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Zwei Begriffe des Zweifels bei Descartes * Marcus Willaschek An mehreren Stellen im Werk Descartes’ findet sich die Forderung, „sich einmal im Leben zu entschließen, an allem zu zweifeln, worin man auch nur den geringsten Verdacht der Ungewißheit trifft“ (Princ. I.1; vgl. Med. I.1; Disc. VI.1). Mit dieser Forderung geht es Descartes bekanntlich nicht um den Zweifel um des Zweifelns willen. Ganz im Gegenteil, es geht ihm, wie es zu Anfang der Ersten Meditation heißt, darum, „festen Halt für etwas Unerschütterliches und Bleibendes in den Wissenschaften“ zu schaffen (Med. I.1). Da Descartes den umfassenden Zweifel ausschließlich als ein Mittel zum Erreichen dieses Ziels einsetzt, bezeichnet man ihn zu Recht als „methodischen“ Zweifel. Diese methodisch kontrollierte, auf ein bestimmtes Ziel gerichtete Verwendung des Zweifels ist keineswegs eine Cartesische Erfindung. Sie findet sich, wenn auch in anderer Form und mit anderer Zielsetzung, auch bei anderen frühneuzeitlichen Autoren, darunter bereits Montaigne und Bacon. So benutzt Montaigne in der „Apologie des Raymond Sebonde“ die pyrrhonischen Tropen zu einer als Verteidigung getarnten Fundamentalkritik an der natürlichen Theologie. Dabei geht es Montaigne nur vordergründig darum, die menschlichen Wissensansprüche, insbesondere in Fragen der rationalen Gotteserkenntnis, zurückzuweisen. Die skeptischen Argumente sollen unseren Geist von allem scheinbaren Wissen befreien und ihn so für die göttliche Offenbarung empfänglich machen: „Ein solcher Mensch [der durch die skeptische Methode von allen Meinungen befreit ist], ist ein weißes Papier, auf welches der Finger Gottes alle ihm beliebige Züge malen kann“ ( Essais, Bd. 2, 158). Bacon dagegen geht es nicht um Offenbarung, sondern um Wissenschaft. Doch auch er vertraut auf die reinigende Kraft skeptischer Argumente: „Es würde für sich genügen, wenn der menschliche Geist geebnet und aller Inhalt, wie bei einer Tafel, in ihm ausgelöscht wäre; allein die Geister der Menschen sind wunderlich verhüllt, und es fehlt die getreue und glatte Fläche, um die Strahlen der Dinge richtig aufzufangen; deshalb muß auch hierfür ein Hilfsmittel gesucht werden.“ (Neues Organon, Vorrede). Dieses Hilfsmittel ist die „Lehre von der Reinigung des Geistes“, für die Bacon u.a. auf * Unveröffentlichtes Manuskript, Veröffentlichung in Vorbereitung.

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Zwei Begriffe des Zweifels bei Descartes*

Marcus Willaschek

An mehreren Stellen im Werk Descartes’ findet sich die Forderung, „sich einmal im

Leben zu entschließen, an allem zu zweifeln, worin man auch nur den geringsten

Verdacht der Ungewißheit trifft“ (Princ. I.1; vgl. Med. I.1; Disc. VI.1). Mit dieser

Forderung geht es Descartes bekanntlich nicht um den Zweifel um des Zweifelns

willen. Ganz im Gegenteil, es geht ihm, wie es zu Anfang der Ersten Meditation heißt,

darum, „festen Halt für etwas Unerschütterliches und Bleibendes in den

Wissenschaften“ zu schaffen (Med. I.1). Da Descartes den umfassenden Zweifel

ausschließlich als ein Mittel zum Erreichen dieses Ziels einsetzt, bezeichnet man ihn zu

Recht als „methodischen“ Zweifel.

Diese methodisch kontrollierte, auf ein bestimmtes Ziel gerichtete Verwendung des

Zweifels ist keineswegs eine Cartesische Erfindung. Sie findet sich, wenn auch in

anderer Form und mit anderer Zielsetzung, auch bei anderen frühneuzeitlichen Autoren,

darunter bereits Montaigne und Bacon. So benutzt Montaigne in der „Apologie des

Raymond Sebonde“ die pyrrhonischen Tropen zu einer als Verteidigung getarnten

Fundamentalkritik an der natürlichen Theologie. Dabei geht es Montaigne nur

vordergründig darum, die menschlichen Wissensansprüche, insbesondere in Fragen der

rationalen Gotteserkenntnis, zurückzuweisen. Die skeptischen Argumente sollen

unseren Geist von allem scheinbaren Wissen befreien und ihn so für die göttliche

Offenbarung empfänglich machen: „Ein solcher Mensch [der durch die skeptische

Methode von allen Meinungen befreit ist], ist ein weißes Papier, auf welches der Finger

Gottes alle ihm beliebige Züge malen kann“ (Essais, Bd. 2, 158).

Bacon dagegen geht es nicht um Offenbarung, sondern um Wissenschaft. Doch auch

er vertraut auf die reinigende Kraft skeptischer Argumente: „Es würde für sich genügen,

wenn der menschliche Geist geebnet und aller Inhalt, wie bei einer Tafel, in ihm

ausgelöscht wäre; allein die Geister der Menschen sind wunderlich verhüllt, und es fehlt

die getreue und glatte Fläche, um die Strahlen der Dinge richtig aufzufangen; deshalb

muß auch hierfür ein Hilfsmittel gesucht werden.“ (Neues Organon, Vorrede). Dieses

Hilfsmittel ist die „Lehre von der Reinigung des Geistes“, für die Bacon u.a. auf

* Unveröffentlichtes Manuskript, Veröffentlichung in Vorbereitung.

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skeptische Argumente zurückgreift. Das Ziel ist auch hier, wie bei Montaigne, die

vollständige Befreiung von Vormeinungen und Wissensanmaßungen, nun jedoch mit

dem Unterschied, daß auf der sauberen Tafel bzw. auf dem weißen Blatt des Geistes

nicht Gott, sondern die wissenschaftliche Erfahrung ihren Eintrag machen soll.

An diese Indienstnahme skeptischer Argumente knüpft Descartes an. Doch scheint

das Ziel, das Descartes verfolgt, ein anderes zu sein, nämlich die Freilegung eines

sicheren Fundamentes des Wissens. Im folgenden werde ich zunächst die komplexe

Cartesische Motivation für den umfassenden Zweifel etwas genauer darstellen, um dann

zu untersuchen, welchen Begriff des Zweifels Descartes eigentlich verwendet. Dabei

wird sich herausstellen, daß die Cartesische Konzeption des Zweifels zweideutig ist.

Unterscheidet man die beiden von Descartes verwendeten Begriffe des Zweifels, so

kommt man zu dem überraschenden Ergebnis, daß die Zweifelsforderung für das

Gelingen des Cartesischen Projekts keine Rolle spielt.

1. Descartes über den umfassenden Zweifel

Descartes’ primäres Ziel in den Meditationen ist es, wie bereits zitiert, „festen Halt

für etwas Unerschütterliches und Bleibendes in den Wissenschaften“ zu finden. Was

kann ein umfassender Zweifel zum Erreichen dieses Ziels beitragen? Da Descartes sich

zur Begründung des Zweifels vor allem auf Argumente der antiken Skeptiker stützt,

liegt die Vermutung nahe, daß er in der Widerlegung dieser Argumente eine notwendige

Voraussetzung für das Ziel sieht, die Wissenschaft auf ein sicheres Fundament zu

stellen. Descartes würde den Zweifel also nur um seiner Widerlegung willen fordern.1

Tatsächlich ist Descartes’ umfassender Zweifel häufig als erster Schritt einer

Skeptikerwiderlegung verstanden worden. Doch das würde voraussetzen, daß Descartes

die skeptischen Argumente als ernsthafte Infragestellung unseres Alltagswissens und der

Wissenschaften begreift, was dieser jedoch ausdrücklich bestreitet. Im Rückblick der

Sechsten Meditation nennt er den umfassenden Zweifel „lächerlich“ und „überzogen“

(VI. 44). Und bereits in der den Meditationen vorangestellten „Synopsis“ schreibt

Descartes, „niemand bei gesundem Verstand“ habe jemals ernsthaft daran gezweifelt,

„daß es in der Tat eine Welt gibt, daß die Menschen Körper haben und dergleichen“

1 Vgl. Wilson 1978, Kap. 1. Daß Descartes die skeptischen Zweifel unter anderem auch deshalb anführt, um sie im folgenden zu widerlegen, sagt er selbst ausdrücklich in seiner Antwort auf Hobbes (3. Antw. 1).

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(Med. Synopsis 6). Die Überwindung von Zweifeln, die kein vernünftiger Mensch

ernsthaft erwägt, dürfte kaum Descartes’ primäres Ziel in den Meditationen gewesen

sein.

Descartes selbst räumt in der Synopsis ein, daß „der Nutzen eines so umfassenden

Zweifels nicht unmittelbar einleuchtet“ (Med. Synopsis 1).2 Dennoch sei dieser Nutzen

„insofern außerordentlich groß, als er uns von allen Vorurteilen befreit und den

geeignetsten Weg ebnet, unser Denken von den Sinnen abzulenken. Schließlich aber

bewirkt er, daß man an dem, was man alsdann für wahr befinden wird, nicht mehr

zweifeln kann“ (ebd.).

Demnach verfolgt Descartes mit dem umfassenden Zweifel also drei verschiedene

Ziele, zwei „destruktive“ und ein „konstruktives“: Erstens soll er uns von unseren

Vorurteilen befreien, indem er, wie es zu Anfang der Ersten Meditation heißt, einen

„allgemeinen Umsturz meiner Meinungen“ bewirkt (Med. I.1). Mit Montaigne und

Bacon könnte man sagen, daß der Zweifel unseren Geist reinigen und gleichsam zu

einem weißen Blatt oder einer sauberen Tafel machen soll. Wie bei Bacon ist die

Instanz, die auf dieser Tafel schreiben soll, die Wissenschaft.

Zweitens soll der umfassende Zweifel bei Descartes eine Hauptursache für das

Zustandekommen von falschen und unzureichend begründeten Meinungen ausräumen,

nämlich das naive Vertrauen in die sinnliche Wahrnehmung; auch dieses Motiv findet

sich bei Bacon, der schreibt: „Auch die Auskunft der Sinne prüfe ich auf vielfache Art;

denn die Sinne täuschen wohl“. Im Unterschied zu Descartes setzt Bacon jedoch hinzu,

daß die Sinne ihre Irrtümer auch selbst anzeigen (nämlich dann, wenn wir die Zeugnisse

verschiedener Sinne miteinander vergleichen). Descartes dagegen geht es nicht darum,

das Zeugnis der Sinne zu korrigieren, sondern als unzureichend zurückzuweisen und

damit der neuen Wissenschaft Geltung zu verschaffen, deren mathematisch-

wissenschaftliche Perspektive nicht den Sinnen, sondern nur dem Verstand zugänglich

ist.3

Und drittens ist der umfassende Zweifel Teil einer Heuristik, die uns auf etwas

Unbezweifelbares führen soll: Falls selbst der umfassendste Zweifel etwas übrig läßt, an

2 Dieselben Begründung läßt sich auch dem Anfang der Prinzipien entnehmen.3 Daß die Ablenkungen von den Sinnen auch noch eine gegen die scholastische Abstraktionstheorie

gerichtete Funktion hat; zeigt Carriero 1987.

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dem man nicht zweifeln kann, verfügen wir damit über ein absolutes Fundament, auf

dem unser Wissen aufbauen kann.

Es mag uns heute so vorkommen, als sei es Descartes eigentlich nur um das dritte

Ziel gegangen. Doch tatsächlich waren für Descartes die ersten beiden Ziele ebenfalls

von größter Wichtigkeit, da er Vorurteile und Augenschein für die entscheidenden

Hindernisse hielt, die der Verbreitung seiner Physik im Wege standen – und um deren

Grundlegung geht es ihm in den Meditationen letztlich. Als ein weiteres, von Descartes

nicht genanntes Ziel des umfassenden Zweifels kann man vielleicht die „reale

Unterscheidung zwischen Körper und Geist“ hinzufügen, denn es ist die

Bezweifelbarkeit der Existenz des eigenen Körpers, die für Descartes sicherstellt, daß

man sich Körper und Geist unabhängig voneinander klar und deutlich vorstellen kann,

was der sechsten Meditation zufolge wiederum bedeutet, daß zumindest Gott sie real

von einander trennen kann. Auf diesen Punkt werde ich jedoch nicht weiter eingehen.

Da der umfassende Zweifel bei Descartes klar definierten Zielen dient, muß er

natürlich, wie Descartes sagt, „lächerlich“ und „überzogen“ wirken (VI.44), wenn man

ihn unabhängig von den verfolgten Zielen betrachtet. Es handelt sich eben um ein

methodisch eingesetztes Mittel, nicht um einen Selbstzweck. Die methodisch

kontrollierte Verwendung erlaubt es zugleich, den Zweifel ganz auf den Bereich der

Theorie zu beschränken. Descartes warnt bekanntlich wiederholt davor, den

umfassenden Zweifel auf das „tätige Leben“ zu übertragen, denn dort wirke er

zerstörerisch und lähmend.

Soviel zur Funktion des umfassenden Zweifels; es folgen einige kurze Bemerkungen

über die Durchführung dieses Vorhabens. Obwohl Fürwahrhalten und Zweifeln

Descartes zufolge nicht eine Sache des Verstandes, sondern des Willens sind (Med. IV.9

ff.; Princ. I.32), kann man sich nicht ohne weiteres dazu entscheiden, alle nicht absolut

gewissen Überzeugungen zu bezweifeln. Dem steht eine von Kindesbeinen an eingeübte

Gewohnheit entgegen, das Bild der Welt, das unsere Sinne uns präsentieren, sowie die

von den Eltern und Lehrern übernommenen Meinungen unbefragt zu akzeptieren. Um

diese Gewohnheit zu erschüttern, bedient sich Descartes einer Reihe von Argumenten,

die im wesentlichen auf die antike Skepsis zurückgehen. Diese Argumente waren erst

Mitte des 16. Jahrhunderts wieder zugänglich geworden,4 zur Zeit Descartes’ aber

4 Vgl. dazu Popkin 1979.

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bereits so ausgiebig diskutiert, daß Hobbes in seinen Einwänden gegen die

Meditationen darum bittet, „mit diesen altbekannten Dingen verschont“ zu werden (3.

Einw. 1). Descartes selbst schreibt, er habe „diesen Kohl nur mit Widerwillen

aufgewärmt“ (2. Antw. 4).

Descartes erreicht den umfassenden Zweifel in drei Schritten zunehmender

Radikalisierung, wobei er in den ersten beiden Schritten die Beweiskraft der

skeptischen Argumente meines Erachtens ganz bewußt nicht ausschöpft, sondern sie nur

als Grundlage für den nächsten Schritt verwendet: (1) Die Fehlbarkeit unserer Sinne

zeigt Descartes zufolge nur, daß man sich in der Wahrnehmung „kleiner und entfernter“

Gegenstände irren kann (Med. I.6). (2) Die Ununterscheidbarkeit von Wachen und

Träumen zeige lediglich, daß alle unsere Meinungen über die materielle Welt falsch sein

könnten. (3) Die Denkbarkeit eines täuschenden Gottes überzeugt das meditierende Ich

schließlich, daß wir uns wirklich in allem, was wir glauben, täuschen können. Auch

dieses letzte Argument hat einen durch Cicero überlieferten, vermutlich auf Karneades

zurückgehenden antiken Vorläufer. Wie Myles Burnyeat gezeigt hat5, zieht jedoch erst

Descartes aus diesem Argument die Konsequenz, daß nicht nur ein lokaler, sondern ein

globaler Irrtum denkbar ist.6

Mir wird es im folgenden vor allem um den nächsten Schritt im Gang der Ersten

Meditation gehen: den Übergang von der Denkmöglichkeit eines umfassenden Irrtums

zur Möglichkeit umfassenden Zweifels. Descartes – bzw. das meditierende Ich – scheint

diesen Übergang für so unproblematisch zu halten, daß er keiner weiteren Begründung

bedarf: Von der Feststellung, es sei möglich, „daß ich mich stets täusche“, geht

Descartes ohne weiteres Argument zu dem Zugeständnis über, „daß an allem, was ich

früher für wahr hielt, zu zweifeln möglich ist“ (Med. I.13). Bevor ich darauf näher

eingehe, muß ich jedoch noch kurz schildern, wie Descartes den umfassenden Zweifel

verwendet, um die drei von ihm genannten Ziele zu erreichen.

Man könnte vermuten, daß Descartes mit der Feststellung, daß man an allem

zweifeln kann, zumindest seine beiden destruktiven Ziele bereits erreicht hat. Doch das

ist trotz aller skeptischen Argumente nicht der Fall: „[D]ie gewohnten Meinungen

kehren doch unablässig wieder [...] und ich werde mir niemals abgewöhnen, ihnen

beizustimmen und zu vertrauen, solange ich sie für das ansehe, was sie in der Tat sind,

5 Vgl. Burnyeat 19816 Vgl. z.B. Frankfurt 1970, Wilson 1978, Rosenberg 1998.

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nämlich zwar – wie gezeigt – für einigermaßen zweifelhaft, aber immerhin recht

wahrscheinlich, so daß wir sie mit weitaus größerem Grund glauben als verneinen“

(Med. I. 11; AT VII, 22).7 Die bloße Einsicht in die Zweifelhaftigkeit unserer

alltäglichen Meinungen und Vorurteile reicht also nicht, um uns von ihnen zu befreien.

Hier könnte man allerdings einwenden, daß die früheren Meinungen, um

„wiederzukehren“, ja erst einmal fortgegangen sein müssen. Könnte Descartes nicht

meinen, der umfassende Zweifel habe die Meinungen zwar außer Kraft gesetzt, aber nur

für kurze Zeit? Doch gegen diese Lesart spricht, daß Descartes ja ausdrücklich

zugesteht, er werde sich „niemals abgewöhnen, ihnen [den gewohnten Meinungen]

beizustimmen, solange ich sie für das ansehe, was sie in der Tat sind“. Das klingt nicht

so, als sei es ihm durch den Zweifel auch nur kurzzeitig gelungen, die gewohnten

Meinungen aufzuheben. Diese Einsicht hat übrigens eine interessante Parallele bei

Francis Bacon, der ganz ähnlich wie Descartes feststellt: „Die Vorurteile (idola) und

falschen Begriffe, die vom menschlichen Geist schon Besitz ergriffen haben und fest in

ihm wurzeln, halten den Geist nicht bloß so besetzt, daß die Wahrheit nur schwer einen

Zutritt findet, sondern so, daß, selbst wenn dieser Zutritt gewährt und bewilligt worden

ist, sie bei der Erneuerung der Wissenschaften immer wiederkehren und uns belästigen,

so lange man sich nicht gegen sie vorsieht und nach Möglichkeit verwahrt.“ (Neues

Organon I, § 38).

Auch das Ich der Meditationen will sich gegen die Wiederkehr der alten Meinungen

verwahren. Dazu nimmt es sich vor, einen Schritt über den bloßen Zweifel

hinauszugehen und so zu tun (fingere), als seien „jene Meinungen [tatsächlich]

durchweg falsch und bloße Einbildungen“ (Med. I.15).8 Erst zur Veranschaulichung

dieser Fiktion einer umfassenden Täuschung bringt Descartes den genius malignus ins

Spiel, – jenen bösartigen, aber allmächtigen Geist, der mein Denken so beeinflußt, daß

ich stets das Falsche glaube. Auf die Frage, in welchem Verhältnis umfassender Zweifel

7 Vgl. dazu auch das Ende der Zweiten Meditation.8 Descartes weiter: “bis ich schließlich das Gewicht einer meiner Vorurteile auf beiden Seiten so ins

Gleichgewicht gebracht habe, daß keine verkehrte Gewohnheit mein Urteil fernerhin von der wahren Erkenntnis der Dinge abwendet“. Doch wie soll die Fiktion durchgängigen Irrtums zu einem Gleichgewicht der Vorurteile führen? Der Vergleich mit dem gebogenen Stock, der umso stärker in die Gegenrichtung gebogen werden muß, um am Ende gerade zu sein, paßt zwar zur Überwindung der falschen Gewohnheit, nicht aber zur Isosthenie, denn die würde erfordern, daß Linksbiegung und Rechtsbiegung des Stocks (Gründe und Gegengründe) gleichzeitig vorliegen, was sowohl beim Stock als auch bei der Täuschungsfiktion ausgeschlossen ist. Es scheint sich bei der Isosthenie um einen skeptischen Topos zu handeln, den Descartes zwar in seinen Text aufnimmt, der dort aber eigentlich nicht hineinpaßt.

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und Täuschungsfiktion zueinander stehen, werde ich noch zurückkommen. Jedenfalls ist

es die Fiktion des täuschenden Geistes, die das meditierende Ich in der Zweiten

Meditation zur unbezweifelbaren Einsicht des Cogito bringt, denn diese Einsicht wird

dort als etwas eingeführt, worin auch ein allmächtiger Betrüger das meditierende Ich

nicht täuschen könnte: „niemals wird er es fertigbringen, daß ich nichts bin, solange ich

denke, daß ich etwas sei“ (Med. II.3). Damit hat Descartes das konstruktive Ziel, dem

der umfassende Zweifel dienen sollte, erreicht: etwas zu finden, an dem man nicht mehr

zweifeln kann.

Das Erreichen der beiden destruktiven Ziele steht an dieser Stelle dagegen noch aus:

Die Ablenkung des Denkens von den Sinnen kommt erst im weiteren Fortgang der

Zweiten Meditation zum Abschluß, nachdem das meditierende Ich sich anhand eines

Stückes Wachs klargemacht hat, „daß ich das, was das Wachs ist, mir gar nicht bildlich

ausmalen, sondern nur denkend begreifen kann“ (Med. 2.19). Der vollständige Umsturz

aller Meinungen ist hingegen auch am Ende der Zweiten Meditation, also nachdem der

umfassende Zweifel im Cogito bereits an seine Grenzen gelangt ist, noch nicht erreicht,

denn dort heißt es: „Da sich alte Meinungen, an die man sich gewöhnt hat, nicht so

schnell ablegen lassen, scheint es mir gut, hier einzuhalten, damit sich diese

neuerworbene Erkenntnis durch längeres Nachdenken meinem Gedächtnis tiefer

einpräge“ (Med. II. 24). Der Umsturz der Meinungen, so scheint es, ist durch den

umfassenden Zweifel allein nicht zu bewerkstelligen.

Descartes zufolge ist es also durchaus möglich, an allen bisherigen Meinungen zu

zweifeln und zugleich an diesen Meinungen festzuhalten. Doch was soll es dann

überhaupt heißen, daß man an ihnen zweifeln kann? Dies wird deutlich, wenn man sich

daran erinnert, daß der umfassende Zweifel unmittelbar aus der Denkbarkeit eines

umfassenden Irrtums folgen soll – ein Schluß, der nur dann gültig ist, wenn in diesem

Sinn zu zweifeln jedenfalls nicht mehr erfordert, als einen Irrtum für denkbar halten.

Wenn man unter Gewißheit versteht, daß ein Irrtum undenkbar ist, dann kann man

sagen, daß in diesem Sinn an etwas zu zweifeln einfach heißt, es nicht für gewiß zu

halten.

Es ist nicht überraschend, daß diese Art von Zweifel nicht ausreicht, eine bestehende

Meinung umzustürzen. Versuchen Sie es nur einmal selbst: Sie glauben (so ein Beispiel

Descartes’), daß zwei plus drei fünf ergibt. Nun stellen Sie sich vor, sie würden von

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einem bösen Geist – oder vielleicht von einem verrückten Gehirnchirurgen – so

manipuliert, daß sie sich in jeder ihrer Additionen verrechnen. Die manipulativen

Fähigkeiten Ihres Täuschers reichen so weit, daß er keine Spuren hinterläßt, die Sie

entdecken könnten. Wenn eine solche undurchschaubare Täuschung überhaupt denkbar

ist, dann kann man natürlich auch nicht ausschließen, selbst ihr Opfer zu sein. Und

damit können Sie auch nicht ausschließen, daß Sie sich in bei der Addition von zwei

und drei stets irren.

Doch reicht das aus, um Ihre Meinung zu erschüttern, daß zwei plus drei gleich fünf

ist? Wohl kaum. Kein vernünftiger Mensch hört auf zu glauben, daß zwei plus drei

gleich fünf ist, nur weil ein Irrtum nicht absolut ausgeschlossen ist. Und wenn sie es

trotzdem versuchen, werden Sie feststellen, daß es ihnen nicht gelingt. Daßelbe gilt für

viele andere Überzeugungen wie die, daß Sie über einen Körper verfügen, daß wir uns

in einem Raum befinden usw. Damit es psychologisch möglich und rational geboten ist,

diese Meinungen aufzugeben, brauchen wir vielmehr das, was man mit Peirce einen

„positiven Grund“ nennen kann. Ein positiver Grund, um eine Meinung zu bezweifeln,

besteht in einer anderen Meinung (und zwar einer Meinung über die aktuale Welt, nicht

über bloße logische Möglichkeiten), die mit der Wahrheit der bezweifelten Meinung

oder mit den für sie angeführten Gründen unvereinbar ist. Ein positiver Grund, an dem

Ergebnis einer Addition zu zweifeln, wäre zum Beispiel die Meinung, daß das Ergebnis

mit einer früheren Berechnung nicht übereinstimmt oder daß man die Addition

vielleicht nicht sorgfältig genug durchgeführt hat. Die Hypothese eines täuschenden

Geistes oder eines verrückten Gehirnchirurgen wäre hingegen nur dann ein positiver

Grund zum Zweifeln, wenn es einen Anlaß gäbe zu glauben, daß man wirklich auf diese

Weise manipuliert wird. Doch gerade dann, wenn die Täuschung vollkommen ist, kann

es keinen positiven Grund geben, sie für real zu halten. Das kann man sich einem

Beispiel von Harty Field klarmachen: Stellen Sie sich vor, Sie seien Assistentin oder

Assistent eines Gehirnchirurgen, der fünf Gehirne in einer Nährlösung hält, diese

Gehirne mit Scheininformationen über ihre angebliche Umwelt versorgt und dabei

herausfinden will, ob man die Gehirne auf diese Weise selbst über so grundlegende

Dinge täuschen kann wie die, daß zwei plus drei fünf ist. Und nun finden Sie heraus,

daß der Gehirnchirurg vor Ihnen schon fünf andere Assistenten hatte, von denen jeder

auf mysteriöse Weise verschwunden ist. In einer derartigen Situation, aber auch nur in

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einer derartigen Situation, reicht der Hinweis darauf, daß man nicht ausschließen kann,

ein Gehirn im Tank zu sein, vielleicht aus, um die Überzeugung zu erschüttern, daß

zwei und drei fünf ist. Aber dann handelt es sich auch nicht um die Möglichkeit einer

perfekten Täuschung, da dem Opfer ja Hinweise gegeben werden, die auf seine wahre

Situation hindeuten. Ohne solche Hinweise, d.h. ohne einen positiven Grund, ist es

weder psychologisch möglich noch rational geboten, Überzeugungen wie die, daß zwei

puls drei gleich fünf ist oder daß man einen Körper hat, auch nur kurzfristig

aufzugeben.

Descartes selbst erkennt den Zusammenhang zwischen Zweifel und positiven

Gründen an, indem er zu der Fiktion greift, man werde wirklich von einem bösen Geist

getäuscht. Im Rahmen dieser Fiktion hat das meditierende Ich nun nämlich einen

positiven Grund, an allem zu zweifeln, und zwar die Meinung, es werde von einem

bösen Geist getäuscht. Allerdings zweifelt das meditierende Ich nicht wirklich, sondern

es tut eben nur so, als würde es zweifeln.

Auch Descartes kennt also eine Verwendung des Wortes „Zweifel“ oder „dubitatio“,

in der Zweifel einen positiven Grund erfordern. Nennen wir dies einen faktischen

Zweifel:

Faktischer Zweifel

(1) ist ein Zweifel an der Wahrheit einer Meinung,

(2) schließt aus, daß man die bezweifelte Meinung beibehält,

(3) erfordert einen positiven Grund.

Das grundlegende Merkmal eines faktischen Zweifels ist das erstgenannte: Ein

faktischer Zweifel ist ein Zweifel an der Wahrheit einer Meinung. Er kommt in Fragen

der Form: „Ist es der Fall, daß p, oder nicht?“ zum Ausdruck, wobei p für eine beliebige

nicht-modale, nicht-epistemische Tatsache steht. Daraus folgt das zweite Merkmal:

Wenn ich in diesem Sinn zum Beispiel im Zweifel bin, ob Descartes der meistzitierte

Philosoph der Neuzeit ist, dann bedeutet dies, daß ich weder bereits glaube, daß er es

ist, noch glaube, daß er es nicht ist: Entweder habe ich noch keine feste Meinung in

dieser Sache, oder aber ich habe keine feste Meinung mehr. Sollte ich bisher geglaubt

haben, Descartes sei der meistzitierte Philosoph der Neuzeit, dann impliziert ein

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faktischer Zweifel an dieser Meinung, daß sie aufgebe, ohne mich damit auf ihre

Negation festzulegen. Anders gesagt: Faktische Zweifel implizieren Urteilsenthaltung

oder epoché. Diesen faktischen Sinn des Wortes „Zweifel“ bzw. „doubt“ verwendet zum

Beispiel Bernard Williams in seinem Descartes-Buch, wenn er folgendes Konditional

als Axiom bezeichnet: „If A doubts P, A does not believe P“.9 Um zu bewirken, daß man

eine bestehende Meinung aufgibt, ist aber ein positiver Grund erforderlich, d.h. eine

andere Meinung hinsichtlich der aktualen Welt, die gegen bezweifelte Meinung spricht.

Dieses dritte Merkmal hat zwei gleichermaßen intendierte Lesarten, eine normative und

eine psychologische: Ein positiver Grund ist erforderlich, damit ein faktischer Zweifel

rational vertretbar ist; und er ist, angesichts der Tatsache, daß die meisten Menschen in

ihrer Meinungsbildung den Prinzipien epistemischer Rationalität zumindest

näherungsweise entsprechen, normalerweise auch psychologisch erforderlich, um einen

faktischen Zweifel hervorzurufen.

Von diesem Begriff des Zweifels lässt sich nun einen anderer, schwächerer Begriff

unterscheiden, den ich als „epistemischen Zweifel“ bezeichnen möchte:

Epistemischer Zweifel

(1) ist ein Zweifel ausschließlich an der Gewißheit einer Meinung,

(2) schließt nicht aus, daß man die bezweifelte Meinung beibehält,

(3) erfordert keinen positiven Grund, sondern nur den „geringsten Verdacht der

Ungewißheit“ (d.h. die Denkmöglichkeit eines Irrtums).

Ein epistemischer Zweifel kommt in Fragen der Form „Ist es absolut gewiß, daß p?“

zum Ausdruck, wobei ich Gewißheit hier als Ausgeschlossenheit eines Irrtums verstehe,

genauer: Eine Meinung, daß p, eines Subjekts S ist gewiß, wenn S über Belege

(evidence) verfügt, aus denen logisch folgt, daß p. Epistemische Zweifel betreffen also

nicht direkt die Frage, ob p oder nicht-p, sondern den epistemischen Status der

Meinung, daß p. Die Frage, ob p oder nicht-p, betreffen sie nur insofern, als daraus, daß

es gewiß ist, daß p, natürlich folgt, daß p der Fall ist. Umgekehrt folgt daraus, daß es

nicht gewiß ist, daß p, nicht, daß p nicht der Fall ist. Daher ergibt sich das zweite

Merkmal auch hier aus dem ersten: Da ein epistemischer Zweifel an der Gewißheit

9 Williams 1978, 306.

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einer Meinung nicht ausschließt, daß diese Meinung wahr ist, schließt er auch nicht aus,

daß man diese Meinung beibehält, denn die Meinung zu haben, daß p, bedeutet ja nichts

anderes, als p für wahr zu halten. Und da ein epistemischer Zweifel nur die Frage

betrifft, ob die bezweifelte Meinung gewiß ist, ob also ein Irrtum ausgeschlossen ist,

reicht es als Begründung für einen solchen Zweifel aus, daß ein Irrtum denkbar ist. Ein

positiver Grund ist nicht erforderlich.

Diese beiden Begriffe des Zweifels erlauben sicherlich eine Reihe von Nachfragen

und Präzisierungen. Eine dieser Fragen betrifft die Unterscheidung, die sich sprachlich

in der Unterscheidung zwischen „zweifeln, daß etwas der Fall ist“, und „zweifeln, ob

etwas der Fall ist“ zum Ausdruck kommt. Eine andere Frage lautet, wie sich der

faktische und der epistemische Begriff des Zweifels zu gradierbaren Begriffen von

Glauben, Gewißheit und Zweifel verhalten, denen zufolge man sagen kann, daß man

mehr oder weniger überzeugt von einer Sache ist, sich mehr oder weniger gewiß ist und

sich dementsprechend mehr oder weniger im Zweifel befindet. Darauf kann ich hier

nicht näher eingehen. Mir kommt es nur darauf an, daß es auch einen absoluten, nicht

gradierbaren Begriff der Meinung gibt, wonach jemand etwas glaubt, meint oder davon

überzeugt ist, wenn er es für wahr hält; und dementsprechend einen nicht-graduierbaren

Begriff des faktischen Zweifels, in dem man nur dann zweifelt, daß p, wenn man weder

glaubt, daß p, noch glaubt, daß nicht-p; sowie einen nicht-graduierbaren Begriff der

Gewißheit, in dem eine Meinung nur dann gewiß ist, wenn ein Irrtum ausgeschlossen

ist.

Nähert man sich mit dieser Unterscheidung dem Text der Meditationen, so liegt es

auf der Hand, daß Descartes primär mit dem Begriff des epistemischen Zweifels

operiert. Nur in diesem kann Descartes zum Beispiel von seinen eigenen Meinungen

sagen, sie seien „einigermaßen zweifelhaft, aber immerhin recht wahrscheinlich“.

Einigermaßen zweifelhaft zu sein kann hier nicht mehr bedeuten als fallibel zu sein:

Auch wenn ein Irrtum nicht ausgeschlossen ist und die Meinungen insofern

„einigermaßen zweifelhaft“, behält Descartes diese Meinungen bei, denn sie sind „recht

wahrscheinlich“.

Nun ist es für einen Leser der Meditationen natürlich nicht überraschend, daß der

Cartesische Zweifel primär die Gewißheit unserer Meinungen betrifft. Doch man

übersieht leicht, daß ein Zweifel an der Gewißheit einer Meinung noch lange kein

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Zweifel an ihrer Wahrheit ist und daß ein epistemischer Zweifel unsere Meinungen

daher auch nicht aufheben kann. Der methodische Zweifel Descartes’ besteht nicht in

der methodisch kontrollierten Verwendung solcher Zweifel, die im wirklichen Leben

unsere Meinungen aufheben würden, sondern er ist ein Zweifel ganz anderer Art, der

eine andere Begründung erfordert und andere Konsequenzen hat.

Was das für die Interpretation der ersten beiden Meditationen und die Beurteilung

ihres Erfolgs bedeutet, möchte ich nun zum Schluß in fünf Punkten zusammenfassen:

1. Die drei Ziele, die Descartes mit dem umfassenden Zweifel verfolgt, erfordern

unterschiedliche Formen des Zweifels. Das konstruktive Ziel, etwas Unbezweifelbares

zu entdecken, kommt mit einem epistemischen Zweifel aus. Ein solcher Zweifel ist

verhältnismäßig leicht begründbar: Alles was man braucht, ist „den geringsten Verdacht

einer Ungewißheit“ (Princ. I.1). Doch gerade weil dieser Verdacht nur so gering sein

muß, setzt ein solcher Zweifel keine Meinung außer Kraft. Dagegen würden die beiden

destruktiven Ziele (also die Befreiung von Vorurteilen und die Ablenkung von den

Sinnen) einen wesentlich schwerer zu begründenden faktischen Zweifel erfordern, denn

sie setzen voraus, daß die bisherigen Meinungen durch den Zweifel aufgehoben werden.

2. Ein umfassender Zweifel ist, wenn überhaupt, dann nur als ein epistemischer

Zweifel möglich. Daß man an allem, was man bis dahin für wahr hielt, zweifeln kann,

heißt nicht, daß man aufhören kann, es für wahr zu halten, sondern allenfalls, daß man

sich klarmachen kann, daß ein umfassender Irrtum denkmöglich ist. (Tatsächlich heißt

es noch nicht einmal das, denn daraus, daß ein Irrtum in jeder unserer Überzeugungen

denkbar ist, folgt nicht, daß alle unsere Überzeugungen zugleich falsch sein könnten.)

Da ein solcher epistemischer Zweifel die bisherigen Meinungen intakt läßt, muß das

cartesische Vorhaben eines allgemeinen Umsturzes unserer Meinungen, sofern es sich

auf einen solchen Zweifel stützt, mißlingen.

3. Descartes war sich der Unterscheidung zwischen epistemischem und faktischem

Zweifeln nicht hinlänglich bewußt. Er schwankt daher in der Verwendung des

Ausdrucks „Zweifel“ bzw. „dubitatio“ zwischen beiden Bedeutungen hin und her.

Descartes räumt zwar ein, daß man sich seiner Meinungen nicht durch den bloßen

Hinweis entledigen kann, daß ein umfassender Irrtum denkbar ist. Doch wie erwähnt

warnt er wiederholt davor, den umfassenden Zweifel auf das „tätige Leben“

auszudehnen, da dies zur Handlungsunfähigkeit führe (vgl. Med. I.15; Princ. I.3). Wenn

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es stimmt, daß der umfassende Zweifel nur die Gewißheit unserer Meinungen betrifft

und unsere handlungsleitenden Meinungen nicht außer Kraft setzen kann, dann ist diese

Sorge offenbar ebenso unbegründet wie die Hoffnung, auf diese Weise alle Meinungen

umzustürzen.

Die Cartesische Forderung nach einem umfassenden Zweifel ist also zweideutig.

Dieser Zweideutigkeit entspricht eine Zweideutigkeit in Descartes’ Zielsetzung, die

Jonathan Bennett sehr überzeugend herausgearbeitet hat.10 Bennett unterscheidet bei

Descartes zwischen der Suche nach der Wahrheit und der Suche nach einem stabilen

Fundament für unsere Meinungen und Theorien. Descartes’ offizielles Projekt besteht

natürlich darin, beides über den Begriff der Gewißheit oder Unbezweifelbarkeit zu

verknüpfen: Unbezweifelbarkeit soll zugleich Wahrheit und Stabilität gewährleisten.

Doch tatsächlich, so Bennett, stützt sich Descartes mit dem Kriterium der klaren und

deutlichen Einsicht primär auf die faktische Unbezweifelbarkeit einer Meinung, die

zwar deren Stabilität, aber nicht deren Wahrheit garantiere, so daß ihm Wahrheit und

Stabilität unter der Hand immer wieder auseinanderzufallen drohen. Diese meines

Erachtens zutreffende Diagnose lässt sich durch die Unterscheidung der beiden Begriffe

des Zweifels, mit denen Descartes arbeitet, weiter untermauern, wenn man innerhalb

der epistemischen Zweifel noch einmal unterscheidet, je nach dem, ob ein objektiver

oder ein subjektiver Begriff der Gewißheit verwendet wird: Objektive Gewißheit

besteht darin, daß ein Irrtum durch die verfügbaren Belegen ausgeschlossen ist,

subjektive Gewißheit dagegen darin, daß ein Irrtum für das Subjekt nicht vorstellbar ist.

Das Kriterium der klaren und deutlichen Einsicht gewährleistet, entgegen Descartes’

eigener Auffassung, tatsächlich nur subjektive Gewißheit, da dieses Kriterium auch bei

gewissenhafter Anwendung nicht ausschließen kann, daß man glaubt, etwas klar und

deutlich einzusehen, was man in Wirklichkeit nicht klar und deutlich einsieht und was

somit möglicherweise falsch ist. Wir erhalten dann eine Dreiteilung: Die

Zurückweisung faktischer Zweifel führt zwar Beibehaltung der bezweifelten

Meinungen, garantiert aber weder ihre dauerhafte Stabilität noch ihre Wahrheit. Die

Zurückweisung epistemischer Zweifel an der subjektiven Gewißheit unserer Meinung

garantiert zwar ihre Stabilität oder subjektive Unbezweifelbarkeit, aber nicht ihre

Wahrheit. Nur die Zurückweisung epistemischer Zweifel an der objektiven Gewißheit

10 Bennett 1990.

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unserer Meinungen garantiert sowohl ihre Stabilität als auch ihre Wahrheit. Tatsächlich

reicht das Kriterium der klaren und deutlichen Einsicht aber nur aus, um die subjektive

Gewißheit unserer Meinungen sicherzustellen. Da Descartes die drei Arten des Zweifels

nicht unterscheidet, ist ihm die unterschiedliche erkenntnistheoretische Reichweite der

Zurückweisung dieser Zweifel nicht bewusst. So wird zumindest ein Stück weit

verständlich, wie er den Nachweis der Stabilität unserer Meinungen zugleich für den

Nachweis ihrer Wahrheit halten konnte.

4. Wie wir gesehen haben, stößt das meditierende Ich auf die Gewißheit des Cogito

im Rahmen der Fiktion einer umfassenden Täuschung. Innerhalb dieser Fiktion hat das

Ich mit der unterstellten Existenz des täuschenden Geistes einen positiven Grund, der

ihm einen faktischen Zweifel ermöglicht. Doch die Existenz des täuschenden Geistes

kann das Ich im Rahmen der Fiktion natürlich nicht ebenfalls bezweifeln, so daß es sich

auch bei dem fiktiven Zweifel nicht um einen umfassenden faktischen Zweifel handelt.

– Das fingierende Ich, also das Ich der Meditationen, zweifelt hingegen im faktischen

Sinn überhaupt nicht. Wer nur so tut, als werde er von einem böswilligen Geist

getäuscht, muß glauben, in Wirklichkeit nicht getäuscht zu werden. Andernfalls wäre es

ja keine Fiktion, sondern ein irrtümlicher Glaube, man werde getäuscht. Macht man

diese Fiktion, dann wird einem Descartes zufolge klar, daß ein weitgehender Irrtum und

damit auch ein weitgehender epistemischer Zweifel möglich ist. Doch dieser

weitgehende Zweifel ist nur ein Nebenprodukt, das zur Entdeckung des Cogito nichts

beiträgt. Das Ich stößt auf die Gewißheit des Cogito nicht bei dem Versuch, an allem zu

zweifeln, sondern bei dem Versuch, sich im Rahmen einer Fiktion eine umfassende

Täuschung vorzustellen: „Er täusche mich, soviel er kann, niemals wird er es

fertigbringen, daß ich nichts bin, solange ich denke, daß ich etwas sei.“

5. Wie wir gesehen haben, erlaubt der umfassende Zweifel es Descartes nicht, seine

destruktiven Ziele zu erreichen, denn das würde einen umfassenden faktischen Zweifel

erfordern, der aber nicht möglich ist. Zum Erreichen des konstruktiven Ziels trägt der

umfassende Zweifel ebenfalls nichts bei, denn die Gewißheit des Cogito entdeckt das

Ich nicht im Zweifeln, sondern im Rahmen einer Täuschungsfiktion. Ich komme daher

zu dem Ergebnis, daß die Forderung eines umfassenden Zweifels für keines der von

Descartes verfolgten Ziele und damit für das Cartesische Unternehmen insgesamt keine

wesentliche Rolle spielt.

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Literatur:

Bacon, Francis: Neues Organon, hg. von W. Krohn, Hamburg 1990

Bennett, Jonathan 1990: “Truth and Stability in Descartes’ Meditations”, in Canadian

Journal of Philosophy 20, 75-108

Burnyeat, Myles 1981: “Idealism and Greek Philosophy: What Descartes Saw and

Berkeley Missed”, in G. Vesey (ed.), Idealism Past and Present, Cambridge, 19-50

Carriero, John 1986: The Second Meditation and the Essence of Mind“, in A.O. Rorty,

Essays on Descartes’ Meditations, Berkeley, 199-221

Frankfurt, Harry J. 1970: Demons, Dreamers, and Madmen. The defense of Reason in

Descartes’ Meditations, Indianapolis/New York

Montaigne, Michel de: Essais, dt. von Johan Daniel Tietz, Zürich 1992

Popkin, Richard 1979: The History of Scepticism from Erasmus to Spinoza, Berkeley

Rosenberg, Jay F. 1998: “Descartes’ Sceptical Argument”, in Logical Analysis and

History of Philosophy 1, 1998, 209-32

Williams, Bernard 1978: Descartes. The Project of Pure Inquiry, London

Wilson, Margaret 1978: Descartes, London

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