Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und...

44
2. Jahrgang | Ausgabe 3 | Juli 2014 Das Magazin des ZfP Südwürttemberg Südwürttemberg Komm her! Glaub das nicht! Lauf! Schizophrenie in der Lebensspanne Behandlung: Medikamente, Psychotherapie, Soziotherapie Soteria – ein Angebot für junge Erwachsene Zwischen Wahn und Wirklichkeit Schizophrenie: wenn Denken, Fühlen und Erleben nicht zusammenpassen

Transcript of Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und...

Page 1: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

2. Jahrgang | Ausgabe 3 | Juli 2014

Das Magazin des ZfP Südwürttemberg

Südwürttemberg

Komm her!Glaub

das nicht!

Lauf!

Schizophrenie in der Lebensspanne

Behandlung: Medikamente, Psychotherapie, Soziotherapie

Soteria – ein Angebot für junge Erwachsene

Zwischen Wahn und WirklichkeitSchizophrenie: wenn Denken, Fühlen und Erleben nicht zusammenpassen

Page 2: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Titelthema6 — Wie im falschen Film

14 — Schizophrenie in der Lebensspanne16 — Wie Schizophrenie behandelt wird

26 — Soteria: ein Angebot für junge Erwachsene

Einblick20 — Fragen im Kopf

22 — Erfahrungen von Betroffenen und Angehörigen31 — Stimmenhören

38 — Denken über das Denken: Metakognitives Training

Klartext4 — Symptome einer Schizophrenie

12 — Zahlen, Daten, Fakten24 — Was Betroffene brauchen

34 — Gefangen im Wahn

Zugabe40 — Service – wo finde ich Hilfe?

Kostprobe36 — Literatur- und Filmempfehlungen

Schlusslicht42 — Rätsel, Übrigens …

43 — Ausblick, Impressum

Zwischen Wahn und Wirklichkeit

2

In diesem Heft

FACETTEN Juli 2014

Page 3: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Verfolgung

Wahn

Müdigkeit

Kamera

Angst

Nachrichten aus dem All

Konzentrationsschwäche

Überwachung

Antriebslosigkeit

Stimmen

Unsicherheit

Geheimdienst

Sie gilt seit jeher als Prototyp einer seelischen Erkrankung: die Schizophre-nie. Kaum eine psychische Störung wurde so lange und so intensiv untersucht und ist dennoch als Krankheitsbild so schwer zu greifen. Außerhalb der Psy-chiatrie hat sich in den meisten Köpfen der Menschen die vage Vorstellung festgesetzt, es handle sich um „Spaltungsirresein“. In der Öffentlichkeit hat sich weitgehend der Mythos gegenüber der Realität durchgesetzt. Seit 200 Jahren zählt die Behandlung an Schizophrenie erkrankter Patientin-nen und Patienten zum Kerngebiet der Psychiatrie sowie der therapeutischen Bemühungen in den Einrichtungen des ZfP Südwürttemberg. Wir haben es mit einem komplexen Krankheitsbild zu tun, das sich nicht immer eindeutig diagnostizieren lässt. In internationalen Fachkreisen wird deshalb gar die Abschaffung des Begriffs diskutiert. Diese Ausgabe der Facetten sehen wir als Herausforderung aber auch als Chance, dieser Krankheit mit Hilfe der Erfahrungen und dem Wissen der Ex-perten gerecht zu werden und sie so allgemeinverständlich wie möglich dar-zustellen. Hierfür haben wir wieder zahlreiche Fachliteratur gewälzt, mit Psychiaterinnen und Psychiatern gesprochen und wir haben Betroffene zu Wort kommen lassen. Ein solch komplexes und schwieriges Unterfangen auf so wenig Platz abhandeln? Das ist doch schizophren! Nein ist es eben nicht, denn die allgemein gebräuchliche Verwendung des Wortes zur Beschreibung eines widersprüchlichen Sachverhaltes hat mit dem psychiatrischen Krank-heitsbegriff nichts zu tun.

Ihr Redaktionsteam

3

Auftakt

Juli 2014 FACETTEN

Page 4: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Wahnvorstellungen: zum Beispiel Verfolgungswahn, Größenwahn, Beziehungswahn,

bizarre Wahnvorstellungen (ohne jeden Bezug zur Realität)

Wahn, Halluzinationen und Gefühlsverarmung – Symptome einer Schizophrenie

Eine Schizophrenie ist eine vielschichtige Erkrankung, die mit einer Reihe von Symptomen einhergeht. Man unter-scheidet sogenannte positive und negative Symptome, was aber keine Wertung darstellt. Positive Symptome sind Vorstellungen, die hinzu kommen, also bei Gesunden in dieser Ausprägung nicht vorkommen. Gemeint sind Erleb-nisse wie beispielsweise Halluzinationen und Wahnvorstellungen. Negative Symptome bezeichnen dagegen etwas, das fehlt. Das bedeutet, etwas ist in geringerer Ausprägung vorhanden als es bei gesunden Menschen zu erwarten wäre. Beispielsweise mangelt es an Antrieb, Mimik oder Gestik. Einige besonders charakteristische Symptome:

positive Symptome

Halluzinationen:Sinnestäuschungen aller Sinne – des Gehörs (akus-

tisch), des Sehens (visuell), des Fühlens (haptisch), des Schmeckens (gustatorisch)

oder des Riechens (olfaktorisch)

Merkmale: Positive Symptome fallen rasch auf und werden damit relativ schnell diagnostiziert und im günstigsten Fall auch behandelt. Außerdem bilden sie sich durch eine gezielte Behandlung, vorwiegend mit Medikamenten, meistens relativ schnell wieder zurück. Sie treten vor allem in akuten Phasen auf.

Bewegungsstörungen: Stereotypien (monoton wieder-holte Bewegungen), Agitation (Unruhe), Stupor (Erstarren in

einer Körperhaltung)

Ich-Störungen: Gedankeneingebung („fremde

Gedanken sind in meinem Kopf“), Gedankenausbreitung („andere können

meine Gedanken hören“), Gedankenentzug („andere entziehen mir meine Gedanken, zum Beispiel mit speziellen Apparaten“), Beeinflussungserlebnisse („mein Denken

wird durch einen Mikrochip gesteu-ert, der mir implantiert wurde“)

Verhaltens-störungen:

chaotisches, desorgani-siertes Verhalten, bizarre

Handlungen, Verwahr-losung

formale Denkstörungen:Zerfahrenheit (Sätze und

Satzteile verlieren den Sinnzu-sammenhang), Gedankenabreißen

(plötzliches Abbrechen eines Gedankens)

4

Klartext

FACETTEN Juli 2014

Page 5: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Apathie: Mangel an Energie, Schwung, Ausdauer,

Dynamik

Antriebslosigkeit: Verlust von Antrieb und

Interessen

Asozialität: Kontaktunfähigkeit, sozialer Rückzug, Isolationsneigung;

gelegentlich feindseliges und aggressives Verhalten

negative Symptome

Alogie: unlogisches Denken

Anhedonie: Unfähigkeit, Freude und Vergnügen zu empfinden

Affektverflachung: Verarmung des gezeigten

Gefühlsausdrucks, Einbuße von Stimmung, Befindlichkeit usw. Betroffene wirken uninteres-siert, unbeteiligt, ungerührt,

unterkühlt, gleichgültig, gelangweilt

Willensschwäche: Unfähigkeit zu Entscheidungen

oder starkes Schwanken (Ambivalenz)

Verarmung des Denkens: Verlust an Themenvielfalt

und Ideen

Merkmale: Diese Symptome wirken auf den ersten Blick weniger auffällig, behindern die Lebensgestaltung und das Zusammenleben mit anderen Menschen aber beson-ders nachhaltig.

5

Klartext

Juli 2014 FACETTEN

Page 6: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Wie im falschen Film – wenn die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit verschwimmenDas Krankheitsbild ist komplex, die Symptome sind teils bizarr und die Diagnose ist eine der häufigsten im stationären Bereich der Psychiatrie: Die Rede ist von Schizophrenie. Eine psy-chische Erkrankung, die die gesamte Persönlichkeit beeinflusst und sich durch Störungen des Denkens, Fühlens und Verhaltens äußert. Häufig wird sie aber missverstanden.

Titelthema

6 FACETTEN Juli 2014

Page 7: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Der Begriff Schizophrenie setzt sich aus den altgriechischen Wörtern schizein „abspalten“ und phrēn „Seele“ zusammen. Aus heutiger Sicht ist der Begriff unglücklich, zumal es inzwischen zum Allgemeinwissen zu gehören scheint, dass diese Menschen eine „Persönlichkeitsspaltung“ haben oder „irgendwie gespalten“ sind, ohne dass man sich konkret vorstellen kann, was das bedeu-ten soll. Tatsächlich wurde der Begriff vor gut hundert Jahren von dem Züri-cher Psychiater Eugen Bleuler mit der Absicht eingeführt, das Krankheitsbild zu entstigmatisieren. Bis dahin hieß die Diagnose „Dementia praecox“, also vorzeitige Demenz. Bleuler wies darauf hin, dass genau dies nicht der Fall ist. Bei den von ihm schizophren genannten Psychosen sind manche psychischen Funktionen zum Teil schwer gestört, andere hingegen völlig normal. Das mein-te er mit „Spaltung“. Weil es mittlerweile im Sprachgebrauch von Politik und Medien zunehmend üblich geworden ist, alles, was irgendwie widersprüchlich ist, als „schizophren“ zu bezeichnen, hat etwa die japanische psychiatrische Gesellschaft den Begriff inzwischen offiziell aufgegeben.

Ein Wahn ist eine unkorrigierbare Überzeugung von einem objektiv falschen Sachverhalt, die nicht von einer anderen Gruppe von Menschen aus politischen, religiösen, sonstigen ideologischen oder kulturellen Motiven geteilt wird.

Bei einer Wahnwahrnehmung wird dagegen eine rich-tige Sinneswahrnehmung falsch, das heißt wahnhaft interpretiert (Beispiel: Der Mann trägt eine schwarze Aktentasche – ein sicheres Zeichen, dass er zu der Or-ganisation gehört, die mich verfolgt).

Eine Halluzination ist hingegen eine Trugwahrneh-mung, für die es keinen Gegenstand in der Außenwelt gibt, zum Beispiel das Hören von Stimmen nicht anwe-sender oder nicht existenter Personen.

Illusionen sind in gewisser Weise ebenfalls Sinnestäu-schungen, aber begünstigt durch reale Sinneseindrü-cke: Die Wolken sehen wie ein Ufo aus, der alte Lap-pen in der Dämmerung wie ein Gesicht.

Wahnvorstellung, Halluzination oder Illusion?

Titelthema

7Juli 2014 FACETTEN

Page 8: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Ähnlich kritisch äußert sich Prof. Dr. Tilman Steinert, Ärztlicher Direktor des ZfP Südwürttemberg am Standort Weissenau: „Wissenschaftlich ist nicht er-wiesen, dass es sich um eine einheitliche und klar abgrenzbare Erkrankung handelt. Alle Symptome kommen auch im Zusammenhang mit anderen Krank-heiten und klar identifizierbaren Ursachen, zum Beispiel bestimmten Drogen, vor. Ich spreche deshalb lieber allgemeiner, wie dies im Übrigen auch viele Pa-tienten selbst tun, von ‚Psychosen‘.“ Unter Psychosen versteht man psychische Erkrankungen, bei denen eine Störung des Realitätsbezugs in der Wahrnehmung oder im Denken vorhanden ist.

Die Krankheit tritt in der Regel erstmals zwischen der Pubertät und dem 30. Le-bensjahr auf und trifft Männer und Frauen etwa gleich häufig. Männer erkran-ken im Durchschnitt jedoch drei bis vier Jahre früher. Die Krankheit verläuft oft in Episoden, wobei eine Episode mehrere Wochen bis Monate dauern kann. Etwa ein Fünftel der Erkrankten bleibt nach einer einmaligen Krankheitsepi-sode dauerhaft gesund. Bei einem Drittel der Betroffenen dagegen nimmt die Krankheit einen eher ungünstigen, chronischen Verlauf mit dauerhaften Be-einträchtigungen. Bei den übrigen Betroffenen kommt es mindestens zu einer erneuten Krankheitsphase

Die Ursachen für das Entstehen schizophrener Psychosen sind nicht endgültig geklärt. Wobei viele Wissenschaftler unter „endgültiger Klärung“ verstehen, dass alle Mechanismen auf der Ebene der chemischen Moleküle exakt nachvoll-ziehbar sind. Sicher ist jedenfalls, dass es sich - wie bei den meisten psychi-schen Erkrankungen – um ein Zusammenwirken biologischer, psychischer und sozialer Faktoren handelt. Dabei handelt es sich nicht nur um eine Summe von Risikofaktoren, sondern diese stehen in einem komplexen, immer besser ver-standenen Wechselspiel zueinander. Wer zum Beispiel aufgrund seiner geneti-schen Ausstattung eine Enzymvariante im Gehirn hat, mit der elektrochemische Botenstoffe wie Dopamin im synaptischen Spalt zwischen den Nervenzellen nur verlangsamt abgebaut werden, merkt davon in aller Regel überhaupt nichts. Auch ein gelegentlicher Konsum von Cannabis ist bekanntlich für die meisten Menschen unschädlich, der vorübergehende Anstieg neurochemischer Boten-stoffe im synaptischen Spalt wird gut verarbeitet.

Wenn aber beide Bedingungen zusammentreffen, kommt es zu einer folgenrei-chen Wechselwirkung und eine Psychose kann ausbrechen. Drogenkonsumen-ten wissen aber vorab nicht, ob sie zu denjenigen gehören, die dieses Risiko in sich tragen. Außer bestimmten genetischen Konstellationen, die trotz der vollständigen Aufklärung des menschlichen Genoms noch keineswegs zuverläs-sig identifiziert sind, gibt es neben Cannabiskonsum noch zahlreiche weitere Umweltfaktoren, die eine Psychose fördern. Zum Beispiel ist das Aufwachsen in einer Großstadt ein sicherer Risikofaktor, ebenso Erlebnisse des sexuellen Missbrauchs, Gefühle der dauerhaften Diskriminierung und Bindungslosigkeit. Auf der anderen Seite spielen auch körperliche Risikofaktoren wie angeborene oder erworbene Hirnschädigungen eine Rolle.

Titelthema

8 FACETTEN Juli 2014

Page 9: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Diese Vorstellungen werden im sogenannten Vulnerabilitäts-Stress-Modell zu-sammengefasst. Es besagt, dass die genannten biologischen und Umweltfak-toren eine individuell sehr unterschiedliche Vulnerabilität, also Verletzlichkeit bilden. Je nach Ausmaß dieser Vulnerabilität kann durch zusätzlichen Stress eine Psychose auftreten. Mit Stress ist in diesem Zusammenhang weniger der typische Arbeits- oder Prüfungsstress gemeint. Eine Stressbelastung können Drogenkonsum, anhaltende zwischenmenschliche Konflikte, Erlebnisse von Kränkung und Ausgrenzung, Schlafmangel und anderes sein. Bei Menschen mit einer hohen Vulnerabilität genügt ein geringes Maß an Stress, um die Krankheit auszulösen. Bei einer geringen Vulnerabilität ist es anders herum. Grundsätz-lich kann aber jeder Mensch unter entsprechend extremen Bedingungen eine psychotische Reaktionsweise zeigen.

Aus der Medizin ist man gewohnt, einen Test zu machen, um eine Diagnose zu bestätigen oder auszuschließen. Ein solcher Test, zum Beispiel bei Krebs, kann ein Labortest, ein Röntgenbild oder eine feingewebliche Untersuchung sein. Anders ist es aber im Bereich der psychischen Erkrankungen. Nur die wenigsten lassen sich mit derartigen Tests bestätigen oder ausschließen. Die Diagnosen – und dies trifft in besonderem Maße auch für Schizophrenie zu – sind vielmehr sogenannte klinische Diagnosen. Das heißt, ein erfahrener Arzt beurteilt auf-grund seiner klinischen Erfahrung, ob die Diagnose vorliegt oder nicht. Ein sol-ches Verfahren ist natürlich geeignet, Zweifel zu wecken: Ist die Diagnose dann womöglich willkürlich? Ist der ganze Diagnoseprozess nachprüfbar und objekti-vierbar? Ist vielleicht die ganze Erkrankung nur eine Erfindung von Psychiatern, wie besonders in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts durchaus ernsthaft behauptet wurde? Ein Teil dieser Probleme wurde dadurch gelöst, dass es genaue Listen von sogenannten „Diagnosekriterien“ gibt, zum Beispiel das Klassifikationssystem ICD-10. Nur bei einer Erfüllung mehrerer Merkmale und deren Kombination und unter Beachtung diverser Ausschlusskriterien darf die Diagnose gestellt werden. Damit ist zumindest theoretisch sichergestellt, dass ein Psychiater in Boston, Osaka oder Zwiefalten bei einem gleichartigen Krankheitsbild auch zu einer gleichen Diagnose kommt. Das ist von enormer Bedeutung für die Kommunikation zwischen Ärzten sowie für die Forschung und macht die Diagnosen nachprüfbar. Nicht gelöst ist damit allerdings das Problem, ob das so diagnostizierte Krankheitsbild tatsächlich eine einheitliche Krankheit ist. Von der Klassifizierung von Unterformen wie katatone Form, hebephrene Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in-teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen Diagnosemanual DSM-5 wieder Abstand genommen, weil eben diese Unterteilungen nicht im Sinne einer unabhängigen verlässlichen Nachprüfbarkeit darstellbar waren.

Titelthema

9Juli 2014 FACETTEN

Page 10: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Immer wieder begegnet uns im Alltag das Wort schizophren. Die wenigsten scheinen sich jedoch darüber im Klaren zu sein, was Schizophrenie eigentlich ist. Das Bild, das die Medien in der Gesellschaft bedienen und das in den Köpfen der Menschen verankert ist, scheint mit der Krankheit dieses Namens nicht mehr viel zu tun zu haben. Der Begriff schizophren wird praktisch im-mer abwertend gebraucht und gern als sprachlich gehobenes Synonym für al-les verwendet, das widersprüchlich, unsinnig oder schwer durchschaubar ist. Und wenn Schizophrenie als Krankheit in den Nachrichten kursiert, dann ver-mehrt im Zusammenhang mit Straftaten: An Schizophrenie Erkrankte seien gespalten in ihrer Persönlichkeit in einen guten und einen bösen Charakter, hoch intelligent, aber mit einer dunklen Seite, unberechenbar und gewalttä-tig. Guter Stoff für eine Hollywood-Story, mit dem eigentlichen Krankheits-bild hat dies aber kaum etwas gemein.

Doch woher kommt dieses Bild? Sicher auch von der unseligen, etwas ge-heimnisvollen und die Fantasie anregenden Wortschöpfung. Aber auch vom Bild des Verrückten oder „Psychopathen“ (was in Wirklichkeit etwas ganz anderes bedeutet) in Film, Medien und Literatur. Da wird gerne und sehr häu-fig ein Zusammenhang zwischen psychischer Krankheit – prototypisch eben Schizophrenie – und unberechenbarer Gewalttätigkeit konstruiert. „Dabei handelt es sich um sehr wenige Fälle, die aber das gesellschaftliche Bild ei-ner ganzen Krankheit bestimmen“, fasst Tilman Steinert das Problem zusam-men. Auch den weit verbreiteten Irrtum, dass Menschen mit Schizophrenie vermehrt hochintelligent oder künstlerisch besonders begabt seien, wofür ein Van Gogh oder der Wirtschaftsmathematiker John Forbes Nash herange-zogen werden, verweist Steinert ins Reich der Fabeln. Einen Zusammenhang zwischen künstlerischer Kreativität und psychischer Erkrankung gebe es im Bereich bipolarer Störungen, jedoch nicht bei Schizophrenie.

Auch wenn ein Großteil der an Schizophrenie Erkrankten nicht gewalttätig wird, besteht das öffentliche Stigma dennoch. Der Stempel der Gesellschaft ist ein Grund, warum sich Betroffene gegen die Diagnose häufig wehren und versuchen, die Krankheit zu verheimlichen. Deshalb rät auch der Fachmann Betroffenen durchaus nicht unbedingt, die Diagnose mit dem Arbeitgeber und Kollegen offen zu besprechen. Andererseits gestaltet sich der Weg in eine Behandlung für die Betroffenen oft schwierig, weil manche keine Krankheits-einsicht haben. Die Psychose befällt eben jenes Organ, das für die Erkenntnis und die kritische Beurteilung des eigenen Verhaltens zuständig ist, das Ge-hirn. So oder so schafft die Krankheit Distanz, die es zu überwinden gilt.

Text: Philipp Pilson, Tilman Steinert — Fotos: Zeichnungen eines Schizophreniebetroffenen, Seite 7, 11 und 13

Titelthema

10 FACETTEN Juli 2014

Page 11: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Titelthema

11Juli 2014 FACETTEN

Page 12: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Das durchschnittliche Erkrankungsalter liegt

bei Männern bei

bei Frauen bei

Illustration: zambrino

Die Suizidrate bei schizo-phrenen Patienten beträgt

rund10Prozent

der Bevölkerung erkranken an Schizo-phrenie – in Deutschland sind dies rund

700.000, weltweit 60 Millionen Menschen.

100 % ca. 0,8 Prozent

Ungefähr 20 Prozent der Betroffenen erleben eine einma-

lige psychotische Episode. Bei

kommt es mindestens zu einer erneuten Krankheitsphase.

Prozent

70 ca. 30Prozent Prozent, mit Neuroleptika bei

Das Risiko einer erneuten Krank- heitsphase innerhalb eines Jahres liegt ohne Neuroleptika bei ca.

Die Weltgesundheits-organisation (WHO) stuft die

Schizophrenie als

weltweit eine der teuersten Krankheiten

ein. Die Gründe sind ihre Häufigkeit, Chronizität und Beein-

trächtigung der Fähigkeit zu selbstständigem Leben.

21

22

23

24

25

26

27

2827 Jahren

22 Jahren

vor der Diagnose verändern sich oft Stim-

mung, Erleben und Verhal-ten. Betroffene ziehen sich

von Familie und Freunden zu-rück, neigen zum Grübeln,

die Leistungsfähigkeit nimmt ab.

ca.5Jahre

Die Be-handlung besteht

im Wesentlichen aus

Arzneimitteltherapie, Psychotherapie,& soziotherapeutische Maßnahmen

3 Bau- steinen

12

Klartext

FACETTEN Juli 2014

Page 13: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

13

Klartext

Juli 2014 FACETTEN

Page 14: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Schizophrene Störungen treten am häufigsten bei Heranwachsenden oder im frühen Erwachsenenalter auf. Oft begleiten sie die Betroffe-nen ein Leben lang – bis ins hohe Alter. Aber es gibt auch schon Er-krankungsfälle bei Kindern.

„Als ich zehn Jahre alt war, wurde alles anders“, schil-dert eine junge Patientin ihren

Krankheitsbeginn. Mehr als zwei Jahre lang fühlte sie sich bedrückt, litt an Schlaflosigkeit und hatte häu-fig Angst. Ihre Beschwerden wurden jedoch nicht richtig gedeutet. Erst als sie mit zwölf Jahren zur statio-nären Behandlung in die Kinder- und Jugendpsychiatrie kam, stellte die dortige Ärztin die richtige Diagnose: Schizophrenie.

„Die Vorahnung ist manchmal schon lange vor der Diagnose da“, erklärt Dr. Isabel Böge, Chefärztin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie des ZfP Südwürttemberg in Weissenau. Doch die Erkrankung zu erkennen ist nicht einfach. Bei Kindern vor dem siebten Lebensjahr ist es fast unmöglich. Die Fachärztin betont, dass der Verdacht auf frühkindliche Schizophrenie sehr genau überprüft werden muss, da die anfänglichen Symptome denen anderer Erkran-kungen ähneln, die mit Entwick-lungsverzögerungen einhergehen, etwa Erkrankungen aus dem autis-tischen Formenkreis oder extreme Ängste mit Halluzinationen.

Deshalb dürfen Fachkräfte die Krankheit auch bei jungen Patientinnen und Patienten nicht übersehen. Von erwachsenen Schizophreniekranken ist bekannt, dass ein Prozent bereits vor dem 13. Lebensjahr erste Symptome aufwies. Im Jugendalter steigt die Zahl der Neuerkrankungen. Bis zum 15. Lebensjahr treten zir-ka vier Prozent der schizophrenen Störungen auf. Zehn Prozent aller an schizophrenen Störungen leidenden Er-wachsenen erkrankten erstmals vor dem 18. Lebensjahr.

„Diese Kinder und Jugendlichen sind behandlungs-bedürftig“, betont Isabel Böge. Sie warnt davor, die Krankheitsanzeichen zu verharmlosen. Gleichzeitig weist sie darauf hin, dass zu einer erfolgreichen Be-handlung auch Medikamente gehören. Die erforderli-chen Psychopharmaka sind aber aufgrund mangelnder Studienlage für Kinder nicht zugelassen, denn mit Kin-dern dürfen keine Studien gemacht werden. Aus diesem Grund müssen die Eltern zustimmen. Die Aufklärung der in der akuten Situation belasteten Eltern kann aber schwierig sein.

Neben der medikamentösen Behandlung ist eine langfristige Fallsteuerung für die Betrof-fenen wichtig. Mit einem persönlichen Krisen-plan, der Frühwarnsymptome, eine Liste mit wichtigen Telefonnummern, Notfallmedikamente und erste Maß-nahmen zur Selbsthilfe enthält, sowie mit entsprechen-der Begleitung und Psychoedukation können Jugendliche, so weiß Isabel Böge, ihr Leben mit der Krankheit gut steu-ern. Ziel ist es, jede Form von Rückfall zu vermeiden. Die Prognosen für die weitere Entwicklung sind sonst ungüns-tig. Dabei ist zu unterscheiden: Setzt die Schizophrenie als Erkrankung schlagartig und akut ein, bleibt ein Drit-tel der Kinder für den Rest des Lebens krankheitsfrei. 27 Prozent erleben einzelne weitere Episoden, bei 40 Pro-zent verläuft die Krankheit chronisch. Bei schleichendem Beginn der Krankheit hingegen verläuft die Krankheit bei 82 Prozent chronisch. Woher es kommt, dass Schizo- phrenien schon in so jungem Alter auftreten, lässt sich

Schizophrenie in der Lebensspanne

Titelthema

14 FACETTEN Juli 2014

Page 15: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

nicht eindeutig sagen. Bisher wird ein Wechselspiel zwischen indivi-dueller erniedrigter Stresstoleranz, genetischen Faktoren, Geburtstrau-mata, aber auch Faktoren wie etwa Drogenkonsum der Mutter während der Schwangerschaft angenommen. Belastende Lebensereignisse wie

der Tod eines Elternteils, Schei-dung, Ablehnung des Kindes durch die Eltern oder durch andere Kinder können dann die Erkrankung auslösen. Hei-

delberger Forscher haben nun ei-nen Kriterienkatalog entwickelt, mit dem sie die Risiken und den Verlauf erfassen. Sie befragen die Jugend-lichen und ihre Eltern, letztere vor allem zur frühkindlichen und vorge-burtlichen Phase. Dadurch wollen sie Risiken rechtzeitig erkennen und mit entsprechender Behandlung verhin-dern, dass sich psychotische Zustän-de bei den Jugendlichen verfestigen.

Für Schizophreniekranke im jungen Erwachsenenalter geht es haupt-sächlich darum, ein selbstbestimm-tes Leben führen und für sich selbst sorgen zu können. Ältere Menschen mit schizophrenen Störungen haben dagegen oft „eine stabile innere Struktur und mehr Erfahrung darin, das Leben alleine zu bewältigen“, erklärt Dr. Jochen Tenter, ärztlicher Leiter der Alterspsychiatrie im ZfP in Weissenau. Im Alter bestehe eher die Gefahr zu vereinsamen, was eine Wahnentwicklung begünstigen kann. Mancher kommuniziert wie zum Aus-

gleich mit verstorbenen Angehörigen, andere legen sich einen „Begleiter“ zu, wie etwa der bekannte Meister Eder seinen Pumuckl.

Stationär aufgenommen werden ältere an Schizophrenie Erkrankte meist aber, wenn sich altersbedingt körper-liche Beschwerden einstellen. Für die Betroffenen ist das oft schwierig. Wer bis dahin allein gelebt hat, sich selbst versorgen konnte, muss sich plötzlich mit „Ein-dringlingen“ in seine Welt beschäftigen. Besonders der Körperkontakt in der Pflege fällt diesen Patienten oft nicht leicht. Eine Erkrankung im Alter eröffnet aber auch Chancen für die Behandlung: Wer im Alter auf Hilfe an-gewiesen ist, fasst dies nicht zwangsläufig als Beschrän-kung seiner Kompetenzen auf, wie dies vor allem jün-gere Schizophreniepatienten erleben. „Diese Chance“, betont Tenter, „müssen wir als Teil unseres Hilfeangebo-tes vermitteln. Die Hauptstütze der Wahnkranken sind trotz nicht zu unterschätzender Isolation die familiären Strukturen.“

Normalerweise brechen schizophrene Störungen also während Pubertäts- und späteren Lebenskrisen aus, vor allem junge Erwachsene sind demnach davon betroffen. Die Erkrankung kann aber auch in anderen Le-bensphasen auftreten und da jede Altersgruppe unterschiedliche Bedürfnisse hat, ist es wich-tig, ihnen individuell in ihrer jeweiligen Krise zu helfen. Wer sein Leben zum Beispiel nicht alleine bewältigen kann, kann den passenden Lebensraum in psychiatrischen Fachpflegeheimenfinden. Das geschulte Personal begegnet den Bewohnern dort mit großer Geduld. So können solche spezialisier-ten Wohnheime der richtige Ort für Schizophreniekranke sein – ein Ort der sozialen Begegnung, der der Vereinsa-mung entgegen wirkt.

Text: Heike Engelhardt — Illustration: zambrino

Titelthema

15Juli 2014 FACETTEN

Page 16: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Wie Schizophrenie behandelt wird

Medikamente, Psychotherapie und

soziotherapeutische Maßnahmen

Zur Behandlung einer Schizophre-nie eignen sich Psychotherapie und Medikamente. Doch auch die Aufklärung über die Krankheit so-wie Unterstützung im Lebensalltag spielen eine wichtige Rolle.

Bis zur Mitte des letzten Jahrhun-derts zielte eine Behandlung bei Menschen mit Schizophrenie haupt-sächlich darauf, Betroffene vor sich selbst und die Gesellschaft vor mög-lichen Gefahren zu schützen. Erst später rückten dann die Verringerung der Krankheitssymptome und der medikamentösen Nebenwirkungen in den Vordergrund. Heutzutage will man mit der Behandlung vor allem die Lebensqualität der an Schizophre-nie erkrankten Menschen erhalten und geeignete Möglichkeiten für die soziale und berufliche Rehabilita-tion schaffen. Patienten sollen ein möglichst freies, selbstbestimmtes Leben führen und zwischen Nutzen und Risiken der therapeutischen Maßnahmen abwägen können.

Schizophrenie ist zwar oft nicht heil-bar, lässt sich jedoch meistens gut behandeln. Im Wesentlichen spielen dabei drei Verfahren eine Rolle: die medikamentöse Therapie, die Psy-chotherapie sowie soziotherapeuti-sche Maßnahmen. Je nach Phase der Erkrankung, aber auch abhängig von

Wenn Betroffene die Symptome einer Schizophrenie kennen, können sie einer neuen Krankheitsphase schon im Anfangsstadium gegensteuern.

Titelthema

16 FACETTEN Juli 2014

Page 17: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

den Wünschen des Patienten und seinen aktuellen Möglichkeiten, wer-den diese Bausteine unterschied-lich intensiv eingesetzt. Durch eine stufenweise Anpassung der Therapie kann der Verlauf der Krankheit posi-tiv beeinflusst werden.

In den akut psychotischen Phasen, die von Wahnvorstellungen und Hallu-zinationen geprägt sind, wird in erster Linie versucht, diese Symptome mit Medikamenten zu beeinflussen. Vor allem bei ausgeprägten Erkrankun-gen ist dazu der Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik erforderlich. Sobald sich der Patient dann stabili-siert hat, kommen psychotherapeu-tische und soziotherapeutische Maß-nahmen zum Einsatz. Diese können dann auch ambulant oder in einer Tagesklinik erfolgen. Viele Patienten werden anfangs stationär behandelt und dann ambulant weiter betreut.

Medikamentöse Behandlung

Mit Medikamenten lassen sich ins-besondere in der akuten psycho-tischen Phase die Symptome einer Schizophrenie lindern. Zum Einsatz kommen in erster Linie die – früher auch als Neuroleptika bezeichneten – Antipsychotika. Antipsychotika ge-hören zur Gruppe der Psychophar-maka. Man unterscheidet zwischen

typischen und atypischen Antipsy-chotika. Letztere sind Antipsychotika der zweiten und dritten Generati-on, die sich vor allem durch gerin-gere Nebenwirkungen auszeichnen. Es gibt Anhaltspunkte, dass sich mit diesen Medikamenten die typischen Einschränkungen von Patienten mit Schizophrenie besser behandeln las-sen. Antipsychotika sind chemische Substanzen, die den Stoffwechsel im Gehirn beeinflussen. Dadurch werden die bei einer Schizophrenie typischen Halluzinationen, Wahn-vorstellungen und Denkstörungen unterdrückt. Die erforderliche Dosis hängt in erster Linie davon ab, wie gut der Betroffene darauf anspricht. Es gilt das Prinzip „so wenig wie möglich, aber so viel wie nötig“. Oft zeigt sich schon in den ersten Tagen der medikamentösen Therapie eine Besserung der Symptome.

Antipsychotika machen nicht ab-hängig und verändern auch nicht die Persönlichkeit. Doch trotz aller Vorteile haben sie Nebenwirkungen. Bei den typischen Antipsychotika kommt es häufig zu Bewegungsstö-rungen und Müdigkeit. Die Medika-mente der neueren Generation ha-ben zwar seltener Einfluss auf die Motorik, können jedoch dazu füh-ren, dass die Patienten zunehmen und Stoffwechselveränderungen bis hin zu Diabetes bekommen. Viele Patienten mit einer Schizophrenie

erkennen anfangs oft nicht, dass sie überhaupt krank sind. Das hat damit zu tun, dass ihre Wahnvorstellungen so real erscheinen, dass sie nicht als solche erkannt werden. Deshalb ha-ben sie häufig ein großes Misstrauen gegenüber Ärzten und gegenüber der Therapie und sehen nicht ein, warum sie Medikamente nehmen sollen. Für eine erfolgreiche Thera-pie ist es jedoch sehr wichtig, dass die verordneten Antipsychotika ein-genommen werden, bei chronischen Verläufen auch dauerhaft.

Bei der Behandlung wird deshalb großer Wert auf die sogenannte Ad-härenz gelegt. Von Adhärenz spricht man, wenn der Patient die Behand-lung akzeptiert und Medikamente gemäß der mit dem Arzt vereinbar-ten Empfehlung einnimmt. Dies wird beispielsweise erreicht, indem die Nebenwirkungen der Medikamente möglichst gering gehalten werden, der Patient genau über Art und Dau-er der Medikation aufgeklärt wird und er sich ernst genommen und verstanden fühlt. Am besten ist es, wenn der Patient sich einfach „nor-mal“ fühlt und angibt, von den ein-genommenen Medikamenten über-haupt nichts zu spüren.

Eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung und die medikamentöse Behandlung mit Neuroleptika sind wichtige Elemente der Behandlung.

Titelthema

17Juli 2014 FACETTEN

Page 18: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Formen der Psychotherapie

Hat sich der Zustand eines Patienten etwas stabilisiert, kann mit Psycho-therapie in einer geeigneten Form begonnen werden. Bei der Psycho-therapie geht es vor allem um den Umgang mit der Erkrankung. Eine ur-sächliche Behandlung der Erkrankung ist dagegen nur in seltenen Fällen möglich. Die Patienten lernen zum Beispiel, wie sie besser mit Stress oder Problemen zurecht kommen und schulen ihre Kommunikationsfä-higkeit. Ziel ist es, die Krankheits-symptome besser zu verstehen, sie als solche zu erkennen und aktiv an der Therapie mitzuarbeiten. All dies trägt letzten Endes zu mehr Lebensqualität bei. Zu den psycho-therapeutischen Maßnahmen gehö-ren in erster Linie Psychoedukation und kognitive Verhaltenstherapie, aber auch die Zusammenarbeit mit Angehörigen und das Training sozia-ler Fertigkeiten.

Einen besonders wichtigen Stellen-wert bei Menschen mit Schizophrenie hat das Wissen über die Erkrankung.

Bei der sogenannten Psychoedukation lernen die Patienten - einzeln oder in einer Gruppe – die Hintergründe ihrer Erkrankung kennen, beispielsweise deren Entstehung und Therapiemög-lichkeiten. Nicht zuletzt, was sie un-bedingt vermeiden sollten – beispiels-weise den Konsum von Cannabis, der Psychosen direkt auslösen oder ver-stärken kann. Dadurch können sie besser auf die Zeichen eines mögli-chen Rückfalls achten und entspre-chend reagieren. Zudem haben die Betroffenen in der Gruppe die Mög-lichkeit, Erfahrungen auszutauschen und sich gegenseitig zu unterstützen.

Bei einer kognitiven Verhaltens-therapie speziell für psychotische Symptome erlernen die Patienten spezifische Strategien, wie man mit diesen Symptomen umgehen kann – eine neuere Entwicklung der letzten Jahre, die vor wenigen Jahrzehnten noch als undenkbar galt. Beispiels-weise üben sie, das eigene Verhal-ten und die eigenen Bewertungen kritisch zu überprüfen („Könnte es sein, dass ich mich irre und sich das doch nicht auf mich bezieht?“). Oder

sie erarbeiten Ablenkungsstrategien, die ihnen helfen, mit bedrohlichen Sinnestäuschungen umzugehen („Sie brauchen nicht alles zu tun, was Ihnen irgendjemand befiehlt“). Die Psycho-therapie dient aber auch dazu, Pro-bleme und die aktuelle Lebenssitua-tion zu besprechen. Gemeinsam mit dem Therapeuten werden Lösungen gesucht, wie der Alltag trotz der Er-krankung gemeistert werden kann. Aufmerksamkeit und Konzentrati-onsvermögen können mit gezielten Übungen, auch unter Zuhilfenahme von speziellen Computerprogram-men, trainiert werden.

Wenn möglich werden Angehörige in die Psychotherapie mit einbezogen. Nicht nur, weil sie immer von der Erkrankung mit betroffen sind, sie können zudem eine wichtige Unter-stützung sein – aber auch Rückfäl-le auslösen und zur Chronifizierung der Erkrankung beitragen. Deshalb kommt familientherapeutischen An-sätzen in mehrfacher Hinsicht eine große Bedeutung zu. Auch außerhalb einer solchen Familientherapie ist es wichtig, dass die Bezugspersonen der Patienten über die Erkrankung infor-miert werden. Bei speziellen Ange-hörigengruppen besteht zudem die Möglichkeit, sich mit anderen auszu-tauschen, Sorgen zu teilen und Prob-leme zu besprechen.

Soziotherapeutische Maßnahmen

Zu den weiteren Therapiebausteinen gehören Ergotherapie, Kreativthera-pie wie Kunst-, Musik- oder Tanzthe-rapie und Bewegungstherapie. Sie alle zielen darauf ab, dass die Patien-ten wieder einen Bezug zu sich selbst und zur Außenwelt aufbauen und ihre Selbstwahrnehmung verbessern.An Schizophrenie erkrankte Men-schen haben es häufig schwer, den

Auch der Austausch in der Gruppe hat einen therapeutischen Effekt, oftmals schöpfen die Patientinnen und Patienten dadurch neuen Mut.

Titelthema

18 FACETTEN Juli 2014

Page 19: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Schizophrenie ist eine Erkrankung, die das Leben verändert. Bei einem Menschen, der mit 22 Jahren an einer Psychose erkrankt, wird das weitere Leben höchstwahrscheinlich nicht so verlaufen, wie er und die Eltern es sich ursprünglich vorgestellt haben, zu-mindest wenn es nicht bei einer einmaligen Episode bleibt. Gerade bei Erkrankungen, die Menschen in recht jungen Jahren befallen, ist es aber langfristig das vielleicht wichtigste Ziel, ein möglichst normales und sinnerfülltes Leben führen zu können. Dazu können die genannten Therapieangebote helfen, aber es bleibt darüber hinaus eine sehr persönliche Aufgabenstellung.

Viele Betroffene finden irgendwann, dass Therapieangebote alleine nicht ausreichen. Sie wollen darüber hinaus einen Weg finden, der für sie persönlich passt und stimmig ist und ihnen ermöglicht, sich wieder unbeschädigt und wertvoll zu fühlen. Daraus ist nahezu eine Bewegung geworden, die unter dem Begriff „Recovery“ firmiert. Recovery bedeutet zwar wörtlich übersetzt „Hei-lung“ oder „Wiederherstellung“, das trifft den Sinn aber nicht vollständig. Recovery ist nicht der Anspruch, von einer schizophre-nen Psychose endgültig geheilt zu werden, weshalb man auch hierzulande gerne bei dem englischen Begriff verbleibt. Es ist die Erwartung, auch dank eigener Kräfte trotz Symptomen und Beeinträchtigungen ein erfülltes Leben führen zu können – und dafür gibt es viele eindrucksvolle Beispiele, die den Betroffenen Mut machen.

Keinesfalls ist Recovery ein Gegensatz zu den professionellen Behandlungsangeboten. Im günstigsten Falle führt die Besinnung auf die eigenen Kräfte und Möglichkeiten aber dazu, dass man diese Angebote irgendwann einmal nicht mehr oder nur noch sehr begrenzt benötigt.

Recovery: den Betroffenen Mut machen

häuslichen und beruflichen Alltag zu bewältigen. Sie haben keinen oder nur geringen inneren Antrieb, wer-den nur schwer mit Problemen fer-tig und bereits das Aufstehen ist für manche ein nahezu unüberwindba-res Hindernis. Auch geht die Erkran-kung häufig mit Defiziten im Bereich der Sozialkompetenz einher. All die-se Einschränkungen wirken sich auf Beruf, zwischenmenschliche Bezie-hungen und Freizeitgestaltung aus. Soziotherapeutische Maßnahmen ge-ben Hilfestellung im sozialen Leben,

also vornehmlich Unterstützung im Bereich Wohnen, Arbeit und Frei-zeitgestaltung. Sie sollen den Pa-tienten dabei helfen, wieder ein möglichst eigenständiges Leben zu führen. Beispielsweise wird gemein-sam mit Therapeuten und Betreuern überlegt, wie es im Anschluss an den Klinikaufenthalt weitergeht. Dazu gehört auch, eine geeignete Woh-nung oder eine Form des Betreuten Wohnens zu finden.

Für ein normales Leben sind ein ge-regelter Tagesablauf und Struktur wichtig. Betroffene werden dabei unterstützt, ihren Tagesablauf sinn-voll zu gestalten und Aufgaben wie Kochen, Putzen oder Einkaufen zu bewältigen. Da es wichtig ist, sich nicht zu isolieren und Beziehungen zu pflegen, erhalten sie auch Hilfe bei der Freizeitgestaltung, es wer-den Ausflüge oder Sportkurse ange-boten.

Wenn irgendwie möglich werden Betroffene mittels spezieller Reha-bilitationsprogramme bei der Rück-kehr ins Berufsleben unterstützt. Die Möglichkeiten reichen von der stu-

fenweisen Wiedereingliederung über die Unterstützung am Arbeitsplatz durch den Integrationsfachdienst oder die Vermittlung eines geeigne-ten Arbeitsplatzes bis hin zu speziel-len Trainingsprogrammen. Falls eine Wiedereingliederung nicht möglich ist, kommt ein Arbeitsplatz in einer beschützten Werkstatt in Frage. Text: Heike Amann, Tilman Steinert — Fotos: Ernst Fesseler

— Illustration: zambrino

Die Betroffenen werden je nach Vorausset-zungen und Bedürfnissen bei der Rückkehr ins Berufsleben unterstützt.

Das das gezielte Training alltäglicher Dinge wie Tischdecken oder gemeinsames Essen soll das Leben wieder in geordnete Bahnen lenken.

Titelthema

19Juli 2014 FACETTEN

Page 20: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Fragen im KopfWas die biologische Forschung

über Schizophrenien weiß

Es gibt viele verschiedene Untersu-chungsmethoden, um Krankheiten zu erforschen. Wie wenn man zum Beispiel einen Baum durch verschie-denfarbige Brillen betrachtet und sich bei jeder Farbe andere Facet-ten stärker abheben, ergeben sich durch die vielen Verfahren in der biologischen Forschung immer neue Erkenntnisse – dadurch können Ex-perten analysieren, was im Körper passiert und letztendlich Risiko-faktoren und Behandlungsmöglich-keiten ableiten. Dabei kommen vor allem Methoden der Hirnforschung zum Einsatz. Es gibt strukturelle und funktionelle bildgebende Verfahren. Strukturelle Verfahren wie das Rönt-gen, die Computertomographie und die Magnetresonanztomografie zei-gen den Aufbau des Gehirns, zum Beispiel den Knochen, die Form, die Ausprägung der einzelnen Areale. Funktionelle Verfahren geben Auf-schluss darüber, was sich im Gehirn abspielt: Durchblutung, Stoffwech-sel und vieles mehr.

Veränderungen im Gehirn

Mit solchen Methoden haben For-scher erkannt, dass sowohl akute als auch chronische Prozesse für Hallu-zinationen und Wahnvorstellungen verantwortlich sind. Die Ergebnisse zeigen, dass das Gehirn von Schizo-phreniepatienten dauerhaft verän-dert ist. Dies lassen bereits frühere biologische Studien aus den 1950er Jahren vermuten. Bei der soge-nannten Pneumenzephalographie entzog man den Patienten Nerven-wasser und füllte die Hirnkammern mit Luft, wodurch die Hohlräume auf den Röntgenbildern sichtbar wurden. Waren die Hirnkammern vergrößert, so deutete dies auf ei-nen Verlust von Hirnsubstanz hin, in der sich wichtige Verknüpfungen zur Informationsübertragung befin-den. Neuere neuropathologische Untersuchungen, bei denen das Ge-

hirn von Verstorbenen betrachtet wird, ergaben, dass bei Schizophre-niekranken vor allem im Schläfen-lappen das Volumen vermindert ist. Beim Testen der Gehirndurchblu-tung fanden Forscher außerdem he-raus, dass besonders die vorderen Hirnregionen schwächer durchblu-tet sind. Experten sprechen in die-sem Fall von einer Hypofrontalität.

Weitere Untersuchungen zeigten, dass im Gehirn von Schizophrenie-patienten ein Ungleichgewicht zwi-schen den wichtigen Neurotransmit-tern Dopamin und Glutaminsäure herrscht. Neurotransmitter sind Bo-tenstoffe, die Informationen zwi-schen den Zellen übertragen. Bei Betroffenen überwiegt der Boten-stoff Dopamin. Dieser erhöht die Sensibilität der Gehirnzellen. Hier setzt im Übrigen die medikamen-töse Therapie an. Antipsychotika zielen darauf ab, das Gleichgewicht der Botenstoffe wieder herzustellen.

Wahnvorstellungen und Halluzinationen entstehen im Kopf. Aber wie? Welche Prozesse laufen im Gehirn ab, wenn man Stimmen hört oder überzeugt ist, verfolgt zu werden? Aus der biologischen Forschung gibt es mittlerweile zahlreiche Untersuchungen, um diese Fragen zu klären. Viele Zusammenhänge sind aber noch unklar.

20

Einblick

FACETTEN Juli 2014

Page 21: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

In manchen Gebieten der Medizin, zum Beispiel in der Krebsbehandlung, ist es heute so, dass die Erkenntnisse aus dem Labor unmittelbare An-wendung bei der Behandlung jedes einzelnen Patienten finden. Im Bereich der Schizophreniebehandlung blieb dies trotz in den letzten Jahrzehnten stetig hoffnungsvoll wiederholter Erwartungen biologisch forschender Psychiater ungeachtet immenser Forschungsaufwendungen bislang eine Wunschvorstellung. In der klinischen Behandlung ist bislang kein Fortschritt aus der biologischen Forschung angekommen, sieht man einmal davon ab, dass die Wirkungen und Nebenwirkungen der Antipsychotika, die vor 60 Jahren eher zufällig entdeckt wurden, inzwischen gut verstanden sind. Noch nicht einmal die verantwortlichen genetischen Faktoren sind nach 100 Jahren genetischer Forschung zufriedenstellend aufgeklärt. Angesichts dessen ver-wundert es nicht, dass prominente Vertreter des Fachs wie der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie, Professor Dr. Andreas Heinz von der Charité in Berlin, inzwischen öffentlich fordern, sich eher wieder mehr der Versorgungsforschung zuzuwenden und dort Mittel zu investieren, die der Patientenversorgung unmittelbar zugutekommen.

Prof. Dr. Tilman Steinert, Ärztlicher Direktor und Leiter des Bereichs For-schung und Lehre im ZfP Südwürttemberg

Konsequenzen für die Behandlung

Wie genau einzelne Symptome entstehen, ist dagegen weniger konkret bekannt. Auch hier gibt es eine Vielzahl an Theorien und Ver-mutungen. Belegt sind diese aber kaum. Einzig zum Phänomen Stim-menhören gibt es erste Erklärungs-ansätze. Aktuelle bildgebende Ver-fahren können die Verbindungen im Gehirn darstellen. Experten vermuten nun, dass die Kommuni-kation zwischen den Gehirnzellen bei Schizophreniepatienten nicht richtig funktioniert. Dies wird als Dyskonnekivitätssyndrom bezeich-net. Zwischen den Zellen gibt es Verknüpfungen, über die Informa-tionen von Zelle zu Zelle übertra-gen werden. Werden diese Infor-mationen falsch weiter geleitet, kann dies dazu führen, dass der Betroffene nicht mehr zwischen äußeren und inneren Eindrücken unterscheiden kann. Eine Unter-suchung, bei der die Forscher eine Aktivierung der Hörrinde feststell-ten, obwohl real niemand sprach, unterstützt die Theorie der fehlge-leiteten Information.

Risiko Genetik und Geburt

Wodurch genau die Veränderungen im Gehirn verursacht werden, ist bislang nicht eindeutig bekannt. Untersuchungen zeigen aber mög-liche Risikofaktoren auf. Anhand so-genannter epidemiologischer Analy-sen stellten Forscher immer wieder einen Zusammenhang zwischen Zeitpunkt der Geburt und einer spä-teren Erkrankung fest – aber nur auf der nördlichen Halbkugel der Erde. Sie fanden heraus, dass mehr Be-troffene im Frühjahr geboren wur-den. Dadurch fällt das zweite Drit-tel der Schwangerschaft, die Phase

in der sich das Gehirn des Kindes entwickelt, in die Wintermonate. Eine Zeit, in der viele Viruserkran-kungen wie Erkältungen oder Grip-pe verbreitet sind. Wenn Mütter in dieser Phase erkranken, könnte dies zu Entwicklungsstörungen des Nervensystems beim Kind führen. Auch genetische Faktoren spielen eine große Rolle. Sind ein Eltern-teil oder gar beide selbst an einer Schizophrenie erkrankt, steigt das Risiko für das Kind. Aber auch ma-nisch-depressive Erkrankungen der Eltern können ein Risikofaktor sein. Denn für beide Erkrankungen sind ähnliche Gene verantwortlich.

Zusammenhänge suchen

Insgesamt gibt es viele Erkenntnisse und Ansätze. Diese können nach-vollziehbar einzelne Aspekte erklä-ren, werfen aber auch neue Fragen auf. Zum Beispiel ob die fehlgelei-teten Informationen eine Folge der Entwicklungsstörungen oder des Ungleichgewichts der Botenstoffe sind. Die Prozesse sind so komplex, dass noch viele Fragen offen sind. Das dringendste Anliegen der biolo-gischen Psychiatrie muss aber blei-ben, die lang ersehnten fassbaren medizinischen Fortschritte in der Behandlung zu erzielen.

Text: Melanie Gottlob — Foto: pixabay

21

Einblick

Juli 2014 FACETTEN

Page 22: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Leben mit Schizophrenie – Erfahrungen von Betroffenen und Angehörigen

Ein junger Betroffener erzählt

Zuerst hat es seine Chefin bemerkt. Ihr Zimmereilehr-ling veränderte sich. Körperlich war er topfit. Er mach-te Überstunden, legte am Samstag Sonderschichten ein, Arbeit war sein Leben. Doch gleichzeitig zog er sich zurück. Redete kaum noch. War unsicher. Die Chefin schickte Tim K.* zum Arzt und schaltete seine Eltern ein.

Der 19-jährige hörte Stimmen. Er fühlte sich verfolgt, nahm überall Kameras wahr und vermutete, heimlich ausspioniert zu werden. „Ich war mir sicher, dass das alles ausgestrahlt wird.“ Auch seinen Vater verdächtigte er: „Ich dachte, er verfilmt mein Leben, um damit Geld zu verdienen.“ Tim fand Beweise, die seine Vermutun-gen untermauerten.

Dieser Episode folgten sechs Wochen Behandlung auf ei-ner psychiatrischen Station. Dort stabilisierte sich Tim K. Es gelang ihm, seine Lehre abzuschließen, er zog in eine therapeutische Wohngemeinschaft. Er setzte seine Me-dikamente ab und fühlte sich eine Weile „richtig gut“. Aber dann ging es wieder los. Er spürte einen unbändigen Bewegungsdrang, joggte viel und machte „komische Sa-chen“. Zum Beispiel fuhr er nachts viele Kilometer mit dem Auto durch die Gegend, weil er sich nicht in seine Wohnung traute. Er dachte an die Kameras, die über-all aufgestellt waren, bekam Angst, dass der Airbag in seinem Auto plötzlich auslösen und er einen schlimmen Unfall verursachen würde. Er hatte Angst vorm Essen, glaubte, von der Mutter seiner Freundin vergiftet zu wer-den, befürchtete, sie mische ihm Drogen ins Essen, die man in seinem Blutbild würde nachweisen können. Acht Wochen verbrachte er auf einer spezialisierten Station im ZfP Südwürttemberg. Die hier verabreichten Medikamen-te nahmen ihm seine Angst. Aber sie putschten ihn auch auf. „Ich wurde hyperaktiv, verbrachte Tage mit Laufen, Radfahren, Joggen. Aber ich konnte mich nicht konzen-trieren, nicht in die Arbeits- oder Ergotherapie gehen.“

Inzwischen lebt Tim K. wieder in der kleinen Allgäuge-meinde bei seinen Eltern, die ihm nach Kräften beiste-hen. Lange Zeit konnte er nicht alleine sein. Mittlerwei-le wird er unterstützt vom ambulanten Krisenteam aus Weissenau. Die kommen zu ihm nach Hause. Das findet Tim K. gut. „Die sind für mich wichtig, so wie meine Eltern auch.“ Der 22-Jährige hat eine Telefonnummer bekommen für Notfälle. „Ich bin eigentlich jemand, der sich nicht so gerne mitteilt. Aber wenn ich müsste, würde ich dort anrufen“, bekräftigt er. Und er wünscht sich mehr Psychoedukation. Er möchte mehr über seine Krankheit lernen und darüber, wie er damit leben kann. Verzichten würde er hingegen gerne auf die Tabletten. Wegen der Nebenwirkungen: „Ich habe ständig Hunger und schon 25 Kilo zugenommen.“

Zur Zeit arbeitet Tim K. in der Holzwerkstatt des ZfP. Stundenweise auf Rezept zur Arbeitstherapie. Doch er strebt einen Platz in den Werkstätten für behinder-te Menschen an und will eine Eingliederungsmaßnahme absolvieren. Denn eigentlich würde er gerne wieder in seinem Ausbildungsberuf arbeiten. Er weiß, dass der ers-te Arbeitsmarkt für ihn derzeit noch zu anstrengend ist. Aber da möchte er wieder hin. Das ist sein Ziel. Er hatte sich seine Zukunft ganz anders vorgestellt.

Und er möchte auch wieder mit seinen Freunden Karten spielen. Ihnen hatte er erzählt, dass er wegen Schizo-phrenie behandelt wird. Es könnte sein, dass sie sich zu-rückgezogen haben, vielleicht weil sie unsicher waren, wie sie mit ihm umgehen sollten. Und das mit den Stim-men, die über ihn reden, ist eine andere Sache. Tim K. ist nicht sicher, dass er sich die wirklich eingebildet hat. Vielleicht hört er ja auch einfach bloß viel besser als die anderen Menschen.

* Namen von der Redaktion geändert

22

Einblick

FACETTEN Juli 2014

Page 23: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Wie Angehörige die Erkrankung

eines Familienmitglieds erleben

Wie alle Eltern psychisch Kranker hatten Ute und Her-mann Villinger zunächst ein gesundes Kind. Aber ihre Tochter erkrankte mit 28 Jahren an einer Schizophrenie und veränderte sich. Damit mussten sie fertig werden. Ute Villinger begann zu recherchieren, besorgte sich Bü-cher und wollte alles wissen über diese Krankheit, die die ganze Familie in Mitleidenschaft zog. Sie weiß: Nicht nur die Patienten brauchen Hilfe.

„Angehörige stehen der Schizophrenie macht- und ratlos gegenüber“, berichtet Ute Villinger ihre Erfahrungen. El-tern haben die psychische Krankheit ja weder willentlich herbeigeführt noch in der Erziehung entscheidend ver-sagt. Wenn die Krankheit schleichend einsetzt, erkennen Eltern diese in der Regel nicht. Aus Unwissen reagieren sie zunächst mit Ermahnungen und Zurechtweisungen. Sie orientieren sich an früheren Zuständen. Manche An-gehörige distanzieren sich unter Umständen, weil sie überfordert sind, vor allem, wenn die Krankheit abrupt hereinbricht und eskaliert. Sie sehen sich mit der Trägheit oder auch mit Aggressivität ihrer Familienmitglieder kon-frontiert. Wenn die Erkrankten medikamentös behandelt werden, müssen die Angehörigen mit Nebenwirkungen wie Müdigkeit, extreme Gewichtszunahme oder Bewe-gungsstörungen fertig werden.

Häufig entsteht bei ihnen der Eindruck, dass sich Ärzte und Pflegepersonal die häusliche Situation nicht vorstel-len können. Schlimm zu ertragen sind für Angehörige Äu-ßerungen wie „Der Kranke hat ein Recht auf seine Krank-heit.“ Noch schlimmer aber ist es, zusehen zu müssen, wie ein sich zunächst hoffnungsvoll entwickelnder junger Mensch allmählich in sich zusammenfällt. Die Hoffnung auf Besserung wird den Angehörigen schwer gemacht.

Was also können Angehörige erwarten? „Auf jeden Fall Verständnis für ihre Situation“, so Villinger. Sie erwarten auch Anstrengungen der Pharmaindustrie, ein Heilmittel zu finden, zumindest eines, das die Symptome bekämpft ohne unerträgliche Nebenwirkungen. Und sie erwarten Unterstützung von den Experten. Diese sollen den Kran-ken die Situation der Angehörigen klarmachen. Denn die wollen doch, dass die Kranken sich mit angemessener Me-dikation und passenden Therapien helfen lassen und ihre Krankheit in den Griff bekommen.

1998 schloss sich Ute Villinger einer Angehörigengruppe in Ulm an, 2000 baute sie eine Gruppe in Biberach auf. Mit ihrem Ehemann Hermann Villinger engagiert sie sich auch auf Landes- und Bundesebene für Angehörige psychisch Kranker. Ihre Tochter lebt mittlerweile in einer betreuten Wohngemeinschaft.

Text: Heike Engelhardt — Illustration: zambrino

23

Einblick

Juli 2014 FACETTEN

Page 24: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Was Betroffene brauchen, um mit ihrer Erkrankung leben zu können

In akuten Krisen werden sie stationär oder tagesklinisch betreut. In Werkstätten finden sie Arbeit. Wie aber be-wältigen Schizophreniekranke ihren Alltag? Gibt es eine ideale Wohnform? Sibylle Prins, Autorin, Referentin und Psychiatrieerfahrene nimmt im Interview mit Facetten Stellung.

Sibylle Prins: Was ist die ideale Wohnform für Menschen mit der Diagnose Schizophrenie? So gestellt, ist die Frage natürlich unsinnig. „Die“ Schizophrenie gibt es nicht. Hinter dieser – durchaus umstrittenen – Diagnose verbirgt sich eine große Anzahl unterschiedlicher Sym-ptome, Wahrnehmungsweisen, beobachtetes Verhalten unterschiedlicher Art und Stärke. Zudem sind die Menschen, die mit dieser Diagnose belegt werden, völlig verschiedene Individuen: Manche haben beim ersten Schub bereits im Berufsleben Fuß gefasst, andere sind noch sehr jung und haben wenig Lebenserfahrung. Einige haben eine gute bis sehr gute Ausbildung – bis hin zur Promotion – andere haben keinen Schul- oder Berufsabschluss. Wie sie mit der psychischen Problematik zurechtkommen und welche Beeinträchtigungen auftreten, bleiben oder wieder verschwinden, ist ebenfalls völlig verschieden.

Prins: „Ideal“ wäre es natürlich, wenn es allen Betroffenen möglich wäre, ohne weitere Unterstützung selbstständig in eigenen Wohnungen zu leben, ob nun alleinstehend oder mit Partner beziehungsweise Familie. Tatsächlich gelingt das auch in manchen Fällen. Aber viele Psychose-Erfahrene brauchen eben doch weitere Unterstützung, die entwe-der von der (Herkunfts-) Familie geleistet wird oder in Form von Ambulant Betreutem Wohnen – in einer eigenen Wohnung oder in Wohngruppen. Wohnen in Gastfamilien kann eine Alternative sein, und manchmal findet sich kein anderer Weg als die Betreuung im Wohnheim. Wichtig ist, dass die Palette an Wohnformen möglichst groß und differenziert ist, um den Einzelnen gerecht zu werden. Flexibel müssen diese Angebote auch sein, da sich der Unterstützungsbedarf auch wieder ändern kann.

Prins: Lassen Sie mich ein paar Punkte nennen, die mir in der gegenwärtigen Entwick-lung Sorge bereiten: Wohnheime werden meist als die schlechteste – weil wenig selbstbe-stimmte und teure – Alternative gesehen. Ein unentwirrbares Gemisch aus Kostendruck und gutgemeinter Förderung der Selbstbestimmung und Selbstständigkeit hat zur Folge, dass man Wohnheime auch stärker „ambulantisiert“. Das führt zum einen dazu, dass Bewohner, mitunter gegen ihren erklärten Willen, zum Auszug und in ambulante Wohnformen gedrängt werden. Schlecht ist diese Entwicklung dort, wo die Menschen die Rundum-Anwesenheit von Personal eigentlich wirklich benötigen. Die ständige Präsenz von Mitarbeitern, die ansprechbar sind und Unterstützung bieten können, ist ja eigentlich die einzige Legitimati-on für Wohnheime. Auch innerhalb der Heime ist zu beobachten, dass Mitarbeiter nur noch stundenweise anwesend sind oder die Nachtwache gestrichen wird.

Facetten: Gibt es eine ideale Wohnform für Schizophreniekranke?

Facetten: Was brauchen Betroffene also aus Ihrer Sicht?

Facetten: Dem Leben im Wohnheim stehen Sie bekanntlich eher kritisch gegenüber…

24

Klartext

FACETTEN Juli 2014

Page 25: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Durch die Ambulantisierung der „gesünderen“ Bewohner werden Heime und oft auch Wohn-gruppen zu Orten, wo sich die Menschen geballt sammeln, deren Problematik ganz besonders schwer ist, die sich besonders schlecht integrieren können. Kann das ein günstiges Milieu sein?

Mit Befremden beobachte ich auch einige Entwicklungen im ambulanten Wohnen. Es gibt Regionen, in denen daran noch Ausbaubedarf besteht. Davon soll hier nicht die Rede sein. Anderswo ist aber ambulante Betreuung ein begehrter Markt geworden. In unserer Stadt, in Bielefeld, gab es vor 20 Jahren genau drei Anbieter für Ambulant Betreutes Wohnen für psy-chisch Kranke, inzwischen sind es 23 – oder vielleicht schon wieder mehr. Und während die früheren Betreuungsvereine aus der sozialpsychiatrischen Tradition kamen, sind die neueren Anbieter auf Menschen mit langwierigen psychischen Problemen oft gar nicht eingerichtet.

Ja. Und diese Anbieter wollen alle ihren „Schnitt machen“ - sie suchen und rekrutieren bis-weilen Klienten, sie lassen sie ungern wieder los, gegenüber den Kostenträgern beantragen sie mehr Stunden, als der Klient vielleicht wirklich brauchte. Ich beobachte, dass heute Menschen ins betreute Wohnen kommen, die vor 20 Jahren dafür nicht in Frage gekommen wären. Ob diese Hilfe ihnen vor 20 Jahren sträflicherweise vorenthalten blieb, obwohl sie sie gebraucht hätten, oder ob heute zu viele Betroffene ambulant betreut werden, sei dahingestellt.

Aufgezeichnet von Heike Engelhardt — Foto: privat — Illustration: zambrino

„Ideal wäre es, wenn alle Schizophrenie-kranken ohne weitere Unterstützung selbstständig

in eigenen Wohnungen leben könnten.“

Sibylle Prins Sibylle Prins lebt in Bielefeld und verfügt seit 1986 über Psychiatrieerfahrung. Seit 1991 engagiert sie sich in der Selbsthilfe Psychiatrie-Erfahrener (www.vpe-bielefeld.de). Seit ihrer Berentung im Jahr 2002 ist sie tätig als Autorin und Referentin und in der Selbsthilfe. www.sibylle-prins.de

Facetten: Und was ist die andere negative Entwicklung?

Facetten: Sie empfehlen aber auch, beim Ambulant Betreuten Wohnen genau

hinzuschauen.

Facetten: Das ist natürlich schwierig.

25

Klartext

Juli 2014 FACETTEN

Page 26: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Das Wort „Soteria“ stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet Rettung, Sicherheit, Geborgenheit, auch Heilung und Erlösung.

Hilfe durch Gespräche: Die Mitarbeitenden der Soteria sind für ihre Patienten stets wichtige Ansprechpartner. Gespräche sind ein zentrales Element des Soteria-Konzepts.

Titelthema

26 FACETTEN Juli 2014

Page 27: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Vor allem junge Menschen erleben immer wieder gravie-rende Veränderungen im Leben. Wenn sie sich für eine Ausbildung oder ein Studium entscheiden, sich immer mehr vom schützenden Elternhaus lösen, eine Familie gründen. Besonders empfindsame Menschen erleben diese Phasen oft als bedrohlich und überfordernd und reagieren entsprechend darauf. Mit Angst, Rückzug und einer verän-derten Realitätswahrnehmung.

Dieses Verständnis liegt der Behandlung in der sogenann-ten Soteria in Zwiefalten zugrunde. Denn Stimmen, Visio-nen, Bedrohungen werden hier als Reize verstanden, die ungehindert von innen nach außen und von außen nach innen dringen und auf die eigene Person bezogen werden. Die eigenen Grenzen verschwimmen, Wahrnehmungsfilter funktionieren nicht mehr. Die Soteria ist eine Einrichtung,

Menschen in akuten Psychosen sind äußerst sensibel. Meist erleben sie eine Krise in unsicheren Lebensphasen, zum Beispiel beim Einstieg ins Berufsleben oder während der Loslösung vom Elternhaus. Allzu schnell werden sie als krank abgestempelt. In der Soteria werden sie als Menschen wahrgenommen, die Diagnose rückt in den Hintergrund.

Gemütlich im Wohnzimmer fernsehen oder auch mal ganz für sich sein – beides ist in der Soteria möglich und nötig. Wer hier lebt, soll einen möglichst normalen Alltag verbringen und gleichzeitig Ruhe finden können. So lernen die Betroffenen, zu spüren, was sie brauchen.

Soteria: ein Angebot für junge Erwachsene

in der Menschen mit akuten Psychosen unter intensiver Betreuung wie in einer Art Wohngemeinschaft zusammen leben. Da das Umfeld von Ruhe, Entspannung und Reiz- armut geprägt ist, das Leben dort gleichzeitig aber mög-lichst realitätsnah ablaufen soll, spricht man auch von ei-ner milieutherapeutischen Behandlung.

Dort lebt seit kurzer Zeit auch Lena S.*. Langsam und kon-zentriert erzählt sie ihre Geschichte. „Ich war schon im-mer eher ruhig und zurückhaltend“, berichtet sie. Nach ihrem Schulabschluss hatte sie zunehmend Zweifel, wie es weiter geht. Was sie wollte, wusste sie: Ein Studium an der Kunsthochschule beginnen. Dennoch konnte sie sich kaum zur Aufnahmeprüfung aufraffen. Sie war sich sicher, dass sie diese nicht bestehen würde. Überhaupt quälten sie ständig Gedanken, unfähig und nichts wert zu sein.

Titelthema

27Juli 2014 FACETTEN

Page 28: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Vor allem nachdem die Beziehung zu ihrem damaligen Freund in die Brüche ging. „Ich fühlte mich minderwertig“. Er hatte sich für übersinnliche Phäno-mene interessiert. Weil sie ihm gefallen wollte, las sie selbst viele Bücher dazu, versank dadurch aber immer mehr in einer anderen Welt. Die Folge: emotionaler Rückzug, Selbstmordgedanken, zwei Selbstmordversuche. Da er-kannten ihre Eltern, dass sie Hilfe braucht. Aber die zwei Aufenthalte in einer geschlossenen Psychiatrie änderten nichts. Sie wollte weg, ihr Leben selbst regeln, aber sie tat sich schwer.

Nach den Klinikaufenthalten quälten sie Ängste. „Ständig dachte ich, dass Fremde einfach in mein Zimmer kommen“. So schildert sie zahlreiche schlaflo-se Nächte. Sie flüchtete, buchte Urlaub mit anderen Kunststudenten und lern-te dort einen Jungen kennen, den sie aus früheren Träumen zu kennen glaub-te. Dann plötzlich die Erkenntnis: Sie braucht Schutz, Geborgenheit, Ruhe. Ein Arzt erzählte ihr von der Soteria in Zwiefalten. Ein Versuch, der sich gelohnt hat. Nach wie vor fällt es ihr an manchen Tagen schwer, zu akzeptieren, dass sie hier ist, hier sein muss. Aber sie fasst sich immer wieder. Und steht zu ihren Gedanken, die sie allerdings nicht als krankhaft bezeichnen würde. Auch wenn sie erzählt, sie fürchte, verfolgt zu werden. Immer wieder fragt sie sich, ob solche Ängste wirklich so verrückt sind. Sie fühle sich einfach überfordert in dieser unübersichtlichen Welt, weiß, dass sie sehr empfindsam ist und findet es schade, dass man allein dadurch scheinbar durchs soziale Raster fällt.

Ein weiterer Platz für Rückzug und Entspannung. Den Garten rund um das Gebäude haben das Team und die Bewohner gemeinsam gestaltet.

Gemeinsam wird der Tag geplant: Was steht heute an, was gibt es zum Abendessen, wer geht einkaufen?

Einkaufen und Essen vorbereiten gehört ebenfalls zum Alltag. Deshalb kümmern sich die Bewohner selbst darum.

Für Gespräche ist immer Zeit. Auch auf dem Flur. Wie in einer Wohngemeinschaft sind die Betreuer auch zwischen Tür und Angel für die Betroffenen da.

Betreuer und Bewohner unterhalten sich auch einfach so, über sich und ihr Leben. So lernen die Betreuer die Betroffenen und ihre jeweiligen Bedürfnisse besser kennen.

Titelthema

28 FACETTEN Juli 2014

Page 29: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Die Soteria ist ruhig und im Grünen gelegen. Das allein vermittelt schon Ruhe und Ausgleich.

Das Konzept der Soteria wurde in den 1970er Jahren von dem Psychiater Dr. Loren Mosher und der Sozialarbeiterin Alma Menn in den USA gegründet. Prof. Dr. med. Luc Ciompi, ein Psychiater aus der Schweiz, brachte die Idee schließlich nach Europa. Er erwei-terte das Konzept um ein von ihm entwickeltes Krankheits- und Menschenverständnis: die Affektlogik. Dieser Ansatz betont das Zusammenspiel von Emotionen und Denken. Die Soteria in Zwiefalten versteht sich als Weiterentwicklung dieser Soteria-Idee und ist neben den Soterien in Bern und München-Haar eine der wenigen anerkannten Einrichtungen im deutschsprachigen Raum.

Geschichte der Soteria

Lenas Beschreibungen und Gedanken stimmen ziemlich genau mit den Leit- ideen der Soteria überein. Um die ungefilterte Reizüberflutung zu ver-mindern, brauchen Betroffene Ruhe, einen emotionsfreien Raum. Die Diag-nose steht hier nicht im Vordergrund, es geht um den Menschen. Darum, was er kann und was er nicht kann. Dies erfahren die Betreuer sowie die Betroffenen selbst im gemeinsamen täglichen Erleben. Deshalb ist die Soteria als möglichst alltagsnahe Be-handlung konzipiert. Einkaufen, Ko-chen, Putzen und Freizeitgestaltung gehören dazu und müssen von den Bewohnern weitgehend selbst orga-nisiert werden. Das ist wichtig, um den Bezug zur Realität beizubehalten und zu stärken. Zusätzlich sollen die Betroffenen neue Verhaltensweisen kennen lernen, um Konflikte bewäl-

tigen zu können. Durch das enge Zu-sammenleben mit anderen Psycho-se-Kranken ergeben sich automatisch Probleme. In der Soteria können die Betroffenen gefahrlos verschiedene Reaktionsmuster erproben, denn al-les wird in klärenden Gesprächen mit den Betreuern und den anderen Be-wohnern besprochen. Das hilft, die eigenen Erlebens- und Handlungs-strukturen besser zu verstehen und zu hinterfragen. Innere Spannungen können so im Lauf der Zeit abgebaut werden.

Gleichzeitig ist es für die Bewohner aber auch wichtig, der belastenden Reizflut zu entkommen. Sie müssen sich erst wieder stabilisieren, damit sie lernen können, mit Belastungen umzugehen. Deshalb ist die Sote-ria grundsätzlich reizarm gestaltet.

Beim Kochen können die Bewohner selbst kreativ werden. Wem das we-niger Spaß macht, der kümmert sich um andere Dinge im Haushalt.

Zu gewohnten Zeiten gibt es Essen. Ein gewisser Tagesrhythmus ist wichtig für die Bewohner, er erhöht den Bezug zur Realität.

Titelthema

29Juli 2014 FACETTEN

Page 30: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

In der Soteria können auch Mütter mit ihrem Kind aufgenommen und behandelt werden. Voraussetzung ist, dass die Mutter sich weitgehend um das Kind kümmern kann und die Behandlung nicht beeinträchtigt wird. Vorab muss außerdem geklärt werden, wer die Betreuung des Kindes im Krisenfall übernehmen kann.

Mutter-mit-Kind-Behandlung

Auch die Betreuer helfen im Haushalt mit – wie in einer richtigen Wohngemeinschaft eben.

Auch im Garten können sich die Be-wohner einbringen. Ein Gemüsebeet haben sie bereits angelegt.

Eine gemütliche Atmosphäre, warme Farben, ein Kaminzimmer als Aufent-haltsraum und ein großzügiger Garten mit selbst angelegtem Gemüsebeet sor-gen dafür, dass die Bewohner sich entspannen können. Für Krisensituationen gibt es zusätzlich das weiche Zimmer, das mit wenig Möbeln ausgestattet ist, keinen Fernseher und keine Musik bietet, hell ist und den Betroffenen die Möglichkeit gibt, sich zu beruhigen, sich nur auf sich selbst zu konzentrieren. Direkt nebenan ist ein weiteres Bereitschaftszimmer eingerichtet, in dem auch der Nachtdienst schläft. So können die Betreuer schnell Hilfe leisten.

Der enge Kontakt zum Team ist allgemein wichtig in der Soteria. Im Rahmen des Bezugspersonenkonzepts hat jeder Bewohner einen persönlichen An-sprechpartner, der den Behandlungsverlauf mit begleitet, in Krisensituationen unterstützt, bei Konflikten zu Rate gezogen werden kann, oder einfach zuhört, da ist, stützt.

Lena S* hat zunehmend den Eindruck, sich gut zu fühlen und einen Sinn hinter allem zu erkennen. „Das Leben ist so, wie es ist“, sagt sie. Aber sie lässt sich Zeit. Sie will fertig studieren und später als Lehrerin arbeiten. Und weiterhin Malen. Das ist ihr Ausdruck, ihre Art und Weise, alles zu verarbeiten.

* Namen von der Redaktion geändert

Text: Melanie Gottlob — Fotos: Ernst Fesseler — Illustration: zambrino

Titelthema

30 FACETTEN Juli 2014

Page 31: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

„Bist du sicher?“

Stimmenhören: Vom Lebenmit dem Lärm im Kopf

Antje Wilfer hört seit 26 Jahren Stimmen. Zunächst habe sie sich geschämt, versucht, die Stimmen zu verdrängen und drei Jahre lang geschwiegen. „Irgendwann hielt ich dem Druck nicht mehr stand“, erzählt die Frau mit den blonden kurzen Haaren. Mit 19 Jahren kam die Berline-rin das erste Mal in eine psychiatrische Klinik, die Ärzte diagnostizierten eine Schizophrenie, verschrieben Me-dikamente. Es folgten mehrere Aufenthalte in der Psy-chiatrie, bei denen verschiedenste Therapieformen zum Einsatz kamen. Doch die Stimmen blieben.

Rund um die Uhr

Rund ein Viertel aller Menschen mit einer schizophrenen Psychose hört chronisch Stimmen oder leidet unter an-haltenden Wahnvorstellungen. Trotz der Fortschritte in der medikamentösen Behandlung gibt es Fälle, bei de-nen nichts gegen die psychotischen Symptome zu helfen scheint. Die Dauerbeschallung im Kopf führt häufig dazu, dass Betroffene, Angehörige und auch Behandelnde resignieren. Auch Antje Wilfer war verzweifelt. „Die Stimmen waren rund um die Uhr da, verhielten sich ag-gressiv, bedrohten und beschimpften mich.“ Sie hörte Sätze wie „die ist fett“, „die stinkt“ oder „die bildet sich doch nur ein, dass er nett zu ihr ist“. Als die ver-zweifelte Frau schon fast alle Hoffnung aufgeben hatte, kam sie durch Zufall in eine Selbsthilfegruppe. „Zum ersten Mal habe ich gesehen, dass es Menschen gibt, die Stimmen hören und trotzdem ihren Alltag bewältigen“, erzählt Antje Wilfer.

Bei der Behandlung von stimmenhörenden Menschen konzentrierten sich Experten lange Zeit nur darauf, die Symptome zu bekämpfen. Anfang der 90er Jahre eröffne-te eine Entdeckung der niederländischen Forscher Marius

Romme und Sandra Escher neue Blickwinkel: Die beiden vertraten die Auffassung, dass Stimmenhö-ren an sich nichts Schlimmes ist. Es werde nur dann zu einem Problem, wenn die Stimmen als bedrohlich er-lebt werden. Das, was die Stimmen zu sagen haben, sei ernst zu nehmen und liefere Aufschlüsse über die Le-benssituation, könne gar bei der Bewältigung von Problemen helfen. Ausgehend von diesem Grundge-danken wurden in den vergangenen Jahren verschiedene verhaltensthe-rapeutische Ansätze für Menschen, die Stimmen hören, entwickelt. Indem die Patienten lernen, die Symptome zu akzeptieren und eine Veränderungsbereitschaft zu entwi-ckeln, stärken sie gleichzeitig ihre Fähigkeiten zur Selbsthilfe.

Stimmen gehören dazu

Diesen Ansatz vertritt auch Antje Wilfer. Ermutigt durch die Erfahrun-gen in der Selbsthilfegruppe begann die junge Frau, die Stimmen als Teil ihres Lebens zu sehen. „Allein dadurch, dass ich den Stimmen zu-hörte und zu verstehen versuchte, was sie mir mitteilen wollten, ver-loren diese auf einmal ihre Bedroh-lichkeit“. Sie fing an, sich mit ihren Stimmen auseinanderzusetzen und

Sie erteilen Befehle, kommentieren Handlungen, Gedanken oder Gefühle, beleidigen oder kommunizieren miteinander. Und das manchmal rund um die Uhr. Stimmen im Kopf sind häufige Begleiterscheinungen einer Schizophrenie. Doch das Phänomen tritt auch bei einer Reihe weiterer seelischer und körperlicher Erkrankungen auf. Und manchmal sogar bei gesunden Menschen.

„Mach das lieber nicht.“

31

Einblick

Juli 2014 FACETTEN

Page 32: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

arbeitete mit einer Therapeutin den Zusammenhang zwischen den Stim-men und der eigenen Lebensge-schichte auf. Heute sagt sie: „Die Stimmen sind zwar problematisch, aber meine Realität.“

Zusätzlich zur selbstbewussten Aus-einandersetzung mit den Stimmen ist es für Betroffene wichtig, Stra-tegien zu entwickeln, die den Alltag erleichtern. Was genau jeweils hilft, ist von Mensch zu Mensch verschie-den. Für einige ist es beispielswei-se hilfreich, die Stimmen gezielt zu ignorieren oder ihnen zu befehlen, zu verschwinden. Eine andere Mög-lichkeit können Ablenkungsstra-tegien wie Meditation, Sport oder Tagebuchführen sein. Antje Wilfer hat es geholfen, sich gezielt mit ih-ren Stimmen zum Kaffeetrinken zu verabreden. „Indem ich feste Zeiten vorgebe, wann ich mich mit meinen Stimmen auseinandersetzte, habe ich zwischendurch auch mal meine

Ruhe“, erzählt sie. Als sie begann, sich intensiv mit den Anweisungen zu beschäftigen, verschwanden die aggressiven Stimmen nach und nach und wurden durch neue, wesentlich angenehmere ersetzt.

Auch Gesunde hören Stimmen

Wie genau die inneren Stimmen entstehen, ist bis heute noch nicht geklärt. Forscher konnten nachwei-sen, dass beim Stimmenhören genau diejenigen Gehirnareale aktiv sind, die auch beim normalen Hören be-teiligt sind und es ist bekannt, dass sogar von Geburt an taube Menschen in Psychosen Stimmen hören. Wie genau es zu dieser Fehlfunktion im Gehirn kommt, ist jedoch unbekannt.

Schätzungen zufolge hören rund fünf Prozent der Bevölkerung irgendwann einmal in ihrem Leben Stimmen. Das bedeutet aber nicht, dass sie alle zwangsläufig unter einer psychischen

Das Hören von Stimmen nichtanwesender Personen ist eine akustische Halluzination. Halluzinationen und Wahnvorstellungen werden als psychotische Symptome bezeichnet. Akustische Halluzinationen äußern sich häufig im Hören von Stimmen bekannter oder unbekannter Personen in der eigenen oder auch in fremden Sprachen, die sich über den Betroffenen unterhalten oder sein Tun kommentieren und häufig bedrohlich oder beleidigend sind. Es gibt auch nur rudimentär ausgeprägte akustische Hal-luzinationen, die sogenannten Akoasmen, die sich als Lärm und Geräusche, beispielsweise Pfeifen, Rauschen, Summen, Bellen, Klopfen oder Glockengeläut äußern.

Was sind akustische Halluzinationen?

„seltsam“

„guck mal die an“

„die ist komisch!“

32

Einblick

FACETTEN Juli 2014

Page 33: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Erkrankung leiden. Forschungen be-legen, dass Stimmenhören auch bei gesunden Menschen vorkommen kann, häufig in Extremsituationen wie Überlastung, Schlafmangel, Iso-lation oder Drogenkonsum. Dabei müssen die Stimmen nicht zwangs-läufig negativ sein. Es gibt Fälle, in denen die Stimmen ermuntern, lo-ben oder sogar Witze erzählen. Und auch berühmte Persönlichkeiten wie Sokrates, Johanna von Orleans, Win-ston Churchill oder Mahatma Ghandi sollen Bekanntschaft mit diesem Phä-nomen gemacht haben, ohne dass sie als psychisch krank galten.

Antje Wilfer hat es inzwischen ge-schafft, ihre Lebensfreude wiederzu-erlangen. Mittlerweile ist sie Mutter eines 2-jährigen Kindes. „Es gibt zwar immer noch schwierige Situationen, aber es gelingt mir, diese aus eige-ner Kraft zu meistern“, berichtet sie stolz. Die Expertin aus eigener Erfahrung ist heute in einer Selbst-

hilfegruppe aktiv, leistet selbst the-rapeutische Arbeit, hält Vorträge und bietet Fortbildungen und Seminare für Betroffene und Professionelle an. „Ich bin zwar immer noch in zwei Welten zuhause, aber mit meiner ei-genen Logik kann ich den Alltag be-wältigen“, sagt sie.

So wie bei Antje Wilfer verlaufen je-doch längst nicht alle Fälle. Verhal-tenstherapie und Selbsthilfegruppen können für einige Betroffene hilfreich sein, doch das trifft nicht auf alle zu. Da es gerade unter dem Einfluss von befehlenden Stimmen zu selbstschä-digendem Verhalten, im äußersten Fall sogar zum Suizid kommen kann, ist es wichtig, sich gerade in Krisen in professionelle Hilfe zu suchen. Dazu gehört dann auch die medikamentö-se Therapie. Denn so unterschiedlich wie die Menschen sind auch die Be-handlungsmethoden.

Text: Heike Amann — Illustration: zambrino

„die stinkt!“

„die bildet sich doch nur ein, dass er nett zu ihr ist“

„die ist fett“„was die anhat“

„die hat doch keine Ahnung“

„oh mann“ „ist die doof“

33

Einblick

Juli 2014 FACETTEN

Page 34: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Ohne Wenn und Aber – Gefangen im Wahn

Prof. Dr. Tilman Steinert: Psychische Erkrankungen entstehen immer aus einem kom-plexen Wechselspiel zwischen biologischen, innerpsychischen und Umwelteinflüssen. Dementsprechend gibt es auch für Wahnvorstellungen biologische und psychologische Erklärungen. In biologischer Hinsicht geht man, vereinfacht gesagt, davon aus, dass Psychose-Betroffene unter Stress zu viel Dopamin in den synaptischen Spalt, das che-mischen Schaltstück zwischen den Nervenzellen, ausschütten. Dopamin ist einer der sogenannten Botenstoffe. Wiederum vereinfacht ausgedrückt, reguliert Dopamin im Gehirn, was uns wichtig erscheint. Ständig bewerten wir unsere Umwelt selektiv – die-se attraktive Frau zieht meine Aufmerksamkeit auf sich, jene Nachricht erscheint mir höchst spannend; anderes nehme ich kaum zur Kenntnis, weil es mich nicht betrifft. Auf diese Weise sorgt unser Gehirn dafür, dass wir im Alltag gut zurecht kommen und nicht ständig mit unnützer Information überflutet werden.

Steinert: Wenn zu viel Dopamin die Nervenzellen befeuert, wird plötzlich alles scheinbar wichtig und man bezieht Dinge auf sich, die in Wirklichkeit völlig bedeutungslos sind. Da wird die Deckenlampe plötzlich zur geheimen Kamera, die nur installiert wurde, um mich zu überwachen. Ist dagegen zu wenig Dopamin vorhanden, interessiert mich gar nichts mehr – dieser Zustand wird durch zu hohe Dosen antipsychotischer Medikamente zuweilen verursacht. Psychologisch gesehen dient der Wahn dem allgemeinen menschlichen Erklärungsbedürf-nis. In der Psychose gerät die Welt aus den Fugen, es stellt sich ein Gefühl unbestimmter Angst ein, Sinnestäuschungen können hinzutreten. Sobald diese Erscheinungen durch eine Theorie („das macht der Geheimdienst mit elektromagnetischen Wellen“) erklärt werden können, fühlt man sich subjektiv etwas besser.

Steinert: Nein, keineswegs. Wahnvorstellungen entsprechen eher häufig der Stimmungsla-ge, in der sich die betreffenden Menschen befinden. Wer schwer depressiv niedergestimmt ist, fühlt sich verarmt, missachtet, von unerträglicher Schuld befleckt. Wer misstrauisch ist, fühlt sich verfolgt, abgehört oder manipuliert. In gehobener euphorischer Stimmung sind es dann eher Wahnvorstellungen von unermesslichem Reichtum oder Auserwähltsein. Nicht selten ist tatsächlich die Vorstellung, man sei Jesus oder gar Gott. Auch, dass Patienten um Zigaretten bitten und wenige Minuten später beiläufig erklären, sie hätten noch einige Millionen auf einem Konto, nur im Moment keinen Zugang dazu, ist nicht ungewöhnlich. Neben solchen sehr stimmungsabhängigen Wahnvorstellungen gibt es die für Schizophrenie recht typischen bizarren Wahnvorstellungen, die Gesunden besonders wenig einfühlbar erscheinen. Dies betrifft unter anderem die sogenannten Ich-Störungen, bei denen der Erkrankte das Gefühl hat, seine eigenen Gedanken seien fremd oder würden ihm weggenommen. Sekundär werden dafür wieder viele Erklärungen gefunden, vorwiegend aus dem technischen Bereich. Vom Zahnarzt angeblich eingepflanzte Chips, Sender oder sonsti-ge nicht näher bekannte technische Geräte werden dafür häufig verantwortlich gemacht.

Wahnvorstellungen zählen zu den häufigsten Symptomen bei einer Schizophrenie. Bei über 90 Prozent der Men-schen, die an einer schizophrenen Psychose leiden, treten sie im Verlauf ihrer Erkrankung auf. Für Betroffene ist dieses Erleben unbestreitbare Realität. Bestimmte Wahnvorstellungen tauchen in leicht abgewandelter Form immer wieder auf. Wir sprachen mit Prof. Dr. Tilman Steinert, Ärztlicher Direktor im ZfP Südwürttemberg am Standort Weissenau, über dieses Phänomen.

Facetten: Erkrankte konstruieren oft selt-sam anmutende Wahnvorstellungen, die

für Außenstehende nicht nachzuvollziehen sind. Gibt es dafür Erklärungen?

Facetten: So ist es also bei gesunden Menschen. Und bei Patienten

mit Schizophrenie?

Facetten: Sind Wahnvorstellungen immer von bedrohlichem Charakter?

34

Klartext

FACETTEN Juli 2014

Page 35: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Steinert: Es gibt schon eine sehr große Vielfalt von Themen, so dass man genauer hinschau-en muss, um Ähnlichkeiten zu erkennen. Gerade bei stimmungsabhängigen Wahnvorstel-lungen ist die Zahl der Themen aber doch begrenzt. Bei Vorstellungen von Auserwähltheit und Besonderheit ist es eben häufig Gott oder Jesus oder wenigstens ein berühmter Erfinder oder der Staatschef. Wenn schon all dies nicht, verkünden Betroffene zumindest beiläufig, sie seien selber auch Chefarzt. Dass es bei Niedergestimmtheit und gerade mit zunehmen-dem Lebensalter sehr häufig um die Themen Schuld und Verarmung geht, ist einerseits gut nachvollziehbar, anderseits aber auch ein Merkmal unserer Kultur. In anderen Kulturen und zu anderen Zeiten suchte sich der Wahn eben etwas andere jeweils aktuelle Themen. Was heute CIA und Mafia sind, mögen früher Freimaurer und Schwarzmagier gewesen sein.

Steinert: Nein nicht generell. Als 1986 die Folgen des Reaktorunglücks in Tschernobyl be-kannt wurden, arbeitete ich als Assistenzarzt in Zwiefalten und machte eine Informations-veranstaltung für die beunruhigte Bevölkerung. Meine Schizophreniepatienten auf der Stati-on zeigten sich hingegen trotz der laufenden Berichterstattung in allen Medien ausnahmslos desinteressiert – obwohl Strahlung ein weitverbreitetes Motiv in Wahnvorstellungen ist. Ebenso wenig neigen die Patienten interessanterweise dazu, Überwachungskameras, wie wir sie in einigen Sicherheitszimmern installiert haben, wahnhaft zu verarbeiten. Wir erklä-ren ihnen, dass es sich um Überwachungskameras zu ihrem Schutz handelt und sie pflegen sie üblicherweise auch ohne besonderes Misstrauen genau dafür zu halten.

Facetten: CIA, FBI und Co. – Wie lässt sich erklären, dass sich die Wahnvorstellungen inhaltlich, aber auch in ihren Ausprägun-

gen in vielen Fällen ähneln?

Facetten: Werden denn alle gesellschafts-relevanten Ereignisse als Wahnvorstellun-

gen aufgegriffen?

Prof. Dr. Tilman SteinertTilman Steinert ist Nervenarzt und Psychotherapeut und Ärztlicher Direktor des ZfP Südwürttemberg am Standort Weissenau.

„Psychologisch gesehen dient der Wahn dem allgemeinen

menschlichen Erklärungsbedürfnis.“

Aufgezeichnet von Philipp Pilson — Foto: Ernst Fesseler

35

Klartext

Juli 2014 FACETTEN

Page 36: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Ich hab dir nie einen Rosen-garten versprochenHannah GreenISBN: 978-3-499-22776-9

Die verborgene KraftSie lebt in der Dämonenwelt Yr und manch-mal im Jetzt. Sie hört Stimmen. Sie ist hoch intelligent und krank. Oder doch bloß un-glücklich, wie die Familie hofft? Mit 16 Jah-ren wird Deborah Blau nach einem Suizid-versuch hinter Gitter gebracht. Gitter einer psychiatrischen Anstalt, in der sich eine ver-ständnisvolle Ärztin den dunklen Mächten entgegenstellt. Sie sucht mit ihrer Patientin nach der verborgenen Kraft gesunder Antei-le und zeigt ihr auf, wie sie die Götter und Höllengeister hinter sich lassen kann. Wie sie sich mit ihrer Familiengeschichte arran-gieren und den Anforderungen des Lebens stellen kann. Schonungslos offen gewährt die Autorin Einblicke in ihr Erleben während ihrer eigenen schizophrenen Psychose.Fazit: Das 1960er-Jahre-Kultbuch, 1983 in deutscher Übersetzung erschienen, hat auch 30 Jahre nach dem ersten Lesen nichts an seiner Faszination eingebüßt.

Intensive EinblickeKein klassischer Roman, kein Fachbuch oder Erfahrungsbericht sondern irgendetwas dazwischen. „Fremdes Ich“ erzählt die Ge-schichte eines an Schizophrenie erkrankten Mannes. Seine Gedankengänge zu einzelnen Aspekten wie Kindheit, Studium, dem Job als Briefträger, der Aufenthalt in der Psychi-atrie oder die Liebesbeziehung zu einer Frau werden in kurzen, abgehackten Sätzen ab-gehandelt. Der Leser hat die schwierige Auf-gabe, sich aus diesen Fragmenten die Hand-lung zusammenzureimen und muss selbst entscheiden, was Wahrheit und was Wahn ist. Aussagen wie „Ich versuche das Böse zu kontrollieren, indem ich meine Schuhe mit einer Doppelschleife binde und den Kragen meiner Jacke hochklappe“ geben eine Vor-stellung davon, was sich bei einer Schizo-phrenie im Kopf abspielt. Fazit: Der schwer erschließbare Zusammen-hang erfordert etwas Ausdauer beim Lesen

– doch die Mühe lohnt sich.

Fremdes Ich – Ein Leben mit SchizophrenieChrista WindmüllerISBN 978-3-8334- 7245-9

A Beautiful Mind – Genie und Wahnsinn2002135 minRegie: Ron Howard

Großartiger GruselklassikerWeil der kleine, hochsensible Cole Sear (Ha-ley Joel Osment) scheinbar übernatürliche Dinge sieht, wird er zum Kinderpsychologe Malcolm Crowe (Bruce Willis) gebracht. Die-ser steckt gerade selbst in einer Krise, da er vom tragischen Schicksal eines Patienten erfahren hat, den er als Kind erfolgreich be-handelt zu haben glaubte. In dem neunjäh-rigen Cole sieht er nun eine Chance, seine Fehler von damals wieder gut zu machen, denn der Patient von damals litt unter ähn-lichen Symptomen. Langsam dringt er zu dem schüchternen Jungen durch und erfährt dessen dunkles Geheimnis. Doch die angeb-lichen Wahnvorstellungen stellen sich als erschreckend real heraus. Ein spannender Film mit fesselnder Handlung, in dem ein brillanter Bruce Willis beweist, dass er mehr als Action kann. Fazit: übersinnliche Geschichte mit sinni-gem Hintergrund.

The Sixth Sense1999106 MinutenRegie: M. Night Shyamalan

Heike Amann

Redaktion

Heike Engelhardt

Redaktion

Lite

ratu

r- u

nd F

ilmem

pfeh

lung

en

nicht empfehlenswertokgutsehr gutausgezeichnet

Nicht wissen, was wahr istEr ist ausgestattet mit zwei Portionen Ge-hirn und einer halben Portion Herz: der geni-ale Sonderling und spätere Nobelpreisträger John Nash, unbeholfen und zunehmend ver-unsichert, großartig verkörpert von Russell Crowe. Der Mathematiker erkrankt in jun-gen Jahren an Schizophrenie und erlebt den Alptraum, nicht mehr zu wissen, was wahr ist. In seiner Welt von Zahlen, Gesetzmäßig-keiten und strategischen Forschungen fürs amerikanische Verteidigungsministerium wähnt er sich in Spionageaffären verstrickt. An seiner Seite stehen ein imaginärer Freund, ein ebensolches Kind und ein Agent. Der ver-schiedenen Welten wird der Zuschauer erst allmählich gewahr. Nash landet schließlich in der Psychiatrie.Fazit: Teilweise verstörendes Drama, von preisgekrönten Schauspielern mitreißend- faszinierend und einfühlsam in Szene gesetzt, mit packender Musik von James Horner.

36

Kostprobe

FACETTEN Juli 2014

Page 37: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Vom braven Mädchen zum besessenen SchwanSie hat es geschafft: Nina tanzt in einer Neu-Inszenierung des Balletts Schwanensee die Hauptrolle. Doch der Traum wird schon bald zum Alptraum. Gefangen in ihrem übertriebenen Perfektionismus übt sie so zwanghaft ihre Rolle, dass sie Wahnvorstel-lungen entwickelt. Sie sieht dunkle Schatten, hört Stimmen, verletzt sich selbst und ist überzeugt, dass eine neue Tänzerin ihr die Rolle weg nehmen will. Sie wird immer ag-gressiver, verletzt ihre Mitmenschen, die ihr vermeintlich im Weg stehen. Letztendlich tanzt sie die Hauptrolle besser denn je, sie zahlt dafür aber auch einen hohen Preis. Ein dramatischer, aber höchst ausdrucksstarker Film mit einer erstklassigen Natalie Portman als Hauptdarstellerin.Fazit: Der Film ist düster, die starken Bilder lassen einen erschauern. Nichts für schwa-che Nerven!

Misstrauen der Umwelt gegenüberLukas, überzeugend gespielt von Daniel Brühl, ist sich sicher: Alles läuft gegen ihn. Und das nicht nur, weil eine Kinokassiererin ihn einen Film nicht sehen lassen will. Der Junge vom Land erliegt mehr und mehr der Reizüberflutung, die das Großstadtleben für ihn bereithält. Nachdem er psychede-lische Pilze zu sich genommen hat, begin-nen Stimmen mit ihm zu sprechen, ihn zu bedrohen und zu beschimpfen. Der Beginn andauernder Wahnvorstellungen. Der Regis-seur versteht es, diesen Zustand der Qual und das bedrängende Gefühl authentisch darzustellen. Gekonnt nimmt Weingartner den Zuschauer mit auf eine Reise in das leidvolle Innenleben eines Menschen, der an paranoider Schizophrenie leidet. Leider ver-liert sich die glaubwürdige, teils erdrückend inszenierte Reise auf der Suche nach einem passenden Ende.Fazit: Bedrückend und authentisch gespielt.

Das weiße Rauschen2002106 MinutenRegie: Hans Weingartner

Die Schattenseite des Mondes: Ein Leben mit SchizophrenieRenate KlöppelISBN 978-3-49961641-0

Vom Kampf um sich selbstDie junge Malerin Maria ist eines Tages da-von überzeugt, dass schwarze Pfeile in ihrer Brust stecken. Nur allmählich begreift sie, dass dies der Anfang einer Schizophrenie ist. Ein harter Kampf beginnt. Um sich selbst, um ihre Familie, vor allem um die Beziehung zu ihrem Sohn. Renate Klöppel, Kinderärztin und Buchautorin, erzählt in ihrem Buch die Geschichte einer Betroffenen. Mit neutralen Worten, eher im Stil einer Dokumentation. Und dennoch sehr bildlich. Der Einstieg ist Geschmackssache, die Ängste des Sohnes in der Schule werden als mögliche Anzeichen einer Schizophrenie gewertet. Außerdem irritiert die Erzählung aus der Ich-Perspek-tive, doch wer weiterliest, wird sich bald in Marias Erleben einfühlen. Fazit: Nicht alles ist nachvollziehbar, aber der Einblick ist dennoch eindrucksvoll.

Retter der WeltJohn WrayISBN: 978-3-498-07362-6

Odyssee durch Tag und NachtWilliam Heller muss die Welt vor dem Unter-gang retten. Als Einziger hat er die Zeichen erkannt. Es gibt nur einen Haken: Er sitzt in der Psychiatrie. Eigenmächtig setzt er die Medikamente ab und flieht. Verfolgt von seiner Mutter und einem Detective treibt es „Lowboy“ in die Schächte der New Yorker U-Bahn. Es folgt ein ständiger sprachlicher Wechsel zwischen Ober- und Unterwelt. Die Welt wird dabei als Universum aus Chiffren, Codes und Symbolen beschrieben und der Detective ist ein Meister darin, diese trotz permanenter Doppeldeutigkeit zu entschlüs-seln. Der Autor hat die Perspektive eines 16 jährigen Teenagers eingenommen, der an ei-ner paranoiden Schizophrenie leidet. Trotz allem Leid vermittelt er kein Mitgefühl, er verdeutlicht und begleitet vielmehr die Ent-wicklung eines gestörten Bewusstseins. Fazit: Entdeckungsreise in die Gedanken-welt eines psychisch Kranken.

Melanie Gottlob

Redaktion

Philipp Pilson

Redaktion

Black Swan2010108 MinutenRegie: Darren Aronofsky

37

Kostprobe

Juli 2014 FACETTEN

Page 38: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Denken über das DenkenMetakognitives Training hilft Denkstrukturen zu erkennen

„Stellen Sie sich vor, Sie sind Torhü-terin ihrer Mannschaft. Ihr Team hat das Spiel verloren. Wer ist schuld?“ Um Zuschreibungen geht es in der heutigen Therapiesitzung. Stepha-nie von der Assen, Ergotherapeutin im ZfP Südwürttemberg, will ihre Patientinnen und Patienten dazu bringen, sich über ihre Wahrneh-mungen Gedanken zu machen. „Ich als Torhüter, ich habe die Schüsse nicht gehalten“, sagt ein 23-jähriger Teilnehmer. „Die Abwehrspieler, die haben den Torraum nicht gesichert, so dass der gegnerische Stürmer freie Bahn hatte“, kontert eine 48-jährige Mitpatientin.

Forschungsergebnisse belegen, dass verschiedene Arten von Denkver-zerrungen wie voreiliges Schlussfol-gern, übermäßige Urteilssicherheit oder auch Schwierigkeiten, sich in andere hineinzufühlen, vermehrt bei an Schizophrenie Erkrankten vorkommen. Solche Denkverzerrun-gen scheinen die Entwicklung fal-scher Überzeugungen bis hin zum Wahn zu begünstigen. Meistens geht schizophrenen Störungen eine schlei-chende Veränderung der Bewertung eigener Empfindungen und der sozi-alen Umwelt voraus. Diesen begeg-net die Neuropsychologie mit dem Metakognitiven Training. Diese Me-thode basiert auf den theoretischen Grundlagen der Verhaltenstherapie, wählt aber einen andern Behand-lungsansatz. „Das ‚Denken über das

Denken‘ gibt Aufschluss darüber, wie Informationen bewertet und gewich-tet werden“, erklärt von der Assen.

Im Gruppentraining erkennen die Betroffenen, wie sich ihr Denken und ihre Wahrnehmung verändern können. In acht Trainingseinheiten werden Denkstile besprochen, die in manchen Alltagssituationen zu Pro-blemen und sogar zu Krisen führen können. Die Klientinnen und Klien-ten werden sich dabei ihrer Denk-verzerrungen stärker bewusst. So lernen sie, ihr bisheriges Problemlö-severhalten kritisch zu betrachten.

Das Wahrgenommene hinterfragen

Gemeinsam mit den übrigen Teilneh-menden entdecken die Betroffenen neue Strategien. Der Austausch in der Gruppe führt dabei häufig zu neuen Einsichten und bietet Gele-genheit zur Korrektur von Denkver-zerrungen oder Fehlwahrnehmun-gen. So erweitern sie nach und nach ihr Verhaltensrepertoire. „Anfangs hätte ich bestimmt auch gesagt, ich als Torhüterin bin schuld daran, dass wir verloren haben“, bekennt Sabine K.* Die 45-jährige Biberache-rin nimmt mittlerweile an der vier-ten Runde des Trainings teil, das ihr hilft, ihre Schizophrenie in Zaum zu halten. Wenn sie merkt, dass sich ihre Wahrnehmungen zu verändern drohen, zückt sie ihre Notfallkarte. Darauf sind einfache Verhaltenstipps

Das Metakognitive Training richtet sich vornehmlich an Schizophre-niekranke und andere Psychose-patienten und bedeutet „Denken über das Denken“. Es befasst sich mit Denkstilen und –Verzerrungen, die den Betroffenen normalerwei-se gar nicht bewusst sind, weil sie meist automatisiert ablaufen.

38

Einblick

FACETTEN Juli 2014

Page 39: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

beschrieben. Sie fragt sich dann: Stimmt das, was ich gerade emp-finde, mit der Wirklichkeit überein? Sehen andere das auch so? Sie hat ihr persönliches Alarmsystem entwi-ckelt und kennt die Signale.

Erkenntnisse richtig einordnen

„Es sind oft ganz einfache, mensch-liche Denkweisen, wie wir sie alle kennen. Wir können sie meistens selber einordnen und uns dann da-von distanzieren“, erklärt Stepha-nie von der Assen und fügt hinzu: „Für schizophren Erkrankte kann es aber schwierig sein, die Gedanken in dem richtigen Kontext zu erken-nen und einzuordnen. Eine Distan-zierung fällt schwer und die Mög-lichkeit, in den Wahn abzugleiten, kann begünstigt werden.“ Ein Bei-spiel: Jemand betritt einen Raum, zur gleichen Zeit verstummen dar-

in alle Gespräche. Ein Schizophre-niekranker bezieht diese Situati-on auf sich. Er denkt, die anderen mögen ihn nicht, sie haben vorher womöglich über ihn getuschelt. Ein Nicht-Erkrankter hingegen denkt, das könnte Zufall sein oder er findet eine andere Erklärung. Vielleicht beginnt im selben Augenblick der Spielfilm im Fernsehen, auf den sich alle gefreut haben.

Metakognitives Training setzt vo-raus, dass die Teilnehmer nicht an akuten Wahnstörungen leiden und sich ausreichend konzentrieren kön-nen. Nur wer bereit ist, sein eigenes Denken zu hinterfragen und aktiv mitzuarbeiten, kann Erfolge erzielen und langfristig etwas verändern.

* Namen von der Redaktion geändert

Text: Heike Engelhardt — Foto: pixabay

Wer trägt die Schuld, wenn der Ball ins Tor geht: der Torhüter oder die Abwehr? Beim Metakognitiven Denken lernen die Teilnehmer, Situationen kritisch zu betrachten, anstatt frühzeitige Schlussfolgerungen zu ziehen.

Das Metakognitive Training (MKT) wurde an der Uniklinik Hamburg-Eppendorf entwickelt und wird dort seit 2005 von der Arbeitsgrup-pe Klinische Neuropsychologie angeboten. In einer Studie wird die Effektivität des Trainings wissenschaftlich untersucht. Die bisherigen Rückmeldungen seitens der Patienten und erste Studienergebnisse sprechen für die Wirksamkeit der Behandlung.

39

Einblick

Juli 2014 FACETTEN

Page 40: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Service – wo finde ich Hilfe?

Das ZfP Südwürttemberg bietet an mehreren Standorten soge- nannte Trialog-Foren an. Diese bieten Raum für Gespräche und Erfahrungsaustausch. Trialog bedeutet, dass Fachkräfte, Betrof-fene und Angehörige zusammenkommen und jeweils ihr Wissen und ihre Sichtweisen einbringen. Patienten erzählen zum Bei- spiel ihre Krankheitsgeschichte und berichten, was ihnen geholfen hat. So können alle Beteiligten die Erkrankung besser kennen lernen, Kontakte knüpfen und sich auch gegenseitig unterstützen. Wo gibt es Trialog-Foren?

ZwiefaltenPsychose-Seminare, in der Regel Sonntags im KonventbauHauptstraße 9 | 88529 ZwiefaltenNähere Auskünfte erteilt Manfred Wittig 07373 10-32 95 | @ [email protected]

RavensburgTrialog-Forum Ravensburg in der Kulturwerkstatt des GPZ RavensburgReichlestraße 4 | 88212 Ravensburg 0751 25577 | @ [email protected]

BiberachIm Herbst findet jeweils montags eine mehrteilige Veranstaltungs-reihe in der Tagesklinik Biberach stattMühlweg 7 | 88400 BiberachNähere Auskünfte erteilt Heike Berger 07351 3412341 | @ [email protected]

Information und

Austausch

Stimmenhören verstehen und bewältigenRon Coleman und Mike SmithPsychiatrie VerlagISBN: 978-3-88414-247-9Das Arbeitsbuch aus der Reihe „Psychoso-ziale Arbeitshilfen“ bietet praktische Hil-fe zum Umgang mit dem Stimmenhören. Die Autoren Mike Smith und Ron Coleman geben Tipps, wie Betroffene die Funkti-onen verschiedener Stimmen verstehen und positiv bewältigen können.

Es ist normal, verschieden zu seinDas 30-seitige Heft wurde von Psychose- Erfahrenen, Angehörige und Wissenschaft- lern erarbeitet und ist deshalb allgemein-verständlich. Die Broschüre informiert über Hilfsmöglichkeiten wie menschliche Kontakte oder Medikamente und hilft, ein individuelles Verständnis der Psychose zu entwickeln.

Bücher und

Broschüren

Schizophrenie. Erkennen, Verstehen, BehandelnHeinz Häfner, C. H. Beck, München 2010ISBN 978-3-406-58797-9Dieses Buch gibt das nötige Wissen über die als Schizophrenie bezeichneten Er-krankungen und vermittelt einen Einstieg in das Verstehen krankhaften Erlebens. Auch als Hörbuch erhältlich.

Kinder psychisch kranker ElternKatrin MüllerHamburg, Diplomica-Verlag, 2008ISBN 978-3-8366-5520-0Lebenswelten und Hilfemöglichkeiten bei Kindern schizophren und affektiv erkrankter Eltern.

40

Zugabe

FACETTEN Juli 2014

Page 41: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

www.schizophrenie-netz.info — Die Seite soll eine Hilfe für Betroffene und Angehörige von schizophren erkrankten Menschen und Interessierten sein. Weiterhin soll sie als Informationsquelle für professionelle Mitarbeiter in der psychiatrischen Landschaft dienen.

www.kompetenznetz-schizophrenie.de — Das Kompetenznetz Schizophrenie (KNS) ist ein bundesweiter Forschungsverbund. Zent-rale Forschungsthemen des KNS waren und sind die Frühphase einer schizophrenen Erkrankung, das heißt Früherkennung und Frühinter-vention bis zur optimalen Behandlung.

www.schizophrenietest.de — Anhand verschiedener Fragen wird versucht, herauszufinden, wie hoch das persönliche Risiko für eine Schizophrenieerkrankung ist.

www.psychose-online.net — Großes Schizophrenie-Forum für Betroffene und Angehörige. Jeden Sonntag wird ein Psychose-Chat angeboten.

www.openthedoors.de — „BASTA - Das Bündnis für psychisch erkrankte Menschen“ ist Teil des weltweiten Programms der World Psychiatric Association (WPA). Das Programm „open the doors“ richtet sich gegen Stigmatisierung und Diskriminierung an Schizo-phrenie erkrankter Menschen.

www.soteria-netzwerk.de — Diese Seite wendet sich an Betrof-fene, Angehörige und Professionelle und gibt Einblicke in das Soteria-Konzept, sowie Einrichtungen und Projekte.

www.stimmenhoeren.de — Das Netzwerk Stimmenhören e.V. hat sich zum Ziel gesetzt, die Öffentlichkeit über die sehr unterschiedlichen Erscheinungsformen des Stimmenhörens zu informieren, Betroffene, Angehörige und Psychiatriemitarbeiter zu beraten, zu unterstützen und weiterzubilden.

Netzwerk- und

Beratungsportale

im Internet

Rechtliche Aspekte

der Betreuung

In der Akutphase einer Psychose sind Patienten in der Regel ge-schäftsunfähig. Dann erledigen Familienangehörige oder betreuende Personen die notwendigen persönlichen Angelegenheiten. Wichtig ist zu wissen, dass auch enge Angehörige wie Ehepartner oder Kin-der nicht automatisch berechtigt sind, rechtlich wirksame Entschei-dungen zu treffen. Es empfiehlt sich diese Vorsorge zu treffen.

Auf der Webseite des ZfP Südwürttemberg (www.zfp-web.de) stehen Informationen und Vorlagen hierfür zum Download bereit.

Schizophreniebetroffene werden im ZfP in der All- gemeinpsychiatrie behandelt. Es werden Angebote auf allen Versorgungsstufen vorgehalten – stationär, teilstationär und ambulant, von Stuttgart bis zum Bodensee. Der Versorgungsbereich erstreckt sich außerdem auf die Versorgung in verschiedenen Wohn-formen im Heimbereich und umfasst Angebote der beruflichen Rehabilitation in den Werkstätten.

Weitere Informationen, auch zu den einzelnen Stand-orten, finden Sie auf der Webseite des ZfP unter www.zfp-web.de/allgemeine_psychiatrie

Behandlung im ZfP Südwürttemberg:

41

Zugabe

Juli 2014 FACETTEN

Page 42: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Mitmachen lohnt sichWelcher Begriff verbirgt sich hinter den Bildern? Unter allen richtigen Ein-sendungen verlosen wir dieses Mal die DVD „Das weiße Rauschen“.

Senden Sie das Lösungswort per E-Mail an [email protected] oder schicken Sie eine frankierte Postkarte an das ZfP Südwürttemberg, Abteilung Kommunikation, Pfarrer-Leube-Straße 29, 88427 Bad Schussenried.

Einsendeschluss ist der 15. August 2014. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Die Auflösung und wer gewonnen hat, lesen Sie in der nächsten Ausgabe.

Übrigens …

1 = W,

Auflösung aus Heft 2/2014Haben Sie’s gewusst? In der April-Ausgabe haben wir den Ausdruck „Echte Wertarbeit“ gesucht. Gewonnen hat Heidemarie Ringelkamp. Das Facetten-Team gratuliert und wünscht viel Spaß mit dem Frühstücksbrettchen, welches auf Wunsch mit „Guten Mor-gen Heidi!“ graviert wird.

… lautet das Motto am diesjährigen Welttag für seelische Gesundheit „Leben mit Schizophre-nie“. Den Welttag der seelischen Gesundheit hat im Jahr 1992 die Weltorganisation für seelische Gesundheit ins Leben gerufen. Er wird seither jährlich am 10. Oktober begangen. Grundgedanke ist es, auf die Belange psychisch Kranker auf-merksam zu machen. In Athen veranstaltet die in-ternationale Gesundheitsorganisation gemeinsam mit der griechischen Psychiatrievereinigung eine dreitägige Tagung zum Leben mit Schizophrenie.

… ist der Wissenschaft zwar bekannt, dass Can- nabis unter anderem schizophrene Episoden auslösen kann. Nun entdeckten Forscher, dass es auch positiv auf Botenstoffe im Gehirn wirken kann und den bei Schizophreniekranken gestörten Stoffwechsel im Gehirn wieder ins Gleichgewicht bringt. Schwere Nebenwirkungen wie bei Psycho- pharmaka, die oft mit extremer Gewichtszu-nahme einhergehen, sind nicht zu erwarten. Ob Cannabis als Therapie auf Dauer wirkt, wird nun in verschiedenen europäischen Ländern erforscht.

Rätsel

5 G+, a = e 2

42

Schlusslicht

FACETTEN Juli 2014

Page 43: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Impressum Facetten – Das Magazin des ZfP Südwürttemberg — Herausgeber ZfP Südwürttemberg, Pfarrer Leube-Straße 29, 88427 Bad Schussenried, www.zfp-web.de — Redaktionelle Verantwortung für diese Ausgabe Philipp Pilson — Redaktion Heike Amann, Heike Engelhardt, Melanie Gottlob, Prof. Dr. Gerhard Längle, Philipp Pilson, Prof. Dr. Tilman Steinert — Konzept und Gestaltung zambrino unternehmergesellschaft, ulm — Druck Druckerei der Weissenauer Werkstätten — Auflage 4.000 Exemplare — Gedruckt auf Arctic Volume FSC — Facetten erscheint vier Mal jährlich und kann kostenlos bei der Abteilung Kommunikation unter 07583 33-1504 oder per Mail an [email protected] bestellt werden — Die nächste Ausgabe erscheint Mitte Oktober 2014

Eine Frage der Haltung –Psychiatrie und Ethik

Die Behandlung psychisch Kranker folgt medizinischen Standards und beruht auf neuesten Forschungser-kenntnissen. Vielfach ist sie durch Behandlungsleitlinien klar geregelt. Doch manchmal stehen die Ver-antwortlichen vor Fragen, die sich nicht einfach mit Ja oder Nein be-antworten lassen. Welche ethischen Herausforderungen die Psychiatrie bewegen, lesen Sie in der nächsten Ausgabe.

Ethische Herausforderungen in der Psychiatrie

Zwangsbehandlung – darf das überhaupt sein?

Vergangenheit als Verpflichtung: Erinnerung an die Ermordeten während des Nationalsozialismus

Weitere Themen im nächsten Heft:25 Jahre Ethiktagungen im ZfP Südwürttemberg, das Ethikkomitee, Palliativversorgung in der Psychiatrie, Wirtschaftsethik

Ausblick

Möchten Sie über weitere Themen aus dem ZfP Südwürttemberg aktuell

und kompakt informiert werden?

Melden Sie sich unter www.zfp-web.de/newsletter

für unseren Newsletter an.

Im nächsten Heft

43

Schlusslicht

Juli 2014 FACETTEN

Page 44: Zwischen Wahn und Wirklichkeit - zfp-web.de · Form, paranoid-halluzinatorische Form und Schizophrenia simplex hat man in- teressanterweise jüngst im viel diskutierten amerikanischen

Von 100 Menschen erkrankt einer mindestens einmal im Leben an Schizophrenie.