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Zwei Begriffe des Zweifels bei Descartes*
Marcus Willaschek
An mehreren Stellen im Werk Descartes’ findet sich die Forderung, „sich einmal im
Leben zu entschließen, an allem zu zweifeln, worin man auch nur den geringsten
Verdacht der Ungewißheit trifft“ (Princ. I.1; vgl. Med. I.1; Disc. VI.1). Mit dieser
Forderung geht es Descartes bekanntlich nicht um den Zweifel um des Zweifelns
willen. Ganz im Gegenteil, es geht ihm, wie es zu Anfang der Ersten Meditation heißt,
darum, „festen Halt für etwas Unerschütterliches und Bleibendes in den
Wissenschaften“ zu schaffen (Med. I.1). Da Descartes den umfassenden Zweifel
ausschließlich als ein Mittel zum Erreichen dieses Ziels einsetzt, bezeichnet man ihn zu
Recht als „methodischen“ Zweifel.
Diese methodisch kontrollierte, auf ein bestimmtes Ziel gerichtete Verwendung des
Zweifels ist keineswegs eine Cartesische Erfindung. Sie findet sich, wenn auch in
anderer Form und mit anderer Zielsetzung, auch bei anderen frühneuzeitlichen Autoren,
darunter bereits Montaigne und Bacon. So benutzt Montaigne in der „Apologie des
Raymond Sebonde“ die pyrrhonischen Tropen zu einer als Verteidigung getarnten
Fundamentalkritik an der natürlichen Theologie. Dabei geht es Montaigne nur
vordergründig darum, die menschlichen Wissensansprüche, insbesondere in Fragen der
rationalen Gotteserkenntnis, zurückzuweisen. Die skeptischen Argumente sollen
unseren Geist von allem scheinbaren Wissen befreien und ihn so für die göttliche
Offenbarung empfänglich machen: „Ein solcher Mensch [der durch die skeptische
Methode von allen Meinungen befreit ist], ist ein weißes Papier, auf welches der Finger
Gottes alle ihm beliebige Züge malen kann“ (Essais, Bd. 2, 158).
Bacon dagegen geht es nicht um Offenbarung, sondern um Wissenschaft. Doch auch
er vertraut auf die reinigende Kraft skeptischer Argumente: „Es würde für sich genügen,
wenn der menschliche Geist geebnet und aller Inhalt, wie bei einer Tafel, in ihm
ausgelöscht wäre; allein die Geister der Menschen sind wunderlich verhüllt, und es fehlt
die getreue und glatte Fläche, um die Strahlen der Dinge richtig aufzufangen; deshalb
muß auch hierfür ein Hilfsmittel gesucht werden.“ (Neues Organon, Vorrede). Dieses
Hilfsmittel ist die „Lehre von der Reinigung des Geistes“, für die Bacon u.a. auf
* Unveröffentlichtes Manuskript, Veröffentlichung in Vorbereitung.
skeptische Argumente zurückgreift. Das Ziel ist auch hier, wie bei Montaigne, die
vollständige Befreiung von Vormeinungen und Wissensanmaßungen, nun jedoch mit
dem Unterschied, daß auf der sauberen Tafel bzw. auf dem weißen Blatt des Geistes
nicht Gott, sondern die wissenschaftliche Erfahrung ihren Eintrag machen soll.
An diese Indienstnahme skeptischer Argumente knüpft Descartes an. Doch scheint
das Ziel, das Descartes verfolgt, ein anderes zu sein, nämlich die Freilegung eines
sicheren Fundamentes des Wissens. Im folgenden werde ich zunächst die komplexe
Cartesische Motivation für den umfassenden Zweifel etwas genauer darstellen, um dann
zu untersuchen, welchen Begriff des Zweifels Descartes eigentlich verwendet. Dabei
wird sich herausstellen, daß die Cartesische Konzeption des Zweifels zweideutig ist.
Unterscheidet man die beiden von Descartes verwendeten Begriffe des Zweifels, so
kommt man zu dem überraschenden Ergebnis, daß die Zweifelsforderung für das
Gelingen des Cartesischen Projekts keine Rolle spielt.
1. Descartes über den umfassenden Zweifel
Descartes’ primäres Ziel in den Meditationen ist es, wie bereits zitiert, „festen Halt
für etwas Unerschütterliches und Bleibendes in den Wissenschaften“ zu finden. Was
kann ein umfassender Zweifel zum Erreichen dieses Ziels beitragen? Da Descartes sich
zur Begründung des Zweifels vor allem auf Argumente der antiken Skeptiker stützt,
liegt die Vermutung nahe, daß er in der Widerlegung dieser Argumente eine notwendige
Voraussetzung für das Ziel sieht, die Wissenschaft auf ein sicheres Fundament zu
stellen. Descartes würde den Zweifel also nur um seiner Widerlegung willen fordern.1
Tatsächlich ist Descartes’ umfassender Zweifel häufig als erster Schritt einer
Skeptikerwiderlegung verstanden worden. Doch das würde voraussetzen, daß Descartes
die skeptischen Argumente als ernsthafte Infragestellung unseres Alltagswissens und der
Wissenschaften begreift, was dieser jedoch ausdrücklich bestreitet. Im Rückblick der
Sechsten Meditation nennt er den umfassenden Zweifel „lächerlich“ und „überzogen“
(VI. 44). Und bereits in der den Meditationen vorangestellten „Synopsis“ schreibt
Descartes, „niemand bei gesundem Verstand“ habe jemals ernsthaft daran gezweifelt,
„daß es in der Tat eine Welt gibt, daß die Menschen Körper haben und dergleichen“
1 Vgl. Wilson 1978, Kap. 1. Daß Descartes die skeptischen Zweifel unter anderem auch deshalb anführt, um sie im folgenden zu widerlegen, sagt er selbst ausdrücklich in seiner Antwort auf Hobbes (3. Antw. 1).
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(Med. Synopsis 6). Die Überwindung von Zweifeln, die kein vernünftiger Mensch
ernsthaft erwägt, dürfte kaum Descartes’ primäres Ziel in den Meditationen gewesen
sein.
Descartes selbst räumt in der Synopsis ein, daß „der Nutzen eines so umfassenden
Zweifels nicht unmittelbar einleuchtet“ (Med. Synopsis 1).2 Dennoch sei dieser Nutzen
„insofern außerordentlich groß, als er uns von allen Vorurteilen befreit und den
geeignetsten Weg ebnet, unser Denken von den Sinnen abzulenken. Schließlich aber
bewirkt er, daß man an dem, was man alsdann für wahr befinden wird, nicht mehr
zweifeln kann“ (ebd.).
Demnach verfolgt Descartes mit dem umfassenden Zweifel also drei verschiedene
Ziele, zwei „destruktive“ und ein „konstruktives“: Erstens soll er uns von unseren
Vorurteilen befreien, indem er, wie es zu Anfang der Ersten Meditation heißt, einen
„allgemeinen Umsturz meiner Meinungen“ bewirkt (Med. I.1). Mit Montaigne und
Bacon könnte man sagen, daß der Zweifel unseren Geist reinigen und gleichsam zu
einem weißen Blatt oder einer sauberen Tafel machen soll. Wie bei Bacon ist die
Instanz, die auf dieser Tafel schreiben soll, die Wissenschaft.
Zweitens soll der umfassende Zweifel bei Descartes eine Hauptursache für das
Zustandekommen von falschen und unzureichend begründeten Meinungen ausräumen,
nämlich das naive Vertrauen in die sinnliche Wahrnehmung; auch dieses Motiv findet
sich bei Bacon, der schreibt: „Auch die Auskunft der Sinne prüfe ich auf vielfache Art;
denn die Sinne täuschen wohl“. Im Unterschied zu Descartes setzt Bacon jedoch hinzu,
daß die Sinne ihre Irrtümer auch selbst anzeigen (nämlich dann, wenn wir die Zeugnisse
verschiedener Sinne miteinander vergleichen). Descartes dagegen geht es nicht darum,
das Zeugnis der Sinne zu korrigieren, sondern als unzureichend zurückzuweisen und
damit der neuen Wissenschaft Geltung zu verschaffen, deren mathematisch-
wissenschaftliche Perspektive nicht den Sinnen, sondern nur dem Verstand zugänglich
ist.3
Und drittens ist der umfassende Zweifel Teil einer Heuristik, die uns auf etwas
Unbezweifelbares führen soll: Falls selbst der umfassendste Zweifel etwas übrig läßt, an
2 Dieselben Begründung läßt sich auch dem Anfang der Prinzipien entnehmen.3 Daß die Ablenkungen von den Sinnen auch noch eine gegen die scholastische Abstraktionstheorie
gerichtete Funktion hat; zeigt Carriero 1987.
3
dem man nicht zweifeln kann, verfügen wir damit über ein absolutes Fundament, auf
dem unser Wissen aufbauen kann.
Es mag uns heute so vorkommen, als sei es Descartes eigentlich nur um das dritte
Ziel gegangen. Doch tatsächlich waren für Descartes die ersten beiden Ziele ebenfalls
von größter Wichtigkeit, da er Vorurteile und Augenschein für die entscheidenden
Hindernisse hielt, die der Verbreitung seiner Physik im Wege standen – und um deren
Grundlegung geht es ihm in den Meditationen letztlich. Als ein weiteres, von Descartes
nicht genanntes Ziel des umfassenden Zweifels kann man vielleicht die „reale
Unterscheidung zwischen Körper und Geist“ hinzufügen, denn es ist die
Bezweifelbarkeit der Existenz des eigenen Körpers, die für Descartes sicherstellt, daß
man sich Körper und Geist unabhängig voneinander klar und deutlich vorstellen kann,
was der sechsten Meditation zufolge wiederum bedeutet, daß zumindest Gott sie real
von einander trennen kann. Auf diesen Punkt werde ich jedoch nicht weiter eingehen.
Da der umfassende Zweifel bei Descartes klar definierten Zielen dient, muß er
natürlich, wie Descartes sagt, „lächerlich“ und „überzogen“ wirken (VI.44), wenn man
ihn unabhängig von den verfolgten Zielen betrachtet. Es handelt sich eben um ein
methodisch eingesetztes Mittel, nicht um einen Selbstzweck. Die methodisch
kontrollierte Verwendung erlaubt es zugleich, den Zweifel ganz auf den Bereich der
Theorie zu beschränken. Descartes warnt bekanntlich wiederholt davor, den
umfassenden Zweifel auf das „tätige Leben“ zu übertragen, denn dort wirke er
zerstörerisch und lähmend.
Soviel zur Funktion des umfassenden Zweifels; es folgen einige kurze Bemerkungen
über die Durchführung dieses Vorhabens. Obwohl Fürwahrhalten und Zweifeln
Descartes zufolge nicht eine Sache des Verstandes, sondern des Willens sind (Med. IV.9
ff.; Princ. I.32), kann man sich nicht ohne weiteres dazu entscheiden, alle nicht absolut
gewissen Überzeugungen zu bezweifeln. Dem steht eine von Kindesbeinen an eingeübte
Gewohnheit entgegen, das Bild der Welt, das unsere Sinne uns präsentieren, sowie die
von den Eltern und Lehrern übernommenen Meinungen unbefragt zu akzeptieren. Um
diese Gewohnheit zu erschüttern, bedient sich Descartes einer Reihe von Argumenten,
die im wesentlichen auf die antike Skepsis zurückgehen. Diese Argumente waren erst
Mitte des 16. Jahrhunderts wieder zugänglich geworden,4 zur Zeit Descartes’ aber
4 Vgl. dazu Popkin 1979.
4
bereits so ausgiebig diskutiert, daß Hobbes in seinen Einwänden gegen die
Meditationen darum bittet, „mit diesen altbekannten Dingen verschont“ zu werden (3.
Einw. 1). Descartes selbst schreibt, er habe „diesen Kohl nur mit Widerwillen
aufgewärmt“ (2. Antw. 4).
Descartes erreicht den umfassenden Zweifel in drei Schritten zunehmender
Radikalisierung, wobei er in den ersten beiden Schritten die Beweiskraft der
skeptischen Argumente meines Erachtens ganz bewußt nicht ausschöpft, sondern sie nur
als Grundlage für den nächsten Schritt verwendet: (1) Die Fehlbarkeit unserer Sinne
zeigt Descartes zufolge nur, daß man sich in der Wahrnehmung „kleiner und entfernter“
Gegenstände irren kann (Med. I.6). (2) Die Ununterscheidbarkeit von Wachen und
Träumen zeige lediglich, daß alle unsere Meinungen über die materielle Welt falsch sein
könnten. (3) Die Denkbarkeit eines täuschenden Gottes überzeugt das meditierende Ich
schließlich, daß wir uns wirklich in allem, was wir glauben, täuschen können. Auch
dieses letzte Argument hat einen durch Cicero überlieferten, vermutlich auf Karneades
zurückgehenden antiken Vorläufer. Wie Myles Burnyeat gezeigt hat5, zieht jedoch erst
Descartes aus diesem Argument die Konsequenz, daß nicht nur ein lokaler, sondern ein
globaler Irrtum denkbar ist.6
Mir wird es im folgenden vor allem um den nächsten Schritt im Gang der Ersten
Meditation gehen: den Übergang von der Denkmöglichkeit eines umfassenden Irrtums
zur Möglichkeit umfassenden Zweifels. Descartes – bzw. das meditierende Ich – scheint
diesen Übergang für so unproblematisch zu halten, daß er keiner weiteren Begründung
bedarf: Von der Feststellung, es sei möglich, „daß ich mich stets täusche“, geht
Descartes ohne weiteres Argument zu dem Zugeständnis über, „daß an allem, was ich
früher für wahr hielt, zu zweifeln möglich ist“ (Med. I.13). Bevor ich darauf näher
eingehe, muß ich jedoch noch kurz schildern, wie Descartes den umfassenden Zweifel
verwendet, um die drei von ihm genannten Ziele zu erreichen.
Man könnte vermuten, daß Descartes mit der Feststellung, daß man an allem
zweifeln kann, zumindest seine beiden destruktiven Ziele bereits erreicht hat. Doch das
ist trotz aller skeptischen Argumente nicht der Fall: „[D]ie gewohnten Meinungen
kehren doch unablässig wieder [...] und ich werde mir niemals abgewöhnen, ihnen
beizustimmen und zu vertrauen, solange ich sie für das ansehe, was sie in der Tat sind,
5 Vgl. Burnyeat 19816 Vgl. z.B. Frankfurt 1970, Wilson 1978, Rosenberg 1998.
5
nämlich zwar – wie gezeigt – für einigermaßen zweifelhaft, aber immerhin recht
wahrscheinlich, so daß wir sie mit weitaus größerem Grund glauben als verneinen“
(Med. I. 11; AT VII, 22).7 Die bloße Einsicht in die Zweifelhaftigkeit unserer
alltäglichen Meinungen und Vorurteile reicht also nicht, um uns von ihnen zu befreien.
Hier könnte man allerdings einwenden, daß die früheren Meinungen, um
„wiederzukehren“, ja erst einmal fortgegangen sein müssen. Könnte Descartes nicht
meinen, der umfassende Zweifel habe die Meinungen zwar außer Kraft gesetzt, aber nur
für kurze Zeit? Doch gegen diese Lesart spricht, daß Descartes ja ausdrücklich
zugesteht, er werde sich „niemals abgewöhnen, ihnen [den gewohnten Meinungen]
beizustimmen, solange ich sie für das ansehe, was sie in der Tat sind“. Das klingt nicht
so, als sei es ihm durch den Zweifel auch nur kurzzeitig gelungen, die gewohnten
Meinungen aufzuheben. Diese Einsicht hat übrigens eine interessante Parallele bei
Francis Bacon, der ganz ähnlich wie Descartes feststellt: „Die Vorurteile (idola) und
falschen Begriffe, die vom menschlichen Geist schon Besitz ergriffen haben und fest in
ihm wurzeln, halten den Geist nicht bloß so besetzt, daß die Wahrheit nur schwer einen
Zutritt findet, sondern so, daß, selbst wenn dieser Zutritt gewährt und bewilligt worden
ist, sie bei der Erneuerung der Wissenschaften immer wiederkehren und uns belästigen,
so lange man sich nicht gegen sie vorsieht und nach Möglichkeit verwahrt.“ (Neues
Organon I, § 38).
Auch das Ich der Meditationen will sich gegen die Wiederkehr der alten Meinungen
verwahren. Dazu nimmt es sich vor, einen Schritt über den bloßen Zweifel
hinauszugehen und so zu tun (fingere), als seien „jene Meinungen [tatsächlich]
durchweg falsch und bloße Einbildungen“ (Med. I.15).8 Erst zur Veranschaulichung
dieser Fiktion einer umfassenden Täuschung bringt Descartes den genius malignus ins
Spiel, – jenen bösartigen, aber allmächtigen Geist, der mein Denken so beeinflußt, daß
ich stets das Falsche glaube. Auf die Frage, in welchem Verhältnis umfassender Zweifel
7 Vgl. dazu auch das Ende der Zweiten Meditation.8 Descartes weiter: “bis ich schließlich das Gewicht einer meiner Vorurteile auf beiden Seiten so ins
Gleichgewicht gebracht habe, daß keine verkehrte Gewohnheit mein Urteil fernerhin von der wahren Erkenntnis der Dinge abwendet“. Doch wie soll die Fiktion durchgängigen Irrtums zu einem Gleichgewicht der Vorurteile führen? Der Vergleich mit dem gebogenen Stock, der umso stärker in die Gegenrichtung gebogen werden muß, um am Ende gerade zu sein, paßt zwar zur Überwindung der falschen Gewohnheit, nicht aber zur Isosthenie, denn die würde erfordern, daß Linksbiegung und Rechtsbiegung des Stocks (Gründe und Gegengründe) gleichzeitig vorliegen, was sowohl beim Stock als auch bei der Täuschungsfiktion ausgeschlossen ist. Es scheint sich bei der Isosthenie um einen skeptischen Topos zu handeln, den Descartes zwar in seinen Text aufnimmt, der dort aber eigentlich nicht hineinpaßt.
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und Täuschungsfiktion zueinander stehen, werde ich noch zurückkommen. Jedenfalls ist
es die Fiktion des täuschenden Geistes, die das meditierende Ich in der Zweiten
Meditation zur unbezweifelbaren Einsicht des Cogito bringt, denn diese Einsicht wird
dort als etwas eingeführt, worin auch ein allmächtiger Betrüger das meditierende Ich
nicht täuschen könnte: „niemals wird er es fertigbringen, daß ich nichts bin, solange ich
denke, daß ich etwas sei“ (Med. II.3). Damit hat Descartes das konstruktive Ziel, dem
der umfassende Zweifel dienen sollte, erreicht: etwas zu finden, an dem man nicht mehr
zweifeln kann.
Das Erreichen der beiden destruktiven Ziele steht an dieser Stelle dagegen noch aus:
Die Ablenkung des Denkens von den Sinnen kommt erst im weiteren Fortgang der
Zweiten Meditation zum Abschluß, nachdem das meditierende Ich sich anhand eines
Stückes Wachs klargemacht hat, „daß ich das, was das Wachs ist, mir gar nicht bildlich
ausmalen, sondern nur denkend begreifen kann“ (Med. 2.19). Der vollständige Umsturz
aller Meinungen ist hingegen auch am Ende der Zweiten Meditation, also nachdem der
umfassende Zweifel im Cogito bereits an seine Grenzen gelangt ist, noch nicht erreicht,
denn dort heißt es: „Da sich alte Meinungen, an die man sich gewöhnt hat, nicht so
schnell ablegen lassen, scheint es mir gut, hier einzuhalten, damit sich diese
neuerworbene Erkenntnis durch längeres Nachdenken meinem Gedächtnis tiefer
einpräge“ (Med. II. 24). Der Umsturz der Meinungen, so scheint es, ist durch den
umfassenden Zweifel allein nicht zu bewerkstelligen.
Descartes zufolge ist es also durchaus möglich, an allen bisherigen Meinungen zu
zweifeln und zugleich an diesen Meinungen festzuhalten. Doch was soll es dann
überhaupt heißen, daß man an ihnen zweifeln kann? Dies wird deutlich, wenn man sich
daran erinnert, daß der umfassende Zweifel unmittelbar aus der Denkbarkeit eines
umfassenden Irrtums folgen soll – ein Schluß, der nur dann gültig ist, wenn in diesem
Sinn zu zweifeln jedenfalls nicht mehr erfordert, als einen Irrtum für denkbar halten.
Wenn man unter Gewißheit versteht, daß ein Irrtum undenkbar ist, dann kann man
sagen, daß in diesem Sinn an etwas zu zweifeln einfach heißt, es nicht für gewiß zu
halten.
Es ist nicht überraschend, daß diese Art von Zweifel nicht ausreicht, eine bestehende
Meinung umzustürzen. Versuchen Sie es nur einmal selbst: Sie glauben (so ein Beispiel
Descartes’), daß zwei plus drei fünf ergibt. Nun stellen Sie sich vor, sie würden von
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einem bösen Geist – oder vielleicht von einem verrückten Gehirnchirurgen – so
manipuliert, daß sie sich in jeder ihrer Additionen verrechnen. Die manipulativen
Fähigkeiten Ihres Täuschers reichen so weit, daß er keine Spuren hinterläßt, die Sie
entdecken könnten. Wenn eine solche undurchschaubare Täuschung überhaupt denkbar
ist, dann kann man natürlich auch nicht ausschließen, selbst ihr Opfer zu sein. Und
damit können Sie auch nicht ausschließen, daß Sie sich in bei der Addition von zwei
und drei stets irren.
Doch reicht das aus, um Ihre Meinung zu erschüttern, daß zwei plus drei gleich fünf
ist? Wohl kaum. Kein vernünftiger Mensch hört auf zu glauben, daß zwei plus drei
gleich fünf ist, nur weil ein Irrtum nicht absolut ausgeschlossen ist. Und wenn sie es
trotzdem versuchen, werden Sie feststellen, daß es ihnen nicht gelingt. Daßelbe gilt für
viele andere Überzeugungen wie die, daß Sie über einen Körper verfügen, daß wir uns
in einem Raum befinden usw. Damit es psychologisch möglich und rational geboten ist,
diese Meinungen aufzugeben, brauchen wir vielmehr das, was man mit Peirce einen
„positiven Grund“ nennen kann. Ein positiver Grund, um eine Meinung zu bezweifeln,
besteht in einer anderen Meinung (und zwar einer Meinung über die aktuale Welt, nicht
über bloße logische Möglichkeiten), die mit der Wahrheit der bezweifelten Meinung
oder mit den für sie angeführten Gründen unvereinbar ist. Ein positiver Grund, an dem
Ergebnis einer Addition zu zweifeln, wäre zum Beispiel die Meinung, daß das Ergebnis
mit einer früheren Berechnung nicht übereinstimmt oder daß man die Addition
vielleicht nicht sorgfältig genug durchgeführt hat. Die Hypothese eines täuschenden
Geistes oder eines verrückten Gehirnchirurgen wäre hingegen nur dann ein positiver
Grund zum Zweifeln, wenn es einen Anlaß gäbe zu glauben, daß man wirklich auf diese
Weise manipuliert wird. Doch gerade dann, wenn die Täuschung vollkommen ist, kann
es keinen positiven Grund geben, sie für real zu halten. Das kann man sich einem
Beispiel von Harty Field klarmachen: Stellen Sie sich vor, Sie seien Assistentin oder
Assistent eines Gehirnchirurgen, der fünf Gehirne in einer Nährlösung hält, diese
Gehirne mit Scheininformationen über ihre angebliche Umwelt versorgt und dabei
herausfinden will, ob man die Gehirne auf diese Weise selbst über so grundlegende
Dinge täuschen kann wie die, daß zwei plus drei fünf ist. Und nun finden Sie heraus,
daß der Gehirnchirurg vor Ihnen schon fünf andere Assistenten hatte, von denen jeder
auf mysteriöse Weise verschwunden ist. In einer derartigen Situation, aber auch nur in
8
einer derartigen Situation, reicht der Hinweis darauf, daß man nicht ausschließen kann,
ein Gehirn im Tank zu sein, vielleicht aus, um die Überzeugung zu erschüttern, daß
zwei und drei fünf ist. Aber dann handelt es sich auch nicht um die Möglichkeit einer
perfekten Täuschung, da dem Opfer ja Hinweise gegeben werden, die auf seine wahre
Situation hindeuten. Ohne solche Hinweise, d.h. ohne einen positiven Grund, ist es
weder psychologisch möglich noch rational geboten, Überzeugungen wie die, daß zwei
puls drei gleich fünf ist oder daß man einen Körper hat, auch nur kurzfristig
aufzugeben.
Descartes selbst erkennt den Zusammenhang zwischen Zweifel und positiven
Gründen an, indem er zu der Fiktion greift, man werde wirklich von einem bösen Geist
getäuscht. Im Rahmen dieser Fiktion hat das meditierende Ich nun nämlich einen
positiven Grund, an allem zu zweifeln, und zwar die Meinung, es werde von einem
bösen Geist getäuscht. Allerdings zweifelt das meditierende Ich nicht wirklich, sondern
es tut eben nur so, als würde es zweifeln.
Auch Descartes kennt also eine Verwendung des Wortes „Zweifel“ oder „dubitatio“,
in der Zweifel einen positiven Grund erfordern. Nennen wir dies einen faktischen
Zweifel:
Faktischer Zweifel
(1) ist ein Zweifel an der Wahrheit einer Meinung,
(2) schließt aus, daß man die bezweifelte Meinung beibehält,
(3) erfordert einen positiven Grund.
Das grundlegende Merkmal eines faktischen Zweifels ist das erstgenannte: Ein
faktischer Zweifel ist ein Zweifel an der Wahrheit einer Meinung. Er kommt in Fragen
der Form: „Ist es der Fall, daß p, oder nicht?“ zum Ausdruck, wobei p für eine beliebige
nicht-modale, nicht-epistemische Tatsache steht. Daraus folgt das zweite Merkmal:
Wenn ich in diesem Sinn zum Beispiel im Zweifel bin, ob Descartes der meistzitierte
Philosoph der Neuzeit ist, dann bedeutet dies, daß ich weder bereits glaube, daß er es
ist, noch glaube, daß er es nicht ist: Entweder habe ich noch keine feste Meinung in
dieser Sache, oder aber ich habe keine feste Meinung mehr. Sollte ich bisher geglaubt
haben, Descartes sei der meistzitierte Philosoph der Neuzeit, dann impliziert ein
9
faktischer Zweifel an dieser Meinung, daß sie aufgebe, ohne mich damit auf ihre
Negation festzulegen. Anders gesagt: Faktische Zweifel implizieren Urteilsenthaltung
oder epoché. Diesen faktischen Sinn des Wortes „Zweifel“ bzw. „doubt“ verwendet zum
Beispiel Bernard Williams in seinem Descartes-Buch, wenn er folgendes Konditional
als Axiom bezeichnet: „If A doubts P, A does not believe P“.9 Um zu bewirken, daß man
eine bestehende Meinung aufgibt, ist aber ein positiver Grund erforderlich, d.h. eine
andere Meinung hinsichtlich der aktualen Welt, die gegen bezweifelte Meinung spricht.
Dieses dritte Merkmal hat zwei gleichermaßen intendierte Lesarten, eine normative und
eine psychologische: Ein positiver Grund ist erforderlich, damit ein faktischer Zweifel
rational vertretbar ist; und er ist, angesichts der Tatsache, daß die meisten Menschen in
ihrer Meinungsbildung den Prinzipien epistemischer Rationalität zumindest
näherungsweise entsprechen, normalerweise auch psychologisch erforderlich, um einen
faktischen Zweifel hervorzurufen.
Von diesem Begriff des Zweifels lässt sich nun einen anderer, schwächerer Begriff
unterscheiden, den ich als „epistemischen Zweifel“ bezeichnen möchte:
Epistemischer Zweifel
(1) ist ein Zweifel ausschließlich an der Gewißheit einer Meinung,
(2) schließt nicht aus, daß man die bezweifelte Meinung beibehält,
(3) erfordert keinen positiven Grund, sondern nur den „geringsten Verdacht der
Ungewißheit“ (d.h. die Denkmöglichkeit eines Irrtums).
Ein epistemischer Zweifel kommt in Fragen der Form „Ist es absolut gewiß, daß p?“
zum Ausdruck, wobei ich Gewißheit hier als Ausgeschlossenheit eines Irrtums verstehe,
genauer: Eine Meinung, daß p, eines Subjekts S ist gewiß, wenn S über Belege
(evidence) verfügt, aus denen logisch folgt, daß p. Epistemische Zweifel betreffen also
nicht direkt die Frage, ob p oder nicht-p, sondern den epistemischen Status der
Meinung, daß p. Die Frage, ob p oder nicht-p, betreffen sie nur insofern, als daraus, daß
es gewiß ist, daß p, natürlich folgt, daß p der Fall ist. Umgekehrt folgt daraus, daß es
nicht gewiß ist, daß p, nicht, daß p nicht der Fall ist. Daher ergibt sich das zweite
Merkmal auch hier aus dem ersten: Da ein epistemischer Zweifel an der Gewißheit
9 Williams 1978, 306.
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einer Meinung nicht ausschließt, daß diese Meinung wahr ist, schließt er auch nicht aus,
daß man diese Meinung beibehält, denn die Meinung zu haben, daß p, bedeutet ja nichts
anderes, als p für wahr zu halten. Und da ein epistemischer Zweifel nur die Frage
betrifft, ob die bezweifelte Meinung gewiß ist, ob also ein Irrtum ausgeschlossen ist,
reicht es als Begründung für einen solchen Zweifel aus, daß ein Irrtum denkbar ist. Ein
positiver Grund ist nicht erforderlich.
Diese beiden Begriffe des Zweifels erlauben sicherlich eine Reihe von Nachfragen
und Präzisierungen. Eine dieser Fragen betrifft die Unterscheidung, die sich sprachlich
in der Unterscheidung zwischen „zweifeln, daß etwas der Fall ist“, und „zweifeln, ob
etwas der Fall ist“ zum Ausdruck kommt. Eine andere Frage lautet, wie sich der
faktische und der epistemische Begriff des Zweifels zu gradierbaren Begriffen von
Glauben, Gewißheit und Zweifel verhalten, denen zufolge man sagen kann, daß man
mehr oder weniger überzeugt von einer Sache ist, sich mehr oder weniger gewiß ist und
sich dementsprechend mehr oder weniger im Zweifel befindet. Darauf kann ich hier
nicht näher eingehen. Mir kommt es nur darauf an, daß es auch einen absoluten, nicht
gradierbaren Begriff der Meinung gibt, wonach jemand etwas glaubt, meint oder davon
überzeugt ist, wenn er es für wahr hält; und dementsprechend einen nicht-graduierbaren
Begriff des faktischen Zweifels, in dem man nur dann zweifelt, daß p, wenn man weder
glaubt, daß p, noch glaubt, daß nicht-p; sowie einen nicht-graduierbaren Begriff der
Gewißheit, in dem eine Meinung nur dann gewiß ist, wenn ein Irrtum ausgeschlossen
ist.
Nähert man sich mit dieser Unterscheidung dem Text der Meditationen, so liegt es
auf der Hand, daß Descartes primär mit dem Begriff des epistemischen Zweifels
operiert. Nur in diesem kann Descartes zum Beispiel von seinen eigenen Meinungen
sagen, sie seien „einigermaßen zweifelhaft, aber immerhin recht wahrscheinlich“.
Einigermaßen zweifelhaft zu sein kann hier nicht mehr bedeuten als fallibel zu sein:
Auch wenn ein Irrtum nicht ausgeschlossen ist und die Meinungen insofern
„einigermaßen zweifelhaft“, behält Descartes diese Meinungen bei, denn sie sind „recht
wahrscheinlich“.
Nun ist es für einen Leser der Meditationen natürlich nicht überraschend, daß der
Cartesische Zweifel primär die Gewißheit unserer Meinungen betrifft. Doch man
übersieht leicht, daß ein Zweifel an der Gewißheit einer Meinung noch lange kein
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Zweifel an ihrer Wahrheit ist und daß ein epistemischer Zweifel unsere Meinungen
daher auch nicht aufheben kann. Der methodische Zweifel Descartes’ besteht nicht in
der methodisch kontrollierten Verwendung solcher Zweifel, die im wirklichen Leben
unsere Meinungen aufheben würden, sondern er ist ein Zweifel ganz anderer Art, der
eine andere Begründung erfordert und andere Konsequenzen hat.
Was das für die Interpretation der ersten beiden Meditationen und die Beurteilung
ihres Erfolgs bedeutet, möchte ich nun zum Schluß in fünf Punkten zusammenfassen:
1. Die drei Ziele, die Descartes mit dem umfassenden Zweifel verfolgt, erfordern
unterschiedliche Formen des Zweifels. Das konstruktive Ziel, etwas Unbezweifelbares
zu entdecken, kommt mit einem epistemischen Zweifel aus. Ein solcher Zweifel ist
verhältnismäßig leicht begründbar: Alles was man braucht, ist „den geringsten Verdacht
einer Ungewißheit“ (Princ. I.1). Doch gerade weil dieser Verdacht nur so gering sein
muß, setzt ein solcher Zweifel keine Meinung außer Kraft. Dagegen würden die beiden
destruktiven Ziele (also die Befreiung von Vorurteilen und die Ablenkung von den
Sinnen) einen wesentlich schwerer zu begründenden faktischen Zweifel erfordern, denn
sie setzen voraus, daß die bisherigen Meinungen durch den Zweifel aufgehoben werden.
2. Ein umfassender Zweifel ist, wenn überhaupt, dann nur als ein epistemischer
Zweifel möglich. Daß man an allem, was man bis dahin für wahr hielt, zweifeln kann,
heißt nicht, daß man aufhören kann, es für wahr zu halten, sondern allenfalls, daß man
sich klarmachen kann, daß ein umfassender Irrtum denkmöglich ist. (Tatsächlich heißt
es noch nicht einmal das, denn daraus, daß ein Irrtum in jeder unserer Überzeugungen
denkbar ist, folgt nicht, daß alle unsere Überzeugungen zugleich falsch sein könnten.)
Da ein solcher epistemischer Zweifel die bisherigen Meinungen intakt läßt, muß das
cartesische Vorhaben eines allgemeinen Umsturzes unserer Meinungen, sofern es sich
auf einen solchen Zweifel stützt, mißlingen.
3. Descartes war sich der Unterscheidung zwischen epistemischem und faktischem
Zweifeln nicht hinlänglich bewußt. Er schwankt daher in der Verwendung des
Ausdrucks „Zweifel“ bzw. „dubitatio“ zwischen beiden Bedeutungen hin und her.
Descartes räumt zwar ein, daß man sich seiner Meinungen nicht durch den bloßen
Hinweis entledigen kann, daß ein umfassender Irrtum denkbar ist. Doch wie erwähnt
warnt er wiederholt davor, den umfassenden Zweifel auf das „tätige Leben“
auszudehnen, da dies zur Handlungsunfähigkeit führe (vgl. Med. I.15; Princ. I.3). Wenn
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es stimmt, daß der umfassende Zweifel nur die Gewißheit unserer Meinungen betrifft
und unsere handlungsleitenden Meinungen nicht außer Kraft setzen kann, dann ist diese
Sorge offenbar ebenso unbegründet wie die Hoffnung, auf diese Weise alle Meinungen
umzustürzen.
Die Cartesische Forderung nach einem umfassenden Zweifel ist also zweideutig.
Dieser Zweideutigkeit entspricht eine Zweideutigkeit in Descartes’ Zielsetzung, die
Jonathan Bennett sehr überzeugend herausgearbeitet hat.10 Bennett unterscheidet bei
Descartes zwischen der Suche nach der Wahrheit und der Suche nach einem stabilen
Fundament für unsere Meinungen und Theorien. Descartes’ offizielles Projekt besteht
natürlich darin, beides über den Begriff der Gewißheit oder Unbezweifelbarkeit zu
verknüpfen: Unbezweifelbarkeit soll zugleich Wahrheit und Stabilität gewährleisten.
Doch tatsächlich, so Bennett, stützt sich Descartes mit dem Kriterium der klaren und
deutlichen Einsicht primär auf die faktische Unbezweifelbarkeit einer Meinung, die
zwar deren Stabilität, aber nicht deren Wahrheit garantiere, so daß ihm Wahrheit und
Stabilität unter der Hand immer wieder auseinanderzufallen drohen. Diese meines
Erachtens zutreffende Diagnose lässt sich durch die Unterscheidung der beiden Begriffe
des Zweifels, mit denen Descartes arbeitet, weiter untermauern, wenn man innerhalb
der epistemischen Zweifel noch einmal unterscheidet, je nach dem, ob ein objektiver
oder ein subjektiver Begriff der Gewißheit verwendet wird: Objektive Gewißheit
besteht darin, daß ein Irrtum durch die verfügbaren Belegen ausgeschlossen ist,
subjektive Gewißheit dagegen darin, daß ein Irrtum für das Subjekt nicht vorstellbar ist.
Das Kriterium der klaren und deutlichen Einsicht gewährleistet, entgegen Descartes’
eigener Auffassung, tatsächlich nur subjektive Gewißheit, da dieses Kriterium auch bei
gewissenhafter Anwendung nicht ausschließen kann, daß man glaubt, etwas klar und
deutlich einzusehen, was man in Wirklichkeit nicht klar und deutlich einsieht und was
somit möglicherweise falsch ist. Wir erhalten dann eine Dreiteilung: Die
Zurückweisung faktischer Zweifel führt zwar Beibehaltung der bezweifelten
Meinungen, garantiert aber weder ihre dauerhafte Stabilität noch ihre Wahrheit. Die
Zurückweisung epistemischer Zweifel an der subjektiven Gewißheit unserer Meinung
garantiert zwar ihre Stabilität oder subjektive Unbezweifelbarkeit, aber nicht ihre
Wahrheit. Nur die Zurückweisung epistemischer Zweifel an der objektiven Gewißheit
10 Bennett 1990.
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unserer Meinungen garantiert sowohl ihre Stabilität als auch ihre Wahrheit. Tatsächlich
reicht das Kriterium der klaren und deutlichen Einsicht aber nur aus, um die subjektive
Gewißheit unserer Meinungen sicherzustellen. Da Descartes die drei Arten des Zweifels
nicht unterscheidet, ist ihm die unterschiedliche erkenntnistheoretische Reichweite der
Zurückweisung dieser Zweifel nicht bewusst. So wird zumindest ein Stück weit
verständlich, wie er den Nachweis der Stabilität unserer Meinungen zugleich für den
Nachweis ihrer Wahrheit halten konnte.
4. Wie wir gesehen haben, stößt das meditierende Ich auf die Gewißheit des Cogito
im Rahmen der Fiktion einer umfassenden Täuschung. Innerhalb dieser Fiktion hat das
Ich mit der unterstellten Existenz des täuschenden Geistes einen positiven Grund, der
ihm einen faktischen Zweifel ermöglicht. Doch die Existenz des täuschenden Geistes
kann das Ich im Rahmen der Fiktion natürlich nicht ebenfalls bezweifeln, so daß es sich
auch bei dem fiktiven Zweifel nicht um einen umfassenden faktischen Zweifel handelt.
– Das fingierende Ich, also das Ich der Meditationen, zweifelt hingegen im faktischen
Sinn überhaupt nicht. Wer nur so tut, als werde er von einem böswilligen Geist
getäuscht, muß glauben, in Wirklichkeit nicht getäuscht zu werden. Andernfalls wäre es
ja keine Fiktion, sondern ein irrtümlicher Glaube, man werde getäuscht. Macht man
diese Fiktion, dann wird einem Descartes zufolge klar, daß ein weitgehender Irrtum und
damit auch ein weitgehender epistemischer Zweifel möglich ist. Doch dieser
weitgehende Zweifel ist nur ein Nebenprodukt, das zur Entdeckung des Cogito nichts
beiträgt. Das Ich stößt auf die Gewißheit des Cogito nicht bei dem Versuch, an allem zu
zweifeln, sondern bei dem Versuch, sich im Rahmen einer Fiktion eine umfassende
Täuschung vorzustellen: „Er täusche mich, soviel er kann, niemals wird er es
fertigbringen, daß ich nichts bin, solange ich denke, daß ich etwas sei.“
5. Wie wir gesehen haben, erlaubt der umfassende Zweifel es Descartes nicht, seine
destruktiven Ziele zu erreichen, denn das würde einen umfassenden faktischen Zweifel
erfordern, der aber nicht möglich ist. Zum Erreichen des konstruktiven Ziels trägt der
umfassende Zweifel ebenfalls nichts bei, denn die Gewißheit des Cogito entdeckt das
Ich nicht im Zweifeln, sondern im Rahmen einer Täuschungsfiktion. Ich komme daher
zu dem Ergebnis, daß die Forderung eines umfassenden Zweifels für keines der von
Descartes verfolgten Ziele und damit für das Cartesische Unternehmen insgesamt keine
wesentliche Rolle spielt.
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Literatur:
Bacon, Francis: Neues Organon, hg. von W. Krohn, Hamburg 1990
Bennett, Jonathan 1990: “Truth and Stability in Descartes’ Meditations”, in Canadian
Journal of Philosophy 20, 75-108
Burnyeat, Myles 1981: “Idealism and Greek Philosophy: What Descartes Saw and
Berkeley Missed”, in G. Vesey (ed.), Idealism Past and Present, Cambridge, 19-50
Carriero, John 1986: The Second Meditation and the Essence of Mind“, in A.O. Rorty,
Essays on Descartes’ Meditations, Berkeley, 199-221
Frankfurt, Harry J. 1970: Demons, Dreamers, and Madmen. The defense of Reason in
Descartes’ Meditations, Indianapolis/New York
Montaigne, Michel de: Essais, dt. von Johan Daniel Tietz, Zürich 1992
Popkin, Richard 1979: The History of Scepticism from Erasmus to Spinoza, Berkeley
Rosenberg, Jay F. 1998: “Descartes’ Sceptical Argument”, in Logical Analysis and
History of Philosophy 1, 1998, 209-32
Williams, Bernard 1978: Descartes. The Project of Pure Inquiry, London
Wilson, Margaret 1978: Descartes, London
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