer bedarfsgerechten und ausgeglichenen Zuwanderung Kurt Rohner und Daniel Sormani Fachkrftemangel und Migration Wolfram Kgi, Michael Morlok und Nils Braun Die EVD-Fachkrfteinitiative: Fr eine Kohrenz von Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik Sascha Kuster und Bernhard Weber Integration von Zuwanderern im internationalen Vergleich: Ermutigende Befunde fr die Schweiz Jean-Pierre Garson Immigration 2030: Szenarien fr die Zrcher Wirtschaft und Gesellschaft Lucien Gardiol und Heidi Stutz Zwischen residentieller Integration und Segregation: Herausforderung fr die Stdte Tatjana Ibraimovic 5154 Der Kanton Aargau befindet sich im Schnittpunkt der Hauptverkehrsachsen zwischen den Wirtschaftszentren Basel, Bern und Zrich. Die gute Verkehrsanbindung, die Bildungs, Forschungs und Innovationssysteme sowie eine hohe Lebensqualitt gehren zu seinen wettbe werbsfhigen Standortfaktoren. Mit einer aktiven Wirtschaftspolitik will der Regierungsrat die Ge fahren des quantitativen Wachstums vermeiden und die nachhaltige Wertschpfung erhhen. 445 Das Thema Zuwanderung polarisiert wie kaum ein zweites. Dabei ist die Schweizer Wirt schaft auf den Zuzug von Arbeitskrften aus dem Ausland angewiesen. Der freie Personenverkehr mit den EU/EftaStaaten, der seit 2002 in Kraft ist, hat einen neuen Einwanderungsschub vor allem gut qualifizierter Arbeitskrfte ausgelst. Das Monatsthema zeigt, dass diese neue Zuwanderung zwar wirtschaftlich notwendig, aber auch mit grossen Herausforderungen verbunden ist.

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Stellungnahmen40 41 42 43 44 45 Die neue Zuwanderung ein Gewinn fr die Schweiz Thomas Daum Zuwanderung muss gesellschaftlichen Bedrfnissen dienen Martin Flgel Integrationsfit in die Zukunft Beda Meier Die Chancen des europischen Arbeitsmarktes nutzen Jasmin Staiblin Personenfreizgigkeit: Dringende Standortbestimmung ntig Pirmin Schwander Die Schweiz braucht eine umfassende Migrationsstrategie Doris Fiala

Serie46 51 Wirtschaftspolitische Agenda Aargau: Vom Industriekanton zum international kompetitiven Hightechstandort Thomas Buchmann und Danile Zatti

Spotlight55 59 Wo steht die Schweizer Finanzmarktstrategie? Fred Brki Kronenberg und David S. Gerber Verwaltungsaufwand in der 2. Sule bei Vorsorgeeinrichtungen und Unternehmen Thomas Bernhard und Daniel Hornung

5558 Im Dezember 2009 hat der Bundesrat in seinem Bericht Strategische Stossrichtungen fr die Finanzmarktpolitik der Schweiz die Anforderungen an einen zukunftsfhigen Schweizer Finanzplatz skizziert. Dieser Beitrag berichtet ber den Stand der Umsetzung der Strategie und beleuchtet die Herausforderungen fr den Schweizer Finanzplatz, allen voran die Schuldenkrise in der Eurozone und die interna tionalen Finanzmarktregulierungen.

Dossier63 67 Der individuelle Ertrag einer hheren Berufsbildung Maria A. Cattaneo und Stefan C. Wolter Flexible Arbeitsmrkte und Berufsbildung Annina Eymann, Barbara Mller und Jrg Schweri 6370 Die Berufsbildung steht im Zentrum des Dossiers. Im ersten Artikel prsentieren die Autoren die neuesten Berechnungen zur indi viduellen Rendite der hheren Berufsbildung, die im Gegensatz zur Hochschulbildung mehrheit lich privat finanziert ist. Der zweite Beitrag befasst sich mit der Frage, ob die berufliche Grundbil dung die Absolventen gengend gut auf die Anforderungen des Arbeitsmarktes punkto Flexi bilitt und Mobilitt vorbereitet.

Aktuelle Wirtschaftsdaten71 Auswahl statistischer Tabellen

Monatsthema der nchsten Ausgabe:Frankenstrke

Monatsthema

Editorial

Migrationspolitik braucht eine breite AkzeptanzDie Schweiz hat eine starke humanitre Tradition und gehrt zu den Lndern mit der hchsten Zahl an Asylbewerbern pro Kopf der Bevlkerung. Unser Land ist aber vor allem auch Anziehungspunkt fr gut qualifizierte auslndische Fachkrfte. Gemessen am Anteil der Bevlkerung mit Migrationshintergrund von gut 30% gehrt die Schweiz wie etwa Australien, Neuseeland oder Kanada zu den typischen Einwanderungslndern. In den letzten zwanzig Jahren ist die Nachfrage unserer Unternehmen nach hher qualifizierten Fachkrften stark gewachsen. Die Schweiz hat es verstanden, ihre Zuwanderungspolitik an die Bedrfnisse der Wirtschaft anzupassen. Zentral waren dabei die Abschaffung des Saisonnierstatuts in den 1990er-Jahren und die schrittweise Einfhrung der Personenfreizgigkeit mit der EU seit 2002. Der erleichterte Zugang zum europischen Fachkrftemarkt hat die Standortattraktivitt der Schweiz fr Unternehmen weiter erhht und die Schaffung zahlreicher hochwertiger Arbeitspltze ermglicht. Migrationspolitik bentigt jedoch eine breite gesellschaftliche und politische Akzeptanz. Drei Punkte sind fr die Schweiz aus meiner Sicht zentral: Erstens muss die Integration der auslndischen Bevlkerung gelingen. Die Arbeitsmarktintegration der auslndischen Bevlkerung ist im internationalen Vergleich sehr hoch. Verbesserungspotenziale bestehen vor allem bei frheren Zuwanderungsgenerationen oder bei anerkannten Flchtlingen und vorbergehend Aufgenommenen. Zweitens mssen berechtigte Anliegen der einheimischen Bevlkerung bercksichtigt werden. Im Bereich der Aus- und Weiterbildung sowie bei der Arbeitsmarktpolitik wollen wir die Voraussetzungen dafr schaffen, dass die Unternehmen ihren Fachkrftebedarf weitgehend im Inland decken knnen. Mit den flankierenden Massnahmen sorgen wir dafr, dass die auslndische Konkurrenz akzeptierte Mindeststandards einhlt. Drittens ergeben sich aus der Zuwanderung regional unterschiedliche Herausforderungen, beispielsweise im Bereich der Raumentwicklung oder beim Ausbau der Infrastruktur. Das Schweizer Volk hat die heutige Auslnderpolitik mitgestaltet und mehrfach besttigt. Dahinter steht das Bewusstsein, dass die ansssige Bevlkerung von der Zuwanderung vorwiegend profitiert. Eine Debatte ber die Bedeutung, aber auch die anstehenden Herausforderungen der Zuwanderung ist deshalb ausgesprochen wichtig. Diese Ausgabe des Magazins Die Volkswirtschaft soll dazu einen Beitrag leisten.

Staatssekretrin Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch Direktorin des Staatssekretariats fr Wirtschaft SECO

Monatsthema

Globale Migration und die schweizerische MigrationsaussenpolitikDie Globalisierung ist mit einem Anstieg der internationalen Migrationsbewegungen verbunden. Gemss der Internationalen Organisation fr Migration (IOM) wurden 2010 weltweit ca. 214 Mio. internationale Migranten gezhlt. Rund 3% der Weltbevlkerung lebt lnger als ein Jahr ausserhalb des Geburtslandes. Hinzu kommen weltweit etwa 47 Mio. Flchtlinge und Vertriebene. Europa beherbergt rund 70 Mio. oder 33% der weltweit gezhlten Migranten. Vor diesem Hintergrund stellt sich fr die Staaten zunehmend die Frage nach einer wirksamen Steuerung. Eine der hauptschlichen Herausforderungen besteht darin, die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Migration sicher, legal und in Wahrnehmung der Rechte und Interessen aller Beteiligten erfolgen kann. Zu bercksichtigen ist dabei auch die Rolle der Migrantinnen und Migranten als potenzielle Akteure fr die Entwicklung. Einflussfaktoren der MigrationDie Ursachen und Faktoren der Migra tion sind dermassen komplex, dass keinerlei gesicherte Prognosen mglich sind und zwar weder global noch regional. Aufgezeigt werden knnen etwa die Pull-Faktoren, wel che die Einwanderung in ein bestimmtes Land frdern (z.B. demografische Entwick lung, Arbeitskrftebedarf, Bruttosozialpro dukt) oder Push-Faktoren, welche Auswan derung bewirken knnen (z. B. Armut, Konflikte, Klima, Inflation), sowie erkennba re Tendenzen.1 Daraus lassen sich Szenarien aus heutiger Sicht ableiten. Das Ausmass der Migration ist zu einem grossen Teil mit wirtschaftlichen und demo grafischen Unterschieden erklrbar. Die Dynamik der Migration wird hingegen von Fak toren wie sozialen Netzwerken oder Entwick lungen im Transport, Informations, Kom munikations und Menschenrechtsbereich beeinflusst. Mit diesen Faktoren sowie den staatlichen Lenkungsmassnahmen oft aus gestaltet als migrationshemmende Faktoren wie Grenzkontrollen und VisaVorschriften lsst sich hinreichend darlegen, weshalb Migrationsbewegungen (zu welchem Zeit punkt, auf welchen Routen und in welche Regionen und Staaten) beobachtet werden knnen.Nach Auffassung des Runden Tisches Migrationspolitik 2030 sollte sich die Politik sich schon heute mit den absehbaren Folgen einer weiter steigenden Zuwanderung befassen. Gefordert sei insbesondere eine aktive Migrationsaussenpolitik.Foto: Keystone

Zunahme der Einwanderung und Folgen fr die SchweizDer Runde Tisch Migrationspolitik 20302 hat sich dieser Frage angenommen. Er ge langte in seinem Bericht vom Juni 2011 ba sierend auf Prognosen der OECD und des Bundesamtes fr Statistik (BFS) sowie nach Prfung verschiedener Szenarien zur Auf fassung, dass die Einwanderung in die

Dr. Eduard Gnesa Sonderbotschafter fr internationale Migration, Direktion fr Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA, Bern

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Monatsthema

Grafik 1

Entwicklung der aktiven Bevlkerung der Welt, 198020201980 In Mrd. 4.0 3.5 1990 2000 2010 2020

3.0

nehmen, die sich aus der aktuellen schweize rischen Zulassungspolitik ergeben, und Vorschlge fr kurz und mittelfristige Ver besserungs und Korrekturmassnahmen un terbreiten. Dazu gehren Politikbereiche wie Integration, Arbeitsmarkt, Aus und Weiter bildung, Diplomanerkennung, Raumpla nung, Wohnungs und Immobilienmarkt, Energieverbrauch, Verkehr, Umwelt, innere Sicherheit sowie das Verhltnis der Schweiz zur EU.

2.5

2.0

Migrationsaussenpolitische Ziele des BundesratesOhne den Ergebnissen der Arbeitsgruppe vorzugreifen, bin ich berzeugt, dass die Zie le in der Migrationsaussenpolitik keiner fun damentalen nderung bedrfen. Sie basieren auf den drei Werten Wohlstand, Solidaritt und Sicherheit, die unserer Migrationspolitik zugrunde liegen. Die schweizerische Migra tionspolitik soll: die fr den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Wohlstand der Schweiz erforderliche Zuwanderung ge whrleisten; einen Beitrag zum Wohlstand der Herkunfts- und Transitlnder leisten, indem die Synergien zwischen Migration und Entwicklung vermehrt ausgeschpft wer den; die humanitre Tradition der Schweiz widerspiegeln, indem Personen auf der Flucht vor Verfolgung Schutz gewhrt wird; die Sicherheit der Schweizer Brgerinnen und Brger sowie der Migrantinnen und Migranten garantieren, indem die Integ ration eingewanderter Personen gefrdert, die irregulre Migration und der Men schenhandel bekmpft sowie Personen mit irregulrem Status eine Rckkehr in Wrde und Sicherheit gewhrleistet wird. Mit einem konsequenten migrationsaus senpolitischen Engagement achtet die Schweiz darauf, den Druck auf ihre Grenzen und ihr Gebiet einzudmmen sowie das Po tenzial der Migration fr ihre Wirtschaft und ihre Gesellschaft zu optimieren, ohne dabei die Interessen der anderen beteiligten Partei en ausser Acht zu lassen. Jede Verbesserung im internationalen Migrationsmanagement stellt einen Mehrwert fr die Schweiz dar.3

1.5

1.0

0.5

0.0 Welt Legende: In den hoch entwickelten Staaten vor allem des industrialisierten Nordens nimmt die Zahl der Einwohner wie auch die Zahl der Personen im erwerbsfhigen Alter nur minimal zu, und dies dank Migration. Teilweise stagnieren die Zahlen oder sind sogar rcklufig. Demgegenber sehen sich die Staaten des Sdens mit einer stark wachsenden Bevlkerung konfrontiert. Die Wirtschaftsentwicklung kann mit der steigenden Zahl von Menschen, die ins erwerbsfhige Alter eintreten, nicht Schritt halten. Hoch entwickelt Weniger entwickelt Quelle: ILO, Economically Active Population Estimates and Projections 19802020 / Die Volkswirtschaft

1 Vgl. dazu OECD (2009): Lavenir des migrations internationales vers les pays de lOECD. 2 Teilnehmende am Runden Tisch waren Vertreter der vier Bundesratsparteien, die Sozialpartner sowie Experten von Bund, Kantonen und NGO. 3 Vgl. Aussenpolitischer Bericht des Bundesrates (2010).

Schweiz mit grosser Wahrscheinlichkeit ge genber heute zunehmen wird. Dabei knne auch in Zukunft am bewhrten ZweiKreise Modell festgehalten werden: nichtkontin gentierte Zuwanderung von Erwerbsttigen aus der EU und kontingentierte Zulassung von Arbeitskrften aus Drittstaaten. Auf ln gere Sicht werde sich die Zuwanderung aus der EU wegen der hnlichen demografischen Situation in den meisten EUStaaten wie in der Schweiz vermutlich abschwchen. So lsst sich bereits heute darber diskutieren, wie die Schweiz 2030 ihren absehbaren Per sonalbedarf fr bestimmte Branchen wie etwa in der Pflege auch aus Drittstaaten wird decken knnen bzw. mssen. Aufgrund dieses hochwahrscheinlichen Szenarios soll sich die Politik nach Auffas sung des Runden Tisches schon heute mit den absehbaren Folgen der Zuwanderung befassen, namentlich mit den Herausforde rungen in den Bereichen Integrationsfhig keit und bereitschaft, Arbeitsmarkt, Asylpo litik oder irregulre Migration. Dabei sei auch eine aktive Migrationsaussenpolitik ge fordert. Weitere Fragen betreffen unter ande rem die Raumplanung oder die Infrastruk tur. Der Bundesrat hat am 4. Mai 2011 eine interdepartementale Arbeitsgruppe zu den Themen Personenfreizgigkeit und Zuwanderung eingesetzt, welche u.a. jene Fragen be handeln soll, die auch der Runde Tisch gestellt hat. Die Arbeitsgruppe soll eine ver tiefte Analyse der Chancen und Risiken vor

Aktuelle Herausforderungen und LsungsanstzeSeit Inkrafttreten des Freizgigkeitsab kommens (FZA) im Jahre 2002 konzentrie ren sich die Bemhungen der Schweiz zur

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Monatsthema

Steuerung der Migration hauptschlich auf die Migration aus Drittstaaten. Denn EU und EftaStaatsangehrige (Bulgarien und Rumnien noch mit Bedingungen) sind frei, in der Schweiz eine Erwerbsttigkeit auszu ben und sich hier aufzuhalten. berdies wird durch bestimmte Instrumente z.B. die Schengen/DublinAbkommen die innere Sicherheit der Schweiz erhht. Zustzlich zu den bereits getroffenen Massnahmen bezg lich FZA wird sich der Bundesrat wie er whnt zu den Auswirkungen des freien Per sonenverkehrs und zu allflligen weiteren Verbesserungen noch ussern. Zu den Herausforderungen insbesonde re in Bezug auf die Drittstaaten gehrt die Wahrnehmung der Migration, die nach wie vor hauptschlich als Problem und selten als Chance wahrgenommen wird. Die Migration muss in der ffentlichkeit und von der Poli tik differenzierter betrachtet werden. Es ist richtig, die negativen Aspekte der Migration zu vermindern. Gleichzeitig ist aber auch das Potenzial der Migration z.B. fr die wirt schaftliche Entwicklung zu verbessern. Bei der regulren Migration wird eine Herausfor derung fr die Schweiz darin bestehen, trotz des sich verschrfenden internationalen Wettbewerbs um qualifiziertes Personal die fr das Wirtschaftswachstum ntigen Ar beitskrfte zu rekrutieren. Die irregulre Migration verhindert, dass Staaten auf Grundla ge ihres souvernen und legitimen Rechts entscheiden knnen, welche Personen sich in ihrem Staat aufhalten knnen und welche nicht. Diese mangelnde Kontrolle hat direkte oder indirekte Auswirkungen auf eine Viel zahl von Politikbereichen, wie z.B. Sicherheit, Schulwesen oder Arbeitsmarkt. Zudem sind Personen, die sich irregulr in einem Land aufhalten, oft in einer verletzlichen Position (etwa aufgrund von Menschenhandel). Effi ziente Strategien gegen irregulre Migration knnen darin bestehen, dass in den Her kunftslndern Alternativen sprich: Arbeits pltze fr junge Leute angeboten werden. Fr die Rckkehr sind Rckbernahmeab kommen nach wie vor richtig; vermehrt sind aber die Reintegration und die Anliegen der Herkunftsstaaten in einem breiteren Kontext mit einzubeziehen. Auch die Gewhrung von Schutz vor Ort ist ein wichtiges Anliegen, insbesondere fr Flchtlinge, die in ihrer Herkunftsregion keinen Schutz erhalten. Der Konnex zwischen Migration und Entwick lung wird zunehmend zu beachten sein: Das Potenzial der Migration fr die Entwicklung kann noch strker ausgeschpft werden. Die Migration msste etwa bei der Ausarbeitung sektorieller Politiken oder der regionalen und lokalen Entwicklungsstrategien syste matischer bercksichtigt werden.

Schliesslich ist nach wie vor die globale Gouvernanz der internationalen Migrations strme zu nennen: Auf internationaler Ebene wchst das Bewusstsein, dass die Migration ein transnationales Phnomen ist, das eine regionale und internationale Zusammenar beit erfordert, damit angemessene Lsungen gefunden und die verschiedenen Interessen gewichtet werden knnen. Die meisten Staa ten sind heute gleichzeitig Einwanderungs, Auswanderungs und Transitstaaten.

Instrumente der schweizerischen MigrationsaussenpolitikDie Instrumente sttzen sich auf die fol genden Grundstze: einen umfassenden Ansatz der Migration im Sinne der Bercksichtigung der wirt schaftlichen, gesellschaftlichen und kultu rellen Chancen als auch der Herausforde rungen. einen partnerschaftlichen Ansatz im Sinne einer engen Zusammenarbeit zwischen den Herkunfts, Transit und Zielstaaten sowie mit anderen Akteuren (internatio nale Organisationen, Privatwirtschaft, NGO). einen Gesamtregierungsansatz im Sinne einer sehr engen interdepartementalen Zusammenarbeit. Der Bundesrat hat im Februar 2011 einen Bericht der Verwaltung ber die internatio nale Migrationszusammenarbeit zustim mend zur Kenntnis genommen und die er whnten Grundstze gutgeheissen wie auch die Instrumente konkretisiert. Zu den wichtigsten Instrumenten gehrt der internationale und regionale Migrations dialog. Als Beispiel sei der diesjhrige Vorsitz der Schweiz beim Globalen Forum fr Migration und Entwicklung genannt: An dieser in formellen Plattform beteiligen sich ca. 150 Staaten, um konkrete Erfahrungen auszutau schen und Partnerschaften im Migrations und Entwicklungsbereich zu entwickeln. Der intensive regionale Dialog mit der EU FZA, Schengen, Dublin, Frontex etc. ist bekannt, weshalb hier nicht nher darauf eingegangen wird. Bilaterale Migrationsabkommen regeln die Zusammenarbeit in Bereichen wie Rck kehr (bisher 47 Abkommen), Visa oder Aus tausch von Stagiaires. Aufgrund meiner Funktion als Sonderbotschafter habe ich in zahlreichen bilateralen und multilateralen Gesprchen die Erfahrung gemacht, dass es zunehmend schwierig ist, die vielfltigen In teressen der Partnerstaaten in ein Abkom men einzubeziehen, das sich auf einen einzi gen Bereich der Migrationszusammenarbeit konzentriert. Neben der Rckbernahme

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Monatsthema

sind auch Visafragen, Grenzberwachung, Rckkehrhilfe, Bekmpfung des Menschen handels, Synergien zwischen Migration und Entwicklung (z.B. Diaspora, Remissen) oder Ausbildungs und Weiterbildungsmglich keiten wichtige Themen, die mit dem betref fenden Partnerstaat unter Bercksichtigung beider Interessen einbezogen werden sollen. Zu diesem Zweck wurde die Migrationspartnerschaft geschaffen (Art. 100 Auslnderge setz); bis heute hat die Schweiz mit Bosnien Herzegowina, Serbien, Kosovo und Nigeria solche Partnerschaften geschlossen. Die bis herigen Erfahrungen sind positiv. Weitere In strumente sind Projekte zur Prvention der irregulren Migration und solche zum Schutz in der Herkunftsregion, die sogenannte Protection in the Region. Dabei geht es um den verstrkten Schutz von Flchtlingen in den Erstaufnahmelndern (nahe der Krisenregi onen), was zur Verringerung der sekundren, irregulren Migrationsstrmen beitrgt. Zahlreiche parlamentarische Vorstsse be strken den Bundesrat in seiner Absicht, die se Instrumente noch effizienter einzusetzen, insbesondere was den Schutz vor Ort, aber auch die Verringerung der irregulren Mig ration betrifft. Um die Wirksamkeit der Migrationsaus senpolitik zu verstrken, hat der Bundesrat im Februar 2011 berdies einer Verbesserung der Struktur der interdepartementalen Zu sammenarbeit beschlossen. Prsidiert wird das Plenum der interdepartementalen Ar beitsgruppe Migration vom Direktor des Bundesamtes fr Migration (BFM) und vom Eidg. Departement fr auswrtige Angele genheiten EDA (Staatssekretr und Direktor der Direktion fr Entwicklung und Zusam menarbeit Deza). Ebenfalls vertreten sind das Staatssekretariat fr Wirtschaft (Seco) und der Sonderbotschafter fr internationale Migrationszusammenarbeit. Zur Umsetzung wurde ein Ausschuss eingesetzt, in dem wei tere interessierte Amtsstellen mitwirken.

beitskrften in gewissen Branchen kom men, insbesondere im Gesundheitswesen. Die demografische Situation in Europa entspricht jener in der Schweiz; d.h. der Einwanderungsdruck aus den EUStaaten in die Schweiz klingt ab, und die Schwei zer Firmen stehen in einem starken inter nationalen Wettbewerb um Arbeitskrfte. Hingegen bleibt die Schweiz als Einwan derungsland fr Personen aus NichtEU Staaten weiterhin attraktiv (Arbeitsbedin gungen, Lebensqualitt, soziale Sicher heit). Der Migrationsdruck auf die Schweiz nimmt zu, weil Migrationsursachen wie Kriege, Umweltzerstrungen oder Klima wandel zunehmen werden. Was heisst dies fr die migrationsaussen politische Zukunft der Schweiz? Wie der Bundesrat in letzter Zeit immer wieder be tont hat, ist eine noch aktivere Migrations aussenpolitik gefragt. Mit dem Fokus allein auf einer innenpolitischen Steuerung der Migration knnen aktuelle Migrationspro bleme nicht gelst werden. Selbstverstndlich sind bei einer kohrenten Politik auch die Bedrfnisse der Schweizer Wirtschaft, die Aufnahme und Integrationsfhigkeit sowie Sicherheitsfragen in der Schweiz zu berck sichtigen. Mit anderen Worten: keine schran kenlose Zuwanderung. Es bedarf nationaler und internationaler Instrumente zur Len kung von legalen und irregulren Migrati onsbewegungen. Eine bilaterale, regionale und multilaterale Zusammenarbeit mit den Herkunfts und Transitstaaten von Migran ten ist unabdingbar zur Handhabung der mit Migration verbundenen Probleme und Chancen. Die Schweiz hat in der Vergangenheit eine hohe Aufnahmekapazitt und Integrations kraft unter Beweis gestellt. Die Bilanz lsst sich auch im Vergleich mit den EUStaaten sehen. Bundesrat und Parlament haben in den letzten Jahren einige Verbesserungen in der Migrationsaussenpolitik eingefhrt, die es nun umzusetzen gilt. Ich bin berzeugt, dass wir inmitten von Europa unsere Zusam menarbeit mit der EU und den EUStaaten weiterfhren mssen. Aufgrund der voraus sichtlichen demografischen Entwicklung, des Arbeitskrftebedarfs und des grossen Migra tionsdrucks aus NichtEUStaaten empfiehlt es sich, in Zukunft vermehrt mit Staaten aus serhalb der EU Migrationspartnerschaften abzuschliessen im Interesse der Schweiz und unter Einbezug der Interessen des be treffenden Herkunftsstaats. Ebenso ist es richtig, dass sich die Schweiz wie bisher am internationalen Migrationsdialog aktiv betei m ligt.

Fazit und AusblickNach meiner persnlichen Einschtzung ist folgendes Szenario am wahrscheinlichs ten: Das Produktionswachstum geht mittel und langfristig weiter; der Wirtschafts standort Schweiz bleibt attraktiv und der Strukturwandel vor allem hin zum Dienstleistungssektor setzt sich fort. Die Wirtschaft ist auf Zuwanderung angewie sen. Es wird einen markanten Anstieg von Per sonen ber 65 Jahren geben. Infolge der Alterung der Schweizer Bevl kerung drfte es zu einem Mangel an Ar

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Monatsthema

Die demografische Dimension der neuen Zuwanderung in die SchweizDas Inkrafttreten der bilateralen Abkommen im Jahr 2002 und die gute Konjunktur zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben eine neue Zuwanderungswelle in die Schweiz ausgelst. Der Wanderungssaldo erreicht gar die Rekordwerte der Nachkriegszeit bis zur lkrise 1973. Allerdings unterscheidet sich die sozioprofessionelle Zusammensetzung dieser neuen Zuwanderung stark von derjenigen frherer Perioden: Sie besteht vor allem aus hoch qualifizierten Personen, die sich in den grossen Zentren und deren Agglomerationen konzentrieren. Die sich daraus ergebenden neuen Wohnbedrfnisse und -verhaltensweisen stellen die Integrationspolitik vor neue Herausforderungen.1 Wo nicht explizit anders vermerkt, sind mit der mnnlichen Form jeweils beide Geschlechter gemeint. 2 Statistiken des Bundesamtes fr Migration (BFM). Die schweizerische Volkswirtschaft profitierte von den bilateralen Abkommen, indem sie die bentigten Arbeitskrfte fr die vielen neu geschaffenen Arbeitspltze importieren konnte insbesondere in den Branchen mit hohen Qualifikationsanforderungen, aber auch in den personenbezogenen Dienstleistungen und im Baugewerbe. Foto: Keystone

Migrationsstrme und deren ZusammensetzungMit der Einfhrung der bilateralen Abkommen ber den freien Personenverkehr zwischen der Schweiz und der Europischen Union (EU) im Juni 2002, aber auch mit der gnstigen Wirtschaftsentwicklung haben die Migrationsstrme seit Anfang des 21. Jahrhunderts stark zugenommen, und zwar in Richtung Schweiz wie auch von der Schweiz ins Ausland. Einer wachsende Zahl von Einwanderern1 stehen immer mehr Einheimische gegenber, welche ihren Lebensmittel-

Ilka Steiner Institut dtudes dmographiques et du parcours de vie I-Dmo, Universitt Genf

Prof. Dr. Philippe Wanner Ordinarius, Institut dtudes dmographiques et du parcours de vie IDmo, Universitt Genf

punkt fr immer oder zeitweise ins Ausland verlagern. Zustzlich zu dieser Beschleunigung der Migration haben wir es mit einer neuen Zuwanderung aus dem EU/Efta-Raum zu tun. Bis 2002 entwickelte sich die Zuwanderung aus den EU27/Efta-Staaten in einem hnlichen Rhythmus wie diejenige aus den Drittstatten. Letztere hat sich seither um rund einen Fnftel reduziert und bei rund 43 000 Neuankmmlingen pro Jahr eingependelt. Demgegenber hat sich die Zuwanderung aus dem EU27/Efta-Raum mehr als verdoppelt und erreichte 2008 fast 120 000, bis die Finanzkrise das Wachstum unterbrochen hat (siehe Grafik 1). Die schweizerische Volkswirtschaft profitierte von den bilateralen Abkommen, indem sie die bentigten Arbeitskrfte fr die vielen neu geschaffenen Arbeitspltze importieren konnte insbesondere in den Branchen mit grossem Bedarf an hoch qualifiziertem Personal, aber auch im Bereich der personenbezogenen Dienstleistungen und im Baugewerbe. Die erhhte Migration ist somit die Antwort auf ein grsseres Arbeitsplatzangebot. Die Arbeitslosenquote hat in dieser Pha-

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Monatsthema

Grafik 1

Entwicklung der Anzahl Einwanderer in die Schweiz nach Herkunftsregion, 1991-2009Drittlnder Anzahl Einwanderer 120 000 EU-27/Efta

100 000

80 000

60 000

40 000

rakterisiert. Die Migrationsstrme, die am Ende des 20. Jahrhunderts an Schwung verloren hatten, sind neu erstarkt, dies aufgrund des Abbaus administrativer Hrden, eines fortbestehenden wirtschaftlichen und lohnmssigen Geflles zwischen der Schweiz und dem EU/Efta-Raum sowie sicherlich auch aufgrund der Limitierung der Zuwanderung aus den Drittstaaten. Das Phnomen beschrnkt sich jedoch nicht nur auf ein Wiedererstarken der bestehenden Migrationsstrme, sondern ist von einem fundamentalen Wandel geprgt: Die Zuwanderer, welche von 1950 bis 1980 vor allem aus Sdeuropa stammten und niedrig qualifiziert waren, wurden mehr und mehr von hoch qualifizierten Migranten abgelst.

20 000

Profil der Migrationsbevlkerung1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 Quelle: PETRA / Die Volkswirtschaft

0

se denn auch 4% nie berschritten. Dies besttigt, dass gesamthaft gesehen kein grsserer Verdrngungseffekt der schweizerischer Arbeitskrfte durch auslndische stattgefunden hat, wie es von gewissen Kreisen im Vorfeld des Inkrafttretens der bilateralen Abkommen befrchtet worden war. Die Netto-Einwanderung (Differenz zwischen Einwanderern und Auswanderern) der deutschen Staatsangehrigen war bis 2001 relativ tief (+2600 im Durchschnitt der 1990er-Jahre). Seither hat sie stark zugenommen und 2007 sowie 2008 sogar den Wert von +30 000 berschritten, was mehr ist als der kumulierte Migrationssaldo aller Nationalitten von 1996 bis 2000! Mit einem durchschnittlichen jhrlichen Migrationssaldo von +18 000 zwischen 2002 und 2009 liegen die Zuwanderer aus Deutschland deutlich vor den portugiesischen (+8400) und franzsischen (+4500) Staatsangehrigen. Auch die Zuwanderung aus Italien nimmt seit 2006 wieder zu (2008: +5000), nachdem der Saldo aufgrund von Rckwanderungen zuvor negativ gewesen ist. Bei den spanischen Staatsangehrigen stoppte die in den 1990er-Jahren zu beobachtende Abwanderung ebenfalls. Ende 2010 machten die deutschen, franzsischen und italienischen Staatsangehrigen zusammen 43% der auslndischen Bevlkerung der Schweiz aus, gegenber 38% zehn Jahre zuvor. Die neue Zuwanderung ist somit durch eine geografische und kulturelle Nhe cha-

Rund zwei Drittel der seit 2002 in die Schweiz eingewanderten Personen waren zwischen 20 und 39 Jahre alt. Je nach Herkunft ist dieser Anteil jedoch unterschiedlich: Er variiert zwischen 46% (Nordamerika) und 76% (EU8). Der Anteil der Mnner an den Zugewanderten hat kontinuierlich zugenommen, von einer ausgeglichenen Geschlechterverteilung (100 Mnner pro 100 Frauen) im Jahr 2003 auf 119 Mnner pro 100 Frauen 2008. Wiederum spielt die geopolitische Herkunft eine Rolle bei der Geschlechterzusammensetzung: Whrend aus Lateinamerika vor allem Frauen einwandern (55 Mnner pro 100 Frauen), sind es im Fall der EU17-Lnder mehrheitlich Mnner (138 Mnner pro 100 Frauen). Ein weiteres Merkmal der neuen Zuwanderung ist, dass sie vermehrt aus Grnden der beruflichen Aktivitt stattfindet, whrend der Familiennachzug stagniert.2 Im Jahr 2002 waren noch 42% der Eintritte in die Schweiz durch Familiennachzug motiviert und nur 30% wegen der Ausbung einer Erwerbsarbeit (kontingentiert oder nicht). Sechs Jahre Spter hat sich dieses Verhltnis umgekehrt: 31% der Zuwanderer kamen aus Grnden des Familiennachzugs in die Schweiz und rund die Hlfte zur Ausbung einer Erwerbsarbeit. Das soziokonomische Profil der nach 2002 in die Schweiz Eingewanderten kann anhand der Schweizerischen Arbeitskrfteerhebung (Sake) 2008 untersucht werden. Die Migranten definiert anhand des Geburtsortes knnen nach ihrem Zuzugsjahr unterschieden werden. Von den nach 2002 zugewanderten 25- bis 65-jhrigen Mnnern bzw. 25- bis 64-jhrigen Frauen sind mehr als drei Viertel erwerbsttig. Allerdings sind Unterschiede je nach Herkunft festzustellen: Bei den Zugewanderten aus EU15-Lndern

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Monatsthema

Grafik 2

Relativer Wanderungssaldo (fr 1000 Einwohner) nach Kantonen, 2009

Relativer Wanderungssaldo (in ) 18 16 14 12 10 Durchschnitt Schweiz: 9,6 8 6 4 2 0 VD BS GE ZH ZG GR VS OW TI SH TG AG FR GL LU SG SO NE BL UR BE AR SZ NW JU AI

Gemss Sake sind die Universittsstdte und die Regionen, welche multinationale Konzerne beherbergen (Basel-Stadt, Zrich, Arc Lmanique und Bern), die Hauptanziehungspunkte fr hoch qualifizierte Zuwanderer. Auf der anderen Seite sind Luzern und Tessin die Kantone mit dem hchsten Anteil an Zuwanderern, die kein tertires Bildungsniveau aufweisen und nicht in hoch qualifizierten Berufen ttig sind. Ausserdem sind in jeder Region spezifische Schwerpunkte auszumachen: St. Gallen zieht in erster Linie Studierende an, Genf Diplomaten und internationale Funktionre und Zug Leitende Angestellte von Unternehmen.

Lokale Differenzierung der neuen ZuwanderungDie Zuwanderung widerspiegelt die regionale Spezialisierung, welche in den letzten Jahrzehnten in der Schweiz festzustellen war, und verstrkt sie gleichzeitig. Die grossen Agglomeration ziehen multinationale Unternehmen, Fachhochschulen sowie private Bildungsinstitute und Finanzinstitute an, die als Motoren der hoch qualifizierten Zuwanderung gelten. Demgegenber ist in den peripheren Regionen die Migration in traditionelle Sektoren wie Tourismus, Industrie oder Baugewerbe bestimmend. Nicht alle Regionen und Kantone haben in gleich grossem Ausmass von der Zuwanderung profitiert. Der relative Wanderungssaldo (Anzahl Zuzge minus Anzahl Wegzge pro 1000 Einwohner) dient als Indikator fr die Ausprgung der Migration einer Region (siehe Grafik 2). Gemss diesem Indikator weisen die Kantone Waadt und BaselStadt 2009 eine hohe Netto-Einwanderung (+16) auf, gefolgt von Genf (14) und Zrich (12). Am Schluss dieser Rangliste figurieren die peripheren Kantone Nidwalden, Jura und Appenzell-Innerrhoden. Diese Unterschiede sind mit der wirtschaftlichen Dynamik von Zrich, Basel und der Genferseeregion erklrbar. Dabei kann man sich zum Beispiel am Standortqualittsindikator (SQI) der Credit Suisse orientieren,3 der seit 2004 vorliegt. Dieser Indikator umfasst fnf Faktoren: Die steuerliche Belastung der natrlichen Personen, jene der juristischen Personen, das Bildungsniveau der Bevlkerung, das Angebot an hoch qualifizierten Arbeitskrften und die verkehrstechnische Erreichbarkeit. Die Resultate fr 2009 zeigen, dass es die Regionen mit der hchsten Sandortqualitt sind, welche die grsste Zuwanderung zu verzeichnen haben. Die positive Korrelation zwischen SQI und Migrationssaldo lsst darauf schliessen, dass die neue Zuwanderung von der Suche nach

Quelle: Statistik des jhrlichen Bevlkerungsstandes (ESPOP) / Die Volkswirtschaft

3 Vgl. Sara Carnazzi Weber et al., Standortqualitt: Welche Region ist die attraktivste? Swiss Issues Regionen, Credit Suisse, 2009.

betrgt die Erwerbsttigenquote 86%; bei asiatischen oder afrikanischen Staatsangehrigen sind es weniger als 60%. Die Mehrheit der nach 2002 Zugewanderten genau: 53% verfgen ber ein tertires Ausbildungsniveau. Das sind bedeutend mehr als in der bereits lnger ansssigen Bevlkerung, wo der entsprechende Anteil bei 34% fr Schweizer und bei 23% fr die vor 2002 zugewanderten Auslnder liegt. Diese Werte zeigen eindrcklich, wie sich das Bildungsniveau der neuen Zuwanderung gewandelt hat. Innerhalb der Gruppe der hoch qualifizierten Zuwanderer (d.h. Personen, die einen tertiren Bildungsabschluss haben oder einen als hoch qualifiziert eingestuften Beruf ausben) sind grosse Unterschiede je nach Herkunftslndern festzustellen. So werden hoch qualifizierte Arbeitskrfte hauptschlich in asiatischen oder EU27/Efta-Lndern rekrutiert. Personen aus dem Vereinigten Knigreich sind dabei am hufigsten vertreten, gefolgt von Deutschen und Franzosen. Die Zuwanderung von hoch qualifizierten Personen berschneidet sich indes mit jener von mittel qualifizierten Personen, die im Dienstleistungssektor (inkl. personenbezogene Dienstleistungen) sowie im Baugewerbe, in der Hotellerie und im Gastgewerbe insbesondere in den touristischen Regionen, allen voran der Genferseeregion ttig sind. Zu den hauptschlichen Herkunftslndern der niedrig oder mittel qualifizierten Zuwanderer gehrt Portugal.

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Monatsthema

Die Regionen mit der hchsten Sandortqualitt haben die grsste Zuwanderung zu verzeichnen. Der Kanton Waadt profitiert zurzeit am meisten von diesen Bewegungen. Im Bild: Montreux, eine Gemeinde, die Zuwanderung seit langem kennt.

Foto: Keystone

besseren Erwerbsmglichkeiten in den wirtschaftlich attraktivsten Regionen bestimmt wird.

Wirtschaftliche und soziale FolgenDas Inkrafttreten des bilateralen Abkommens ber die Personenfreizgigkeit mit der EU hat die Migrationsstrme verndert. Sie sind seither von hoch qualifizierten Arbeitskrften bestimmt, deren Anziehungspunkte die Finanzzentren, die Institutionen der Forschung und Entwicklung (F&E), die grossen Ausbildungsinstitutionen, die multinationalen Unternehmen und die internationalen Organisationen sind. Diese Zuwanderung hat die Ungleichheiten in der demografischen und wirtschaftlichen Dynamik zwischen den zentralen und peripheren Regionen weiter verstrkt. Sie hat berdies die Nachfrage nach Wohnraum in den wirtschaftlich hher eingestuften Rumen stimuliert, was zu Spannungen auf den Immobilienmrkten gefhrt hat. Zudem hat sie der Verdichtung der Stdte Vorschub geleistet und die Pendlerstrme verstrkt; beides schafft grosse Herausforderungen im Bereich der Infrastruktur. Der Ausbau der Verkehrsinfrastrukturen auf Schiene und Strasse sowie des Wohnangebots kann kaum mit dem migrationsbedingt sehr schnellen demografischen Wachstum der attraktivsten Regionen der Schweiz Schritt halten. Somit besteht ein langfristiger Planungsbedarf in diesen Bereichen. Diese Diskrepanz verstrkt zustzlich die Spannungen zwischen der einheimischen und der zugewanderten Bevlkerung, was wiederum den sozialen Zusammenhalt nega-

tiv beeinflusst. Solches war krzlich auf dem Zrcher Arbeitsmarkt zu beobachten, wo die starke Zuwanderung von Deutschen kritisch kommentiert wurde (der Anteil der Deutschen an der stndigen Wohnbevlkerung in Zrich hat sich seit 2002 von 2,7% auf 5% im Jahr 2008 erhht). Auch im Genferseeraum war hnliches zu beobachten. Auf der anderen Seite konnten die peripheren Regionen der Zentralschweiz, Appenzell und der Jura die Migration nicht zur Ankurbelung ihres wirtschaftlichen oder demografischen Wachstums nutzen. Das widerspiegelt sich auch in tieferen Steuerertrgen. Angesichts der fortschreitenden Globalisierung und Spezialisierung der lokalen Mrkte deutet nichts darauf hin, dass sich die Migration in den nchsten Jahrzehnten abschwchen wird. Mit den raschen Vernderungen in der Zusammensetzung von Herkunft und Kompetenzen der Zugewanderten drfte die Integrations- und Migrationspolitik auch in den kommenden Jahrzehnten zu den wichtigsten Herausforderungen zhm len.

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Monatsthema

Drittstaatskontingente: Festlegung im Sinne einer bedarfsgerechten und ausgeglichenen ZuwanderungAuch bei unsicherer Wirtschaftslage ist die Schweiz auf auslndische Arbeitskrfte angewiesen. Mit dem EU-Freizgigkeitsabkommen gewann die Zuwanderung aus EU/Efta-Staaten an Bedeutung. Der Bundesrat ist bestrebt, mit seiner Wachstumspolitik die aussenwirtschaftlichen Beziehungen auch vermehrt gegenber Drittstaaten weiterzuentwickeln. Gleichzeitig untersteht die Zuwanderung von Arbeitskrften aus Drittstaaten einer jhrlichen Kontingentierung. Die Bedrfnisse der multinationalen Unternehmen bilden eine wichtige Grundlage bei der Kontingentsfestlegung. Zudem gilt es, den politischen und wirtschaftlichen Gesamtkontext im Auge zu behalten.1 Darunter fallen EU8-Angehrige, EU2-Angehrige sowie EU27/Efta-Dienstleistungserbringer, die mehr als 12 Monate in der Schweiz erwerbsttig sind. 2 Interpellation Schneider-Schneiter, 10.3920. 3 Motionen Noser, 10.3525 und 10.3526 4 Die KOF der ETH prognostiziert ein Wirtschaftswachstum von 1,5%. Die Expertengruppe des Bundes geht von 0,9% aus und vermutet, dass die Arbeitslosigkeit im kommenden Jahr seit 2009 wieder zunehmen wird.

Im Jahr 2010 wanderten (brutto) insgesamt rund 134 000 Personen aus dem Ausland in die stndige Wohnbevlkerung ein. Davon entfielen rund 59 000 auf Erwerbsttige, worunter 7500 kontingentiert zugelassen wurden (3900 Drittstaatsangehrige sowie 3600 kontingentierte EU/Efta-Angehrige1). Diese Zahlen zeigen, dass der Anteil der kontingentierten Zuwanderung von Erwerbsttigen an der gesamten Zuwanderung vergleichsweise klein ist. Dennoch spielt die Kontingentsfestlegung in der Zuwanderungspolitik eine wesentliche Rolle. Ende 2009 hatte der Bundesrat angesichts der weltweiten Wirtschaftskrise entschieden, die Drittstaatskontingente fr das Jahr 2010 vorerst zu halbieren. Der Bedarf fiel jedoch hher aus, weil der Aufschwung unerwartet rasch einsetzte. Vier Monate spter entschied der Bundesrat deshalb, die restlichen Kontingente freizugeben. Die Arbeitgeberseite reagierte verunsichert auf die vorlufige Halbierung; sie sah sich in der Rekrutierungsplanung bedroht. Seitdem fordern Kantone und Wirtschaftsvertreter Kontingentserhhungen mit der Absicht, den Wirtschaftsstandort zu sichern. Politische Vorstsse hinterfragten die Kontingentspolitik des Bundesrates2 oder schlugen Kontingentsbefreiungen fr besondere Personenkategorien vor3. Am 8. Juni 2011 titelte die Neue Zrcher Zeitung, es gbe in der Schweizer Zuwanderungspolitik planwirtschaftliche Elemente. Der vorliegende Beitrag rumt einerseits ein, dass die Rekrutierung komplementrer Fachkrfte von Drittstaaten aus gesamtwirtschaftlichen Interessen nicht durch ein zu rigides Kontingentssystem behindert werden darf. Es ist eine lngerfristig bedarfsgerechte Kontingentspolitik anzustreben. Andererseits

tendiert pauschal gefhrte Kritik an ungengenden Kontingenten leicht dazu, politische und wirtschaftliche Begleitumstnde sowie von Volk und Parlament gewollte Zuwanderungsbeschrnkungen auszuklammern. Nebst einer Wachstumsfrderung mssen bedarfsgerechte Kontingente die gesetzlichen Rahmenbedingungen und die Arbeitsmarktlage bercksichtigen. Zur Klrung der Bedarfsfrage schlgt dieser Beitrag vor, sich an fnf Punkten zu orientierten: 1. Konjunktur und Arbeitsmarkt; 2. Bisherige Erfahrungen mit dem Kontingentssystem; 3. Duales Zulassungssystem; 4. ffnung der Aussenwirtschaft gegenber Drittstaaten; 5. Qualitt des Arbeitskrftebedarfs aus Drittstaaten.

Konjunktur und ArbeitsmarktGemss Konjunkturprognosen vom Herbst 2011 wird sich das Bruttoinlandprodukt (BIP) im nchsten Jahr schwach entwickeln.4 Begleitend widerspiegeln Stimmungsindikatoren Unsicherheit. Ein erneutes Abtauchen in eine Rezession ist nicht auszuschliessen. Typischerweise reagiert die Zuwanderung stark auf die konjunkturelle Situation, wenn auch mit einer gewissen Verzgerung. Entsprechend ist aus heutiger Sicht im kommenden Jahr insgesamt eher mit einer konstanten oder rcklufigen Nachfrage nach Kontingenten zu rechnen. Globalisierung und Innovation im Technologiebereich fhren zu langfristigen Vernderungen in der Weltwirtschaft, die wiederum Auswirkungen auf die Struktur des Arbeitsmarktes haben. Die Auslnderpolitik hat sich an diese Vernderungen angepasst und die Zulassung auf hoch qualifizierte und spezialisierte Fachkrfte konzentriert, welche die ansssigen Arbeitskrfte ergnzen soll. Aus Sicht der inlndischen Bevlkerung ist es entscheidend, dass sie angesichts einer wachsenden auslndischen Konkurrenz wettbewerbsfhig bleibt und mit der Technologieentwicklung bzw. der vernderten Nachfrage der Arbeitgeber Schritt halten kann. Die in diesem Jahr lancierte Fachkrfteinitiative des EVD verfolgt einen wichtigen Ansatz, indem sie u.a. auf die Verbesserung der Aus-

Kurt Rohner M.A. HSG; M Law, Stellv. Chef Direktionsbereich Zuwanderung und Integration, Bundesamt fr Migration BFM, Bern

Daniel Sormani Lic. s. sc. pol., Bereich Zulassung Arbeitsmarkt, Bundesamt fr Migration BFM, Bern

13 Die Volkswirtschaft Das Magazin fr Wirtschaftspolitik 12-2011

Monatsthema

Grafik 1

Erteilte kontingentierte Bewilligungen nach Nationalitt (ohne EU/Efta DLE), 20042011Indien USA Kanada China Russland

3000

2500

staatsbewilligungen erhielten. Von dieser Erhhung profitierte insbesondere die Landwirtschaft. In den Jahren nach 2006 begnstigte die auf 7000 festgelegte Kontingentszahl fr Kurzaufenthalter vor allem die Bewilligungserteilung an Dienstleistungserbringer aus den EU/Efta Staaten (DLE) bzw. Informatiker aus Indien (siehe Grafik 1).Kontingentsausschpfung

2000

1500

1000

500

0 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011a

a Hochgerechnete Bewilligungen 2011.

Quelle: BFM, Abteilung Zulassung Arbeitsmarkt / Die Volkswirtschaft

Kasten 1

Festlegung der KontingenteDer Bundesrat legt im Rahmen der Begrenzungsmassnahmen nach Art. 20 Auslndergesetz (AuG) jhrlich die Zahl der erstmaligen Kurzaufenthalts- und Aufenthaltsbewilligungen zur Ausbung einer Erwerbsttigkeit fr Staatsangehrige von ausserhalb der EU/Efta (Drittstaaten) fest. Dienstleistungserbringer aus den EU/EftaStaaten (DLE), die mehr als 120 Tage in der Schweiz erwerbsttig sind, unterliegen nicht dem Personenfreizgigkeitsabkommen. Bis 2010 gingen die Kontingente fr DLE zu Lasten der Drittstaatskontingente. Seit 2011 gibt es separate Kontingente fr DLE. Die Kontingente stehen den Kantonen quartalsweise zur Verfgung (keine Bundesreserve). Hchstzahlen 2011: Drittstaaten 5000 Kurzaufenthalter und 3500 Aufenthalter; EU/Efta DLE 3000 Kurzaufenthalter und 500 Aufenthalter. Verteilschlssel und Bundesreserve: Die Hlfte der Kontingente fr Drittstaatsangehrige wird zu Beginn des Jahres an die Kantone verteilt. Der Verteilschlssel basiert auf der Grundlage der Vollzeitquivalente gemss Betriebszhlung des Bundesamtes fr Statistik (BFS). Durch die Zahl der Beschftigten umgerechnet auf Vollzeitstellen wird der Grsse des regionalen Arbeitsmarktes Rechnung getragen. Weil diese Basis kurzfristigen Entwicklungen (z.B. Neuansiedlungen) und den wechselnden kantonalen Kontingentsbedarf nicht umfassend abbildet, verbleibt der Rest der Kontingente beim Bund. Im Bedarfsfall kann der Bund den Kantonen zustzliche Kontingente rasch zuteilen. Vorjahresreserven: Die per Ende Jahr nicht ausgeschpften Kontingente fr Drittstaatsangehrige knnen im Folgejahr in das Bundeskontingent bertragen werden. Diese Mglichkeit besteht bei den DLE derzeit nicht.

und Weiterbildung setzt.5 Sie erhht damit die Arbeitsplatzsicherheit fr Inlnder und verringert die Nachfrage nach auslndischen Fachkrften.

Aufgrund des erhhten Bedarfs in der Aufschwungphase 20052008 verzeichnete auch die prozentuale Ausschpfung der Kontingente einen Anstieg (siehe Grafik 2 und Grafik 3). Eine wirkliche Belastung war jedoch bei den Kurzaufenthaltern zu spren, weil diese bis 2010 auch zu einem grossen Teil durch DLE aus dem EU/Efta Raum beansprucht wurden. Seit dem 1. Januar 2011 gibt es fr diese DLE separate Kontingente (siehe Kasten 1). Bei den Aufenthaltern wurde das Kontingent in den Jahren 2008 und 2010 zwar ausgeschpft. Die Situation war aber nicht dramatisch, weil verordnungsgemss auf Vorjahresreserven (rund 400 resp. 100 Bewilligungen) zurckgegriffen werden konnte. Gemss jngster Hochrechnung wird fr 2012 voraussichtlich eine kleine Reserve fr Aufenthalter verbleiben.Verteilschlssel

Bisherige Erfahrungen mit dem KontingentssystemKontingentsfestlegung

Die Erfahrungen in einer Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs mit zahlreichen Neuansiedlungen in der Schweiz zeigen, dass sich die Kontingentspolitik des Bundesrates grundstzlich bewhrt hat. Der wachsende Bedarf an qualifizierten Arbeitskrften aus Drittstaaten konnte in den letzten Jahren gedeckt werden. Im Jahr 2003 wurden insgesamt 5300 kontingentierte Bewilligungen erteilt; 2010 waren es 9000. Whrend in Jahren mit mssiger Arbeitsmarktentwicklung die Kontingente nur teilweise ausgeschpft wurden, erreichte der Ausschpfungsgrad 2008 am Ende der letzten Hochkonjunkturphase 100%.Kontingentserhhung

Die Zahl der Kontingente wird in der Regel ber mehrere Jahre relativ konstant gehalten. Nachdem die auf 3000 gekrzten Aufenthalterkontingente im Jahr 2010 voll ausgeschpft waren, wurde 2011 eine Erhhung vorgenommen. Bei den Kurzaufenthaltern war die Kontingentszahl erstmals 2004 erhht worden, als die acht osteuropischen EU-Staaten (EU8) vorgngig zur Ausdehnung der Personenfreizgigkeit 2500 Dritt-

Vertreter der wirtschaftsstarken Regionen bemngeln, dass die Drittstaatskontingente nicht bedarfsgerecht auf die Kantone verteilt sind. Die in einem Kanton ansssigen Unternehmen knnten vor der Kontingentsfestlegung ihre Planung fr die bevorstehenden Jahre nicht offenlegen.6 Tatschlich reichen die zu Beginn des Jahres auf die Kantone verteilten Kontingente oft nicht aus, um den effektiven Jahresbedarf eines Kantons abzudecken. Die Kantone haben unterschiedliche Bedrfnisse und teils divergierende Interessen. Das Bundesamt fr Migration (BFM) hat die Aufgabe, diese zu bndeln und unter einen Hut zu bringen. Die Erfahrung zeigt, dass kein Verteilschlssel den Bedarf im Voraus verlsslich abbilden kann. Genauso wenig wren Unternehmen in der Lage, einen Fnfjahresplan fr den Bedarf an Drittstaatsangehrigen in der Schweiz aufzustellen. Das BFM muss gewhrleisten, dass die gesamtschweizerische Nachfrage mit regelmssigen Kontingentszuteilungen an die Kantone unkompliziert ergnzt wird (siehe Kasten 1).

Duales ZulassungssystemDas duale Zulassungssystem, das EU/EftaArbeitskrften gegenber Drittstaatsangehrigen einen Vorrang einrumt, widerspiegelt sich in den Zuwanderungszahlen. Wir stellen

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Monatsthema

Grafik 2

Ausschpfung der Kontingente fr Kurzaufenthalter (inkl. EU/Efta DLE), 2002/032011Ausschpfung Restbestand

8000 7000

6000

5000

4000

3000

2000

1000

0 2002/03 2003/04 2004/05a 2005/06a 2006/07 2008 2009 2010 2011b

a Inklusive 2500 Vorkontingente fr EU8. b Hochgerechnete Ausschpfung 2011.

Quelle: BFM, Abteilung Zulassung Arbeitsmarkt / Die Volkswirtschaft

Grafik 3

Ausschpfung der Kontingente fr Aufenthalter (inkl. EU/Efta DLE), 2002/032011Ausschpfung Restbestand

Arbeitskrfteeinwanderung bei rund 40%; heute liegt er bei rund 12%. Insofern konnte das Ziel des Bundesrates, mit der Arbeitsmarktffnung gegenber der EU die Rekrutierung von Arbeitskrften tendenziell weg von Drittstaaten hin zu EU-Staatsangehrigen zu verlagern, erreicht werden. Dafr liegt die Schweiz innerhalb der OECD bezglich Einwanderung infolge des freien Personenverkehrs vorne. Der Bestand der stndigen auslndischen Wohnbevlkerung aus den EU-17/Efta-Staaten in der Schweiz hat sich von 2002 (816 300 Personen) bis 2011 (Stand August: 1 081 500 Personen) um 32% erhht. In der ffentlichkeit erntet die Personenfreizgigkeit nicht nur Lorbeeren, und sie gert auch politisch vermehrt unter Druck.7 Die Debatten vergegenwrtigen, dass sich der Spielraum zur direkten zahlenmssigen Steuerung der Zuwanderung ber eine Kontingentspolitik mit der Einfhrung und Ausdehnung des freien Personenverkehrs und des Familiennachzugs verengt hat. Dies gilt insbesondere in Phasen mit guter Wirtschaftsentwicklung und entsprechend starker Zuwanderung aus dem EU/Efta-Raum.

ffnung der Aussenwirtschaft gegenber DrittstaatenZur breiteren Absttzung sieht die langfristige Wachstumspolitik des Bundes eine weitere ffnung der Aussenwirtschaft gegenber Drittstaaten vor. Damit Schweizer Unternehmen gegenber auslndischen Konkurrenten wettbewerbsfhig bleiben, soll ihnen ein optimaler Zugang zu diesen Mrkten verschafft werden. Angesichts der schleppenden Verhandlungen im Rahmen der Doha-Runde verfolgt die Schweiz eine Politik zur Liberalisierung des internationalen Handels ber Freihandelsabkommen (FTA). In Bezug auf das bestehende duale Zulassungssystem sind die Verhandlungen im Bereich Movement of Natural Persons (MNP) von Relevanz. Bezglich MNP beschrnken sich die Gats-Verplichtungen der Schweiz im Sinne des Auslndergesetzes (AuG) auf die vorbergehende Zulassung von bestimmten Personenkategorien und Dienstleistungserbringern im hochqualifizierten Bereich (siehe Kasten 2). Verhandlungspartner fordern neu beispielsweise Zugangserleichterungen fr Dienstleistungserbringer in bestimmten Berufskategorien. Auch unter Bercksichtigung der gesamtwirtschaftlichen Interessen ist hier aus migrations- und gesellschaftspolitischen berlegungen Vorsicht geboten. Abgesttzt auf die Gats-Prinzipien zielen Liberalisierungen tendenziell auf eine Aufhebung der quan-

5000

4000

3000

2000

1000

0 2002/03 2003/04 2004/05a 2005/06a 2006/07 2008 2009 2010 2011b

a Inklusive 700 Vorkontingente fr EU8. b Hochgerechnete Ausschpfung 2011.

Quelle: BFM, Abteilung Zulassung Arbeitsmarkt / Die Volkswirtschaft

5 Vgl. dazu den Artikel von Bernhard Weber und Sascha Kuster auf S. 21 ff. der vorliegenden Ausgabe. 6 Anfrage Schneider-Schneiter, 11.1036. 7 SVP-Initiative Gegen Massenzuwanderung; Motion Fraktion SVP. Wiedereinfhrung von Kontingenten fr Auslnder und Inlndervorrang, 11.3543.

fest, dass die Schweiz den Fachkrftemangel im Gegensatz zu anderen europischen Lndern weit effektiver ber die Personenfreizgigkeit abdecken kann und deshalb weniger auf eine Rekrutierung aus Drittstaaten zurckgreifen musste. Eine von Swissmem 2011 durchgefhrte Umfrage bei Unternehmen bekrftigt dies. Bis Mitte der 1990er-Jahre lag der Anteil der Arbeitskrfteeinwanderung aus Drittstaaten gemessen an der gesamten

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Monatsthema

titativen Zuwanderungsbegrenzung und der arbeitsmarktlichen Prfung ab. Eine prferenzielle Zulassung von bestimmten Berufskategorien und Lndern im Rahmen des FTA knnte das duale Zulassungssystem aushhlen.

und die Konkurrenzsituation fr Inlnder verschrfen, deutlich erhht.

FazitDie Migrationspolitik kann sich den wirtschaftlichen Bedrfnissen nicht gnzlich unterordnen; sie hat auch gesellschaftspolitische Entwicklungen einzubeziehen. Die Kontingentierung stellt ein zentrales Steuerungselement dieser Politik ausserhalb des Freizgigkeitsabkommens dar. Erfahrungsgemss erlaubt eine massvolle Kontingentspolitik, dringend bentigte Arbeitskrfte aus Drittstaaten zuzulassen. Spielraum fr erhhte Flexibilitt wre wnschenswert. Die Kantone namentlich die Volkswirtschaftsdirektoren (VDK) und die Wirtschaft waren im Herbst 2011 mehrheitlich der Auffassung, dass eine Erhhung bei den Kurzaufenthaltern geprft werden sollte. Gemss Hochrechnung drften die Kontingente fr Drittstaatsangehrige 2011 dem Bedarf gerecht werden. Optimierungspotenzial bestnde bei der Zuteilung. Mit einer hheren Bundesreserve knnten die Kontingente der Kantone beispielsweise effizienter ergnzt werden. Der Bund htte die Mglichkeit, wirtschaftlichen Entwicklungen und gesellschaftspolitischen Anliegen besser Rechnung zu tragen. Dies knnte vor allem mit Kurzaufenthalterbewilligungen erfolgen, zumal sie den Bevlkerungsbestand in der Schweiz langfristig nicht wesentlich beeinflussen. Der Bundesrat hat am 23. November 2011 die Hchstzahlen fr das Kontingentsjahr 2012 beraten und diese unverndert weitergefhrt. Er tat dies angesichts der wachsenden Unsicherheiten auf dem Arbeitsmarkt und in Abwgung der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Interessen und betonte, dass der Beschftigung von inlndischen Arbeitskrften und Erwerbsttigen aus den EU/ Efta-Staaten unverndert oberste Prioritt zukommt. Der Bundesrat wird Mitte 2012 einen umfassenden Bericht vorlegen, in dem auch die Kontingentspolitik fr Erwerbsttige aus Drittstaaten vertieft diskutiert wird. m

Qualitt spielt eine wichtige RolleDer Bundesrat hat in seiner Antwort zur Anfrage Schneider-Schneiter (11.036) hervorgehoben, dass die Arbeitskrftezuwanderung aus Drittstaaten nicht nur quantitativ durch Kontingente, sondern ber Zulassungsvoraussetzungen auch qualitativ gesteuert wird. Einerseits bestimmen die Arbeitgeber, welchen Bedarf an Arbeitskrften sie haben. Das AuG setzt andererseits voraus, dass der Arbeitgeber bei seiner Rekrutierung (oder Bedarfsdefinition) qualitative Vorgaben wie Vorrang, Lohn- und Arbeitsbedingungen oder persnliche Voraussetzungen einhlt. Rund 80% der bewilligten Arbeitskrfte aus Drittstaaten verfgen ber einen akademischen Abschluss. Die brigen 20% haben entweder besondere Fachkenntnisse oder werden im Rahmen einer Weiterbildung zugelassen. Es werden auch Gesuche eingereicht, die den gesetzlichen Vorgaben nicht oder nur teilweise entsprechen. Die Behrden haben mit Verweis auf die gesetzlichen Rahmenbedingungen den Auftrag, diese qualitativ zu prfen und sofern ntig zu korrigieren oder abzuweisen. Kaderleute und Spezialisten aus den USA, die neu angestellt oder konzernintern in die Schweiz transferiert werden, gehren zahlenmssig seit Jahren zur Spitze der kontingentierten Zulassung. Seit 2006 beansprucht aber Indien am meisten Kontingente (siehe Grafik 1). Der generelle Zuwachs ist allgemein darauf zurckzufhren, dass Schweizer Grosskonzerne IT-Auftrge an indische ITund Business-Process-Outsourcing-Unternehmen (BPO) bergeben. Die indischen Anbieter beabsichtigen, in Europa verstrkt zu expandieren. Eine zu offene Haltung im Kontext der FTA birgt Risiken, wie das Beispiel der USA zeigt. ber den Informationsaustausch mit der Migrationsbehrde in den USA ist bekannt, dass bis 2009 grsstenteils indische IT-BPO-Unternehmen das amerikanische H1B-Visaprogramm (65 000 temporre Visa fr Spezialisten) belasteten. Es wurde der Verdacht geussert, dass der Zustrom indischer Informatiker amerikanische IT-Spezialisten auf dem Arbeitsmarkt durch tiefere Lhne verdrngen. Der US-Kongress hat reagiert und die Visumsgebhren gegenber auslndischen Unternehmen, welche H1BVisa zweckentfremdend stark beanspruchen

Kasten 2

Verpflichtungen bezglich Movement of Natural Persons (MNP)Die Terminologie im Gats-Abkommen bezglich MNP unterscheidet sich von derjenigen im nationalen Auslnderrecht (AuG). Im Sinne der Gats-Verpflichtungen lassen die Behrden in Anlehnung an das AuG (Art. 23 Abs. 3 Bst. d) eng definierte Personenkategorien zu. Praxisgemss knnen die Verpflichtungen wie folgt zusammengefasst werden: Intra-Corporate Transferees (ICT): Kaderangestellte, Top-Manager, Spezialisten einer auslndischen Gesellschaft, welche vorbergehend in eine bereits in der Schweiz ansssige Zweigniederlassung oder Tochtergesellschaft entsandt werden. Die Personen mssen mindestens 1 Jahr bereits im Konzern ttig gewesen sein. Um zu eruieren, ob ein Angestellter dieser eng definierten Personenkategorie effektiv zugeordnet werden kann, wird mit Verweis auf die Qualifikation respektive Funktion eine Prfung der Lohnbedingungen vorgenommen. Das Gats erlaubt dagegen keine Prfung des Vorrangs. Die Aufenthaltsdauer betrgt allgemein maximal 4 Jahre. Wenn der Aufenthalt mehr als 4 Monate dauert, erfolgt eine Kontingentsbelastung. Contractual Service Suppliers (CSS): Spezialisten von auslndischen Unternehmen ohne Niederlassung in der Schweiz, die im Rahmen eines Dienstleistungsvertrages mit Schweizer Unternehmen in die Schweiz kommen. Der Zeitraum der Dienstleistungserbringung betrgt maximal 3 Monate. Die Zulassung ist auf Ingenieurdienstleistungen, Beratungen im Rahmen von ComputerHardwareinstallationen und Softwareinstallationen begrenzt. Freihandelsabkommen (FTA): Mit Japan, Kolumbien und Sdkorea wurden die Verpflichtungen im Rahmen der abgeschlossenen FTA erweitert. Diese Verpflichtungen decken ICT, CSS und eine neue fr den Export wichtige Personenkategorie ab. Der Marktzugang ist ohne quantitative Begrenzung gewhrt. Dies bedeutet, dass die Kontingente nach dem AuG zwar belastet werden. Diese knnen gegenber dem im Abkommen eng definierten Personenkreis aber nicht entgegengehalten werden. Eine Verweigerung kann lediglich aufgrund qualitativer Kriterien erfolgen.

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Monatsthema

Fachkrftemangel und MigrationDer Nutzen der Personenfrei zgigkeit wird in der aktuellen Diskussion hufig primr darin gesehen, dass hoch qualifiziertes Personal im ganzen EU Raum ge sucht werden kann, insbesondere wenn in der Schweiz die entspre chenden Fachleute nicht verfg bar sind. Im vorliegenden Artikel fragen wir, inwieweit Migrantin nen und Migranten tatschlich in Berufen arbeiten, in denen hier zulande ein Fachkrftemangel herrscht. Die Analyse sttzt sich dabei auf Ergebnisse des Indika torensystems Fachkrftemangel, das im Auftrag des Bundesamtes fr Berufsbildung und Technolo gie (BBT) und des Staatssekreta riats fr Wirtschaft (Seco) entwi ckelt wurde.1 B,S,S. und Sheldon (2009). 2 Vgl. Sheldon (2007). 3 Vgl. B,S,S. (2011).

Zwei miteinander verwobene Themen sind in den vergangenen Jahren zunehmend Gegenstand des ffentlichen Diskurses geworden: Erstens berichten verschiedene Branchen von einem gravierenden Fachkrftemangel. Viele Firmen suchen Ingenieure und Informatiker; in Spitlern fehlen rzte und Krankenschwestern die Liste knnte noch erweitert werden. Zweitens ist ein neuer Typus des Migranten bzw. der Migrantin ins Licht der ffentlichkeit gerckt: Whrend vor nicht allzu langer Zeit beim Einwanderer an den Arbeiter aus Sdeuropa gedacht wurde, steht heute der hoch qualifizierte Expatriot im Fokus, etwa die in der Basler Pharmabranche arbeitende Chemieingenieurin aus England oder der deutsche ETH-Professor. Die Frage stellt sich, ob ein grosser Teil der Migranten tatschlich Berufe ausbt, in denen hierzulande ein Mangel herrscht, und ob diesbezglich in den vergangenen Jahren eine Verschiebung stattgefunden hat.

Fachkrftemangel per se ist kein klar definierter Begriff. Es lassen sich aber bestimmte Indikatoren identifizieren, die darauf hinweisen, dass fr einen Beruf tatschlich relativ wenig entsprechend qualifizierte Arbeitnehmer im Vergleich zum Durchschnitt aller Berufe zur Verfgung stehen. Im Indikatorensystem Fachkrftemangel1 hat B,S,S. in Zusammenarbeit mit der Universitt Basel u.a. vier Knappheitsindikatoren entwickelt (siehe Kasten 1): 1. der Deckungsgrad; 2. das Zugnger-Abgnger-Verhltnis; 3. das Verhltnis zwischen offenen Stellen und Arbeitslosen (UV-Verhltnis); 4. die Migrationsentwicklung. Als einen dieser zentralen Indikatoren zum Fachkrftemangel sehen wir also eine hohe Migration. Die zugrundeliegende These ist, dass Migration in die Schweiz weitgehend nachfragegetrieben ist2 und Firmen vor allem dann Personal aus dem Ausland anstellen, wenn sich keine qualifizierten inlndischen Bewerber finden lassen. Als Migranten definieren wir Personen, die in den vergangenen fnf Jahren in die Schweiz eingewandert sind, unabhngig von ihrer Staatsangehrigkeit. Die schon seit 20 Jahren in der Schweiz lebende Franzsin gilt demnach nicht als Migrantin, der von einem lngeren USA-Aufenthalt zurckgekehrte Schweizer hingegen schon. Diese Definition ist fr den Arbeitsmarkt sinnvoll, zhlt doch in der vorliegenden Betrachtung weniger die Nationalitt, sondern die Frage, ob im Ausland wohnende Personen fr den Schweizer Arbeitsmarkt gewonnen werden. Die vier oben genannten Indikatoren sind kein Beweis fr einen Fachkrftemangel; sie liefern vielmehr Hinweise darauf. Wenn das Thema des Fachkrftemangels fr einen bestimmten Beruf konkret analysiert werden soll, dann muss der Kontext im Detail angeschaut werden. So zeigt sich z.B. in Sozialberufen ein tiefer Deckungsgrad. Dies lsst sich zum Teil damit erklren, dass in diesem Segment hufig ergnzend zu den Fachleuten Praktikanten und Ungelernte eingesetzt werden.3 Bei Biologen sehen wir hingegen einen sehr hohen Deckungsgrad. Allerdings ist die Bandbreite der Fachrichtungen in diesem Beruf hoch: Manche Spezialisierung ist stark

Was ist Fachkrftemangel?Wann kann berhaupt von einem Fachkrftemangel gesprochen werden? Aus Sicht einer Firma scheint es schnell einmal an einer geeigneten Fachperson zu fehlen. Mancher Chef sucht hnderingend nach Personal mit einer optimalen Kombination von Fhigkeiten. Aber vielleicht msste er ja auch einfach ein attraktiveres Lohnangebot machen? Auch gibt es immer offene Stellen. Doch wie lange sind die ausgeschriebenen/offenen Stellen wirklich nicht besetzt? Wie hoch ist die natrliche Vakanzrate? Und werden alle offenen Stellen gemeldet? Diese Fragen verdeutlichen:

Wolfram Kgi Geschftsfhrer, B,S,S. Volkswirtschaftliche Beratung, Basel

Michael Morlok Projektleiter, B,S,S. Volkswirtschaftliche Beratung, Basel

Nils Braun Projektleiter, B,S,S. Volkswirtschaftliche Beratung, Basel

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Monatsthema

Grafik 1

Bildungsstand der auslndischen Wohnbevlkerung, 19702010Keine Berufsausbildung In % 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 1970 1980 1990 2000 2010 Betriebliche Berufsbildung Schulische Berufsbildung Universitt, Hochschule

Anmerkung: Harmonisierte Personen-Daten der VZ 19702000 des BFS sowie Sake 2010. Berechnung anhand des Indikatorensystems Fachkrftemangel.

Quelle: BFS (VZ 1970-2000, SAKE 2010) / Die Volkswirtschaft

Kasten 1

Indikatorensystem FachkrftemngelDas Indikatorensystem zum Fachkrftemangel wurde in einer Zusammenarbeit von B,S,S. und Prof. George Sheldon, Universitt Basel, zuhanden von BBT und Seco erarbeitet. B,S,S. hat das System seither laufend aktualisiert und weiterentwickelt. Auf Basis zentraler Erkenntnisse der Arbeitsmarktkonomie und offizieller Statistiken werden zahlreiche Kennzahlen berechnet. Die Auswertungen stellen Informationen fr einzelne Berufe, Berufsgruppen und Branchen bereit. Vier spezifisch ausgewhlte bzw. entwickelte Indikatoren geben essenzielle Hinweise zum Fachkrftemangel: Der Deckungsgrad misst, ob es berhaupt gengend Fachkrfte gibt, um alle Stellen zu besetzen. Das Zugnger-Abgnger-Verhltnis legt dar, wie viele Fachleute den erlernten Beruf verlassen, um in einem anderen Beruf zu arbeiten (und vice versa). Das Verhltnis zwischen offenen Stellen und Arbeitslosen zeigt die Knappheit der Stellen im entsprechenden Beruf auf. Eine berdurchschnittliche Migrationsquote wird als Hinweis auf einen Fachkrftemangel gewertet. Weitere vielfltige Auswertungen auch regionale sind mglich. Interessant sind z.B. Indikatoren der Arbeitsmarktflexibilitt: Flexibilittsmasse zeigen, inwieweit bei einem Fachkrftemangel in einem bestimmten Beruf auch Personen mit einem anderen Ausbildungshintergrund eingestellt werden. Dadurch wird deutlich, aus welchen Berufen mgliche Quereinsteiger rekrutiert werden knnen. Analog lassen sich aus Sicht der Fachkrfte Aussagen zur Breite des Berufswahlspektrums machen.

gesucht; andere Fachrichtungen sind es weit weniger. Die Strke des Indikatorensystems besteht darin, dass rasch und auf Basis der aktuellsten offiziellen Statistiken eine erste bersichtsanalyse der vielen verschiedenen Berufe erstellt werden kann. Diese Strke nutzen wir fr die in diesem Artikel zu diskutierenden generellen Fragen. Konkret berprfen wir, ob die ersten drei Indikatoren in die gleiche Richtung zeigen wie der Indikator Migration ob also in den Berufen, in denen berdurchschnittlich viele Migranten ttig sind, auch gemss den anderen Indikatoren ein Fachkrftemangel besteht.

ner der Indikatoren, der fr die Bestimmung des Fachkrftemangels herangezogen wird, ist der Deckungsgrad. Dieser liegt bei 100%, wenn die Anzahl der Stellen im entsprechenden Beruf gleich gross ist wie die Anzahl der Personen, die den Beruf erlernt haben: Alle Stellen knnten theoretisch durch Fachkrfte besetzt werden. Ein Deckungsgrad von deutlich unter 100% ist ein starkes Indiz fr einen Fachkrftemangel. Anzumerken ist, dass der Deckungsgrad im Durchschnitt ber alle Berufe bei 105% liegt, da auch Erwerbslose als Arbeitskrftepotenzial erfasst wurden. Wir analysieren nun, ob Migranten heute in der Schweiz Berufe ausben, in denen ein Deckungsgrad von unter 105% besteht. Grafik 2 zeigt das Ergebnis: Auf der x-Achse ist der Deckungsgrad abgetragen, auf der y-Achse die kumulative Hufigkeitsverteilung der gesamten Schweizer Erwerbsbevlkerung einerseits und der Migranten andererseits. In Berufen mit einem Deckungsgrad von unter 70% arbeiten berproportional viele Migranten; Berufe darber ziehen unterdurchschnittlich viele Migranten an. Dies deutet darauf hin, dass Migranten tatschlich eher in Berufen ttig sind, in denen ein relativer Fachkrftemangel herrscht.

Situation in einzelnen BerufenIm Folgenden wird etwas genauer auf die Fachkrftesituation und die Migrationsentwicklung einzelner Berufe eingegangen. Grafik 3 zeigt auf der x-Achse den Deckungsgrad und auf der y-Achse den Migrationsanteil des entsprechenden Berufs fr verschiedene Berufsgruppen. Es sind total 39 Berufsgruppen dargestellt, da die anderen Berufe in der Schweizerischen Arbeitskrfteerhebung (Sake) mit einer zu kleinen Stichprobe vertreten sind, um im Kontext der Frage des Migrationsanteils zuverlssige Angaben zu ermglichen. Die Grafik wird mit zwei Linien in vier Quadranten eingeteilt: dem Deckungsgrad von 105% (Durchschnitt Schweiz) und der Migration von 7% (Anteil der whrend der letzten fnf Jahre in die Schweiz eingewanderten Erwerbsbevlkerung). Im Quadranten 1 (rechts oben) sind demnach die Berufe zu finden, in denen der Deckungsgrad und Migrationsanteil hoch sind. Im Quadranten 2 (rechts unten) sind es Berufe mit hohem Deckungsgrad und tiefem Migrationsanteil usw. Intuitiv wrde man erwarten, dass ungefhr die Hlfte der Berufe einen unterdurchschnittlichen und die andere Hlfte einen berdurchschnittlichen Migrationsanteil haben. Etwas berraschend liegen aber die meisten Berufe unterhalb der 7%-Linie beim Migrationsanteil. Der Grund hierfr ist, dass in einigen wenigen Berufen sehr viele Migranten ttig sind, wodurch der Durchschnitts-

Hohes Bildungsniveau der MigrantenZunchst werfen wir einen Blick auf den generellen Ausbildungshintergrund der Migrantinnen und Migranten. Tatschlich hat sich das Ausbildungsniveau der Einwanderer seit 1970 markant erhht (siehe Grafik 1). Im Jahr 1970 hatten 60 % der eingewanderten Personen keine Berufsausbildung, heute trifft dies nur noch auf rund 15% der Migranten zu. Einen tertiren Bildungsabschluss hatten 1970 nur 10% der der neu eingewanderten Personen, im Jahr 2010 waren es 55%. Diese Entwicklung hngt stark mit der Neuausrichtung der Auslnderpolitik seit den 1990er-Jahren zusammen (Drei-Kreise-Modell, Personenfreizgigkeit). Ein hheres Bildungsniveau der Migranten heisst jedoch nicht automatisch, dass diese Personen einen Beruf erlernt haben, in dem in der Schweiz ein Fachkrftemangel herrscht. Ei-

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Monatsthema

Grafik 2

Kumulierte Verteilung der Migranten und Erwerbsttigen, 2010 Anteil der Erwerbsttige (bzw. der zwischen 2005 und 2010 Zugewanderten) am Total der Erwerbsttigen (bzw. am Total der zwischen 2005 und 2010 Zugewanderten)

Migranten

Erwerbsttige in der Schweiz

Kumulierter Anteil in % 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 0 50 100 150 200 250 Deckungsgrad in % Anmerkung: Berechnung anhand des Indikatorensystems Fachkrftemangel. Auswertung differenziert nach SBN2000-Berufsgruppen. Zwecks besserer bersichtlichkeit werden die beiden Berufen mit ber 250% Deckungsgrad nicht abgebildet. Sie beschftigen 1.1% der Migranten und 0.7% der Erwerbsttigen. Quelle: BFS, SAKE 2010 / Die Volkswirtschaft

Grafik 3

Anteil der zwischen 2005 und 2010 eingewanderten Erwerbsttigen im Vergleich zum Deckungsgrad der jeweiligen Berufsgruppe34 grsste Berufsgruppen Migration binnen 5 Jahren in % 20 18 16 14 12 10 8 6 4 2 0 0 Berufe der Landwirtschaft 50 100 150 200 250 300 Deckungsgrad in % Anmerkung: Berechnung anhand des Indikatorensystems Fachkrftemangel. Auswertung differenziert nach SBN-2000-Berufsgruppen. Die Berufe der Wirtschaftsund Sozialwissenschaften, Berufsberater und Psychologen sind nicht in der Grafik abgebildet (Deckungsgrad 538%, Migration 11%). Quelle: BFS, SAKE 2010 / Die Volkswirtschaft Berufe der Informatik Ingenieurberufe

Berufe der Textilverarbeitung

(Quadrant 3). Dies kann einerseits daran liegen, dass fr diese Berufe nicht genau die entsprechende Qualifikation bentigt wird, sondern dass dafr auch Schweizer Personal mit einem anderen Ausbildungshintergrund rekrutiert werden kann. Dies knnte z.B. bei den Landwirten, die sich in diesem Quadranten befinden, der Fall sein. Auch ist es bei Berufen in diesem Quadranten mglich, dass trotz Fachkrftemangel der Zuzug von auslndischen Fachleuten an Hrden wie der Anerkennung von Diplomen oder der Bedeutung von Sprachkompetenz und Kontextwissen im entsprechenden Beruf scheitert. Erklrungsbedrftig sind ferner die Berufe im Quadranten 1 (hoher Deckungsgrad und hohe Migration), von denen es allerdings nur wenige gibt. Ein Beispiel sind Ingenieure: Obschon insgesamt mehr ausgebildete Ingenieure vorhanden sind als Ingenieursstellen, ist die Migrationsrate in diesem Beruf weit berdurchschnittlich. Ein Grund fr den hohen Deckungsgrad ist, dass ein hoher Anteil der Ingenieure ausserhalb ihres eigentlichen Berufes arbeitet und Ingenieurfirmen entsprechend Personen aus dem Ausland rekrutieren. Schliesslich gibt es tatschlich eine ganze Reihe von Berufen, in denen der Deckungsgrad tief und die Migration hoch ist. Hier profitieren also Arbeitgeber, die auf dem Schweizer Arbeitsmarkt nur schwer qualifiziertes Personal finden, von der Migration (zum Beispiel in den Berufen der Informatik). Manche berraschende Beobachtung bei Grafik 3 relativiert sich jedoch, wenn statt des Deckungsgrades als Indikator das UV-Verhltnis herangezogen wird (siehe Grafik 4). Hier schlgt der Knappheitsindikator fr Ingenieure aus; d.h. pro gemeldeten Arbeitslosen sind relativ viele offene Stellen vorhanden. Dies spricht dafr, dass trotz des hohen Deckungsgrades in diesen Berufen die hohe Migration mit einem Fachkrftemangel in der Schweiz korrespondiert. Da die Analyse mit dem Knappheitsindikator 2 (Zugnger-Abgnger-Verhltnis) ein hnliches Bild ergibt wie diejenige mit dem Knappheitsindikator 1, wird diese nicht gesondert dargestellt.

Entwicklungen ber die ZeitIn der gleichen Systematik jetzt wieder mit dem Deckungsgrad wird nun die Entwicklung einzelner Berufe ber die Zeit betrachtet. Hierfr haben wir in die gleiche Punktwolke, welche die 39 grssten Berufe im Jahr 2010 verortet, fr ausgewhlte Berufe zustzlich den Verlauf fr die Jahre 1970, 1980, 1990 und 2000 eingetragen (siehe Grafik 5). Bei Textilfachleuten gab es im Jahr 1970 einen hohen Bedarf (tiefer Deckungsgrad) und eine hohe Migrationsrate. Bis 1980 hal-

wert der Migration nach oben gezogen wird. Weiter beobachten wir, dass in einigen Berufen der Deckungsgrad tief ist, gleichzeitig aber auch wenige Personen mit diesem beruflichen Hintergrund in die Schweiz einreisen

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Monatsthema

Grafik 4

Anteil der zwischen 2005 und 2010 eingewanderten Erwerbsttigen im Vergleich zum UVVerhltnis der jeweiligen Berufsgruppe31 grsste Berufsgruppen Migration binnen 5 Jahren in % 20 18 16 14 Berufe der Informatik 12 10 8 6 4 2 0 0 Berufe der Landwirtschaft 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 Ingenieurberufe

Berufe der Textilverarbeitung

UV-Verhltnis (Unemployment / Vacancies) Anmerkung: Berechnung anhand des Indikatorensystems Fachkrftemangel. Auswertung differenziert nach SBN2000-Berufsgruppen. Die vier Berufe Tonknstler, Seelsorger, Mittel- und Obenstufenlehrer sind aufgrund zu geringer Fallzahlen nicht ausgewiesen. Quelle: BFS (SAKE, 2010), AVAM (2010) / Die Volkswirtschaft

der Deckungsgrad (d.h. es standen pro Textilfachperson immer weniger Stellen zu Verfgung), und der Migrationsanteil blieb insgesamt tief. Eine ungefhr entgegengesetzte Bewegung ist bei den Ingenieuren zu beobachten: Mit zunehmender Knappheit hat zwischen 1980 und 2010 die Migrationsrate deutlich zugenommen. Bei den IKT-Fachleuten schliesslich ist auch seit der Einfhrung der entsprechenden Berufsausbildung (Hochschulausbildung ab 1984, Berufslehre ab 1994) nie ein hoher Deckungsgrad erreicht worden; seit 1980 steigt die Migrationsrate in diesem Beruf. In Anbetracht der prognostizierten Entwicklung der Beschftigung und der nach wie vor relativ geringen Zahl von Personen, die derzeit Ausbildungen im Bereich Informatik absolvieren, lsst sich schon heute sagen, dass die Schweiz auch in den kommenden Jahren auf auslndische Fachleute in diesem Bereich angewiesen sein wird.4 Dies ist in der Tat eine problematische Perspektive, da berdurchschnittliche Migration kaum eine Dauerlsung bei Fachkrftemangel sein kann, sondern im Idealfall eher eine kurzfristige Pufferfunktion einnehmen sollte.

Grafik 5

FazitUm eine umfassende Diskussion der hier diskutierten Problematik durchzufhren, mssten die einzelnen Berufe detaillierter untersucht werden, um deren Eigenheiten Rechnung tragen zu knnen. Aufgrund unserer groben Analyse lsst sich aber sagen, dass tatschlich relativ viele der jngst eingewanderten Personen in Berufen ttig sind, in denen Anzeichen fr einen Fachkrftemangel bestehen. Weiter lsst sich an einzelnen Berufen gut nachzeichnen, dass Fachkrftemangel auch ber die Zeit betrachtet Migration auslst und ein reduzierter Bedarf an Fachleuten m zu einer tieferen Migration fhrt.

Entwicklung des Vergleichs zwischen Deckungsgrad und binnen fnf Jahren zugewanderten Erwerbsttigen, 19702010Ingenieurberufe Berufe der Textilverarbeitung Berufe der Informatik 35 grsste Berufsgruppen

Migration binnen 5 Jahren in % 20 18 2010 16 14 12 10 8 6 4 2 1980 0 0 50 100 150 200 250 300 Deckungsgrad in % Anmerkung: Harmonisierte Personen-Daten der VZ 19702000, Sake 2010. Berechnung anhand des Indikatorensystems Fachkrftemangel. Auswertung differenziert nach SBN-2000-Berufsgruppen. Die Berufe der Wirtschaftsund Sozialwissenschaften, Berufsberater und Psychologen sind nicht in der Grafik abgebildet (Deckungsgrad 538%, Migration 11%). Quelle: BFS (VZ 1970-2000, SAKE 2010) / Die Volkswirtschaft 2010 1970 1970

1970 2000 1990 1980

2000 1990 2010

1990

1980

2000 Kasten 2

Literatur B,S,S. und Sheldon, G. (2009): Indikatorensystem Fachkrftemangel. Bundesamt fr Berufsbildung und Technologie: Bern. B,S,S. (2010): Quantitativer Bildungsbedarf. ICT-Berufsbildung Schweiz: Bern. B,S,S. (2011): Fachkrftesituation im Sozialbereich. SAVOIRSOCIAL: unverffentlicht. Sheldon, G. (2007): Migration, Integration und Wachstum: Die Performance und wirtschaftliche Auswirkung der Auslnder in der Schweiz. Eidgenssischen Auslnderkommission: Bern.

4 Vgl. B,S,S. (2010).

bierte sich die Anzahl der Arbeitsstellen in der Textilindustrie. Whrend dieser Zeit nahm zunchst das Migrationsniveau markant ab. Danach setzte sich der Trend der Stellenreduktion fort. Dadurch erhhte sich

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Monatsthema

Die EVD-Fachkrfteinitiative: Fr eine Kohrenz von Bildungs- und ArbeitsmarktpolitikDank des EU-Freizgigkeitsabkommens konnten Schweizer Unternehmen ihren wachsenden Fachkrftebedarf in den letzten Jahren durch Rekrutierung auslndischer Arbeitskrfte abdecken. Es wre aber kurzsichtig, alleine auf die Zuwanderung zu setzen. Das Eidg. Volkswirtschaftsdepartement (EVD) will deshalb mit einer langfristig angelegten Politik die Verfgbarkeit inlndischer Fachkrfte erhhen. Freie Potenziale in der Schweizer Erwerbsbevlkerung knnen durch gute Anreize und eine kontinuierliche Aktivierung noch besser ausgeschpft werden. Die EVD-Fachkrfteinitiative schafft hierzu die ntige Kohrenz von Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik.11 Der vorliegende Beitrag basiert auf dem EVD-Grundlagenbericht Fachkrfte fr die Schweiz vom August 2011. Die Berechnung der hier vorgestellten Potenziale, zustzliche grafische Umsetzungen und weiterfhrende Literaturangaben sind dort zu finden. Der Bericht steht auf www.evd.admin.ch/themen unter der Rubrik Bildung, Forschung, Innovation zur Verfgung.

Fachkrfte fr die Schweizer VolkswirtschaftEin ausreichendes, den Bedrfnissen der Unternehmen angepasstes Arbeitskrfteangebot gehrt mit zu den wichtigsten Standortfaktoren einer Volkswirtschaft. Die Unternehmen in der Schweiz haben sich in den letzten Jahren immer strker auf Produkte mit hoher Wertschpfung spezialisiert. Dies hat zusammen mit der technologischen Entwicklung zu einem wachsenden Qualifikationsbedarf ber die gesamte Breite der Produktions- und Dienstleistungsttigkeiten gefhrt. Die Nachfrage ist bis heute vor allem bei qualifizierten und spezialisierten Arbeitskrften gewachsen, also bei Fachkrften. Diese Trends sind allen industrialisierten Lndern gemeinsam. Fachkrfte setzen international mobiles Wissen vor Ort in Innovationen um. Sie generieren damit einen Mehrwert fr die Unternehmen, fr die Volkswirtschaft und fr die Gesellschaft. Innovationen sind zudem die einzige Quelle des Produktivittsfortschritts, die nie versiegen wird. Gleichzeitig stehen die Lnder Westeuropas vor der demografischen Herausforderung einer stagnierenden bis schrumpfenden Erwerbsbevlkerung. Die Demografieszenarien des Bundesamtes fr Statistik (BFS) zeigen fr die Schweiz, dass in den kommenden Jahren mit einem deutlich schwcheren Wachstum der Bevlkerung im Erwerbsalter gerechnet werden muss und dass ein Rckgang der Erwerbsbevlkerung ab 2020 immer wahrscheinlicher wird (siehe Grafik 1). Diese Erkenntnis behlt ihre Gltigkeit auch bei sehr unterschiedlichen Annahmen zur Zuwanderung. Diese Entwicklung wird Unternehmen wie auch Volkswirtschaften vor erhebliche Probleme stellen. Unternehmen

stehen international also immer strker in einem permanenten Wettbewerb um Arbeitsund Fachkrfte, was sich in Phasen der Hochkonjunktur besonders akzentuiert.

Besondere Bedeutung der Zuwanderung fr die SchweizEine Besonderheit der Schweiz ist, dass unsere Unternehmen zur Deckung des wachsenden Fachkrftebedarfs in den letzten Jahren in vergleichsweise hohem Masse auf auslndische Fachkrfte zurckgreifen konnten. Die hohe Standortattraktivitt, eine lngere Phase mit hohem Weltwirtschaftswachstum sowie die schrittweise ffnung unseres Arbeitsmarktes gegenber der EU ab Mitte 2002 haben diese Tendenz begnstigt und die Versorgung der Unternehmen mit geeigneten Fachkrften hierzulande erleichtert. Die letzten Jahre haben deutlich gemacht, wie wichtig der Zugang zu internationalen Fachkrften fr eine kleine Volkswirtschaft wie die Schweiz ist. Fr viele Branchen, in denen die Schweiz eine starke Position auf den Weltmrkten erreichen konnte (wie z.B. in der Pharmaindustrie, bei Finanzdienstleistungen oder in der Maschinenindustrie), wre das inlndische Fachkrfteangebot zu klein gewesen, um mit dem raschen technologischen Wandel wachsen zu knnen. Die Zuwanderung ist also eine unerlssliche Ergnzung, welche die Flexibilitt des Schweizer Fachkrftemarktes erhht. Vorhersagen ber die langfristige Entwicklung der Zuwanderung sind jedoch sehr unsicher. Angesichts hnlicher demografischer Entwicklungen in der gesamten EU ist lngerfristig vermutlich eher mit einer Abschwchung der Migrationspotenziale zu rechnen. Unabhngig vom genauen Ausmass der Zuwanderung wird der Druck in den kommenden Jahren sukzessive zunehmen, das inlndische Arbeitskrftepotenzial in der Schweiz noch besser als bisher zu nutzen. Fachkrfte im Inland bilden das eigentliche Fundament unserer Volkswirtschaft. Es stellt sich die Frage, wo in der Schweiz heute noch freie Fachkrftepotenziale zu finden sind und wie diese am besten entwickelt und aktiviert werden knnten. Diese Frage hat Bundesrat Johann N. Schneider-Ammann an den Anfang der von

Sascha Kuster Ressort Grundlagen Innovationspolitik, Bundesamt fr Berufsbildung und Technologie BBT, Bern

Bernhard Weber Ressort Arbeitsmarkt und Sozialpolitik, Staatssekretariat fr Wirtschaft SECO, Bern

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Monatsthema

Grafik 1

Vernderung der stndigen Wohnbevlkerung, 19902030 (Ab 2010: Projektion gemss mittlerem Demografieszenario des BFS 20102060)Total 1564 Jahre

Durchschnittliches Wachstum in % pro Jahr 1.6 1.4 1.2 1.0 0.8 0.6 0.4 0.2 0.0 0.2 0.4 0.61990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023 2024 2025 2026 2027 2028 2029 2030

Quelle: BFS, ESPOP / Die Volkswirtschaft

ihm lancierten EVD-Fachkrfteinitiative gestellt und das Bundesamt fr Berufsbildung und Technologie (BBT) sowie das Staatssekretariat fr Wirtschaft (Seco) mit der Erarbeitung von vertiefenden Grundlagen beauftragt. Die Schweiz steht vor einer Herausforderung, da die Erwerbsttigenquote der 15- bis 64-jhrigen hiesigen Bevlkerung europaweit bereits einen Spitzenwert von knapp 80% erreicht. Einer der Grnde dafr ist unter anderem die besonders hohe Arbeitsmarktintegration von Jugendlichen. Die berufliche Grundbildung mit ihrem engen Unternehmensbezug ist dafr von zentraler Bedeutung. Eine differenzierte Betrachtung zeigt aber dennoch betrchtliche Potenziale inaktiver Fachkrfte, d.h. freie Potenziale, auf. Zwei Schwerpunkte sollen dies exemplarisch illustrieren.

Haushalt bei nur 40%. Bei gleichaltrigen Frauen ohne betreuungspflichtige Kinder waren es dagegen fast 70%. Gut 743 000 Vollzeitquivalente wre 2009 das theoretisch verfgbare Fachkrftepotenzial von nichtund teilzeiterwerbsttigen Personen sowie von Erwerbslosen im Alter von 2554 Jahren gewesen, die mindestens ber eine Ausbildung auf Sekundarstufe II verfgten. Geht man zur Illustration von einer Zielvorgabe der Aktivierung von 20% dieses Potenzials aus, wrde dies rund 149 000 Vollzeitarbeitskrften entsprechen. Eine weitere Zielgruppe bilden die lteren Arbeitnehmenden. Htte man das theoretisch verfgbare Potenzial von nicht- und teilzeiterwerbsttigen Personen und von Erwerbslosen im Alter von 5564 Jahren voll ausschpfen knnen, wren 2009 rund 420 000 Vollzeitarbeitskrfte zur Verfgung gestanden. Geht man wiederum vom Ziel einer Aktivierung von 20% dieses Potenzials aus, wrde dies rund 84 000 Vollzeitarbeitskrften entsprechen. Nicht darin enthalten sind Personen im Pensionsalter, welche ebenfalls als Potenzialgruppe betrachtet werden knnen.2 Nicht nur die Beteiligung und Entfaltung dieser freien Potenziale am Arbeitsmarkt ist zu ermglichen: Die Politik muss gleichzeitig auch dafr sorgen, dass die Qualifizierung der Schweizer Erwerbsbevlkerung denjenigen Fhigkeiten und Fertigkeiten entspricht, welche von der Wirtschaft nachgefragt werden.

Qualifizierung auf die Anforderungen der WirtschaftDas Arbeitskrfteangebot hat sich den strukturellen Vernderungen der Schweizer Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten insgesamt gut angepasst. Die wachsende Nachfrage nach hheren Qualifikationen schlug sich in einer Hherqualifizierung der Erwerbsbevlkerung nieder. Whrend sich der Anteil an Erwerbsttigen ohne nachobligatorische Ausbildung seit den 1970er-Jahren von 40% auf aktuell rund 16% zurckbildete, nahm der Anteil von Erwerbsttigen mit tertirer Ausbildung von 13% im Jahr 1980 auf aktuell rund 32% zu. Die Fachkrftenachfrage wchst aber nicht nur wie dies zuweilen verkrzt dargestellt wird fr akademisch ausgebildete Arbeitskrfte, sondern auch fr Personen mit beruflicher Grundbildung oder mit hherer Berufsbildung. Grafik 3 zeigt, dass gerade Fachkrfte mit hherer Berufsbildung im Durchschnitt am hufigsten erwerbsttig sind. Eine vertiefte Betrachtung der Qualifizierungsstruktur deckt gleichwohl Segmente

Wesentliche freie Potenziale bei Frauen und lteren ArbeitnehmendenBesonders bei der Bevlkerungsgruppe der 25- bis 54-jhrigen Erwachsenen bestehen noch erhebliche Fachkrftepotenziale, da vor allem viele Frauen nur teilzeiterwerbsttig sind. Besonders hufig trifft dies auf diejenigen Frauen zu, welche eine Erziehungsaufgabe wahrnehmen (siehe Grafik 2). In Vollzeitquivalenten ausgedrckt lag die Erwerbsttigenquote von 25- bis 54-jhrigen Frauen mit Kindern unter 15 Jahren im

2 Siehe u.a. die Antwort des Bundesrates zur Interpellation Maximilian Reimann (11.3112) Arbeitspotenzial lterer Menschen. Stopp der Talentverschwendung. 3 EVD, EDI, EDK. Chancen optimal nutzen: Erklrung 2011 zu den gemeinsamen bildungspolitischen Zielen fr den Bildungsraum Schweiz, Bern, Mai 2011. 4 SKBF (2010). Bildungsbericht Schweiz 2010. Aarau: Schweizerische Koordinationsstelle fr Bildungsforschung.

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Monatsthema

Grafik 2

Erwerbsttigenquoten in Vollzeitquivalenten, 25- bis 54-jhrige Personen mit und ohne Kinder unter 15 Jahren im Haushalt, 2009Mit Kindern In % 100 90 80 70 69% 60 50 40 40% 30 20 10 0 Frauen Mnner Total Quelle: BFS, SAKE; Kuster, Weber / Die Volkswirtschaft 65% 93% 88% 79% Ohne Kinder

Grafik 3

Erwerbsttigkeit nach abgeschlossener Bildungsstufe (25- bis 64-jhrige Bevlkerung), 2009Erwerbslos In % 3% Universitt und Fachhochschule 7% 90% 2% Hhere Berufsbildung 7% 92% 3% Maturitt 14% 82% 3% Berufliche Grundbildung 14% 83% 6% Sekundarstufe I 26% 68% 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Nicht erwerbsttig Erwerbsttig

Heute liegt die Abschlussquote auf der Sekundarstufe II von Jugendlichen in der Schweiz bei rund 90%, was im internationalen Vergleich ein ansprechend hoher Wert ist. Bund und Kantone haben in ihrer gemeinsamen Erklrung zu den bildungspolitischen Zielen fr den Bildungsraum Schweiz festgehalten, diese Quote auf 95% steigern zu wollen.3 Viele Erwachsene partizipieren wegen Qualifikationsdefiziten nicht am Arbeitsmarkt. Rund 10% der 25- bis 44-Jhrigen und knapp 20% der 45- bis 64-Jhrigen verfgen in der Schweiz weder ber einen Lehr- noch ber einen sonstigen nachobligatorischen Bildungsabschluss. Ihre Arbeitsmarkt- und Weiterbildungsfhigkeit ist stark einschrnkt. Bei Personen ohne Abschluss auf Sekundarstufe II im Alter von 2554 Jahren belief sich das theoretische, nicht ausgeschpfte Arbeitskrftepotenzial auf 164 000 Vollzeiterwerbsttige. Diese Zahl zeigt, dass in der Nachholbildung und Hherqualifizierung dieser Gruppen ebenfalls ein Potenzial liegt. Bei der bereits aktiven Bevlkerung mit nachobligatorischen Bildungsabschlssen geht es