Zwischen Freiheit und Schicksal geschehe „wie im Himmel so auf Erden“,8 gerade so, als ob das...

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SYNODE DER EVANGELISCHEN KIRCHE IN HESSEN UND NASSAU ____________________________________ Drucksache Nr. 04/08-1 Zwischen Freiheit und Schicksal Bericht zur Lage in Kirche und Gesellschaft für die 10. Tagung der Zehnten Kirchensynode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (gemäß Art. 48 Abs. 2 Buchstabe i, KO) Frankfurt/Main, April 2008 von Kirchenpräsident Prof. Dr. Dr. h. c. Peter Steinacker

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SYNODE DER EVANGELISCHEN KIRCHE IN HESSEN UND NASSAU

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Drucksache Nr. 04/08-1

Zwischen Freiheit und Schicksal

Bericht zur Lage in Kirche und Gesellschaft für die 10. Tagung der Zehnten Kirchensynode

der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau

(gemäß Art. 48 Abs. 2 Buchstabe i, KO)

Frankfurt/Main, April 2008

von

Kirchenpräsident Prof. Dr. Dr. h. c. Peter Steinacker

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Zwischen Freiheit und Schicksal I. Leben zwischen Freiheit und Schicksal Lebensgefühl Unbestimmtheit Nach meinem Empfinden liegt über unserem Land gegenwärtig eine auffallende Unbestimmtheit. Sie liegt tief unter unseren alltäglichen Lebensvollzügen, scheint aber das Lebensgefühl vieler Menschen zu durchziehen und ist auch in Kirche und Gesellschaft wahrnehmbar. Sie formt unser Erleben und Handeln auch und gerade in der Kirche. Aber weil diese Unbestimmtheit und ihre Ursache und ihre Folgen nicht offen zutage liegen, ist sie nicht leicht zu erklären. Deshalb bitte ich die Synode schon jetzt um etwas Geduld. Ich bin der festen Überzeugung, dass diese Unbestimmtheit, die unser ganzes Leben so seltsam berührt, ihre Ursache in einer fortschreitenden Auflösung einer grundlegenden und gerade für unseren Glauben unverzichtbaren Spannung zwischen Freiheit und Schicksal hat. Diese Spannung macht unsere individuelle selbstbezügliche aber auch unsere vergesellschaftete, ja die ganze weltzugewandte Existenz aus. Der große Theologe Paul Tillich hat diese Spannung als Polarität beschrieben, die als Element zu allem gehört, was ist1 und natürlich besonders zum Menschen: „Der Mensch ist Mensch, weil er Freiheit hat, aber er hat Freiheit nur in polarer Abhängigkeit vom ‚Schicksal‘.“2 Glaube zwischen Freiheit und Schicksal Diese Spannung zwischen Freiheit und Schicksal steht im Zentrum unseres christlichen Glaubens. Das lässt sich an folgendem zeigen: Gott hat uns ja die Freiheit zur Gestaltung als Bewahrung und Entwicklung der Welt nach Maßgabe unserer Vernunft übertragen.3 Wir gestalten unser Leben und unsere Welt nach unserem Willen und nach unseren Entscheidungen frei. Natürlich orientieren wir uns dabei an Sitten und Gebräuchen als äußeren Normen. Aber auch ihnen gegenüber sind wir frei, weil wir sonst für unser Denken und Tun nicht verantwortlich wären. Wenn Gott von uns als Richter über unsere Taten geglaubt wird,4 muss es einen Freiheitsspielraum geben, damit Verantwortung ins Spiel kommen kann. Andererseits glauben wir, dass kein Sperling vom Himmel fällt ohne Gott, und selbst alle Haare auf unseren Häuptern gezählt sind.5 Jesus schärft uns sogar ein, unsere Gebetspraxis so zu gestalten, dass deutlich wird: Gott kennt all unsere Bedürfnisse schon bevor wir ihn darum bitten.6 Dennoch will er, dass wir ihn bitten. Obwohl es zum Kernbestand unseres Glaubens gehört, dass Gott die Geschicke der Welt nach seinem Willen leitet und lenkt,7 sollen wir ihn sogar darum bitten, dass sein Wille

1 Systematische Theologie, Bd.1, 3.Aufl. 1956, S.214. 2 A.a.O., S.214. Die Polarität bedeutet für den Menschen: „Der Mensch steht der Welt gegenüber und gehört

ihr gleichzeitig an“. Sie gilt allerdings nicht für Gott. Denn: „Nur wer Freiheit hat, hat Schicksal. Dinge haben kein Schicksal, weil sie keine Freiheit haben. Gott hat kein Schicksal, weil er Freiheit i s t“, a.a.O., S.217.

3 1.Mose 1,28. 4 Mt.25. 5 Mt.10,29f- 6 Mt.6,8. 7 Mt.6,25-34.

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geschehe „wie im Himmel so auf Erden“,8 gerade so, als ob das faktisch nicht der Fall wäre. Geistliche Leitung zwischen Freiheit und Schicksal Die Spannung zwischen Freiheit und Schicksal, die in den Kernbereich unseres Glaubens gehört, durchzieht auch als „geistliche Leitung“ alle unsere Anstrengungen zur Gestaltung und Leitung unserer Kirche. Man könnte es auch am Predigtgeschehen, an Taufe und Abendmahl deutlich machen, weil wir auch hier in menschlicher Freiheit mit Wort, Wasser, Brot und Wein liturgisch etwas tun, das nur dann ein geistliches Geschehen wird, wenn Gott selber in unsere Handlung eintritt, was wir hoffen, glauben und auch so erfahren. Unter dem Thema der „geistlichen Leitung“ betrifft die Spannung zwischen Freiheit und Schicksal jede Ortsgemeinde und jede andere Form von Gemeinde, jedes Dekanat, das Leitende Geistliche Amt, die Kirchenleitung und auch maßgeblich die Synode. Wir haben die Freiheit, nach Maßgabe unserer vernünftigen Einsicht die Kirche zu leiten und stehen in der Verantwortung vor Gott und den Gliedern unserer Kirche, dass wir diese Freiheit zur Gestaltung auch verantwortlich wahrnehmen. Wir sind rechenschaftspflichtig für unser Tun. Die „geistliche Leitung“, der zentrale Kern des Erhalts unserer Kirche als Kirche Jesu Christi, liegt in unserer Freiheit. Zugleich wissen wir jedoch, dass der Erhalt und die Entwicklung unserer Kirche keineswegs von unserer vernünftigen Planung und Steuerung der Gemeindearbeit, des Dekanats, der Kirchenleitung, der Beschlüsse der Synode liegen, sondern in der Freiheit und Verheißung Gottes, über die wir in keiner Weise verfügen können. Nicht nur das Gelingen dessen, was wir planen, liegt in Gottes Hand, sondern schlechthin alles. Luther hat dies bekanntlich mit dem Satz ausgedrückt, der zu Recht immer wieder zitiert wird, dass wir es ja nicht sind, die die Kirche erhalten, sondern Christus und das Evangelium das selber tun.

Im Unterschied zur katholischen Auffassung des Christentums ist unsere Handlungsfreiheit zur formalen Gestaltung der Kirche nicht durch göttliche Vorgaben begrenzt, solange diese Gestaltung und Ordnung der Kirche es ermöglichen, das Evangelium rein zu predigen und die Sakramente Taufe und Abendmahl recht zu verwalten,9 bzw. sie es ermöglichen, dass Christen miteinander Gemeinschaft haben.10 Damit dies möglich ist, hat Gott Ämter eingesetzt, deren Funktion es ist, für Ordnung zu sorgen und mit Wort und Sakrament den Gemeinden zu dienen, deren Organisationsstruktur aber nicht festgelegt ist. Diese Freiheit der Organisation unterscheidet uns von der römisch-katholischen Kirche, in der die strukturelle Gestalt der Kirche durch göttliche Anordnung und Offenbarung als festgelegt geglaubt wird.

So tun wir in der „geistlichen Leitung“ etwas und verantworten etwas in einem Bereich, wo man gar nichts tun und verantworten kann. Wir organisieren etwas – und müssen und sollen das auch tun – und wissen zugleich, dass dieses Etwas sich nicht organisieren lässt, nämlich „Gottes Wirken in dieser Welt“. Mit anderen Worten: „Geistliche Leitung“ ist „in dieser Hinsicht ein paradoxes Handeln, wie alles Tätigwerden im religiösen Kraftfeld. … Sie hat etwas mit einer Kraft zu tun, die sich beständig entzieht – ohne die es aber nicht geht. …Es geht nicht um das Erbringen von irgendwelchen Dienstleistungen zugunsten irgendwelcher ‚Kunden‘, … sondern darum, dass Menschen Anteil an diesen Kräften … bekommen.“11 Das Besondere nun ist, dass, wenn man die Spannung zwischen Freiheit zum Handeln und der uns unverfügbaren Voraussetzung von Gottes Handeln auflöst, 8 Mt.5,10. 9 CA V, BSLK, S.61. 10 Johannes Calvin, Institutio 1559, IV,3. 11 Gerhard Wegner, Was ist geistliche Leitung? Zehn Vorschläge zur Verständigung über Führung in Kirche

und Diakonie, Pastoraltheologie 96, 2007, S.190.

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unser Leitungshandeln entweder in reine „Organisationsmeierei“ oder in fromme Scheinheiligkeit zerfällt, die das eigene Handeln mit den Handeln Gottes verwechselt. Freiheit der „geistlichen Leitung“ heißt auch, scheitern zu können, weil wir wissentlich oder unwissentlich Gottes Willen verfehlen. Unverfügbarkeit der „geistlichen Leitung“, in allem, was wir tun, bedeutet darauf zu vertrauen, dass Gott auch trotz unserer Fehler seine Kirche erhalten wird. Daher ist „geistliche Leitung“ trotz des Machtgefälles, das immer mit Leitung verbunden ist, umfangen von Demut. Das Machtgefälle zu vertuschen ist ein schwerer Fehler. Jedoch mit dem Unverfügbaren in der „geistlichen Leitung“ zu rechnen heißt, dass „geistliche Leitung“ beständig danach fragt, „was in concreto Gottes Wille ist“, ohne dass die Antworten auf diese Frage immer wohlfeil und eindeutig am Tage liegen. Genau diese Fragehaltung befähigt zur „Begeisterung“, weil sie darauf vertrauen darf, am Wirken des Heiligen Geistes teilzuhaben, gerade dann, wenn sie nicht meint, darüber verfügen zu können. So steht „geistliche Leitung“ unmittelbar in der Spannung zwischen Freiheit und Schicksal und sie verfehlt ihren Auftrag, wenn sie diese Spannung nicht durchhält. II. Die Erfahrung der Zeit Zeit zwischen Freiheit und Schicksal Christlicher Glaube lebt also in der Spannung von Freiheit und Schicksal, gerade auch dann, wenn er sich anschickt, die Kirche zu leiten. Löst sich diese Spannung auf, dann entsteht diese seltsame Unbestimmtheit, die nicht an der Oberfläche des Lebens ablesbar ist, an der dennoch viele Menschen in der Gesellschaft und in der Kirche leiden. Dies kann man sich an unserem Umgang mit und am Erleben der Zeit deutlicher machen.

Unbestimmtheit ist nicht die Ungewissheit, die eine offene und unbekannte Zukunft über alle unsere Lebensvollzüge schreibt. Die gibt es auch, denn niemand weiß ja, was kommen wird. Alle Szenarien und Entwicklungskorridore, auch bei unserem Prozess 2025, haben eine Ungewissheit an sich. Wir wollen auch hier von der Zukunft her denken, aber niemand weiß, ob das, was wir denken, auch wirklich die Zukunft ist, die einmal Gegenwart werden wird. Gleichwohl müssen wir trotz dieser Ungewissheit so denken, wenn wir unsere Kirche nicht im Jetzt erstarren lassen wollen. Und so nehmen wir ganz zu Recht die Wahrscheinlichkeitsannahmen der Szenarien als Grundannahmen für unsere Entscheidungen und unser Handeln. Anders als in diesem Vorgriff auf das, was noch nicht ist, kann man ja auch nicht gestalten. Die Ungewissheit, was die Zukunft bringen wird, aber auch schon die komplexer und komplizierter werdende Welt verlangt eigentlich ein immer größer werdendes Vertrauen in die eigentlich handelnden Akteure des Geschehens. Niemand kann das Ganze noch überblicken, gar durchschauen. Selbst in vielen Einzelheiten, wo wir meinen, dass wir uns auskennen, müssen wir darauf vertrauen, dass das, was getan, gedacht, geplant wird, schon irgendwie in Ordnung sein wird. Jedoch schwindet dieses Vertrauen gerade in so wichtigen Bereichen des Politischen und des Ökonomischen. Daniel Schäfer hat in der FAZ die jüngsten Ereignisse in der Bankbranche so kommentiert: Sie „hat in der schlimmsten Finanzkrise seit Jahrzehnten eines ihrer wichtigsten Güter verspielt – das Vertrauen von Aktionären, Kunden und der politischen Öffentlichkeit.“12 Viele Menschen, die politisch denken, beteiligen sich nicht mehr an den Wahlen oder anderen politischen Aktivitäten, nicht weil sie unpolitisch wären, sondern gerade weil sie von der politischen Öffentlichkeit enttäuscht sind. Viele erwarten von der Zukunft einen wachsenden Problemdruck, und manche fürchten, dass wir ihm nicht gewachsen sein werden. Dafür scheint es gute Gründe zu geben. Vor allem die Entwicklungen der Religionsfreiheit in den Ländern, in denen Muslime die Mehrheit bilden, machen mir Sorgen. Das Jahrtausende alte Christentum im Irak wird das Opfer muslimischer Orthodoxie. Wir sollten den fliehenden iranischen und irakischen Christen Asyl geben. Wo wir auch hinsehen, Pakistan, Indonesien, der Nahe Osten – die Zukunft der Länder und der Christen dort beunruhigt.

12 FAZ v.10.04.08, S.11.

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Die ökonomischen Daten verschlechtern sich mit wachsender Geschwindigkeit, weil sich durch die Immobilien- und Finanzkrise, die von den USA ausgehend die gesamte Weltwirtschaft zu verschlechtern droht.

Vor Jahren hatten wir gewaltige Überschüsse an Getreide in der Welt. Die Landwirte bekamen so gut wie nichts für eine Tonne Weizen, aber viel mehr für eine Tonne Getreide, aus dem Energie gewonnen werden konnte. Jetzt haben wir Hungerkatastrophen und widerwärtige Spekulanten verdienen am Hunger, indem sie das sowieso schon knappe Gut künstlich verknappen.

Die Fragen, die der Energiehunger der Schwellenländer Indien und China aufwirft, die ökologischen Krisen des Weltklimas, die soziale Schere, die sich in unserem Land immer weiter öffnet, und die tief in unseren Bildungsbereich hineinwirkt, all das fordert eigentlich, Vertrauen in die Steuerungseliten der Welt in Politik, Ökonomie und Wissenschaft zu haben. Aber hat dieses Vertrauen wirklich Gründe?

Die Unbestimmtheit verweist auf die Zeitlichkeit unseres Daseins, unserer Empfindungen, unseres Denkens und unseres Handelns. In unseren Zeiterfahrungen nehmen wir die Gefährdung der so grundlegenden Spannung zwischen Freiheit und Schicksal noch einmal, abgesehen von unseren Erfahrungen mit der „geistlichen Leitung“, wahr. Das ist wichtig, weil damit die Reichweite dieser Polarität über den Glauben hinaus weist. Die Zeiterfahrungen können deutlich machen, dass das, was wir im Glauben exemplarisch wahrnehmen, alle Menschen betrifft und nicht mehr nur diejenigen, die glauben. Die Zeitlichkeit des Daseins zeigt alles menschliche Leben in der Polarität von Freiheit und Schicksal. Darum möchte ich mit Hilfe der Zeiterfahrungen erklären, was diejenige Unbestimmtheit ist, die aus dem drohenden Zerfall der Spannung zwischen Freiheit und Schicksal erwächst. Zeit haben „für“ als Erfahrung der Freiheit Denn seit die Menschen die Zeit erfahren und darüber nachdenken, haben sie über das Verhältnis unserer Freiheit zu dem Bereich des Unverfügbaren, dem „Schicksal“ nachgedacht. Ich wähle aus den vielfältigen Erfahrungen der Zeit, die wir machen, nur zwei aus: Eine ganz wichtige ist, die, dass wir Zeit haben, „für“ etwas. Meist fällt uns diese Zeiterfahrung besonders dann auf, wenn wir sagen müssen (oder wollen): „Ich habe keine Zeit.“ Was meinen wir eigentlich damit? Wir meinen offensichtlich damit nicht, dass wir keine Zeitlichkeit mehr an uns hätten. Auch wenn wir „keine Zeit haben“, sind wir ja nicht der Zeit enthoben, sondern bleiben preisgegeben an den rasenden Flug der vergehenden Zeit. Wir meinen damit vielmehr: Ich habe keine Zeit „für“ dies oder jenes. Wenn ich aber für etwas Zeit habe, wird deutlich, dass unser Leben ein Leben in Beziehungen ist. Das wissen wir Christen sehr genau, denn wenn wir von unserem Glauben sprechen, handelt es sich immer um ein Beziehungsgeflecht zwischen Gott, Mensch und Welt.13 Aber auch ganz allgemein kann man sagen, die Erfahrung des Zeithabens für etwas legt offen, dass menschliches Leben grundsätzlich ein Leben in Beziehungen ist. Dies aber nun setzt wiederum die Möglichkeit voraus, dass ich wählen kann, ob ich mir diese Zeit nehmen will oder auch nicht. Und an diesem Punkt machen wir ganz elementar die Erfahrung von Freiheit. Denn wenn ich Zeit habe für und dann wähle wofür, bin ich frei, mich in eine Beziehung zu begeben oder auch nicht. Zudem lehrt mich diese Freiheit, dass nur die Toren meinen, alles zugleich tun zu können, während man doch eigentlich weiß, dass alles seine eigene Zeit hat, wie schon der

13 Vgl. Carl Heinz Ratschow, Anmerkungen zur theologischen Auffassung des Zeitproblems (1954), in: Von der

Gestaltwerdung des Menschen, 1987, S.290ff. Wolfgang Achtner, Stephan Kunz, Thomas Welter, Dimensionen der Zeit. Die Zeitstrukturen Gottes, der Welt und des Menschen, 1998, S.13-114 und 170-175; vgl. Wilfried Härle, Dogmatik, 2. Aufl.2000, S.57f.

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Prediger Salomos uns lehrte.14 Nur gesellschaftliche, politische und ökonomische Toren schreiben jeder Stunde, jedem Tag gleiche Qualität zu. Dann wollen sie den Sonntag als arbeitsfreien Tag der „seelischen Erbauung“, die Feiertage und die religiösen Feste durch massiven Ökonomieeinsatz abschaffen und merken nicht, wie sehr sie damit nicht nur die Kultur des Landes sondern auch das anthropologische Zeiterleben überhaupt beschädigen. Die Zeiterfahrung des „Zeithabens-für“ lässt uns unmittelbar erleben, dass Freiheit zur Grundlage des Menschen gehört, der sich schon immer in Beziehungen vorfindet, die man ohne soziale Realität überhaupt nicht leben kann. Vergänglichkeit als Erfahrung des Schicksalhaften Daneben erfahren wir nun zweitens Zeit als unaufhaltsame Vergänglichkeit. Wir können sie in keiner Weise beeinflussen. Sie schreitet voran und verkürzt in jedem Augenblick unerbittlich die uns unverfügbare Frist unsere Lebenszeit. „Mit jedem neuen Leben ist ein neuer Tod in der Welt“, lautet ein mittelalterlicher Spruch. Anders, als in der ersten Zeiterfahrung, die ich nannte, in der die Freiheit regiert, herrscht hier eine eherne, undurchdringliche Unverfügbarkeit. Zu ihr gehört, dass die Vergänglichkeit der Zeit immer schon da ist, bevor ich in meiner Freiheit überhaupt etwas tun kann. Und selbst wenn wir uns einbilden, wir könnten alles, was ist, durch unseren Willen beeinflussen, die Zeit jedenfalls können wir nicht festhalten. Dies wiederum öffnet den Blick dafür, dass ich mich, schon bevor ich mich frei äußern kann, im Zusammenhang von unverrückbaren Gegebenheiten vorfinde, die mich, wie mit der Vergänglichkeit, mit unbeeinflussbar Gegebenem konfrontieren. Niemand kann sich die Zeit aussuchen, in die er geboren wird. Niemand wählt seine Eltern, sein Erbgut, das Land seiner Geburt usw., und niemand hat sein Leben ganz in der Hand und weiß, ob alle seine Lebenspläne Wirklichkeit werden. Die Zeiterfahrung der Vergänglichkeit und des Unbeeinflussbaren in unseren Lebensvollzügen öffnet den Blick dafür, dass es im Leben neben dem Freiheitsaspekt der Selbstbestimmung auch das Unverfügbare gibt, das durch kein Tun, kein Denken und auch keinen Glauben in unsere Verfügungsgewalt übergeht, das ich nur als Basis meiner Freiheit anerkennen und überhaupt erst dann bearbeiten kann. Man hat diesem Unverfügbaren den Namen „Schicksal“ gegeben, um dem, was wir in keinem Fall handhabbar machen können, wenigstens einen Namen zu geben.15 Vor dem Zerfall der Spannung warnen Weil also nicht nur wir Christen sondern alle Menschen als Lebewesen in der Zeit in der polaren Spannung zwischen Freiheit und Schicksal leben, sind sie in ihrem individuellen und gesellschaftlichen Leben zutiefst gefährdet, wenn diese Spannung zerfällt. Und so entsteht diese seltsame Unbestimmtheit, die unser Selbst- und Weltverhältnis aber auch unser Gottesverhältnis elementar bedroht und gefährdet. Darauf aufmerksam zu machen was uns droht, wenn diese Polarität zerfällt, ist m.E. wichtig für das Handeln der Kirche und könnte ein Dienst der Kirche an der Welt

14 Prediger 3,1-8 15 Mit ihm sind unterschiedliche Erfahrungen gemeint: Schicksalsereignisse, die einem widerfahren,

Lebensschicksale, die diese vielen Schicksalsereignisse zusammenfassen (das Schicksal eines Menschen z.B.) und schließlich eine Macht (oder etwas ähnliches), die Schicksalsereignisse und Lebensschicksale bewirkt, sei es planvoll oder blind willkürlich. Vgl. Ingo Plaer, Art.: Schicksal III, systematisch-theologisch, in: TRE, Bd.XXX, 1999, S.111.

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sein, die die Folgen solchen Spannungszerfalls hautnah an vielen Gegebenheiten erfährt. III. Leben zwischen Machbarkeitswahn und Schicksalsergebenheit Wenn nur die Machbarkeit und Messbarkeit zählen Zwar gehört die Polarität von Freiheit und Schicksal zum Menschsein des Menschen, aber durch unser Denken, unsere Einstellungen und unser Handeln entfremden wir uns zunehmend davon. Viele sind überzeugt von der grundsätzlichen Machbarkeit von allem. Abgesehen von dem Machbaren interessiert sie nichts. Andere meinen, angesichts der immer komplizierter und undurchschaubarer werdenden Welt könne man sowieso nichts mehr grundsätzlich ändern, wenden sich von allem aktiven gesellschaftlichen Tun ab und interessieren sich nur noch – wenn überhaupt – für ihr eigenes kleines individuelles Leben, obwohl auch hier eine lähmende Unbestimmtheit die Ziele und den Sinn des Tuns ungewiss macht. Was geschieht, wenn nur noch ein Pol in dieser Spannung überhaupt wahrgenommen wird, will ich in aller Kürze an zwei Beispielen deutlich machen. Max Frisch hat in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts in seinem Roman „Homo Faber“ (der machende, arbeitende Mensch) das Lebensgefühl eines Menschen eingefangen, der, von der Machbarkeit alles Seins überzeugt, sich eine Art technischer Existenz gegeben hat. Für ihn gehört der ganze Bereich des unmessbaren Lebens zu den ungenauen Dingen. Was nicht gemessen werden kann, ist unbestimmt und deswegen zu vernachlässigen, ja sogar zu meiden. Aber das Lebendige ist ein niemals ganz messbarer Erfahrungsraum der Welt. Wenn Menschen im „Zeitalter der Machbarkeit“ meinen, sie könnten in Wahrnehmung ihrer Freiheit die Wirklichkeit der Welt so gestalten, dass Unbestimmtheit und Unverfügbarkeit möglichst nicht mehr vorkommen, dann blenden sie die so elementare polare Spannung aus, die die Erfahrung von Lebendigem überhaupt erst möglich macht. Für sie bezeichnet das Unwort „Schicksal“ etwas, was es eigentlich nicht geben darf. Das Unverfügbare des Lebendigen kommt in ihrem Denken nur noch als quasi antiquarischer Rest vor. Sie merken nicht, dass sie sich damit unfähig machen, sich selber und die Welt überhaupt zu erleben. Der „Homo Faber“ Max Frischs fragt sich denn auch, „was die Leute eigentlich meinen, wenn sie von Erlebnis reden. Ich bin Techniker und gewohnt, die Dinge zu sehen wie sie sind. Ich sehe alles, wovon sie reden, sehr genau; ich bin ja nicht blind. Ich sehe den Mond…, eine erkennbare Masse, die um unseren Planeten kreist, eine Sache der Gravitation, interessant, aber wieso ein Erlebnis. … Wozu soll ich mich fürchten?... Ich sehe, was ich sehe,…warum soll ich erleben, was gar nicht ist? …Ich kann mir keinen Unsinn einbilden, bloß um etwas zu erleben. … Ich weigere mich, Angst zu haben aus bloßer Fantasie“.16 Der „Homo Faber“ ist von der Freiheit zum Machen so total erfüllt, dass man in seinem Fall vom menschlichen „Mach-Zwang“ sprechen kann.17 Unverfügbare und unberechenbare Elemente haben in seiner Welt keinen Ort mehr. Perfektion, Zivilisation, Messbarkeit und Effizienz bleiben die einzig überprüfbaren Kategorien zur Erfahrung und Gestaltung der Welt. Weil der „Homo

16 Max Frisch, ges. Werke, hg. v. Hans Mayer, Bd.4, 1976, S.24f. 17 Odo Marquardt, Ende des Schicksals? Einige Bemerkungen über die Unvermeidlichkeit des Unverfügbaren,

in: Abschied vom Prinzipiellen, 2005, S.76.

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Faber“ nur das Messbare wertend überhaupt in den Blick bekommt, kann er mit dem lebendigen Leben seiner Zeitlichkeit und einer moralischen Bewertung seines Tuns nichts anfangen. Alles versucht er, mit Technik zu bewältigen. Jedoch versagen diese Konzepte, denn „Leben ist nicht Stoff, nicht mit Technik zu bewältigen“, macht ihm seine ehemalige Geliebte Hanna deutlich. Aber er versteht sie nicht.18 Es kommt mir nicht darauf an, aus Max Frischs Roman eine neue Form der Technikfeindschaft abzuleiten. Vielmehr kommt es darauf an, dass wir den verstehenden Zugang zur Wirklichkeit und damit auch zum Verständnis des Menschen und zu seiner sozialen Umwelt verlieren, wenn es nicht mehr gelingt, zwischen der menschlichen Freiheit zur Gestaltung der Welt und des eigenen Lebens und dem, was uns das Unverfügbare ist und bleibt, dem „Schicksal“, eine kreative Spannung zu erhalten. Damit bilden wir in unserem Leben die allem, was ist zugrunde liegende Spannung ab, aus der die Dynamik des Lebens überhaupt erwächst. Mit ihr zerfällt eben die Dynamik des Lebens, wenn menschliche Freiheit als Gestaltungsfreiheit unbegrenzt gedacht und ausgeübt wird. Und daraus erwächst jene quälende Unbestimmtheit als Lebensgefühl gegenüber sich selbst und unseren Weltbezügen. Aus der misslungenen totalen Freiheit des Machens folgt die Krise des Individuums, das an der Unbestimmtheit leidet, statt wirklich frei zu sein. Denn durch diese Einstellung, alles selber machen zu können, entstehen ja schreckliche Enttäuschungserfahrungen, weil die Erfahrung lehrt, dass wir niemals alles und auch noch gut machen können und uns vor allem die Folgen unseres Tuns unverfügbar bleiben. Gerade wenn unsere Stabilität an unserer Fähigkeit zum Machen allein hängt, zerbrechen wir, wenn etwas misslingt oder wir uns in Schuld verstricken. Wenn nur das Schicksal zählt Das zweite Beispiel macht deutlich, dass ähnlich zerstörerische Wirkungen ausgelöst werden, wenn der andere Pol, das unverfügbar Schicksalhafte, so stark gemacht wird, dass über dem persönlichen Leben der Einzelnen und ihrer Gruppen über Ländern, ja über der ganzen Erde, das stahlharte Gehäuse der unentrinnbaren totalen Festlegung konstruiert wird.19 Viele Mythen aber auch Dichtungen und Romane erzählen von Geschicken, die so über die Menschen verhängt sind, dass sie ihnen nicht entgehen können bzw. wenn sie es denn versuchen, ihr Leben sich in furchtbare Tragik verstrickt. Klassisch wird das im Mythos und in den Dramen von Ödipus erzählt.

Ödipus wird als Sohn des Königs und der Königin von Theben geboren. Das Orakel von Delphi prophezeit, der Königssohn würde zum Mörder seines Vaters. Daraufhin setzt ihn sein königlicher Vater gleich nach der Geburt mit durchbohrten Füßen (daher sein Name „Schwellfuß“) aus, um dieser Prophezeiung zu entgehen. Aber ein Hirte findet das Kind, zieht es auf und bringt es zum König Polybos von Korinth, der das Findelkind als Sohn annimmt. Polybos ist mit Iokaste, der früheren Gemahlin des Königs von Theben verheiratet, die von ihrem Mann verstoßen wurde. Ödipus selber geht nun zum Orakel nach Delphi, das die Prophezeiung, er würde zum Vatermörder, erneuert und hinzu fügt, er werde auch seine Mutter heiraten. Um das zu vermeiden, zieht Ödipus sich von seinen vermeintlichen Eltern in Korinth zurück. Dennoch erschlägt er ahnungslos auf einer Reise seinen thebaischen Vater Laios. Nachdem er Theben von der Sphinx befreit hat, bietet man ihm die Hand der inzwischen verwitweten Königin an, die seine Mutter ist, was er nicht weiß. Nachdem er sie geheiratet hat, wird Theben von der Pest befallen. Das delphische Orakel prophezeit, die Pest würde weichen, wenn der Mörder des Laios

18 A.a.O., S.170. Max Frisch lässt den Homo Faber deswegen das Schicksal überhaupt furchtbar erfahren.

Unwissend verliebt er sich in seine Tochter und wird ihr Geliebter. Er wird mit schuldig an ihrem Tod. Er selbst erkrankt unheilbar an Magenkrebs. Aber auch im Blick auf sein eigenes Verlöschen bleibt ihm nur die quasi instrumentelle Wahrnehmung des eigenen Zerfalls.

19 In der Theologie taucht diese Gefahr auf, wenn die notwendigen Gedanken von Gottes Allmacht, seiner Gnadenwahl und göttlicher Vorherbestimmung so radikal gedacht werden, dass kein Freiheitsspielraum für Kontingenz (d.h. das was ist, hätte auch anders sein können) mehr bleibt.

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bestraft sei. Der Seher Teiresias bringt die Wahrheit an den Tag, und völlig verzweifelt blendet Ödipus sich selbst, irrt lange umher, bis er endlich doch noch ein friedliches Ende findet.20

In dieser Geschichte vom Menschen der unwissend sich in Schuld verstrickt, seinen Vater tötet, Inzest begeht und Unglück über seine Heimat bringt, haben die Menschen überhaupt keine Freiheit, dem über sie verhängten Schicksal zu entgehen. Was sie auch machen, das Schicksal nimmt seinen Lauf. Über ihrem Leben liegt die unverfügbare Notwendigkeit, gegen die im klassischen Griechenland noch nicht einmal die Götter ein Mittel haben und die sie daher fürchten.21 Schicksalsvorstellungen in der Bibel Auch in der Bibel gibt es Spuren von solchen Schicksalsvorstellungen, aber im Unterschied zur klassischen Antike waltet hier kein Schicksal, „noch liegen Schicksale bereit“, sondern Gott ist frei, und seine Dekrete bestimmen das Geschick des Menschen und der Welt.22 Anders als bei den Griechen ist Gott keinem Schicksal unterworfen. Aber immerhin geht selbst ein so tröstlicher und voller Gottvertrauen steckender Psalm wie der 139. ganz ohne Bedenken davon aus, dass unser ganzes Leben von Gott vorhergewusst wird. „Deine Augen sehen alle meine Tage, in deinem Buch standen sie alle, sie wurden geschrieben, wurden gebildet, als noch keiner von ihnen da war.“23 Diese Unbestimmbarkeit, die aus der tiefen Verfallenheit an das unverfügbare Schicksal folgt, bringt tiefes Leid über die Menschen. Manchmal wehren sie sich dagegen, und versuchen, ein wenig Freiheit ins Spiel zu bringen, insofern sie wenigstens wissen wollen, was über sie verhängt ist, um zu versuchen, sich darauf einzustellen. Auch im Alten Testament künden Träume, Lose und andere Praktiken, über die Seher und Propheten verfügen, das Kommende. Wieviele gute Christen bedenkenlos einem astrologischen Schicksalsglauben der Sternzeichen verfallen sind, möchte ich gar nicht wissen. Freilich führt die Vorstellung, total und unentrinnbar dem längst beschlossenen Geschick folgen zu müssen, nicht nur – wie bei Ödipus – dazu, in bester Absicht immer das Falsche zu tun, sondern lähmt auch jedes Engagement und Interesse an der eigenen Lebensführung und verhindert jeden Handlungs- und Veränderungsimpuls. So verstellt auch die Auflösung der Spannung zum Pol Schicksal hin den Zugang zum Sinn des Lebens und lässt die Menschen im Leiden an der Unbestimmtheit zurück. Fazit: Das Lebensgefühl der Unbestimmtheit Damit ist nun deutlich geworden, woher diese uns seltsam lähmende Unbestimmtheit kommt. Sie entsteht dadurch, dass wir entweder durch die Überzeugung einer totalen Machbarkeit oder des vollkommenen Festgelegtseins der Geschichte die elementare Spannung zwischen Freiheit und Schicksal in unserem Tun und Denken auflösen. Die Folgen dieser Auflösung spüren wir nicht nur im nicht mehr gelingenden Umgang mit der Zeit, sondern in allen unseren Lebensbereichen, vor allen Dingen aber auch in der Lebensbewegung Religion. 20 Robert v. Ranke-Graves, Griechische Mythologie. Quellen und Deutung 1984, S. 337-342. 21 Vgl. Homer, Ilias XIV, 259-261. 22 Roland Bergmeier, Art. Schicksal II. Altes Testament und Judentum, TRE, a.a.O., S. 107. 23 Psalm 139 ist vermutlich die Unschuldserklärung eines wegen Götzendienstes Angeklagten, der damit zum

Ausdruck bringt, dass man sich vor Gott nicht verbergen kann, weil Gott um alle seine künftigen Taten wusste, vgl. Otto Kaiser, Theologie des AT, Bd.2, 1998, S.221.

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IV. Glaube zwischen Geschmacksfrage und Wahrheitsanspruch Der Glaube als persönliches Erlebnis Diese Verschiebung des Lebensgefühls zur Unbestimmtheit hat in den letzten Jahren zu einer fundamentalen Veränderung der Art und Weise geführt, wie Menschen, aber vor allen Dingen auch wir Christen unsere Religiosität leben. Diese Veränderung betrifft unsere Kirche elementar.

Schon unsere Perspektivkommission hatte 1992 bemerkt, dass die von der Reformation selber bewirkte Subjekthaftigkeit einer persönlich gewählten Glaubenshaltung und die damit veränderte Autorität der Überlieferung zu erheblicher Unsicherheit darüber führt, was denn als christliche Religion noch gelten kann. Der mit der Überzeugung, nur man selber habe das Recht zu bestimmen, was christlich ist, verbundene Zwang zur Wahl werde – so sagten wir damals – „ebenso befreiend wie belastend erlebt“. „Die wählbare Vielfalt … öffnet einen weiten Raum, beraubt aber zugleich der Sicherheit.“24 Diese subjektive Unsicherheit durch die Zweideutigkeit religiöser Erfahrung schien durch die Vermutung für die Kirche bedrohlich zu werden, dass die Säkularisierung die Religion immer weiter aus dem Leben der Menschen verdrängt. Oft hatten wir in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts das Gefühl, wir seien kirchenleitend nur noch damit beschäftigt, das „Unternehmen“ Kirche irgendwie abzuwickeln.

Aber es ist ganz anders gekommen. Die Säkularisierung schreitet fort, aber sie bedeutet nicht das Ende der Religion. Diese Botschaft und ihre empirische Bestätigung haben uns getröstet – vielleicht zu sehr.

Die Mitgliedschaftsstudien der EKD haben immer zeigen wollen, dass die Kirchenbindung unserer Mitglieder bei allen Problemen weiterhin doch aufs Ganze gesehen stabil ist. Das war tröstlich. Aber dieser Trost hat uns die Veränderungen übersehen lassen, die sich inzwischen ereignet haben. Gerade hat die Bertelsmannstiftung einen sog. „Religionsmonitor 2008“ herausgegeben, der die gegenwärtige Religionskultur der Menschen beschreibt. Ihr zufolge ist Religion keineswegs aus dem Leben der Menschen verschwunden. Im Gegenteil: es zeigt sich, dass die Menschen in Deutschland eine erhebliche religiöse Kompetenz haben. Sie können religiöse Formen nicht nur als „Religion“ identifizieren, also einen Bezug auf „Transzendenz“ in ihnen erkennen, sie können diese Transzendenzerfahrungen auch „praktisch auf ihr Leben … beziehen“.25 Dennoch: „Zwar stimmt es, dass die kirchlichen Organisationsformen die religiöse Landschaft in unserem Land deutlich und unübersehbar nach wie vor prägen. Aber – und das ist das Entscheidende – die Kirchenmitgliedschaft selbst (bestimmt) das individuelle religiöse Erleben letztlich nicht eindeutig“,26 sondern sie wird fundamental unbestimmt gelebt.27 Es ist für den einzelnen Menschen unbestimmt, was evangelisch ist. Das legt er im Wesentlichen selber fest. Die Menschen müssen – auch das eine Veränderung gegenüber früher – die Inhalte ihrer Religion wählen, und dabei wählen sie nicht mehr etwa nur das, was als „evangelisch“ durch Schrift und Bekenntnis mithilfe der Kirche bestimmt wird. Sie reden über ihre religiösen Einstellungen ohne Rücksicht auf die organisierten Religionssysteme bzw. die von ihren Kirchen theologisch-dogmatisch festgelegten Inhalte. Und dabei gibt es eine wesentliche Verschiebung zur Unbestimmtheit hin. Am Beispiel von der Lehre vom Sühnopfer Jesu Christi und manchen kritischen Reaktionen darauf lässt sich das zeigen. Viele bemühen sich redlich, sie zu verstehen, obwohl sie in dieser Denkwelt nicht mehr denken können. Aber für ganz viele von uns ist nicht wichtig, ob der noch so gut erklärte Inhalt plausibel ist, 24 Person und Institution, 1992, S. 25. 25 Armin Nassehi, Erstaunliche religiöse Kompetenz. Qualitative Ergebnisse des Religionsmonitors, in:

Religionsmonitor 2008, S.113f. 26 A.a.O., S.117 27 Soziologisch ausgedrückt heißt das, dass die unterschiedlichen Formen der Lebensführung in der

Kommunikation zwischen der Kirche und ihren Mitgliedern nicht abgestimmt sind.

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sondern ob sie diese Lehre für sich authentisch vertreten können, also, ob sie als Glaubenserlebnis für sie präsentierbar oder eher anstößig und daher abzulehnen ist. Anstößigkeit wird zu einem theologischen Kriterium der Wahrheit. Entscheidend ist dazu nicht, ob diese Lehre „wahr“ ist in dem Sinn, dass sie dem möglichst widerspruchsfreien Lehrbestand der evangelischen Kirche entspricht, sondern ob sie in die Biographie so passt, dass sie die eigene Persönlichkeit abbildet. Das entscheidende Kriterium ist also, ob eine Lehre in meine Persönlichkeit passt. Tut sie das nicht, ist sie gleichgültig, wenn nicht irrelevant. Die Unbestimmtheit nimmt also die Frage nach der Wahrheit einer religiösen Überzeugung völlig zurück auf die subjektive Präsentierfähigkeit. Nur mit dem, was man präsentieren kann, wird untereinander religiös kommuniziert. Glaube jenseits eines gemeinsamen Bekenntnisses Andere missverstehen die Freiheit, die darin liegt, dass das Neue Testament eben auch anders als mit Mitteln der Opfertheologie von der Heilsbedeutung des Kreuzes Christi sprechen kann und diffamieren diese Freiheit als „Geschmacksurteil“, was genau so haltlos ist, weil sie nicht begründen, sondern dogmatisch festlegen, weshalb sie eine von vielen Verstehensmöglichkeiten zum unverzichtbaren Dogma erklären. Das hat tief greifende Folgen. Ich habe mich oft gewundert, dass viele, sogar treue evangelische Kirchenmitglieder nicht in der Lage sind, „sich im Sinne einer religiös-konfessionellen oder kirchlichen Lehrmeinung konsistent (d.h. zusammenhängend, widerspruchsfrei) darzustellen“, und sei es mit Sätzen aus der Bibel, dem Katechismus oder dem Gesangbuch. Das habe ich bisweilen heftig kritisiert. Jetzt aber weiß ich, warum das so ist. Offenbar kommunizieren wir so nicht mehr über Religion. „Was aber durchweg als typische Form religiöser Kommunikation gelingt, ist die Form authentischer Selbstdarstellung, durch die religiöse Kommunikation wirkt“.28 Die Folgen dieser Form gelebter Religion müssten uns alarmieren: „Es scheinen nicht mehr die kirchlichen Institutionen zu sein, an denen sich die Religiosität gerade von Hochreligiösen abarbeitet, sondern die authentische Präsentation des eigenen Lebens, das sich den Konsistenzzumutungen (die Zumutung des Zusammenhangs und der Widerspruchsfreiheit) konfessioneller Praxis unmerklich aber deutlich entzieht.“29 Wenn man dies bedenkt wird klar, warum so Viele sich ohne Probleme als Christ oder als Christin verstehen und zugleich hingerissen den Worten des Dalai Lama Glauben schenken oder sich dem Wohlfühlschmus des kommerziellen Ayurveda anvertrauen können. Es wird klar, weshalb auch Christen die Meinungen des Koran über Jesus für genau so wichtig wie die des Neuen Testaments halten können, und den Glauben an die Auferstehung der Toten durch ein Versinken ins Nirwana oder die Lehre von der Wiedergeburt auf einer höheren Seinsstufe ersetzen können und trotzdem Christ bleiben wollen. Mit Feng Shui ordnen sie ihren Wohnraum in Grundstrukturen der Welt ein, wie sie von asiatischen Weisheitsreligionen bestimmt werden. Die Unbestimmtheit in Sachen Religion, nicht darüber, wie Religion sich zu gestalten hat, sondern was ihr Inhalt ist, macht Alles mit Allem vergleichbar, wenn es nur persönlich und authentisch ist. Selbstverständlich erleben die Menschen Unterschiede, aber sie haben sich daran gewöhnt – nicht nur durch die Medien –, Unterschiede spannungslos nebeneinander zu stellen, wenn sie nur authentisch präsentiert werden. Religion hat die Form des „Fernsehformats“ (Nassehi)

28 A.a.O., S.121. 29 A.a.O., S.131.

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angenommen. Die so lebensnotwendige Spannung zwischen Freiheit und Schicksal wird auf den Pol individueller Freiheit hin aufgelöst. Wie ich meine Religion richtig leben kann, entscheidet nicht mehr ein Prozess der Auseinandersetzung von Tradition und der Erfahrung des Lebens, dem Ringen um einen persönlichen Glauben, der als Deutung des eigenen Lebens auch mit der Wahrheit des Unverfügbaren Gotteswillens rechnet, sondern was ich selber spannungslos zu meiner Religion erklärt habe. „Der Problemhorizont religiösen Erlebens ist die individuelle Lebensführung, nicht mehr, ob die Inhalte dieser Religion reflexiv, intellektuell oder konfessionell, also bekenntnismäßig, zusammenpassen“.30 Jeder hat seinen eigenen Glauben. Wenn da etwas nicht zusammenpasst, entsteht kein Druck, die Widersprüche bearbeitend aufzulösen, vielmehr werden sie einfach unbestimmt nebeneinander stehen gelassen. So nimmt man aus den Widersprüchen jede Spannung heraus, weil sie sich nicht wirklich reiben, sondern für mich darstellbar und damit inhaltlich gleichgültig gemacht werden. Das Einzige, was zählt, ist, ob diese Form authentisch gelebt werden kann. So entsteht Glaube und Religion – mit oder ohne Kirche. Damit sie mich nicht falsch verstehen: Es ist im Gegensatz zum katholischen Einheitsverständnis der Kirche typisch für das evangelische Verständnis von der Einheit der Kirche, dass unterschiedliche Deutungsweisen nebeneinander bestehen können, die erst dann die Einheit zerstören, wenn sie in zentralen Inhalten (z.B. Rechtfertigungsverständnis) voneinander abweichen. Und das Christentum hat in seiner Geschichte immer wieder Inhalte und Denkstrukturen anderer Religionen in sich aufgesogen. Sonst gäbe es kein Weihnachtsfest, keine Trinitätslehre usw.. Aber die spannungslose Religionsmischung entsteht da, wo die verschiedenen Inhalte der verschiedenen Religionen unverändert nebeneinander stehen zu einem Glauben verschmelzen, der dann nur noch zufällig christlich genannt wird, ohne die inneren Widersprüche aufzulösen. Es fällt mir schwer, den geradezu revolutionären Folgen für unsere Kirche und ihre Anschlussfähigkeit an das Denken der Menschen (so möchte ich einmal den ersten Schritt der Mission nennen) standzuhalten. Waren alle religiös-theologischen Bildungsprogramme der letzten Jahre umsonst bzw. nur auf das kleine Häuflein derer gerichtet, die sich noch für das Lehrangebot der Kirche interessierten bzw. sich daran rieben? Haben wir hier eine Erklärung für den oft so geringen Erfolg unserer Anstrengungen? Glaube als Patchwork der Religionssplitter Ich habe mich oft gefragt, weshalb z.B. im interreligiösen Dialog so viele Menschen und vor allen Dingen auch so viele Christen auf mein Insistieren auf den charakteristischen und nicht harmonisierbaren Unterschieden z.B. zwischen Christentum und Islam mit völligem Unverständnis reagieren. Jetzt weiß ich es. Es liegt offensichtlich daran, dass es vielen Christen völlig gleichgültig ist, welche Religion man für seine eigene Lebensführung als wichtig erachtet, sondern dass überhaupt jemand sich zu einer Religion bekennt. Wenn dies geschieht, dann ist schon alles in Ordnung. Auch Christen meinen: „Jeder hat seinen eigenen Glauben“, was in der Tat auf eine Form von Religiosität verweist, „bei der weniger das Was als das Wie im Vordergrund steht.“31 Alle unsere bisherigen Aktivitäten verfolgten eigentlich das Ziel, unser evangelisches Profil zu schärfen, Menschen in ihrem Glauben dadurch zu stärken, dass wir deutliche Inhalte und die aus ihnen folgenden

30 A.a.O., S.131. 31 A.a.O., S.122.

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Strukturen angeboten haben. Solche inhaltlich-theologischen Voraussetzungen auch unseres kirchenleitenden Handelns wurden in der intellektuellen Auseinandersetzung mit unserer Tradition bestimmt, wie z.B. unser Grundartikel es formuliert: Im Hören auf die Schwestern und Brüder. Eigentlich ist es unerträglich für uns als Kirche, solche theologisch unvereinbaren religiösen Inhalte, die auch unsere Mitglieder als Kulturalisierung der Form des christlichen Glaubens, also als „evangelischen Glauben“ pflegen, anzuerkennen. Aber – so meint Armin Nassehi – gerade dies müssten wir tun, wenn wir überhaupt noch gehört werden wollen.32 Wie bei jeder Theorie muss man auch bei Nassehi zwischen den kritischen Analysen und seinen Schlussfolgerungen und Entscheidungen unterscheiden. Seinen Empfehlungen kann ich nicht folgen. Denn das Problem dieser Form, Religion als „authentische Präsentierbarkeit des einen Lebens“ zu leben, besteht darin, dass hier die so lebensnotwendige Spannung zwischen Freiheit und Schicksal zugunsten des einen Pols, nämlich der Freiheit, aufgelöst wird. Zwar können vielfach Teile verschiedener Überlieferung, auch solcher, die sich ganz offensichtlich widersprechen, harmonisiert werden. So ist z.B. die Überführung von Freiheit und Schicksal in ein Spannungsverhältnis der Versuch, etwas zusammenzudenken, was sich eigentlich auszuschließen scheint. Aber wenn das einzige Harmonisierungselement, die je eigene Präsentationsfähigkeit, die Freiheit meiner Person ist, dann fällt etwas Notwendiges aus. Nur noch diejenigen Elemente, die ich mir dafür verfügbar machen kann, zählen für meine persönliche Darstellung. Entzieht sich etwas meiner Verfügbarkeit, dann müssen eben „notwendige Abschiede“ zelebriert werden. Interessant ist, dass diese Abschiede ja angeblich nicht freiwillig sondern „notwendig“ sind, also keine Abweichungen davon zulassen. Es entsteht ein neues dogmatisches System, das unbedingten Glauben fordert, obwohl es sich gerade dagegen kritisch absetzen will. Insofern sind solche Empfehlungen alles Andere, als das, wofür sie sich ausgeben. Sie sind nämlich nicht liberal sondern höchst autoritär. Wesentlicher aber ist, dass durch die Auflösung des Spannungsverhältnisses und die Konzentration der Stabilität eines Menschen nur auf seine eigene Präsentationsfähigkeit eine nicht bearbeitbare Zerbrechlichkeit ins Spiel gebracht wird. Was ist, wenn die Präsentation nicht gelingt? Habe ich auch dann noch einen Halt für meine Persönlichkeit, wenn meine Präsentation nicht anerkannt wird oder meinem Leben selber nicht standhält? Vor allem aber frage ich noch einmal: Was geschieht, wenn die Präsentation der Authentizität misslingt oder keine Anerkennung von außen findet? Gibt es einen Halt, der unabhängig von allen Meinungen und Bewertungen ist, wie ihn z.B. der Glaube an die unverfügbare aber gegebene Zusage der Treue Gottes ist? Was geschieht, wenn Schulderfahrung mein Selbstbild und die Anerkennung durch Andere, die auf diesem präsentierten Selbstbild beruhten, zerstören bzw. Andere es zerstören? Gehört nicht zur Authentizität die Zerbrechlichkeit des Daseins, die sich in der Spannung von Freiheit und Schicksal so lebensnah ausdrückt, wie wir an der Zeiterfahrung gesehen haben? Armin Nassehis Analyse und Handlungsempfehlung, uns auf diese Präsentationsform von Religion einzustellen, damit wir überhaupt noch in der religiös kommunizierenden Gesellschaft gehört werden, stellt uns vor die alles Leitungshandeln der Kirche, auch das geistliche, entscheidende Frage, ob wir das wollen oder nicht. Mit dieser Frage sind hohe Risiken verbunden. Tun wir das nicht, droht die Kirche alle Anknüpfungspunkte an das authentische Lebensgefühl der Menschen zu verlieren: Die Menschen verstehen nicht, wovon wir reden, auch wenn wir es noch so laut und eindringlich tun. Andererseits droht der Kirche der Zerfall des 32 Vgl. a.a.O., S.132.

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Evangeliums in die spannungslose Beliebigkeit. Christlicher Glaube und das unbestimmte Wohlgefühl irgendeines Wellness-Erlebnisses können dann auf einer Ebene gesehen werden. Glaube als unbestimmte Spiritualität Die interreligiöse Folge solcher Kommunikation von Religion ist die Einebnung der tief greifenden Differenzen der theologischen Inhalte auf eine ganz und gar unbestimmte „Spiritualität“ – von der ich sowieso nicht weiß, was sie eigentlich ist – auf die hin aber alle religiösen Lebensäußerungen angeblich alle verbindend ansprechbar sein sollen. Vor so einer Entwicklung zur „Anselm-Grünisierung“ unseres geistlichen Erbes wurde kürzlich bei der Kirchentagsvorbereitung in Bremen gewarnt. Mit Recht. Denn diese Form der religiösen Kommunikation verstellt letzten Endes jede wirkliche Toleranz, die ja gerade nicht darauf beruht, dass alles Unterschiedliche spannungslos gleich gültig ist und damit gleichgültig wird, sondern im Fremdsein-Lassen des Fremden, in der „Zivilisierung der Differenz“ (Michael Walzer). Gott ist unverfügbar aber nicht beliebig Ich bitte alle, die an der geistlichen Leitung der Kirche Anteil haben, dringend und in allem Ernst, sich diesen Fragen zu stellen. Und ich gebe zu bedenken, dass die Christenheit immer dann stark war, wenn die Authentizität einer Person (und ihre Freiheit) spannungsvoll rückgebunden war in der Authentizität der Wahrheitsfrage, die alle Freiheit mit der Unverfügbarkeit des Gotteswillens und der Unaussprechlichkeit der Wahrheit gekoppelt hat, die in Gottes Unverfügbarkeit ihren Halt hat. Ich meine, nur so werden wir der so seltsam lähmenden Unbestimmtheit widerstehen können. Und wenn wir dies tun, würde die Kirche nicht nur sich selbst sondern auch der Gesellschaft einen großen Dienst erweisen deren Leiden an der Unbestimmtheit in der sinkenden und begründeten Bereitschaft erkennbar wird, den Institutionen der Gesellschaft kritisch zu vertrauen. Aber ich bin nicht sicher, und wir müssen mit allem Ernst darüber reden. V. Gehäuse für das Wort Gottes – Liturgie und Kirchengebäude als Orte der Spannung zwischen Freiheit und Schicksal

1. Wie dieser Dienst aussehen kann, möchte ich an drei Beispielen erläutern: 2. der liturgischen Arbeit in der Ortsgemeinde und am Gebäude die Kirche, 3. der Patientenverfügung 4. und dem Klimawandel und Schwund der biologischen Vielfalt.

Die Ortsgemeinde unterscheidet sich von der Kirche an anderen Orten in aller Regel dadurch, dass sie einen zentralen liturgischen Raum hat, in dem das Erleben der Spannung von Freiheit und Schicksal, das Zusammen von menschlicher, freier Möglichkeit und göttlicher Unverfügbarkeit in hervorragender Weise gegeben ist, nämlich die Kirche – mitten im Dorf oder in der Stadt. Schon ihre Architektur signalisiert, dass es hier um etwas Anderes geht, als in den Wohn- oder Bürohäusern, den Scheunen oder in den Ställen, den Fabriken, in denen wir

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unseren Alltag leben. Das Kirchengebäude steht für eine Botschaft, die Menschen geistliche Identität, Heimat und Schutz auch in Schicksalsschlägen gibt. Es ist das Gehäuse für das Wort Gottes, das als Schrift, Predigt und Sakrament, auch in der Musik Gestalt gewinnt, und für die menschliche Antwort im Lobpreis Gottes. Im Kirchengebäude gibt es Freude und Tränen um Leben und Tod, wird das Erleben der rinnenden Zeit in der rituellen Praxis der Liturgie und der Kasualien in Gottes Ewigkeit gebunden. Die ungeheure Bedeutung dessen, was wir in jedem Gottesdienst tun, indem wir ihn unter dem Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes Gottes Weltherrschaft unterstellen, ist uns oft gar nicht bewusst. Damit unterstellen wir das Walten der Zeit und die Rätsel des Schicksals und seine Unberechenbarkeit dem Gott, von dem wir glauben, dass er seine Menschen und seine Welt liebt und in die Freiheit von Sünde und Tod führt. Und damit geben wir der rinnenden Zeit und ihrer unser Leben letztlich zerstörenden Unaufhaltsamkeit einen Anfang und eine aufs Ende gerichtete Hoffnung. Die unberechenbar dunkel am Leben nagende Zeit verwandelt sich in die Zeit, die Gott in seinen Händen hält. Jeder Gottesdienst ist schon von Beginn an ein Fest gegen die Angst und gegen den Tod. Sein Ziel ist die Freiheit der Kinder Gottes. Er verwandelt uns aus orientierungslos dem Tod Preisgegebenen, in Menschen, die sich in Freiheit Gott, den Menschen, und dem Leben hingeben können. Und wie wir mit dieser von Gott geschenkten Freiheit umgehen, findet im Sündenbekenntnis die Sprache von lebensgesättigten, reifen Personen, die um die Zerbrechlichkeit des Daseins und aller guten Absichten wissen und ihre Freiheit auf Gottes Erbarmen gründen. In dieser Weise könnte man unserer Liturgie entlang gehen. Sie ist ein unglaublicher Schatz an gelebtem Leben und voller Spannung, wenn sie ernst genommen wird. Vor dem Altar (oder dem Abendmahlstisch) werden unser Versagen und unsere Schuld mit Gottes Erbarmen zusammengebracht und die Botschaft von der Auferstehung der Toten an das Kreuz Christi gebunden. Wir bauen das Haus, wir machen es als etwas Besonderes kenntlich, leben und arbeiten darin und geben unsere Kraft hinein. Aber entscheidend gefüllt wird es nur mit und durch Gottes Geist, der unserem Geist Zeugnis gibt, „dass wir Gottes Kinder sind“ (Rö 8,16). Die Kirche am Ort ist daher zunächst ein Raum, der unsere passiven empfangenden Stärken beleben und „der Seele Raum geben“ soll.33 Damit wird aber auch durch das Kirchengebäude selber schon deutlich, dass Glauben vom Gewahrwerden der unverfügbaren Bedingungen des Lebens lebt, über die wir gerade in unserer Freiheit nicht verfügen können. Auch die Architektur unserer Kirchen verkündigt das Evangelium, wenn auch auf andere Weise als Predigt und Sakrament. Frei wollen und dürfen wir uns in ihnen bewegen und Heimat finden – und dennoch sind die Kirchen etwas Anderes als unsere Wohnzimmer. Genau das macht die Kirche auch bei aller Vertrautheit notwendig fremd. Wir bewegen uns in einem Kirchenraum anders als in den anderen Räumen unseres alltäglichen Lebens. Unsere Kirchen sind eben eine fremde Heimat.

„Die heiligen Räume haben heute ihr Problem mit uns: Wir lieben die Fremde nicht! In narzisstischen Lagen versuchen die Menschen, alles sich selber gleich zu machen und sich alles anzueignen. Sie wollen sich dauernd selber vorkommen, sie wollen die Wärme und die Unmittelbarkeit einer sich selbst feiernden Gruppe. Und so soll es auch im Gottesdienst und in der Kirche gemütlich sein wie zu Hause im Wohnzimmer. Je individueller und je formloser die Einzelheiten und die Gruppen vorkommen, um so authentischer scheint der Gottesdienst zu sein. Die Selbstfeier der Gemeinde wird zur Gottesdienstabsicht. Dieser Selbstfeier werden die Texte, die Formen und manchmal auch die Räume unterworfen. Die Gemeinde will unmittelbar zu sich selber sein, und so verliert der Gottesdienst seine

33 Fulbert Steffensky, Der Seele Raum geben, in: Heilige Räume, Materialhefte des Zentrums Verkündigung

der EKHN Nr. 104, 2006.

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Fremdheit, seine Andersheit. … Die Sakralität der Handlung und des Raumes wird nicht aufgehoben wie oben beschrieben durch das prophetische Wissen um die Heiligkeit aller Orte, sie wird zerstört durch die Banalität narzisstischer Allgegenwart.“ A.a.O., S. 22f.

Jede Kirchengemeinde hat mit ihrem Gebäude eine besondere Chance, die blinde Geläufigkeit einer Gesellschaft kritisch zu unterbrechen, die scheinbar alles dem Gesetz der Machbarkeit unterwirft. Sie dokumentiert durch ihr Dasein aber auch durch ihre Glocken, dass die Kirche dafür da ist, mit dem in Kontakt zu kommen, der uns zu einem getrösteten, mutigen und hoffnungsgegründeten Leben durch das Evangelium ermächtigen will. So hat das Kirchengebäude schon als Gebäude Anteil an der Verkündigung des Evangeliums. Von daher wird es mehr als verständlich, dass die Kirchengemeinden an ihren Kirchen auch hängen. Nun zeichnet sich ab, dass der Rückgang der Gemeindegliederzahlen und unsere absehbar geringer werdende Finanzkraft dazu führen werden, dass wir uns auch von Kirchengebäuden trennen müssen. Es tröstet wenig, dass die römisch-katholische Schwesterkirche bereits viel mehr Kirchen aufgegeben hat und noch mehr aufgeben wird, als wir. Es ist auch kein wirklicher Trost, dass in der EKHN, gemessen an anderen Gliedkirchen der EKD, bisher nur ganz wenige Kirchen, und die zumeist in den Großstädten, aufgegeben worden sind.34 Vermutlich wird an diese Problematik auf dem Land anders zugegangen werden, als in den Großstädten. Jedoch scheint es mir ebenso bedauerlich wie notwendig, sich intensiv Gedanken zu machen, wie wir mit unserem Gebäudebestand umgehen. Es ist ganz klar, dass wir den gegenwärtigen Umfang nicht werden halten können. Ein Gebäudestrukturplan der EKHN wurde bereits in einer ersten, nur wenig detaillierten, Fassung erstellt, aber sein Nutzen ist begrenzt, weil die Gesamtkirche nur über relativ wenige Gebäude verfügt. Die Gemeinden sind die Eigentümer ihrer Kirchen. Immerhin ist das Problem erkannt, und wir sollten die vermutlich nicht wiederkehrende Gelegenheit finanzieller Überschüsse dazu nutzen vorzusorgen, damit wir den Gemeinden unserer Kinder und Enkel keine Lasten aufbürden, die sie nicht werden tragen können. Daher hat die Kirchenleitung vorgeschlagen, den größten Teil der Mehreinnahmen aus dem Haushaltsüberschuss 2007 für die Zukunftssicherung der Gemeinden zu nutzen. Fünf Dinge sollten m.E. in diesen Fragen immer bedacht werden:

a. Der Erhalt der Kirche hat Vorrang vor dem Erhalt aller anderen Gebäude der Gemeinde. Bevor eine Kirche entwidmet oder aufgegeben wird, sollten alle anderen Möglichkeiten zu ihrem Erhalt sich als nicht durchführbar erwiesen haben.

b. Andere Nutzer des Kirchengebäudes sollten unter geistlichen und strategischen Gesichtspunkten ausgewählt werden.

c. Umwidmungen haben in der Regel Vorrang vor Abriss. d. Alle Entscheidungen brauchen Kommunikation und Transparenz von

Anfang an. e. Alle Entscheidungen, die zu fällen sind, sind Teil der geistlichen Leitung

und müssen deren Kriterien folgen. Das schließt wirtschaftliche Überlegungen nicht aus sondern gerade ein.

In unserer Kirche stellt sich diese Frage zum ersten Mal in größerem Umfang in Frankfurt. Dort hat man mit beispielhaftem Elan, mit Transparenz und Augenmaß begonnen, sich auf das Kommende einzustellen. So, wie es in Frankfurt bisher 34 Die EKD erstellt gerade eine Statistik.

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angepackt wird, wird die Balance zwischen Freiheit und Schicksal gehalten: wir wissen, was – von uns nicht beeinflussbar – kommen wird. Aber wir sind frei, das Kommende zu gestalten. VI. Patientenverfügung – Krankheit und Sterben zwischen Freiheit und Schicksal Eine weitere Konkretisierung erfährt das Spannungsfeld zwischen Freiheit und Schicksal im Krankenhaus, Altenheim und Pflegeheim in der Patientenverfügung. Der Deutsche Bundestag versucht seit einiger Zeit eine gesetzliche Regelung der Patientenverfügung zu schaffen, doch aufgrund der verhärteten Positionen in den vorliegenden Gesetzentwürfen ist derzeit offen, ob es überhaupt zu einer gesetzlichen Regelung kommen wird. Hauptstreitpunkte sind die Fragen der Verbindlichkeit (Wie bindend ist der Wortlaut für den Arzt?) und der Reichweite (Bei welchen Erkrankungen darf der Patient die Behandlungen begrenzen?). Die Unbestimmtheit in diesem gesellschaftlichen Feld ist Reflex der Sicherheitsbedürfnisse, die sich auf diesem so wichtigen Feld unserer Lebensführung als so schwierig zu gestalten erweisen, müssen sie doch mit den Freiheitsrechten des Einzelnen abgewogen werden. Dies zeigt sich in der Verhärtung der politischen und juristischen Fronten. Aber auch theologisch versuchen wir ja, mit Hilfe unserer Freiheit und unserer Selbstbestimmung in der Patientenverfügung für Verhältnisse vorzusorgen, in denen wir eigentlich nicht mehr fähig sein werden, unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Nehmen wir mit unserem Sorgen etwas in unsere Regie, was eigentlich in Gottes freier Verfügung steht, nämlich das Ende unseres Lebens? Umgekehrt: Verhalten wir uns, wenn wir nicht vorsorgen, verantwortungslos gegenüber Ärzten und vor allem gegenüber unseren Angehörigen? Ich halte eine Patientenverfügung, wie unsere Kirche sie empfiehlt, für einen ganz wichtigen Dienst der Kirche an den Menschen in einer so kritischen Situation ihres Lebens. In der Patientenverfügung werden Wertvorstellungen und Behandlungswünsche zum Ausdruck gebracht für den Fall, dass ich selbst – vorübergehend oder dauerhaft – nicht mehr in der Lage bin, meinen Willen dem Arzt direkt kund zu tun. Für Ärzte und Pflegepersonal sind diese Verfügungen wichtig, weil sie sich aus ethischer und rechtlicher Sicht am Willen des Patienten zu orientieren haben, wollen sie sich nicht dem Vorwurf einer strafbaren Körperverletzung aussetzen.35 Der Ratsvorsitzende der EKD, Bischof Huber, hat Mitte Februar 2008 in einem Interview mit dem Deutschen Ärzteblatt beklagt, dass in Pflegeheimen bei der Aufnahme nach einer Patientenverfügung gefragt werde.36 Er verband dies mit der Sorge, es könnte der Eindruck entstehen, das Vorliegen einer Patientenverfügung sei die Voraussetzung für die Aufnahme und damit eine Beschneidung der Freiheit

35 Die grundsätzliche Verbindlichkeit einer solchen Patientenverfügung ist für den Arzt sowohl von der

Bundesärztekammer (Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung, 2004) wie auch vom Bundesgerichtshof (Beschluss vom 17. März 2003) ausdrücklich betont worden.

36 „Bereits jetzt wird oftmals in Pflegeheimen bei der Aufnahme regelmäßig nach einer Patientenverfügung gefragt. Es darf jedoch nicht der Eindruck entstehen, das Vorliegen einer Patientenverfügung sei die Voraussetzung für die Aufnahme. Denn zur Freiheit eines Menschen gehört es auch, keine Patientenverfügung haben zu müssen. Meine Sorge ist zum einen, dass eine gesetzliche Regelung dieses Missverständnis auslösen könnte, und zum anderen, dass eine gesetzliche Regelung das Gleichgewicht von Selbstbestimmung und Fürsorge für das Leben ins Rutschen bringen könnte. Das kann ich unter gar keinen Umständen gutheißen.“ Klinkhammer, Gisela; Richter-Kuhlmann, Eva. „Interview: Hohe ethische Standards gefordert“, in: Deutsches Ärzteblatt 2008; Jg. 105 (Heft 7): A-303.

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des Einzelnen. Das darf es natürlich nicht sein. Die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen gilt es zu schützen und genau aus diesem Grund begrüße ich – anders als Bischof Huber – diese Entwicklung, dass in Krankenhäusern und in Altenheimen bei der Aufnahme zunehmend nach einer Patientenverfügung gefragt wird. Viele ethische Dilemmata entstehen, weil die Frage, was im Notfall zu tun ist, im Vorfeld nicht mit den Beteiligten besprochen wurde. Wenn der Notarzt gerufen wird, hat dieser kaum Zeit, nach dem mutmaßlichen Willen des Patienten oder einer Patientenverfügung zu fragen, sondern bringt den Patienten ins Krankenhaus. Dort wird alles medizinisch Mögliche getan, und manchmal müssen die Beteiligten dann nach Tagen betroffen feststellen, dass der Patient dies alles so gar nicht gewollt hatte. Aus meiner Sicht ist es also nur zu unterstützen, wenn Altenheime und Krankenhäuser zu Beginn der Aufnahme nach einer Patientenverfügung fragen, vorausgesetzt diese Frage wird von folgendem ethischen Motiv geleitet: Das Krankenhaus/Pflegeheim möchte auch dann die Würde und das Selbstbestimmungsrecht des Patienten achten, wenn sich der Bewohner oder Patient in einem Zustand befindet, in dem er sich selbst nicht mehr direkt äußern und seinen Willen dem Arzt nicht mehr direkt kundtun kann.37 Die Botschaft dabei lautet: Wir bemühen uns, ihren Willen und ihre Wertvorstellungen zu respektieren, auch wenn sie diese – zwischenzeitlich – nicht äußern können. Zudem ist es ein Gesprächsangebot – und wer, wenn nicht die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in kirchlich-diakonischen Einrichtungen, sollte diese sensiblen Fragen nach den Grenzen des Lebens und Sterbens ansprechen? Allein die sog. „Christliche Patientenverfügung“, die gemeinsam von evangelischer und katholischer Seite erarbeitet wurde, ist bereits über 1 Million Mal verteilt worden.38 Daran sieht man den grundsätzlich positiven Zugang der beiden großen christlichen Kirchen zu dieser Art der Vorsorge. Der Christ „pfuscht“ Gott hier nicht ins Handwerk, wenn er sich Gedanken darüber macht, wann das medizinische Bemühen an ein Ende kommen soll.

In Anknüpfung an Luthers im Jahre 1519 erschienenen „Sermon von der Bereitung zum seeligen Sterben“ lässt sich durchaus sagen, dass der Christ ermutigt werden soll, seine letzten Dinge zu regeln und sein “Haus zu bestellen”, gerade auch, um seinen Angehörigen nicht die Last unsicherer Entscheidungen aufzubürden. Denn das ist im Krankenhaus mitunter die belastende Folge: Die Ärzte müssen sich bei ihrer Behandlung am mutmaßlichen Willen des nicht mehr entscheidungsfähigen Patienten orientieren und wenn keine Patientenverfügung vorliegt oder ein Bevollmächtigter benannt wurde, werden die Angehörigen zum mutmaßlichen Willen befragt. Für den Einzelnen kann es nun ein schmerzlicher Vorgang sein, sich eingestehen zu müssen, über das Sterben und die Grenzen der Behandlung nie mit dem Ehepartner, der eigenen Mutter oder den eigenen Geschwistern gesprochen zu haben. Die Tragik dabei ist, dass gerade das Gespräch über Sterben und Tod mit den Menschen am schwierigsten sein kann, die mir persönlich am nächsten stehen. Und auch ich selbst muss innerlich bereit sein, mich meiner Endlichkeit, meinem eigenen Sterben zu stellen.

Zur Abfassung einer Patientenverfügung muss ich somit befähigt werden, und dafür gibt es auch evangelische Beratungsstellen. Und dies auf zweierlei Weise: Zum einen verlangt das Erstellen einer Patientenverfügung von den Bürgerinnen und Bürgern einen offeneren Umgang mit der eigenen Endlichkeit. Da sich jedoch nicht alle Menschen mit diesen – unter Umständen emotional sehr belastenden – Fragen auseinandersetzen wollen, wird die Patientenverfügung auch nicht für alle das geeignete Mittel sein. Aber ich muss in der Lage sein, Erkrankung, Sterben und Tod ins Auge zu fassen

37 Nach wie vor verstirbt jeder zweite (!) Bundesbürger in einem Krankenhaus (Statistisches Bundesamt

Wiesbaden). Nicht eingerechnet sind die Personen, die in einem Pflegeheim oder Altenheim versterben. 38 Wie viele Bürger die Verfügung dann wirklich ausgefüllt und unterschrieben haben, ist allerdings offen.

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Wir haben dies bereits im Bereich der Organspende gesehen: Nur ein geringer Teil der Bevölkerung hat aktiv die eigene Position zur Organspende (ob Ja oder Nein) in einem Organspendeausweis dokumentiert oder mit den Angehörigen besprochen. Analog dazu werden sich auch keineswegs alle Bundesbürger mit dem Thema Patientenverfügung befassen wollen.

Häufig benötigen Menschen dabei seelsorgerliche Begleitung, die viele Formen unseres kirchlichen Handelns haben kann. Viele Kirchengemeinden geben den Menschen hier einen hilfreichen Rahmen, wenn sie zur Osterzeit oder im November dieses wichtige Thema in Veranstaltungen aufgreifen und diese Zeiten des Kirchenjahres bewusst nutzen, um Menschen zu befähigen, mit diesen Lebensthemen besser umzugehen.

Die zweite Befähigung ist eine inhaltliche: Wie erstelle ich meine Patientenverfügung? Das ist heute noch keineswegs zufriedenstellend gelöst: Zwar gibt es viele engagierte Personen und Anlaufstellen, doch es fehlt vielerorts die ärztlich-medizinische, die pflegerische und die juristische Beratung bei der Erstellung einer Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht. Die Bürgerinnen und Bürger sind darauf angewiesen, dass innerhalb des Gesundheitswesens verbesserte Strukturen geschaffen werden, die es dem Einzelnen ermöglichen zu erfahren, worüber die überhaupt eine selbstbestimmte Entscheidung treffen können und welche Konsequenzen ihre Entscheidungen haben.39

In der Regel ist der Bürger in medizinischen und pflegerischen Fragen ein Laie. Auch wenn sich die Informationsmöglichkeiten durch Medien und Internet enorm erweitert haben, brauchen viele Bürger eine Vertrauensperson (einen ärztlichen Experten, eine kompetente Pflegekraft), die ihnen hilft, die Flut an Informationen zu filtern und einzuordnen.

Wie eine solche Vorsorgeplanung gelingen kann, ohne Ärzten und Pflegenden unlösbare Aufgaben aufzubürden, beschreibt die Broschüre „Wertvorstellung und Respekt“.40 Das Erstellen der Patientenverfügung wird dabei nicht als punktuelles Ereignis verstanden, sondern durch einen nachhaltigen Prozess der Kommunikation und Kooperation ersetzt.41

Das theologische Spannungsfeld, das sich für den Christen ergibt zwischen dem, was ich verfügen kann und dem Teil, den ich getrost in Gottes Hände legen darf, wird am Ewigkeitssonntag (23. November 2008) im Fernsehgottesdienst des ZDF thematisiert, der aus dem Markus-Krankenhaus übertragen wird. So wird an diesem konkreten Thema deutlich, wie sich Kirche bei einer wichtigen Frage, die die Menschen bewegt, einbringt mit Ideen und Strukturen der begleitenden Beratung.

Die christliche Aufgabe, den Tod nicht zu verdrängen

Durch die Abfassung einer Patientenverfügung kann sich ein neuer Umgang mit dem eigenen Sterbens einstellen. Allerdings ist das Gespräch innerhalb der Familie über diese Themen nicht immer einfach. Eindrücklich ist hier die Stelle in Philip Roth’ autobiographischen Roman ›Mein Leben als Sohn‹:42 Der amerikanische Autor, der regelmäßig als Kandidat für den Literaturnobelpreis genannt wird, schreibt hierin eindringlich, mitunter schmerzhaft, wie er (der Sohn) mehrfach Anlauf nimmt, um mit dem kranken Vater über die Möglichkeit einer Patientenverfügung zu sprechen. Doch er bringt es wiederholt nicht übers Herz, mit seinem Vater „die bitterste aller Möglichkeiten ins Auge zu fassen“. Als er sich schließlich doch dazu durchringt, seinen Vater auf dessen Willen bezüglich der Grenzen lebensverlängernder Maßnahmen anzusprechen, ist die Reaktion des Vaters ganz anders, als der Sohn befürchtet hatte: der Vater lässt sich problemlos auf das Gespräch ein, da er selbst schon daran gedacht hatte.

Natürlich wird die Patientenverfügung nicht alle Probleme lösen, es bleibt sogar unklar, ob meine sorgsam erstellte Patientenverfügung überhaupt je zur Anwendung kommen wird, da mein Leben vielleicht durch einen Unfall blitzartig zum Ende kommt; aber die medizinische Versorgung in einem schweren Krankheitsfall, bei dem Zeit für Entscheidungen bleibt, ist eben kein Schicksal, sondern von Menschen zu verantworten. Ob wir eine eigene gesetzliche Regelung zur Patientenverfügung noch bekommen werden, scheint mir derzeit wieder offen. Im Hinblick auf die verschiedenen Gesetzesentwürfe spreche ich mich an dieser Stelle dafür aus, dass dies für alle Erkrankungssituationen gelten sollte, und wir die Reichweite einer

39 So bietet das Markus-Krankenhaus in Frankfurt seit drei Jahren Seminare an für Bürgerinnen und Bürger, in

denen Ärzte und Pflegende, Juristen und Theologen mit den Seminarteilnehmern die einzelnen Schritte zum Erstellen einer Patientenverfügung durchgehen und sie beraten.

40 Als Download verfügbar unter: http://www.medizinethik-frankfurt.de/texte.htm 41 Die zukünftige Qualität der begleitenden Betreuung wird entscheidend davon abhängen, inwiefern die

Einrichtungen des Gesundheitswesens Strukturen entwickeln werden, um Patienten bereits im Vorfeld in ein Vorsorgekonzept einbeziehen zu können. Dies verlangt ein Umdenken in vielen Bereichen des Gesundheitswesens.

42 Carl Hanser Verlag, 1992.

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Patientenverfügung nicht beschränken sollten. Denn was wäre dies anderes, als neue Bereiche von Freiheit und unbeeinflussbarem Schicksal zu definieren? Die Freiheit, die auch die Rechtsprechung jedem volljährigen Bürger zuspricht, über die Grenzen der Behandlung selbst zu entscheiden, diese Freiheit hat allerdings den Preis, sich auch mit den Grenzen des Lebens zu beschäftigen.43 VII. Biodiesel – Umweltschutz zwischen Freiheit und Schicksal Das Spannungsfeld zwischen Freiheit und Schicksal lässt sich auch an einem aktuellen Beispiel aus dem Bereich Ökologie verdeutlichen. Der Mensch besitzt einerseits die Freiheit zur Weltgestaltung verbunden mit der Befähigung zur Verantwortungsübernahme. Andererseits ist der Mensch schicksalsmäßig völlig eingebunden in das große Gesamtgefüge der Schöpfung und abhängig vom Erhalt einer lebensspendenden natürlichen Umgebung. Heute verändert der Mensch durch eine dramatische Übernutzung der natürlichen Ressourcen in bisher nie dagewesenem Ausmaß und mit einer ungeheuren Geschwindigkeit das sehr komplexe Netz des Lebens der Erde. Bei der gegenwärtigen Nutzungsintensität ist eine Regenerierung der Ressourcen und der Umweltmedien nicht mehr möglich. Beispiele dafür sind der Klimawandel und das Aussterben von Pflanzen- und Tierarten44.

Aufstrebende Schwellenländer wie China und Indien lösen mit ihrer zusätzlichen Nachfrage nach Erdöl, Erzen, Lebensmitteln etc. massive internationale Preissteigerungen aus. Die globale Begrenztheit und zunehmende internationale Konkurrenz um natürliche Ressourcen verweisen auf die „Grenzen des Wachstums“. Kriegerische Auseinandersetzungen um Rohstoffe und Land sowie die steigende Anzahl an Umweltflüchtlingen45 belegen den engen Zusammenhang zwischen Umweltschutz und Friedenssicherung.46

Das Grunddilemma besteht darin, dass die globalen Umweltressourcen begrenzt sind, die Industrienationen jahrzehntelang überkonsumierten, die Schwellenländer berechtigten nachholenden Konsum einfordern und die Weltbevölkerung vor allem in den Entwicklungsländern rapide anwächst.47 Damit sind gravierende Zielkonflikte und Gerechtigkeitsfragen verknüpft. Entsprechend dem Verursacherprinzip stehen z.B. beim Klimawandel die Industriestaaten in der Hauptverantwortung. Ohne eine Einbeziehung der Staaten des Südens in internationale Umweltschutzmaßnahmen wird die ökologische Tragfähigkeit der Erde jedoch innerhalb weniger Jahrzehnte überschritten werden.

Die breitere mediale Berichterstattung über globale Umweltprobleme hat bei vielen Menschen in Deutschland Zukunftsängste ausgelöst. Viele empfinden diffus, dass wir an einer Weggabelung stehen. Die sture Fortschreibung des ressourcen- und energieintensiven Wirtschaftens führt in eine enge Sackgasse. Mit dem Umbau der Wirtschaftssysteme in Richtung Nachhaltigkeit müsste hingegen jetzt begonnen werden, da die Veränderungen Jahrzehnte benötigen. Dazu müsste sich jedoch die Erkenntnis

43 Schlaudraff, U. (1996) ‘Dem Tod entgeht keiner. Patientenverfügungen und Behandlungsgrenzen - auf dem

Weg zu einer neuen Kultur des Umgangs mit dem Sterben’ in Lutherische Monatshefte 11, 34-37. 44 In Bonn tagt im Mai 2008 die internationale Vertragsstaatenkonferenz zum „Überreinkommen über die

biologische Vielfalt“ von 1992. Weltweit sind derzeit etwa 15.500 Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht. Dies entspricht in etwa 23 % aller Säugetiere, 12 % der Vögel, 31 % der Amphibien und 39 % der Fische.

45 Die UN prognostiziert bis 2010 bis zu 50 Millionen Umweltflüchtlinge weltweit. 46 Der Friedensnobelpreis 2007 wurde gezielt zum Thema Klimawandel an Al Gore sowie dem Weltklimarat

(IPCC) vergeben. 47 Im 20. Jahrhundert hat sich die Weltbevölkerung von 1,5 auf 6,0 Milliarden Menschen vervierfacht. Von

derzeit ca. 6,7 wird ein weiterer Anstieg auf ca. 9,2 Milliarden Menschen bis zum Jahr 2050 prognostiziert. All diese zukünftigen Erdenbürger haben das gleiche Gastrecht auf dem Planeten.

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durchsetzen, dass nachhaltiges Wirtschaftswachstum und Umweltschutz sich keineswegs widersprechen sondern einander sogar bedingen.

Bei allen bekannten Unsicherheiten von Umweltprognosen besteht kein grundsätzliches wissenschaftliches Erkenntnisproblem. Die gesellschaftspolitische Handlungsfähigkeit und –freiheit ist die Kernfrage. Werden die eindeutig menschengemachten Umweltveränderungen fatalistisch als schicksalshaft hingenommen? Oder entsteht wirklicher gesellschaftlicher Druck gegenüber den politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern? Trotz des verbreiteten Unbehagens ist eine tiefgreifende Veränderungsbereitschaft in der deutschen Gesellschaft bisher noch nicht erkennbar. Das zeigt sich bei konkreten umweltpolitischen Entscheidungen wie der Festlegung der Emissionsgrenzwerte von Fahrzeugen und dem Einsatz von so genannten „Biokraftstoffen“. Unter dem Deckmäntelchen der angeblichen Klimaschutzmaßnahme setzen die EU und die Bundesrepublik seit wenigen Jahren auf Beimischungsquoten von „Biodiesel“ und „Biosprit“. Der wirtschaftspolitische Hintergrund ist, dass die deutsche Automobilindustrie die von der EU angestrebten CO2-Emissionsgrenzwerte trotz bereits verfügbarem technischen Know-How nicht erfüllen will. Die Beimischung von „Biokraftstoffen“ erlaubt höhere Grenzwerte. Außerdem hat die Mineralöl-Industrie am „Biokraftstoff“-Markt ein vitales Lobby-Interesse. Spätestens im April diesen Jahres ist diese Strategie jedoch aufgrund gravierender Fehler gescheitert. „Biodiesel“ wird aus Nahrungsmitteln wie Raps, Palmöl oder Soja hergestellt. „Biosprit“ stammt von Mais, Weizen oder Zuckerrüben. Eine Tankfüllung Bioethanol entspricht dem Mais-Jahresbedarf eines Mexikaners. In den Entwicklungsländern entstehen Nutzungskonkurrenzen zwischen „Tank und Teller“. Lebensmittel sind weltweit knapp wie seit 30 Jahren nicht mehr. Die drastischen Preissteigerungen für Lebensmittel führen u. a. zu Hungerrevolten. Noch dazu weisen die „Biokraftstoffe“ im Allgemeinen schlechte Ökobilanzen auf. Wenn die Palmöl-Produktion wie in Indonesien mit der Vernichtung von Regenwäldern und dem Abbrennen von Mooren einhergeht, dann wird die dortige biologische Vielfalt unwiederbringlich zerstört, gewaltige Emissionen von zusätzlichen Klimagasen freigesetzt und indigene Völker vertrieben.

Diese verheerenden sozialen und ökologischen Folgen der internationalen „Biokraftstoff“-Strategie waren spätestens seit letztem Jahr den politischen Entscheidungsträgern bekannt. Sie mussten von unterschiedlichster Seite – auch von den kirchlichen Hilfswerken – massive Kritik dafür einstecken. Eine politische Kurskorrektur fand in Deutschland jedoch erst in dem Moment statt, als das ökonomische Argument der zahlreichen Fahrzeuge, welche „Biosprit“ nicht in höheren Beimischungsanteilen vertragen, auftauchte. Vorher sollte gegenüber der Bevölkerung die Illusion erzeugt werden, die eingefahrenen deutschen Mobilitätsmuster könnten ohne erhebliche technologische Effizienzsteigerungen und deutliche Verhaltensänderungen preiswert beibehalten werden. Durch die Substitution des Erdöls mit „Biokraftstoffen“ sollten zudem bestimmte technologische Pfade für die nächsten Jahrzehnte fixiert und der Anschein von größerer Energieautarkie erzeugt werden. Die Raubbau-Kosten dafür in anderen Weltteilen erschienen gegenüber diesen Lobby-Interessen vernachlässigbar.

An diesem Beispiel wird deutlich, dass die umwelt- und sozialpolitischen Rahmenbedingungen darüber entscheiden, welche Produktionszweige sich durchsetzen können. Bisher spiegeln die Preise von Billigwaren oft den stattfindenden Raubbau nicht wieder. Die privatwirtschaftlichen Kosten an der Zerstörung Öffentliche Güter werden der (globalen) Gesellschaft aufgelastet.48 Es 48 Zudem wird in Deutschland zur Zeit der Faktor Arbeit viel zu hoch besteuert, während der

Ressourcenverbrauch vergleichsweise zu preiswert ist. Die Kosten des Ressourcenverbrauchs gehen deshalb nicht in die Güterpreise ein.

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existieren aber durchaus bewährte technologische, ökonomische, politische und kulturelle Korrekturmöglichkeiten, die neue Handlungsfreiheiten eröffnen könnten. Entscheidend ist das breite Handeln. Kein Wunder, dass viele Menschen ihren eigenen kleinen Beitrag zum Umweltschutz als sinnlos empfinden oder Ohnmachtgefühle hegen. Die noch verbreitete scheinbare Gleichmut vieler Menschen in Deutschland gegenüber globalen Umweltfragen erweist sich bei näherem Hinsehen jedoch auch als genau jene Unbestimmtheit, die entsteht, wenn die einzelne überschaubare Lebenswelt von dem sie umgebenden globalen Rahmen abgekoppelt wird. Nur noch für das eigene Umfeld wird bestenfalls Verantwortung übernommen. Auch dieses Verhalten korrespondiert mit einem beschränkten Zeitverständnis. Der empfundene Verantwortungshorizont reicht bei vielen maximal bis in die Generation der Enkel. Ganz viele aber denken nur noch in der Spanne des eigenen Lebens. Lediglich wenn es die konkrete Lebensqualität der Menschen betrifft, Ängste um die eigene Gesundheit auftreten, regt sich breiterer Widerstand. Das sehen wir z.B. bei dem beschlossenen Ausbau des Flughafens, bei der geplanten Erweiterung des Kraftwerks Staudinger oder des geplanten neuen Kohlekraftwerks zwischen Mainz und Wiesbaden. Als Kirche können wir einen Beitrag zum Bewusstseinwandel leisten und Handlungsalternativen aufzeigen. Wir können Entscheidungsträger ermutigen, das als notwendig zu tun Erachtete auch gegen massive Lobbywiderstände durchzusetzen. Fatalismus ist nicht angebracht. VIII. Die Spannung zwischen Freiheit und Schicksal – gegen das Leiden an Unbestimmtheit Wenn ich die Unbestimmtheit richtig wahrgenommen habe, die die Lage von Kirche und Gesellschaft gegenwärtig beeinflusst, dann geht unsere Kirche, aber auch die Gesellschaft einen Weg, der aus schon jetzt nicht einfachen Zeiten uns in noch schwierigere führen wird. Auch die Leiden an der Unbestimmtheit und der Vertrauensverlust in die globalen Akteure werden zunehmen. Die neue Form der Religion als authentische Präsentation stellt uns vor schwere Entscheidungen über den inhaltlichen Kurs unserer Kirche. Und die globalen gesellschaftlichen Entwicklungen werden tief in unsere Lebensvollzüge schneiden. Gerade dann kommt es darauf an, die Spannung zwischen Freiheit und Schicksal, die alles, was ist durchzieht, in unserem Denken, in unserem Glauben und in unserer Weltzuwendung nicht zerfallen zu lassen. Es gibt keinen Grund, der Kraft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe, die Gott uns schenkt, nicht mehr zu vertrauen. Die Spannung zwischen Freiheit und Schicksal als wesentliches Kennzeichen unseres Glaubens dürfen wir nicht aufgeben. Sie ist auch die Basis unserer kritischen Weltzuwendung. Wir werden deswegen über die Zukunft der Kirche und Gesellschaft auch untereinander streiten und Konflikte haben. Aber das auszuhalten gehört auch zur geistlichen Leitung, die da etwas tut, wo man eigentlich nichts tun kann.

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Ich danke dem Team, das mich bei der Vorbereitung des Kirchenleitungsberichtes unterstützt hat: Dr. Walter Bechinger Dr. Johannes Dittmer Dr. Maren Heincke Dr. Peter Höhmann Martina Klein Cordelia Kopsch

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Stephan Krebs Christine Noschka Dr. Sigurd Rink Dr. Kurt W. Schmidt Ulrike Heyd Anita Neubeck