Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme...

446
Zwölfter Kinder- und Jugendbericht Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland

Transcript of Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme...

Page 1: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Herausgeber:

Bundesministerium

für Familie, Senioren, Frauen

und Jugend

11018 Berlin

www.bmfsfj.de

Bezugsstelle:

Publikationsversand der Bundesregierung

Postfach 48 10 09

18132 Rostock

Tel.: 0 18 88/80 80 800

Fax: 0 18 88/10 80 80 800

E-Mail: [email protected]

Internet: www.bmfsfj.de

Stand:

Februar 2006

Gestaltung:

KIWI GmbH, Osnabrück

Druck:

DruckVogt GmbH, Berlin

Für weitere Fragen nutzen Sie unser

Servicetelefon: 0 18 01/90 70 50*

Fax: 0 18 88/5 55 44 00

Montag–Donnerstag 7–19 Uhr

* nur Anrufe aus dem Festnetz, 9–18 Uhr 4,6 Cent,sonst 2,5 Cent pro angefangene Minute

ISSN 0722-8333

Diese Broschüre ist Teil der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung;

sie wird kostenlos abgegeben und ist nicht zum Verkauf bestimmt.

ZW

ÖLF

TE

R K

IND

ER

- U

ND

JU

GE

ND

BE

RIC

HT

Bu

nde

smin

iste

riu

m fü

r Fam

ilie,

Sen

iore

n, F

rau

en u

nd

Juge

nd

Zwölfter Kinder-und Jugendbericht

Bericht über die Lebenssituation junger

Menschen und die Leistungen der Kinder-

und Jugendhilfe in Deutschland

Page 2: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 3: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Zwölfter Kinder-und Jugendbericht

– Stellungnahme der Bundesregierung

– Bericht über die Lebenssituation junger

Menschen und die Leistungen der

Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland

Page 4: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 5: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Sehr geehrte Damen und Herren,

gesetztes Ziel der neuen Bundesregierung ist: Deutschland soll in den

kommenden Jahren kinderfreundlicher werden. Um unser Ziel zu errei-

chen, müssen wir noch einiges unternehmen. Denn immer mehr Kinder

wachsen in Armut auf. Der Einfluss der sozialen Herkunft von Kindern

auf ihre Bildungschancen ist in Deutschland so groß wie sonst nirgend-

wo. Der Neuzugang zum Arbeitsmarkt ist schwerer und von Eltern wird

oft ein Spagat zwischen Familien- und Erwerbsleben gefordert. Wir

brauchen eine gemeinsame Kraftanstrengung, um diesen Mentalitäts-

wandel, der für Neuerungen notwendig ist, zu erreichen.

Der 12. Kinder- und Jugendbericht gibt hierfür wichtige Bausteine und Impulse. Im Auf-

trag der Bundesregierung hat sich die Sachverständigenkommission zum 12. Kinder- und

Jugendbericht mit Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsprozessen im frühen Kindesalter

und im Schulalter sowie ihrer Unterstützung durch die Kinder- und Jugendhilfe auseinan-

dergesetzt.

Die Sachverständigenkommission stellt die Frage nach den Bildungs- und Lernprozessen

von Kindern und Jugendlichen in unterschiedlichen sozialen und institutionellen Gege-

benheiten, ihren Wirkungen sowie den Möglichkeiten ihrer Unterstützung und Förderung

in den Mittelpunkt.

Bildung wird vor dem Hintergrund einer Trias von Bildung, Betreuung und Erziehung

akzentuiert. Damit wird eine Perspektive eingenommen, die die Betrachtung von Bildung,

Betreuung und Erziehung als getrennte – nebeneinander stehende oder altersgestuft nach-

einander folgende – Bereiche überwinden will und diejenigen, um die es eigentlich geht,

alle Kinder und Jugendlichen in Deutschland, in das Zentrum der Diskussion rückt.

Die Aussagen und Empfehlungen des Berichts werden die Entwicklungen in der Kinder-

und Jugendpolitik bereichern. Sie werden entscheidend mit dazu beitragen, eines der

gesetzten Ziele zu erreichen: gleiche Bildungs- und Entwicklungschancen für alle Kinder.

Die zentralen Aussagen des Berichts sind aus meiner Sicht:

Es gibt neben der der Eltern eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung für

das Aufwachsen von Kindern, für ihre Erziehung und Persönlichkeitsentwicklung, für

Vertrauensbildung und Bindungsfähigkeit. Dieser Verantwortung müssen sich Eltern,

aber auch die Politik und die Institutionen der Betreuung, Erziehung und Bildung stellen.

Verantwortung wird zum Schlüsselbegriff für die Zukunft: Gemeint ist die Verantwortung

für einander, die Verantwortung für das Wohl der kommenden Generationen.

Vorwort

Page 6: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Die Herstellung von Chancengerechtigkeit ist eine herausragende Aufgabe der

aktuellen Kinder- und Jugendpolitik. Es wachsen zunehmend Kinder in seelischer

und körperlicher Vernachlässigung auf. Deshalb müssen wir uns am Anfang des Lebens

dieser Kinder viel stärker um sie kümmern. Denn schon in den ersten Lebensmonaten der

Kinder werden die entscheidenden Weichen ihrer Entwicklung gestellt. Einrichtungen wie

Kinderkrippen, die Tagespflege, Kindertagesstätten und Schulen als Lebens- und Lernraum

haben dabei eine Schlüsselstellung. Dort können wir Kinder aus allen sozialen Schichten

über einen längeren Zeitraum hinweg erreichen und fördern sowie ihre Bildungs- und

Zukunftschancen verbessern.

Familie und ein verbessertes öffentliches Bildungs-, Betreuungs- und Erzie-

hungsangebot müssen zusammenkommen. Nur so können wir die Zukunftschancen

von Kindern und Jugendlichen verbessern und Angebote aus einer Hand anbieten. Es

kommt entscheidend darauf an, dass es gelingt, die Familien mit intelligenten Maßnahmen

in die Angebote zur Bildung, Betreuung und Erziehung einzubeziehen.

Betreuung, Erziehung und Bildung müssen sich an den Entwicklungsbedürf-

nissen der Kinder orientieren und nicht etwa an den Grenzen der Institutionen. Das

Kind als eigene Persönlichkeit in den Mittelpunkt zu stellen, ist ein richtiger Ansatz mit

allen Folgen für die beteiligten Akteure und das gesamte System.

In diesem Sinne wünsche ich mir eine intensive Auseinandersetzung mit dem 12. Kinder-

und Jugendbericht und hoffe auf Ihr Engagement bei der notwendigen Diskussion und

Gestaltung der Themen!

Ihre

Ursula von der Leyen

Bundesministerin für Familie, Senioren,

Frauen und Jugend

Page 7: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag Drucksache 15/601415. Wahlperiode 10. 10. 2005

Unterrichtungdurch die Bundesregierung

Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und dieLeistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland– Zwölfter Kinder- und Jugendbericht –

und

Stellungnahme der Bundesregierung

I n h a l t s ü b e r s i c h t

Seite

Stellungnahme der Bundesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und dieLeistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland– Zwölfter Kinder- und Jugendbericht – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

Mitglieder der Sachverständigenkommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

Ständiger Gast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

Mitglieder der Arbeitsgruppe Zwölfter Kinder- und Jugendbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

Bildung, Betreuung und Erziehung vor und neben der Schule – eine Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

Teil A Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und konzeptionelle Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

1 Rahmenbedingungen des Aufwachsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

2 Bildung – ein konzeptioneller Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

Zugeleitet mit Schreiben des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vom 7. Oktober 2005 ge-mäß § 84 des Achten Buches Sozialgesetzbuch (Kinder- und Jugendhilfe).

Page 8: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 9: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Seite

Teil B Bildungsprozesse im Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . 103

3 Die ersten Jahre – Bildung vor der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

4 Bildungsprozesse im Schulalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

Teil C Bildungsangebote und Bildungsleistungen im Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

5 Bildungsangebote und Bildungsleistungen im frühen Kindesalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

6 Bildungsangebote im Schulalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232

Teil D Zukunftsperspektiven für ein öffentlich verantwortetes System von Bildung, Betreuung und Erziehung . . . . . . . . . . . . . 337

7 Auf dem Weg zu einem abgestimmten System von Bildung, Betreuung und Erziehung. Quantitative und qualitative Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353

Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen im Text . . . . . . . . . . . . . . . . 340

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393

1 Datenanhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393

2 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420

3 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426

4 Von der Kommission für den Zwölften Kinder- und Jugendbericht bestellte Expertisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431

5 Zuarbeiten zu einzelnen Themenbereichen des Zwölften Kinder- und Jugendberichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432

6 Von der Sachverständigenkommission für den Zwölften Kinder- und Jugendbericht veranstaltete Anhörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 433

Page 10: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 11: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Stellungnahme der Bundesregierung zum

Zwölften Kinder- und Jugendbericht

Page 12: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 13: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/6014

Stellungnahme der Bundesregierung zum Zwölften Kinder- und Jugendbericht

I n h a l t s v e r z e i c h n i s

Seite

1 Berichtsauftrag der Bundesregierung und Erarbeitung der Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

2 Neue Perspektiven für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

2.1 Erziehung, Betreuung und Bildung von Kindern und Jugendlichen liegen in gemeinsamer Verantwortung von Familie und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

2.2 Kinder und Jugendliche sind die Zukunft unserer Gesellschaft . . . . 6

2.3 Chancengerechtigkeit für Kinder und Jugendliche sichern – Erziehungs- und Bildungskompetenz der Eltern stärken . . . . . . . . . 7

3 Auf den Anfang kommt es an – Bildung, Betreuung und Erziehung in den ersten sechs Lebensjahren 9

3.1 Frühkindliche Betreuung, Erziehung und Bildung orientiert sich an Entwicklungsbedürfnissen der Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

3.2 Ausbau der Kinderbetreuung für Kinder unter drei Jahren . . . . . . . 9

3.3 Verbesserung der Qualität der Kindertagesbetreuung . . . . . . . . . . . 10

4 Auf „leben lernen“ kommt es an – Bildung, Betreuung und Erziehung für Kinder und Jugendliche im Schulalter . . . . . . . . 12

4.1 Bildung ist mehr als Schule – Schule ist mehr als Bildung . . . . . . . 12

4.2 Chancen der Ganztagsschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

4.3 Angebote aus einer Hand – Auf dem Weg zu kommunalen Bildungslandschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

5 Kinder und Jugendliche stärken – Chancengerechtigkeit fördern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

Page 14: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

1 Berichtsauftrag der Bundesregierung und Erarbeitung der Stellungnahme

Das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts soll zum Jahr-zehnt der Kinder und ihrer Familien werden. Hier liegtdie Zukunft der Gesellschaft. Die Bundesregierung willin diesem Jahrzehnt die Rahmenbedingungen für dasAufwachsen der nachfolgenden Generationen verbessern.Erforderlich sind deshalb vor allem Reformen im BereichBetreuung, Erziehung und Bildung sowie Maßnahmen,die die Lebens- und Alltagsbedingungen von Kindern undihren Familien nachhaltig verbessern.

Der Ausbau der Kinderbetreuung für Kinder unter dreiJahren, eine spürbare Qualitätsverbesserung in der Kin-dertagesbetreuung, die Unterstützung des Erziehungsauf-trages der Eltern, die Gestaltung des Übergangs von Kin-dertageseinrichtungen zur Schule und die Angebote fürKinder und Jugendliche im Schulalter sind für die Bun-desregierung dabei von strategischer Bedeutung. Kinderhaben ein Recht auf ein Aufwachsen unter guten Bedin-gungen. Aufgabe der Politik ist es, Kinder und Jugendli-che bei der Wahrnehmung dieses Rechts zu stärken,Chancengerechtigkeit herzustellen und gute gesellschaft-liche Rahmenbedingungen zu schaffen.

Um weitere Impulse für diese gesellschaftlich wichtigenBereiche der Kinder-, Jugend-, Familien- und Bildungs-politik zu gewinnen, hat die Bundesregierung den12. Kinder- und Jugendbericht in Auftrag gegeben. DerBericht liegt nun unter dem Titel „Bildung, Betreuungund Erziehung vor und neben der Schule“ vor.

Mit der Vorlage des 12. Kinder- und Jugendberichtskommt die Bundesregierung ihrer gesetzlichen Verpflich-tung gemäß § 84 Achtes Buch Sozialgesetzbuch – Kin-der- und Jugendhilfe – (SGB VIII), nach. Mit seiner Aus-arbeitung hat die Bundesministerin für Familie, Senioren,Frauen und Jugend am 4. Juni 2003 eine Kommission be-auftragt, der sieben Sachverständige angehörten. DieAnalysen der Sachverständigen sollten zukunftsweisendeund realistische Handlungsoptionen für Politik und Ge-sellschaft geben, die in den politischen Gestaltungspro-zess einfließen mit dem Ziel, das öffentliche System vonBetreuung, Bildung und Erziehung im Interesse der Kin-der und Jugendlichen weiter zu entwickeln.

Die Bundesregierung dankt der Kinder- und Jugendbe-richtskommission für die Erarbeitung des 12. Kinder- undJugendberichts. Er ist mehr als bisherige Berichte durchaktuelle politische Reformen berührt, die das Zentrumdes Berichtsauftrags betreffen und die im Berichtszeit-raum umgesetzt wurden. So hat die Bundesregierung2003 das Investitionsprogramm „Zukunft Bildung undBetreuung“ (IZBB) gestartet, mit dem 10 000 neue Ganz-tagsschulen in Deutschland entstehen werden. Am1. Januar 2005 ist das Gesetz zum qualitätsorientiertenund bedarfsgerechten Ausbau der Tagesbetreuung fürKinder (Tagesbetreuungsausbaugesetz – TAG) in Kraftgetreten, mit dem bis 2010 230.000 neue Betreuungs-plätze für Kinder unter drei Jahren entstehen werden.

Auf diese Reformmaßnahmen hat die Sachverständigen-kommission unmittelbar reagiert. Insofern sind die Be-

wertungen der Kommission zum TAG und IZBB von be-sonderer Bedeutung. Die Bundesregierung dankt derKommission, dass sie im Bericht auf diese aktuellen poli-tischen und damit verbundenen gesellschaftlichen Verän-derungsprozesse Bezug nimmt. Diese Veränderungen un-ter Berücksichtigung der Empfehlungen der Kommissionvoranzutreiben, ist nun – entsprechend der im Grundge-setz angelegten Verantwortungsverteilung zwischenBund, Ländern und Kommunen – Aufgabe aller staatli-chen Ebenen und kann nicht vom Bund allein geleistetwerden. In dem der Kinder- und Jugendhilfe zugrundeliegenden System partnerschaftlicher Zusammenarbeitzwischen öffentlichen und freien Trägern der Jugendhilfesind dabei auch letztere in die Konzipierung und Umset-zung der neuen Strukturen auf allen Ebenen einzubezie-hen. Damit alle verantwortlichen Akteure ihrer entspre-chenden Verantwortung nachkommen können, hofft dieBundesregierung auf eine breite fachliche Diskussionüber den Bericht.

Die Bundesregierung bedauert allerdings die unzurei-chende Auseinandersetzung mit dem abgestimmten Sys-tem von Bildung, Betreuung und Erziehung vom frühenKindesalter bis zur Ausbildung in der DDR als Teil deut-scher Entwicklung. Der Bericht beansprucht die bisherigeSituation in Deutschland zu erfassen und wird dem durchdie im Schwerpunkt eingenommene westliche Perspek-tive nicht gerecht.

Die Bundesregierung konzentriert sich in ihrer Stellung-nahme auf die Feststellungen und Empfehlungen des Be-richts der Sachverständigenkommission, die von beson-derer politischer Relevanz für aktuelle und zukünftigeSchwerpunktsetzungen sind. Auf diese Weise wird deut-lich, in welchen Bereichen sie beabsichtigt, die Hand-lungsempfehlungen des Berichts vordringlich aufzugrei-fen, soweit diese Angelegenheiten des Bundes sind.

Zu Aussagen und Schlussfolgerungen des Berichtes, zudenen sich die Bundesregierung in ihrer Stellungnahmenicht äußert, kann weder von ihrer Zustimmung noch vonihrer Ablehnung ausgegangen werden.

2 Neue Perspektiven für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen

2.1 Erziehung, Betreuung und Bildung von Kindern und Jugendlichen liegen in gemeinsamer Verantwortung von Familie und Gesellschaft

Für das Aufwachsen von Kindern, für ihre Erziehung undPersönlichkeitsentwicklung, für Vertrauensbildung undBindungsfähigkeit stehen zuallererst Eltern in der Verant-wortung. Die Bundesregierung stimmt mit der Berichts-kommission darin überein, dass Familien in der Regel derAusgangspunkt für alle Bildungsprozesse sind. Hier wer-den die Grundlagen für lebenslange Lern- und Bildungs-prozesse geschaffen. Die Familie ist von zentraler Bedeu-tung für die Auswahl weiterer Bildungs- undAusbildungsorte, für den Umgang mit Medien, für dieVermittlung von Leitbildern und Werten. Familie undSchule haben entscheidenden Anteil an der Ausprägung

Page 15: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 5 – Drucksache 15/6014

sozialer und personaler Kompetenzen, die nachweislichgroßen Einfluss auf den beruflichen und privaten Lebens-erfolg haben. Außerdem prägt die Familie das Bewusst-sein für den sozialen Zusammenhalt, der zum demogra-fisch immer wichtiger werdenden Ausgleich zwischenAlt und Jung und zur gegenseitigen Wertschätzung imArbeitsprozess beiträgt.

Die Bundesregierung stimmt mit der Kommission über-ein, dass vor allem Anstrengungen für die Ermöglichungeiner gleichberechtigten Teilhabe aller Kinder und Ju-gendlichen an Bildungsprozessen erforderlich sind, umArmutsrisiken insbesondere der Kinder von allein Erzie-henden sowie aus Familien mit Migrationshintergrund zuverringern und den engen Zusammenhang zwischen öko-nomisch benachteiligten Lebenslagen von Familien unddem Bildungsniveau der Eltern sowie damit einhergehen-den „Armuts-Bildungs-Spiralen“ zu durchbrechen.

Kinder und Jugendliche brauchen gute Rahmenbedingungen

Politik ist gefordert, gute Rahmenbedingungen für dasAufwachsen und Heranwachsen der jungen Generationzu schaffen und Eltern, aber auch alle anderen beteiligtenAkteure und Institutionen so zu unterstützen, dass fürKinder und Jugendliche optimale Lebens- und Zukunfts-chancen gewährleistet werden. Die Kommission weist zuRecht auf gravierende Mängel im öffentlichen Bildungs-,Betreuungs- und Erziehungsangebot hin und konstatiertin diesen Bereichen einen großen Nachholbedarf. DieBundesregierung hat dies erkannt und Reformen insbe-sondere im Hinblick auf den qualitativen und quantitati-ven Ausbau der Kinderbetreuung und der Ganztagsschuleeingeleitet. Für eine moderne Kinder- und Jugendhilfe, inder die am Entwicklungsprozess des jungen Menschenbeteiligten Akteure kooperieren, und für die dringendnotwendige Entlastung der Kommunen hat der Bundesratam 8. Juli 2005 den Weg freigemacht und dem zuvor vomDeutschen Bundestag beschlossenen Gesetz zur Weiter-entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe (KICK) zuge-stimmt. Es wird voraussichtlich im Oktober 2005 in Krafttreten.

Familie und ein verbessertes öffentliches Bildungs-, Be-treuungs- und Erziehungsangebot müssen zusammen-kommen, um die Zukunftschancen von Kindern und Ju-gendlichen zu verbessern.

Die Bundesregierung teilt die Forderung der Kommissionnach einem verstärkten Zusammenwirken der unter-schiedlichen Akteure im Sinne einer Erziehungs- und Bil-dungspartnerschaft. Damit eröffnet sich ein veränderterBlick auf den Beitrag der Eltern im Bildungs- und Erzie-hungsprozess mit neuen Anforderungen für die Arbeit derBetreuungs- und Bildungsinstitutionen.

Die Bundesregierung will die Eltern in ihrer Verantwor-tung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichenund damit auch für Erziehung, Betreuung und Bildungstärken.

Neben der Familie stellen Kindertagesstätten und Schulenals Lebens- und Lernraum ein wichtiges Setting für prä-

ventive Maßnahmen dar. Hier können Heranwachsendeaus allen sozialen Schichten über einen langen Zeitraumerreicht werden. Ferner sind sie aufgrund ihres Erzie-hungs- und Bildungsauftrages verpflichtet, an derGesundheitserziehung mitzuwirken. Bildung und Ge-sundheit beeinflussen sich gegenseitig. Kinder, die ge-sundheitsfördernde Kindertagesstätten und Schulen besu-chen, haben bessere Bildungschancen und größereLernerfolge.

Das Nebeneinander verschiedener Angebote reicht nichtaus. Insbesondere Familien in spezifischen Problemlagenwerden dadurch nicht erreicht. Vielmehr bedarf es inte-grierter und an den lokalen Bedingungen orientierter An-gebote. Bildungseinrichtungen, Verbände und Institu-tionen der Jugendhilfe und Jugendarbeit stehen vor derHerausforderung der Modernisierung und Vernetzung.Eine konstruktive und auch verbindliche Zusammenarbeitbestehender Einrichtungen und Dienste wird effektiverund effizienter sein als weitere Spezialisierungen undneue Einrichtungen für neue Zielgruppen. Aufgabe derPolitik ist es, hier neue Wege zu gehen. Die Bundesregie-rung zeigt mit Programmen wie „E & C – Entwicklungund Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunk-ten“, dass durch eine Vernetzung vor Ort, im Sozialraum,konkrete Zukunftschancen eröffnet werden. Es muss je-dem und jeder ermöglicht werden, sich den eigenen Fä-higkeiten entsprechend entwickeln zu können.

Dazu gehört ebenfalls, dass gesundheitliche Ressourcenentwickelt und gestärkt werden. Die Bundesregierung un-terstützt dies durch Maßnahmen zur Förderung der Ge-sundheit von Kindern und Jugendlichen. Dazu gehörenunter anderem Unterrichtsmaterialien zu Basisthemen derschulischen Gesundheitserziehung und Gesundheitsför-derung, die die Bundeszentrale für gesundheitliche Auf-klärung (BzgA) entwickelt und veröffentlicht und die vonLehrerinnen und Lehrern aller Schularten zur Durchfüh-rung von gesundheitsrelevantem Unterricht genutzt wer-den können. Der von der Kommission betonte Aspekt derChancengleichheit spielt bei den Materialien der BzgAeine große Rolle.

Die Kommission begrüßt den vom Robert-Koch-Institut,einer nachgeordneten Behörde des Bundesministeriumsfür Gesundheit und Soziale Sicherung, durchgeführtenKinder- und Jugendgesundheitssurvey, von dem die Bun-desregierung sich Daten für die Entwicklung von effek-tiven Präventionsstrategien erhofft. Das Ziel, Gesund-heitsförderung in Kindertagesstätten und Schulen,insbesondere im Hinblick auf gesundes Ernährungs- undBewegungsverhalten, die sprachlichen und motorischenFähigkeiten und die Fähigkeit zur Stressbewältigung zustärken ist ein wichtiger Bestandteil des Nationalen Ak-tionsplans „Für ein kindergerechtes Deutschland 2005 bis2010“.

Die Bundesregierung geht davon aus, dass auf der kom-munalen Ebene die durch die Förderung des Bundes ge-gebenen fachlichen Impulse aufgegriffen werden. Siehofft, dass an vielen Stellen Modellhaftes nachhaltig ausden Haushalten der hierfür zuständigen Ländern undKommunen gesichert werden kann. Letztlich geht es um

Page 16: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 6 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

die Frage der gelingenden wechselseitigen Einflussnahmevon jungen Menschen, ihren Familien und den Bildungs-und Betreuungsinstitutionen, die junge Menschen in ihrerEntwicklung unterstützen, Bildungsprozesse fördern undihnen bei der Integration in die Gesellschaft helfen.

Besonders deutlich wird dies in der Schule. Die Kommis-sion fordert zu Recht, dass eine offensive Elternarbeit Be-standteil der Ganztagsangebote für Kinder im Schulaltersein sollte. Gefordert wird die Ausweitung sozialerDienstleistungen für Familien am Ort Schule, so dasszum Beispiel Elternberatung Bestandteil der schulischenAngebote wird. Richtig ist die Forderung nach einer Ein-beziehung der Eltern als kompetente Partner in derSchule. Darüber hinaus ist es notwendig, Initiativen zuentwickeln, die allen jungen Menschen einen Schulab-schluss als zentrale Voraussetzung beruflicher und sozia-ler Integration sichern. Dies kann nur im Zusammenspielaller Bildungsakteure, Bund, Länder, Wirtschaft, Familie,Schule und Jugendhilfe, gelingen. Im Rahmen des „Na-tionalen Paktes für Ausbildung und Fachkräftenachwuchsin Deutschland“, der im Juni 2004 für die Dauer von dreiJahren zwischen der Bundesregierung und den Spitzen-verbänden der Wirtschaft geschlossen wurde, haben sichdie Paktpartner mit der Präsidentin der Kultusminister-konferenz in einer Gemeinsamen Erklärung das Ziel ge-setzt, die Ausbildungsreife junger Menschen nachhaltigzu verbessern. Dies soll durch die Intensivierung der Ko-operation der Arbeitsagenturen, der Betriebe, der überbe-trieblichen Bildungsstätten, der berufsbildenden Schulenund anderer Berufsbildungsträger mit den allgemeinbil-denden Schulen erreicht werden. Die Präsidentin der Kul-tusministerkonferenz wird sich im Rahmen ihrer Mög-lichkeiten dafür einsetzen, dass die Länder ihreAnstrengungen mit dem Ziel verstärken, die Zahl derSchulabgänger ohne Schulabschluss bis zum Ende desJahrzehnts deutlich zu verringern. Insbesondere bietet dieSchule an, den Ausbau eines an bundesweiten Standardsorientierten Bildungssystems von der Elementarstufe an,Transparenz durch regelmäßige Bildungsberichterstat-tung, Fokussierung schulischer Arbeit auf den sicherenErwerb von Grundkompetenzen, kontinuierliche Förde-rung sog. Risikogruppen, die über unzureichende Kompe-tenzen im Bereich der Sprache, der Mathematik und derNaturwissenschaft verfügen, systematische Begleitungvon Jugendlichen an der Schnittstelle von Schule und Be-ruf sowie individuelle Betreuung von Jugendlichen, diemit erheblichen Schwierigkeiten beim Übergang von derSchule in die Berufswelt zu rechnen haben. Das Bundes-ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugendprüft derzeit, wie darüber hinaus neue Wege gegangenwerden können, um den erfolgreichen Abschluss derSchullaufbahn sicherzustellen. Denn 14,9 Prozent einesJahrgangs junger Menschen ohne Schulabschluss und da-mit ohne berufliche Zukunftsperspektiven kann und willDeutschland sich nicht länger leisten.

Über die im Bericht angeregten Strukturveränderungenhinaus sieht es die Bundesregierung als erforderlich an,auch deren Folgen zu bedenken. Diese betreffen insbe-sondere die Rolle der Lehrenden, die Einflussnahme aufCurricula und Lernformen und das Zusammenspiel vonJugendhilfe und Schule. Hierzu gilt es, konkrete Hand-

lungsschritte und Schlussfolgerungen zu formulieren, indenen auch die alters- und interessensgerechte Partizipa-tion der Kinder und Jugendlichen strukturell abgesichertist.

2.2 Kinder und Jugendliche sind die Zukunft unserer Gesellschaft

Es gibt einen breiten Konsens in Politik, Gesellschaft undWirtschaft darüber, dass Kinder eine bessere Förderungbrauchen. Die Förderung in der Familie muss durch viel-fältige Angebote der Kindertagesbetreuung ergänzt wer-den. Für die frühen Entwicklungs- und Bildungsprozessevon Kindern haben diese Förderangebote einen eigen-ständigen Wert. Sie entsprechen den Bedürfnissen vonKindern nach Anregungen und Kontakten zu Gleichaltri-gen. Nur auf diese Weise kann auch der notwendige Aus-gleich für soziokulturell und sozioökonomisch benachtei-ligte Kinder hergestellt werden. Kinder und Jugendlichesollen in Deutschland gut aufgehoben sein und ihre Fä-higkeiten und Talente voll entwickeln können. Auch imInteresse der Zukunft eines solidarischen gesellschaftli-chen Zusammenlebens geht es darum, sie so früh wiemöglich ihrem Alter entsprechend zu fördern.

Für die große Mehrzahl der Menschen ist die Familie derwichtigste Bereich in ihrem Leben. Sie finden vor allemdort Rückhalt, Zufriedenheit und Unterstützung. DieBundesregierung kann der Bewertung der Kommissionnach einer Brüchigkeit von Familie nicht folgen. Im Ge-genteil: Eine Beliebigkeit der Lebensformen oder eineAbkehr von der Familie lässt sich in unserer Gesellschaftnicht feststellen. Die absolute Zahl von Familien hat sichin den vergangenen 40 Jahren kaum verringert. Die großeMehrheit aller Kinder in Deutschland wächst bei ihrenleiblichen Eltern auf – in einem Umfang, wie es ihn inden zurückliegenden 100 Jahren in Deutschland nicht ge-geben hat: über 80 Prozent der Kinder unter 18 Jahren inWestdeutschland und fast 70 Prozent der Kinder in Ost-deutschland. Die meisten Kinder haben Geschwister: Nuretwa 20 Prozent der Kinder bleiben während ihrer gesam-ten Kindheit Einzelkinder.

Familie stabilisiert unsere Gesellschaft, gerade in Zeitengroßer Veränderungen. Sie hat bei den 13- bis 22-jährigen(neben den Freunden) oberste Priorität. Die über Jahr-zehnte laufenden Datensätze im Allensbacher Archiv ge-ben dafür auch gute Gründe an: Die Familie bietet als zu-verlässigstes soziales Netz deutlichen Rückhalt, materiellwie immateriell. Familie, verstanden als „Verantwor-tungsgemeinschaft“ von mindestens zwei Generationen,ist nicht nur die soziale sondern auch die aktive Mitte un-serer Gesellschaft.

Gute Rahmenbedingungen für das Aufwachsen in der Familie

Gute Politik sorgt für den Rahmen und die Voraussetzun-gen, dass Familien ihr Leben in der von ihnen gewünsch-ten Form gestalten und ihrer Verantwortung für die Ent-wicklung von Kindern und Jugendlichen gerecht werdenkönnen.

Page 17: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7 – Drucksache 15/6014

Die Bundesregierung hat in der 15. Legislaturperiode inder Familienpolitik einen Paradigmenwechsel eingeleitet.Das neue Konzept heißt nachhaltige Familienpolitik. DieIndikatoren für Nachhaltigkeit sind dabei Geburtenrate,Vereinbarkeit, Armutsrisiko, Bildungsniveau und Erzie-hungskompetenz. Eine nachhaltige Politik für Familienschafft verlässliche Optionen zur Realisierung von Le-bensplänen, die heute bei beiden Geschlechtern in hohemMaße die Balance von Erwerbsarbeit und Familie bein-halten. Für die Gesellschaft ermöglicht das LeitbildNachhaltigkeit eine Entwicklung, die dauerhaft und zu-kunftsverträglich und individuell verlässlich ist. Eine er-folgreiche nachhaltige Familienpolitik besteht daher auseinem Mix aus Zeitressourcen, Infrastruktur, monetärerund sozialer Unterstützung. Die Bundesregierung hat sichzum Ziel gesetzt, Deutschland bis zum Jahr 2010 zu ei-nem der kinder- und familienfreundlichsten Länder Euro-pas zu machen.

Hierfür ist zunächst grundlegend, dass sich Menschen inDeutschland ihre Kinderwünsche erfüllen können. Ob-wohl sich junge Menschen in der Mehrheit zwei Kinderwünschen, werden statistisch betrachtet nur 1,3 Kinderpro Frau geboren. Der internationale Vergleich zeigt: Inanderen europäischen Ländern werden deutlich mehrKinder geboren bei einer höheren Erwerbsquote derFrauen. Wir haben in Deutschland inzwischen mit diehöchste Kinderlosigkeit in der Europäischen Union. Ins-besondere unter Akademikern und Akademikerinnennimmt die Tendenz zu, dass Kinderwünsche unerfülltbleiben. In den alten Bundesländern leben bereits über40 Prozent der 35- bis 39-jährigen Akademikerinnenohne Kinder.

Verschiedene Einflussfaktoren wirken sich in ihrem Zu-sammenspiel unterschiedlich auf die Geburtenentwick-lung aus. Neben eher in der Person liegenden Einflussfak-toren, wie z. B. die Einstellung zu Kindern, dasLebensalter, die Priorisierung von Lebenszielen und Wer-ten, hängt die Realisierung des Kinderwunsches auch vonzahlreichen äußeren Faktoren ab. Dazu zählt natürlich diewirtschaftliche Situation von Familien. Dazu zählt aberauch ein vielfältiges und qualitativ hochwertiges Angebotvon Kinderbetreuungsmöglichkeiten und Ganztagsschu-len und eine Gesellschaft, die Eltern als gleichberechtigtePartner begreift und die Möglichkeit akzeptiert, mit Kin-dern beruflichen Erfolg zu haben.

Nicht zuletzt sind dies auch Anforderungen an Reformenim System der Erziehung, Betreuung und Bildung vonKindern und Jugendlichen, die neuen Anforderungen vonEltern, Gesellschaft und Wirtschaft Rechnung tragenmüssen.

Neu ausgerichtete finanzielle Leistungen für Familien: ein Elterngeld mit Lohnersatzfunktion

Die Bundesregierung stimmt den Forderungen der Kom-mission zu, wonach Familien gerade im ersten Lebens-jahr eines Kindes eine gezielte Förderung brauchen(Empfehlung 7.3.1; 1). Das Bundeserziehungsgeld bietetfinanzielle Unterstützung und ist Ausdruck der Anerken-nung der von den Eltern erbrachten Erziehungsleistun-

gen. Es kann jedoch nicht den Wegfall eines Erwerbsein-kommens kompensieren, wenn ein Elternteil sichentschließt, im ersten Lebensjahr die Betreuung des Kin-des selbst zu übernehmen. Für viele Eltern ist dies diegrößte finanzielle Belastung nach der Geburt eines Kin-des. Die Bundesregierung prüft deshalb, das Bundeserzie-hungsgeld, ähnlich wie in anderen europäischen Staaten,haushaltsneutral zu einem Elterngeld weiterzuentwickeln.Dieses Elterngeld orientiert sich am zuvor erzielten Net-toerwerbseinkommen und sieht für nicht oder gering er-werbstätige Eltern eine Mindestleistung vor. Damit könn-ten Väter und Mütter die erste Kinderphase inwirtschaftlicher Sicherheit erleben, die Hauptverdienen-den (heute in der Regel Väter) bekämen größere Anreizein Elternzeit zu gehen und die Entscheidung zur Famili-engründung würde erleichtert. Ein solches Elterngeld istin Kombination mit einem bedarfsgerechten Angebot anKinderbetreuung für die unter Dreijährigen und einer fa-milienfreundlichen Unternehmenskultur in der Wirtschaftein wichtiger Baustein für eine nachhaltige Kinder-, Ju-gend-, Frauen- und Familienpolitik.

2.3 Chancengerechtigkeit für Kinder und Jugendliche sichern – Erziehungs- und Bildungskompetenz der Eltern stärken

Die Stärkung der Erziehungsverantwortung und der Er-ziehungskompetenz von Eltern ist ein weiteres wichtigesElement der nachhaltigen Familien-, Kinder-, Jugend-und Bildungspolitik der Bundesregierung. Eltern stoßenim Umgang mit ihren Kindern häufig an die Grenzen ih-rer Leistungsfähigkeit. Nicht wenige sind verunsichert,manchen fehlt es selbst an Orientierung, an Leitbildernund Zielen, an Wissen und auch an eigener Bildung, diesie ihren Kindern weitervermitteln können oder die sie indie Lage versetzen, die richtigen Beratungs- und Bildungs-angebote auszuwählen. Andere vermissen die gleichbe-rechtigte Auseinandersetzung über die Erziehung ihrerKinder und die aktive Beteiligung in Institutionen. Auf-gabe der Politik ist es dabei, Eltern in der Wahrnehmungihrer Erziehungs- und Bildungsverantwortung zu unter-stützen. Eltern brauchen die öffentliche Unterstützung,damit sie ihren Kindern gute und gesunde Bedingungendes Aufwachsens eröffnen können, nicht zuletzt auch inWert- und Orientierungsfragen. Eltern und Institutionenbrauchen die Kompetenz, Grundwerte unserer Gesell-schaft in Kooperation miteinander an die Kinder weiter-zugeben.

Die Bundesregierung sieht sich in den von ihr eingeleite-ten Maßnahmen zur Förderung einer verantwortlichen Er-ziehung und zur Stärkung der Erziehungs- und Bildungs-kompetenz von Eltern durch die Analysen undForderungen des Kommissionsberichts bestätigt.

Ein wichtiges Signal für ein neues Erziehungsleitbild istdie im Jahre 2000 erfolgte Änderung des § 1631 Abs. 2im Bürgerlichen Gesetzbuch, das nunmehr ausdrücklichdas Recht des Kindes auf eine gewaltfreie Erziehung fest-schreibt. Zugleich wird durch eine Änderung des § 16 desAchten Buches Sozialgesetzbuch – Kinder- und Jugend-hilfe (SGB VIII) der Jugendhilfe per Gesetz aufgetragen,

Page 18: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 8 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Eltern in ihren Erziehungsaufgaben zu unterstützen und„Wege aufzuzeigen, wie Konfliktsituationen in der Fami-lie gewaltfrei gelöst werden können“. Diese Ergänzungdes § 16 SGB VIII bedeutet eine besondere Stärkung aberauch eine Herausforderung für die Familienbildung. DieFamilienbildung ist ein wichtiger Pfeiler der familien-und bildungspolitischen Maßnahmen zur Unterstützungvon Familien und Kindern.

Mit den beiden großen Kirchen hat die Bundesfamilien-ministerin im Januar 2005 einen Dialog „VerantwortungErziehung“ initiiert. Ziel ist die gemeinsame Erarbeitungeines „Erziehungskontraktes“, bei dem es um Elternkom-petenz und die werteorientierte Erziehung in Institutionenund durch Tageseltern geht.

Niederschwellige Angebote für Eltern zur Förderung der Erziehungs- und Bildungskompetenz

Die Bundesregierung stimmt der Forderung der Berichts-kommission nach einem Ausbau und der Weiterentwick-lung von Netzwerken zur Elternbildung und zur Unter-stützung von Familien zu (Empfehlung 7.3.1; 1). DieBundesregierung sieht wie die Kommission einen zentra-len Punkt darin, Beratungs- und Unterstützungssystemeso weiter zu entwickeln, dass Kinder mit Migrationshin-tergrund und aus bildungsfernen Schichten guten und frü-hen Zugang zu öffentlich geförderten Angeboten bekom-men (Empfehlung 7.3.1; 5). Dies gelingt nur durch eineaktive Einbindung und Ansprache der Eltern, insbeson-dere der Mütter. Eine zentrale Rolle nimmt dabei die For-derung nach dem Auf- und Ausbau niederschwelliger An-gebote ein.

Die Bundesregierung sieht sich bestätigt in den von ihrinitiierten Maßnahmen zur direkten Ansprache der Eltern.Dazu zählen insbesondere die mit dem Arbeitskreis NeueErziehung erarbeiteten und verbreiteten Elternbriefe, dieEltern mit Informationen und Ratschlägen von der Geburtdes Kindes bis zur Pubertät begleiten und Antworten aufdie für die jeweiligen Entwicklungsschritte typischen Fra-gen geben.

Speziell für türkische Migrantinnen und Migranten hatdie Bundesregierung zweisprachige Elternbriefe erarbei-tet mit dem Ziel, türkische Eltern in Deutschland mit denErziehungsvorstellungen in ihrer neuen Heimat vertrautzu machen, ihnen Verhaltensalternativen aufzuzeigen unddie Ressourcen zu aktivieren, die in einem Leben in zweiKulturen liegen. Über 700 000 türkisch-deutsche Eltern-briefe wurden inzwischen bundesweit verteilt.

Angebote zu Bildung, Beratung und Betreuung aus einer Hand: Eltern-Kind-Zentren

Wie die Kommission sieht auch die Bundesregierung inden Kindertageseinrichtungen einen großen Bedarf an fa-milienorientierten Angeboten, die Bildung, Betreuungund Erziehung enger miteinander verzahnen (Empfeh-lung 7.3.3; 1). Erforderlich sind Einrichtungen, die „auseiner Hand“ die vorhandenen Angebote und Ressourcen

niederschwellig im Stadtteil bündeln und kindliche Ent-wicklungs- und Bildungsprozesse ebenso gezielt fördernwie die Entwicklung von Elternkompetenz und die aktiveBeteiligung von Eltern und bürgerschaftlich engagiertenMenschen. Gemeint sind Einrichtungen, die über die Be-treuung, Erziehung und Bildung der Kinder hinaus wei-tere familienorientierte Angebote und Dienste, wie etwaBildungs- und Beratungsangebote oder Treffpunkte inte-grieren. Die Bundesregierung verfolgt das Ziel, nach demVorbild der englischen „Early Excellence Centres“ Kin-dertageseinrichtungen zu Eltern-Kind-Zentren unter Be-rücksichtigung bereits vorhandener einschlägiger Aktivi-täten von Ländern und Kommunen zu entwickeln, indenen Bildung, Beratung und Betreuung innovativ ver-bunden werden. Sie sieht sich in diesem Vorgehen durchEmpfehlungen des Berichts bestätigt, die in der weiterenfachlichen Diskussion einer Vertiefung im Hinblick aufFamilien mit Migrationshintergrund, mit spezifischen so-zialen Problemlagen oder auch besonderen Ressourcenbedürfen.

Stärkung der Medienkompetenz

Die Bundesregierung begrüßt, dass die Kommission diewachsende Bedeutung der Medien im Zusammenhangmit Bildungs-, Lern- und Erziehungsprozessen themati-siert und sieht hier wie die Kommission einen erhöhtenHandlungsbedarf bei der Stärkung der Medienkompetenzvon Familien und Institutionen.

Die Kampagne „SCHAU HIN! Was deine Kinder ma-chen“ verfolgt das Ziel, Eltern und die Öffentlichkeit fürdas Thema „Kinder und Medien“ zu sensibilisieren undgleichzeitig Eltern über elektronische Medienangeboteund deren Handhabung aufzuklären. Mit gezielten ganz-heitlichen Erziehungstipps für die 3- bis 13-Jährigen wirdpraxisnahe Hilfestellung für den kindgerechten Umgangmit Medien, konkreter Rat und fundiertes Wissen von Ex-pertinnen und Experten an Eltern, Familien und pädago-gische Fachkräfte gegeben. In Schule und Kindergartensollte Medienerziehung genau so selbstverständlich statt-finden wie im Elternhaus. SCHAU HIN! ist eine gemein-same Initiative des Bundesministeriums für Familie,Senioren, Frauen und Jugend mit dem Programm-Maga-zin HÖRZU, dem TelekommunikationsunternehmenARCOR, der ARD und dem ZDF, ein gelungenes Projekteiner so genannten public private partnership, die die ge-sellschaftliche und gemeinschaftliche Verantwortung fürdas Aufwachsen von Kindern sowie für die Bedingungenvon Erziehung aufgreift.

Darüber hinaus hat die Bundesregierung veranlasst, dassdie Aufgaben der Bundesprüfstelle für jugendgefähr-dende Medien um die Vermittlung und Stärkung von Me-dienkompetenz erweitert werden. Seit Anfang 2005 ste-hen zusätzliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zurVerfügung, die Eltern, Familien und pädagogische Fach-kräfte dabei unterstützen, Risiken und Chancen im Um-gang mit den neuen Medien bewusst wahrzunehmen undeine verantwortungsvolle Mediennutzung zu erlernen.

Page 19: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 9 – Drucksache 15/6014

3 Auf den Anfang kommt es an – Bildung, Betreuung und Erziehung in den ersten sechs Lebensjahren

3.1 Frühkindliche Betreuung, Erziehung und Bildung orientiert sich an Entwicklungs-bedürfnissen der Kinder

Die Bundesregierung wird durch die Vorschläge derKommission zum Bereich der frühkindlichen Erziehungin ihrer Politik bestätigt. Sie hat insbesondere in zwei Fel-dern Veränderungen auf den Weg gebracht, in denen auchdie Kommission den dringlichsten Handlungsbedarfsieht: zum einen die quantitative Versorgung mit Plätzenzum anderen die qualitative Weiterentwicklung in diesemBereich.

Zuletzt bescheinigte der OECD-Bericht „starting strong“(Ende 2004) der Bundesrepublik einen eklatanten quanti-tativen Rückstand bei der Kinderbetreuung für die unterDreijährigen in Westdeutschland, wobei zugleich derhohe Versorgungsgrad in Ostdeutschland als vorbildlichgewürdigt wurde. Die Berichtskommission schließt sichdieser Erkenntnis an.

Die Bundesregierung begrüßt, dass die Kommission nichtdie Institutionen in den Mittelpunkt stellt, sondern dasKind selbst. Damit verbunden sind entwicklungspsycho-logisch begründete Vorschläge für die Gestaltung derfrühkindlichen Betreuung, Erziehung und Bildung. DieKommission eröffnet damit neue Perspektiven zur Über-windung der Institutionengrenzen.

Das Kind als einzigartige Persönlichkeit in den Mittel-punkt zu stellen und alle Handlungen und Entscheidun-gen, Ressourcen und Strukturen konsequent an seinenRechten, Möglichkeiten und Ansprüchen, an seinen Bil-dungsprozessen, seiner Gesundheit und seinen Interessenzu orientieren, ist ein richtiger Ansatz. Gerade weil dasPrinzip, vom Kind aus zu denken, erhebliche Folgen füralle beteiligten Akteure und das gesamte System der Be-treuung, Bildung und Erziehung hat, muss für jeden derBereiche dieser Leitgedanke in seinen Konsequenzendurchdacht werden.

Gleichzeitig ist das Kind und seine Betreuung, Erziehungund Bildung im Kontext seiner Familie, der anderen Kin-der seines Umfeldes, seiner Nachbarschaft und insgesamtseiner Lebenslage zu sehen. Die schwerpunktmäßige Zu-ordnung des ersten Lebensjahres zur Familie ist richtig.Die Bundesregierung sieht darin eine Unterstützung dervon ihr geprüften haushaltsneutralen Weiterentwicklungdes Bundeserziehungsgeldes zu einem Elterngeld, das,wie von der Kommission vorgeschlagen, Einkommens-verluste auffängt, die entstehen, wenn Mutter oder Vaterdas Kind im ersten Lebensjahr selbst betreuen. Die Be-treuung in der Familie im ersten Lebensjahr soll damit je-doch keinesfalls zur Norm erklärt werden und all jene El-tern ins Unrecht stellen, die in den ersten Lebensmonatenihrer Kinder eine zusätzliche Betreuung und Förderung inAnspruch nehmen wollen. Die Bundesregierung will undkann hier keine Vorgaben machen, denn gute Politikschreibt den Eltern nicht vor, welchen Weg sie einschla-gen sollen. Die Bundesregierung wird aber die Vorausset-

zungen dafür verbessern, dass Vater oder Mutter sichnicht durch ökonomische Gründe für die eine und gegendie andere Lösung entscheiden müssen.

Insgesamt ist in diesem Zusammenhang der Blick auf daskonkrete Lebensumfeld, in dem ein Kind aufwächst, zuerweitern. Die Lebenslage von Kindern ist abhängig vonder Lebenssituation in der Familie: Familienkonstella-tion, Erwerbstätigkeit und Erwerbswünsche, Zeitkontin-gente, die Notwendigkeit, für die ältere Generation Sorgezu tragen, die sozioökonomische Lage und die ethnischeZugehörigkeit. Eine gute Kinderbetreuung, die alle ent-wicklungspsychologischen Aspekte berücksichtigt, bleibtungenügend, wenn sie die zeitlichen Nöte erwerbstätigerEltern durch flexible Öffnungszeiten nicht mit abdeckt.Insofern muss beides zum Ausgangspunkt gemacht wer-den: Entwicklungsbedürfnisse der Kinder und familiäreErfordernisse.

3.2 Ausbau der Kinderbetreuung für Kinder unter drei Jahren

Einen Bedarf zum quantitativen Ausbau der Betreuungs-angebote vor der Schule sieht die Kommission vor allembei den Kindern unter drei Jahren sowie bei Ganztagsplät-zen für Kinder im Kindergartenalter (Empfehlungen7.3.1; 2; 3). Die Bundesregierung begrüßt es, dass dieKommission den eingeschlagenen Weg zum Ausbau derKinderbetreuung positiv bewertet und darin den entschei-denden Schritt zur Verbesserung der Startchancen für un-sere Kinder sieht.

Neue Chancen für die Kleinsten durch das Tagesbetreuungsausbaugesetz

Am 1. Januar 2005 ist das Tagesbetreuungsausbaugesetz(TAG) in Kraft getreten. Die Gesetzesinitiative wurdevon Wirtschaft, Gewerkschaften, Kirchen und vor allemden Bürgerinnen und Bürgern einhellig begrüßt undkonnte so in kurzer Zeit realisiert werden. Ziel des Aus-baus ist ein bedarfsgerechtes Angebot für Kinder unterdrei Jahren: Zeitlich flexibel, bezahlbar und vielfältig, inTageseinrichtungen oder durch Tageseltern. Das Betreu-ungsangebot für die unter Dreijährigen in Westdeutsch-land soll verbessert werden und zugleich der hohe Versor-gungsgrad in Ostdeutschland erhalten bleiben. DieBundesregierung will bis 2010 erreichen, dass das Ange-bot an Kinderbetreuung für Kinder unter drei Jahrenquantitativ und qualitativ mit dem westeuropäischenNiveau gleichzieht. Bis 2010 können 230 000 Kinder zu-sätzlich in Tageseinrichtungen oder von Tageseltern be-treut werden. Der Bund entlastet die Kommunen durchdie Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfeunter Berücksichtigung der Einsparungen der Länder, diesich verpflichtet haben, diese an die Kommunen weiter-zugeben, um insgesamt 2,5 Mrd. Euro jährlich. DenKommunen stehen für den Ausbau der Kinderbetreuungfür unter Dreijährige davon ab 2005 jährlich und aufDauer 1,5 Mrd. Euro bundesweit zur Verfügung.

Mit dem neuen Gesetz ist ein wichtiger Beitrag zur Inno-vationsfähigkeit unseres Landes und zu mehr Chancenge-

Page 20: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 10 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

rechtigkeit gelungen. Künftig sollen für Kinder unter dreiJahren Betreuungsplätze vorgehalten werden. Betreu-ungsbedarf kann angemeldet werden, wenn die Eltern ei-ner Erwerbstätigkeit nachgehen, sich in einer beruflichenBildungsmaßnahme, in der Schulausbildung oder Hoch-schulausbildung befinden. Gleichzeitig sollten vor allemdie Kinder berücksichtigt werden, die in besondererWeise auf Förderung angewiesen sind, weil eine ihremWohl entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist.Das Tagesbetreuungsausbaugesetz eröffnet den Kommu-nen die Möglichkeit, den Ausbau bis 2010 flexibel – anlokalen Bedingungen und am Bedarf von Eltern und Kin-dern vor Ort orientiert – vorzunehmen. Die Kommunenkönnen somit die Art und die Schnelligkeit des Ausbausinnerhalb dieser Übergangszeit eigenständig bestimmen.

Die konkrete Ausgestaltung und die Umsetzung des Ge-setzes liegen nun in der Hand von Ländern und Kommu-nen. Von dort gibt es viele positive Signale: Der Ausbauder Betreuung für Kinder unter drei Jahren hat bereits be-gonnen.

Besondere Aufmerksamkeit verdient der Vorschlag derKommission, den Rechtsanspruch auf eine öffentlich ver-antwortete Kindertagesbetreuung auf Kinder unter dreiJahren auszudehnen – schrittweise bis 2008 für alle zwei-jährigen Kinder, bis 2010 für alle Kinder von Geburt an(Empfehlung 7.3.1; 2). Erscheint der erste Schritt auchvor dem Hintergrund entsprechender Reformen in einigenBundesländern noch im Bereich des Möglichen, so hältdie Bundesregierung die Forderung nach der Einführungeines Rechtsanspruchs für alle Kinder unter drei Jahrenangesichts der real noch bestehenden Versorgungsmängelfür verfrüht. Erst wenn sich abschätzen lässt, wie die imTAG vorgesehene Ausbauphase umgesetzt wird, wird dieBundesregierung, die einen Rechtsanspruch ab dem2. Lebensjahr als Weiterentwicklungsperspektive aus-drücklich befürwortet, eine Neubewertung vornehmen.

Die von der Kommission geforderte Gebührenfreiheit fürdie Inanspruchnahme von Kinderbetreuung ist aus Sichtder Bundesregierung verständlich (Empfehlung 7.3.1; 9).Die Bundesregierung gibt aber zu bedenken, dass die Ein-führung der Gebührenfreiheit zu beträchtlichen Finanzie-rungslücken bei den kommunalen Gebietskörperschaftenführen wird und deshalb nicht kurzfristig erfolgen kann.Die Bundesregierung will sich gemeinsam mit Ländernund Kommunen für eine schrittweise Gebührenfreiheiteinsetzen. Sie setzt auf einen an den Bedürfnissen derMenschen orientierten Handlungsrahmen aus Infrastruk-tur, Zeit und Geld.

Im Sinne der von der Kommission selbst angemahntenPrioritätensetzung hält die Bundesregierung den Ausbauder Einrichtungen bei Beachtung der Qualität der Betreu-ung für vordringlich. Kinder brauchen frühe Förderungund verlässliche Betreuung, und Eltern brauchen kon-krete öffentliche Angebote. Bisher gibt es kein Land inEuropa, das die gänzliche Gebührenfreiheit für die Be-treuung, Bildung und Erziehung von allen Kindern untersechs Jahren vorhält oder auch anstrebt. Gebühren dürfenaber nicht abschreckend im Hinblick auf die Inanspruch-

nahme von Förderungsangeboten wirken. Dies wird vie-lerorts durch die soziale Staffelung der Gebühren erreicht.

Die Bundesregierung steht dafür, dass es ein qualitatives,bedarfsgerechtes und bezahlbares Angebot der Kinder-betreuung gibt. Sie wird den Ausbau im Rahmen ihrerMöglichkeiten durch Informationsmaßnahmen unterstüt-zen. Durch die bundesweite Informationskampagne„KINDER KRIEGEN mehr…!“ sollen Eltern über dieMöglichkeiten für eine gute Betreuung und frühe Förde-rung informiert, Kommunen und Träger in ihren Anstren-gungen zum Ausbau des Angebots gestärkt und ein brei-tes Engagement für ein kinder- und familienfreundlichesLebensumfeld angeregt werden.

3.3 Verbesserung der Qualität der Kindertagesbetreuung

Eltern sind mit dem Angebot an Betreuungsmöglichkei-ten für ihre Kinder nicht zufrieden. Nach Aussage derforsa-Studie „Erziehung, Bildung und Betreuung“ (2005)meinen 53 Prozent der befragten Eltern, dass es in ihrerStadt oder Gemeinde zu wenig Angebote für unter drei-jährige Kinder, aber auch zu wenig Ganztagsangebote fürältere Kinder gibt. Auch hinsichtlich der Öffnungszeitenvon Bildungseinrichtungen sehen 60 Prozent der ElternVerbesserungsbedarf. Den Ausbau der Kinderbetreuungvoranbringen, bedeutet, den Bedürfnissen von Kindernund Eltern mit passenden und flexiblen Angeboten ge-recht zu werden – in guter Qualität, denn Eltern wün-schen sich für ihre Kinder, wie die Betreuungsstudie desDJI zeigt, eine bessere frühe Förderung. Für die Balancevon Familie und Beruf, den Wiedereinstieg in das Berufs-leben nach der Elternzeit und für eine gute und individu-elle Förderung der unter Dreijährigen ist es notwendig,eine breite Palette an unterschiedlichen Angeboten bereit-zustellen. Neben der Förderung von Kindertagesstättenbedeutet das auch, die Tagespflege und die betrieblich un-terstützte Kinderbetreuung auszubauen.

Qualitätsoffensive für Kindertagespflege

Die Betreuung der unter Dreijährigen durch Tageselternhat sich in den letzten Jahrzehnten vor allem durch die Ei-geninitiative von Müttern und Vätern etablieren können.Die Stärke und Attraktivität der Tagespflege liegt in ihrerÄhnlichkeit mit der familiären Betreuung und in ihrerFlexibilität. Direkte Absprachen über inhaltliche Erwar-tungen und zeitliche Rahmenbedingungen mit der Tages-mutter oder dem Tagesvater ermöglichen Kindern früh-zeitige, grundlegende Lebenserfahrungen außerhalb deselterlichen Haushalts und erleichtern den Eltern die ersteTrennung von ihrem Kind. Für Eltern ist es wichtig, ihreKinder in einem familiären Rahmen gut und individuellbetreut zu wissen. Die Bundesregierung begrüßt, dass dieKommission die Kindertagespflege in ihren Bericht ein-bezogen hat. Sie teilt die im Bericht vorgeschlagenenMaßnahmen zur Sicherung pädagogischer Qualität in derKindertagespflege. Mit einer Qualitätsoffensive will dieBundesregierung diese Form der Kinderbetreuung in Zu-kunft unterstützen. Derzeit entwickelt das Bundesminis-terium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in

Page 21: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 11 – Drucksache 15/6014

Kooperation mit Partnern ein Online-Handbuch, dasKommunen, Unternehmen, Jobcenter und Wohlfahrtsver-bände beim qualitätsorientierten Ausbau der Kindertages-pflege unterstützen soll. Die Bundesregierung möchte dieKindertagespflege als eigenständiges Modell der Kinder-betreuung stärken mit verbindlichen Kriterien zu ihrerQualitätssicherung.

Auf den Anfang kommt es an – Stärkung der Qualität in Kindertageseinrichtungen

Die Kommission weist zu Recht darauf hin, dass auch fürKinder unter drei Jahren die in den Rahmenplänen derLänder benannten Bildungsansprüche eingelöst werdenmüssen (Empfehlung 7.3.1; 4). Hier sieht die Bundesre-gierung erheblichen Handlungsbedarf.

Die Bundesregierung teilt die Auffassung der Kommis-sion, dass der Qualitätssteuerung in Deutschland mehrBeachtung geschenkt werden muss (Empfehlungen 7.3.1;6; 7). Qualität darf nicht nur behauptet, sondern sie mussauch nachgewiesen werden. Dabei geht es sowohl um in-terne Evaluation im Sinne einer Standortbestimmung fürTräger und Personal als Grundlage für eine qualitativeWeiterentwicklung als auch um externe Evaluation. Mitder „Nationalen Qualitätsinitiative im System der Tages-einrichtungen für Kinder“ (NQI), die der Bund in Koope-ration mit zahlreichen Ländern und Trägern durchführt,dem BLK-Verbundprojekt Trans-KiGS („Stärkung derBildungs- und Erziehungsqualität in Kindertageseinrich-tungen und Grundschule und Gestaltung des Übergangs“)und den Qualitätsmanagementsystemen der freien Trägersind hier wichtige Grundlagen geschaffen worden. Einvon der Kommission empfohlenes Qualitätssicherungs-system zu erarbeiten, das bundeseinheitlichen Kriterienfolgt, ist angesichts der föderalen Struktur und der starkenStellung der Träger im System eine große Herausforde-rung.

Die Bundesregierung selbst hält die Verständigung aufgemeinsame und bundesweit einheitliche Ziele einer frü-hen Förderung, Bildung und Erziehung für notwendig.Ebenso hält sie ein externes, von Trägern und Finanzge-bern unabhängiges und bundesweit wirksames Qualitäts-sicherungssystem für erstrebenswert. Das von der Kom-mission geforderte Bildungs- und Qualitätsmonitoringdurch Bildungsstandmessung bei Kindern lässt jedoch diegeforderte soziale Erziehung außer Acht und birgt die Ge-fahr einer übergroßen Orientierung an schulischer Bil-dung. Notwendiger sind auch am individuellen Bedarfdes Kindes orientierte Fördermaßnahmen, die von denFachkräften im Dialog mit Eltern entwickelt werden undsich an bundesweit verbindlichen Zielen orientieren. Siesollten ergänzt werden durch die laufende Dokumentationvon Bildungsprozessen bei Kindern, wie sie die Bundes-regierung derzeit im Rahmen des Modellprojekts „Bil-dungs- und Lerngeschichten“ erfolgreich erproben lässt.Besonders wichtig ist, dass diese Dokumentationen mitden Eltern diskutiert werden und ein Bewusstsein für Bil-dungsprozesse damit auch in bildungsferne Familien hin-eingetragen werden.

Die Kommission empfiehlt eine Senkung des Schul-eintrittsalters (Empfehlung 7.3.1; 8). Sollte mit der zustän-

digkeitshalber an die Länder gerichteten Empfehlung auchdie generelle Vorverlegung der Schulpflicht verbundensein, wird diese Ansicht von der Bundesregierung nichtpauschal geteilt. Die Bundesregierung hält es für wichtig,die Beurteilung des richtigen Zeitpunktes zum Übergangin die Schule vom individuellen Entwicklungsstand desKindes abhängig zu machen. Dieser ist nur zu einem Teilvom Alter abhängig. Bei einer Vorverlegung der Schul-pflicht muss die gebotene Flexibilität im Interesse derKinder gewahrt bleiben.

Unabhängig davon gilt es aber, die Qualität der Tagesbe-treuung zu verbessern und einen guten Übergang vonKindertageseinrichtungen zur Schule zu schaffen. Einefrühere Einschulung allein ist nicht ausreichend, um gutefrühere Förderung zu verwirklichen, wie auch das Bei-spiel des PISA-„Siegers“ Finnland zeigt, wo Kinder erstals Siebenjährige eingeschult werden.

Qualitätssteigerung durch Qualifizierung der pädagogischen Fachkräfte

Ebenso wie die Kommission sieht die Bundesregierungbei der Aus- und Weiterbildung der pädagogischen Fach-kräfte einen der Schlüssel für Qualitätsentwicklung in derPraxis. Die Kommission schlägt eine Ausbildung des er-zieherischen Personals auf Hochschulniveau vor (Emp-fehlung 7.3.3; 6). Solange es jedoch, wie die Kommissionselbst einräumt, keine Belege dafür gibt, dass eine Aus-bildung auf höherem Niveau zu einer Qualitätsverbesse-rung führt, erscheint die Anhebung nicht plausibel. Vielentscheidender als das Ausbildungsniveau ist aus Sichtder Bundesregierung und der Mehrzahl der Bundesländerdie Ausbildungsqualität – hier lassen sich auch im Rah-men der Fachschulausbildung Verbesserungen erreichen.Daher bietet es sich, wie an einigen Stellen bereits prakti-ziert, an, kurzfristig zunächst dem Leitungspersonal – alsMultiplikatorinnen und Multiplikatoren – Möglichkeitender Weiterbildung auf Hochschulniveau zu eröffnen.

Darüber hinaus folgt die Bundesregierung den Vorschlä-gen des Forums Bildung, wonach ein wichtiger Beitragzur Qualitätssicherung und -steigerung im Ausbau derUnterstützungssysteme für das pädagogisch tätige Perso-nal besteht. Ein dichtes Netz an Beratung und Weiterbil-dungsangeboten würde zudem einen besseren Transfervon wissenschaftlichen Erkenntnissen in die Praxis er-möglichen, eine Forderung, die die OECD in ihrem Län-derbericht über Deutschland aufstellt. Die Bundesregie-rung hält es für wichtig, dass pädagogische Fachkräfteneben einer breit angelegten Ausbildung kontinuierlicheWeiterbildung erhalten. Dabei gewinnt aber insbesonderedie Fähigkeit, selbst organisiert mit Veränderungen um-gehen und Veränderungen selbstverantwortlich vorantrei-ben zu können, eine immer größere Bedeutung.

Die Bundesregierung wird darüber hinaus noch im Herbst2005 gemeinsam mit Partnerunternehmen in der InitiativeD 21 ein Internetportal für die in den Tageseinrichtungentätigen Fachkräfte etablieren, über das Know-how wirk-sam auch überregional strukturiert und abgerufen werdenkann.

Page 22: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 12 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

4 Auf „leben lernen“ kommt es an – Bildung, Betreuung und Erziehung für Kinder und Jugendliche im Schulalter

4.1 Bildung ist mehr als Schule – Schule ist mehr als Bildung

Wir wissen nicht erst seit PISA, dass die Schule inDeutschland sich ändern muss, aber PISA hat dafür in derGesellschaft das Bewusstsein geändert. Die Bundesregie-rung verfolgt das Ziel, optimale Entwicklungsbedingun-gen für alle Kinder und Jugendlichen zu schaffen, für die-jenigen mit besonderem Förderbedarf und auchbesonderen Begabungen, für diejenigen aus benachteilig-ten Familien oder aus Familien mit Migrations-hintergrund. Denn nirgends entscheidet die Herkunft ei-nes Kindes so sehr über seine künftigen Bildungschancenund -abschlüsse, wie bei uns in Deutschland.

Die Bundesregierung stimmt ausdrücklich dem von derKommission eingeführten erweiterten Bildungsverständ-nis unter Einbeziehung vieler Bildungsorte und Lernwel-ten zu (Empfehlung 7.3.2; 1).

Die Sicht auf die Institution Schule aus einer jugendhil-fespezifischen Perspektive und Wissenschaftstraditionbedarf jedoch der Ergänzung durch Perspektiven derSchulforschung. Fragen der Sozialisation von Kindernund Jugendlichen in schulischen und außerschulischenKontexten sind sehr stark in den Mittelpunkt auch derSchulforschung gerückt. Bei voller Anerkennung der er-heblichen Defizite im System von Bildung, Erziehungund Betreuung darf jedoch nicht vernachlässigt werden,dass es durchaus gelingende Bildungs-, Betreuungs- undErziehungsprozesse sowohl in Familien als auch in Bil-dungsinstitutionen gibt und dass – bezogen auf die ein-zelne Biographie – Gelingen bzw. Scheitern oftmals we-sentlich durch soziale Kontextbedingungen beeinflusstsind.

Der demographische Rückgang im Kindes- und Jugendal-ter, der insbesondere für die Institution Schule als sozio-kulturelles Zentrum erhebliche Auswirkungen habenwird, muss ebenfalls noch stärker in dem Bericht berück-sichtigt werden.

Die Bundesregierung wertet es als wichtigen Schritt, dassBund und Länder gemeinsam einen Bildungsbericht er-stellen werden und sich darin auf einen umfassenden Bil-dungsbegriff verständigen konnten. Es besteht die Hoff-nung, dass Ergebnisse der Bildungsberichterstattung miteiner integrierten Sicht auf die unterschiedlichen Bil-dungsbereiche zu einer Weiterentwicklung der Steue-rungsinstrumente im Bildungssystem und zu einem indem Bericht ebenfalls als wünschenswert dargestelltenSystem der Qualitätssicherung und -entwicklung beitra-gen werden. Ziel muss eine umfassende Förderung kultu-reller, instrumenteller, sozialer und personaler Kompeten-zen sein (Empfehlung 7.3.2; 3). Dies kann nur durch dieVerknüpfung der unterschiedlichen Bildungsorte undLernwelten gelingen, angefangen von der Familie überaußerschulische Angebote der Kinder- und Jugendhilfe,über Initiativen der Wirtschaft bis hin zu Schulen.

Ein verbessertes Angebot an Bildung, Förderung und Be-treuung soll gerade auch Kindern aus sozial schwächerenFamilien dienen. Mit integrierten Konzepten und indivi-dueller Planung können wir hier einen großen Schritt wei-ter kommen (Empfehlung 7.3.2; 4). Hinsichtlich der imBericht thematisierten dringend erforderlichen Sprachför-derung insbesondere von benachteiligten Kindern und Ju-gendlichen ist auf das im Herbst letzten Jahres gestartete5-jährige Modellprogramm „Förderung von Kindern undJugendlichen mit Migrationshintergrund – FörMig“ derBund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und For-schungsförderung (BLK) hinzuweisen. Ziel des Pro-gramms ist es, Kindern und Jugendlichen aus zugewan-derten Familien eine bessere sprachliche Förderung zubieten, um ihre Erfolgschancen an deutschen Schulen zuerhöhen.

Für eine Reform des Bildungswesens sind unter anderemeine neue Lehr- und Lernkultur mit individueller Förde-rung erforderlich, mit mehr sozialem Lernen und innova-tiven Vermittlungsmethoden. In erste Linie müssen hierEltern, Schule und Jugendhilfe an einem Strang ziehen,wenn es um die Zukunftschancen der Kinder geht.

Für eine erfolgreiche Sozialisation ist es wichtig, dieKompetenzen und die Institutionen, die das Aufwachsenbegleiten, besser als bisher miteinander zu koordinierenund zu verknüpfen. Die Kinder- und Jugendhilfe kann diedafür nötigen spezifischen Kompetenzen auch im Hin-blick auf die Förderung von Kindern und Jugendlichenvorweisen – insbesondere hinsichtlich der individuellenFörderung und Motivierung, der Partizipation von Kin-der- und Jugendlichen, der Einbindung von Eltern undbezüglich der Öffnung zum sozialen Umfeld. Sie hatKenntnisse über die Arbeit mit Migrantinnen und Mi-granten, Erfahrungen im interkulturellen Dialog und derProjektarbeit.

Dies erfordert Veränderungen gerade auch auf Seiten derFachkräfte. Mit Recht weist die Kommission darauf hin,dass Lehrpersonal und sozialpädagogische Fachkräfte je-weils ein neues Verständnis ihrer Tätigkeit brauchen(Empfehlung 7.3.2; 6). Lehrkräfte müssen sich öffnenund qualifizieren für neue Aufgaben im Zusammenhangmit der individuellen Förderung von Schülerinnen undSchülern sowie in der Zusammenarbeit mit Eltern undsozialpädagogischen Fachkräften. SozialpädagogischeFachkräfte müssen sich stärker für Bildungsaufgaben öff-nen.

Stärkung der politischen Partizipationskompetenz

Die Bundesregierung stimmt der Kommission zu, dassdie Befähigung zur Eigenverantwortung und die Förde-rung sozialen und politischen Engagements Aufgaben-stellungen sind, denen ein zentraler Stellenwert im Rah-men eines öffentlichen Systems für Bildung, Betreuungund Erziehung eingeräumt werden muss, und dass diesauch Möglichkeiten der Teilhabe und der Verantwortungvon Kindern und Jugendlichen am Ort Schule betrifft.

Der Bericht der Sachverständigenkommission weistmehrfach darauf hin, dass der Erwerb von politischen

Page 23: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 13 – Drucksache 15/6014

Kompetenzen zur Teilhabe an der demokratischen Gesell-schaftsordnung im internationalen Vergleich an deutschenSchulen nur unzureichend vermittelt wird. Gleichzeitigwird darauf hingewiesen, dass Bildungs- und Kompetenz-erwerb bei Kindern und Jugendlichen nicht nur von demformalen Bildungsort Schule, sondern ganz wesentlichauch von den außerschulischen Bildungsorten und Lern-welten beeinflusst wird.

Die Bundesregierung teilt die Empfehlung der Kommis-sion, dass der verstärkte Ausbau von Ganztagsschulen,mit dem erweiterten Zeitrahmen mehr Möglichkeiten fürsoziales Lernen und politische Bildung liefert, sowie eineintensivere Kooperation zwischen Schule und den Institu-tionen der außerschulischen politischen Bildung ermög-licht und so die Förderung der gesellschaftlichen Partizi-pationskompetenzen der Heranwachsenden verbessernkann (Empfehlung 7.3.2; 2).

In der Demokratie muss die politische Bildung eine le-bensbegleitende Maßnahme darstellen, die bereits imfrühkindlichen Alter einsetzen sollte, weshalb eine ent-sprechende Qualifizierung des pädagogischen Fachperso-nals für wichtig erachtet wird (Empfehlung 7.3.2; 6).

4.2 Chancen der GanztagsschuleDie Bundesregierung begrüßt es, dass die Kommissiondurchgängig die Bedeutung von Ganztagsschulen bzw.ganztägigen Angeboten in Deutschland und dabei insbe-sondere auch das Investitionsprogramm „Zukunft Bil-dung und Betreuung“ (IZBB) als einen der wichtigstenImpulse für eine Bildungsreform in Deutschland würdigt(Empfehlung 7.3.2; 2). Der Auf- und Ausbau von Ganz-tagsschulen wird zu Recht als „bildungspolitischer Para-digmenwechsel in Deutschland“ und Ausgangspunkt ei-ner umfassenden gemeinsamen Bildungsreform vonBund und Ländern gesehen. Gründe für den Ausbau vonGanztagsschulen sind dabei:

– Verringerung des dramatischen Zusammenhangs vonsozialer Herkunft und Bildungserfolg und damit Ver-besserung der gesellschaftlichen Teilhabe aller Kinderund Jugendlichen,

– Steigerung der Lernergebnisse und Verbesserung derLernkompetenzen der Schülerinnen und Schüler durcheine neue Lern- und Lehrkultur,

– Drastische Senkung der Zahl der Jugendlichen ohneSchulabschluss,

– Milderung sozialer Probleme in Schulen („sozialeBrennpunkte“), Unterstützung von Familien inschwierigen Erziehungssituationen,

– Vereinbarkeit von Familie und Beruf, insbesondereSteigerung der Erwerbstätigkeit von Frauen,

– Stundenumverteilung (verpflichtender Nachmittags-unterricht) durch Einführung des achtjährigen Gymna-siums (G 8) in vielen Bundesländern.

Heute ist unstrittig, dass es einen positiven Zusammen-hang zwischen gesundheitsfördernden Lebensbedingun-gen und der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen

und ihren schulischen Leistungen gibt. AusgewogenesEssen und Trinken, regelmäßige Bewegung und Entspan-nung stellen wesentliche Bausteine für die Gesundheitvon Kindern und Jugendlichen dar. Gleichzeitig sind sieBasis und Voraussetzung für ihre Lern- und Leistungsfä-higkeit. Gesundheitsfördernde Ganztagsschulen könneneinen nachhaltigen Beitrag zur Förderung der Gesundheitvon Kindern und Jugendlichen aus allen sozialen Schich-ten leisten.

Eine veränderte Schule wird zum zentralen Ort für Bildung, Betreuung und Erziehung: auf dem Weg zu einer neuen Lehr- und Lernkultur

Konsens herrscht darüber, dass die genannten Ziele nichtallein durch eine Verlängerung des Schultages erreichtwerden, sondern nur durch eine Verbesserung der Schul-und Unterrichtsqualität sowie durch veränderte Zeit- undRaumbedingungen beim Lernen. Die Debatte konzen-triert sich deshalb auf die Qualität von Ganztagsschulen.

Die große Chance von Ganztagsschulen liegt darin, dasssie mehr Zeit für eine sinnvolle Gestaltung von Lernpro-zessen bietet. Entscheidend ist letztlich, wie diese Zeit ge-nutzt wird, um die Schülerinnen und Schüler ihren Be-dürfnissen entsprechend zu fördern.

Mit dem IZBB stellt der Bund den Ländern beginnend ab2003 insgesamt 4 Mrd. Euro für den Auf- und Ausbauvon Ganztagsschulen zur Verfügung. Im Mittelpunktsteht dabei die inhaltliche Ausgestaltung der neuen Ganz-tagsangebote: die Schaffung einer neuen Lern- und Lehr-kultur mit besserer individueller Förderung jedes einzel-nen Kindes und Jugendlichen (Empfehlung 7.3.2; 3; 4).Auf diese qualitativen Kriterien haben sich Bund undLänder beim Abschluss der Verwaltungsvereinbarungverständigt:

– individuelle Förderung durch eine Pädagogik der Viel-falt, die konsequent die unterschiedlichen Stärken undLernvoraussetzungen von Schülerinnen und Schülernberücksichtigt,

– soziales Lernen sowie Lernen und Erleben von Demo-kratie,

– didaktische und methodische Qualitätsverbesserungdes Unterrichts,

– Einbeziehung von Eltern, Schülerinnen und Schülernin die Gestaltung der Schule,

– Öffnung der Schule für Partner aus dem sozialen, kul-turellen und wirtschaftlichen Umfeld,

– Qualifizierung derjenigen, die Ganztagsschule gestal-ten: Schulleitungen, Lehrkräfte und außerschulischePartner.

Die Bundesregierung unterstützt in enger Abstimmungmit den Ländern die Schulen und Schulträger bei der in-haltlichen Gestaltung der neuen Ganztagsangebote durcheine Reihe von Projekten, die inzwischen erfolgreich an-gelaufen sind, insbesondere das Begleitprogramm „Ideenfür mehr! Ganztägig lernen“ in enger Abstimmung mitden Ländern und in Kooperation mit der Deutschen Kin-

Page 24: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 14 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

der- und Jugendstiftung sowie die wissenschaftliche Be-gleitung und Umsetzung des IZBB „Studie zur Entwick-lung von Ganztagsschulen“ in enger Abstimmung mit denLändern.

4.3 Angebote aus einer Hand – Auf dem Weg zu kommunalen Bildungslandschaften

Die Bundesregierung teilt die Auffassung, dass Bildungs-,Betreuungs- und Erziehungsangebote so aufeinander ab-gestimmt werden sollten, dass sie als stabiles und verläss-liches Gesamtsystem Synergieeffekte bewirken und diebestmögliche Förderung von Kindern ermöglichen kön-nen. Ein vernetztes Zusammenspiel unterschiedlicher Ak-teure erfordert nicht nur die Anerkennung ihrer öffent-lichen Mitverantwortung. Der Aufbau eines integriertenSystems von Bildung, Betreuung und Erziehung bedarfdarüber hinaus einer verbindlichen Koordination dieserZusammenarbeit bei klarer Zuweisung der jeweiligenKompetenzbereiche der einzelnen Teilsysteme und Orien-tierung an den Lebenswelten der jungen Menschen.

Kommunale Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsnetzwerke

Der Vorschlag der Berichtskommission, die Organisationdieses Bildungsnetzwerkes, insbesondere durch den Auf-bau einer kommunalen Bildungsplanung an die kommu-nale Steuerungsebene anzubinden, erscheint vor diesemHintergrund als eine zielführende Perspektive. Die Ent-wicklung und Umsetzung eines solchen Konzepts fällt je-doch vorrangig in den Verantwortungsbereich der Länderund Kommunen. Die Bundesregierung unterstreicht indiesem Zusammenhang die Auffassung der Berichtskom-mission, dass in der föderalen Struktur der Bundesrepu-blik Chancen liegen, in einem Wettbewerb zwischen un-terschiedlichen Ansätzen den besten Weg hin zu einemöffentlich mitverantworteten Gesamtsystem von Bildung,Erziehung und Betreuung zu finden.

Schule und Jugendhilfe müssen an einem Strang ziehen

Neben anderen nicht institutionellen Bildungsorten sindauch aus Sicht der Bundesregierung die Kinder- und Ju-gendhilfe und die Schule zentrale Akteure bei dem Aus-bau eines flächendeckenden Systems für Bildung, Erzie-hung und Betreuung. Schule und Jugendhilfe habenvieles gemeinsam: Sie unterstützen Kinder und Jugendli-che in ihrer Entwicklung, fördern Bildungsprozesse undhelfen ihnen bei der Integration in die Gesellschaft. DieErfahrungen zeigen, dass die Kooperation zwischenSchule und Jugendhilfe erfolgreich und für alle Beteilig-ten, besonders aber für die Kinder und Jugendlichen, ge-winnbringend ist. Deshalb stellt ein gelingendes Zusam-menwirken von Schule und Kinder- und Jugendhilfehierbei einen entscheidenden Faktor für den Ausbau einesbreiten Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungssystemsdar, der jedoch wiederum in erster Linie das Verhältniszwischen Ländern und Kommunen betrifft.

Für die Kinder- und Jugendhilfe als Teilbereich der „öf-fentlichen Fürsorge“ hat der Bund gemäß Artikel 74Abs. 1 Nr. 7 GG die konkurrierende Gesetzgebungskom-petenz, von der er mit dem Achten Buch Sozialgesetz-buch – Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) Gebrauch ge-macht hat. Die Verantwortung für die Umsetzung dieserbundesrechtlichen Grundlagen und die Finanzierung derdarin geregelten Aufgaben obliegt jedoch nach Artikel 83 GGden Ländern, zu denen auch die Kommunen als Selbst-verwaltungseinheiten gehören.

Die Aufgabe der Schulgesetzgebung obliegt den Ländernim Rahmen ihrer Kulturhoheit. Die verwaltungsmäßigeund finanzielle Verantwortlichkeit ist ausschließlich Sa-che der Länder und Kommunen. Die Länder sind für diepädagogischen Inhalte und das unterrichtende Personal,die Kommunen für Schulbau und -ausstattung zuständig.

Der Bund hat im Rahmen seines Kompetenzbereichs, derGesetzgebung für die Kinder- und Jugendhilfe, die ihmmöglichen Weichenstellungen für ein Zusammenwirkenvon Kinder- und Jugendhilfe und Schule vorgenommen.So verpflichtet § 81 Nr. 1 SGB VIII die Träger der öffent-lichen Jugendhilfe zur Zusammenarbeit mit Schulen undStellen der Schulverwaltung. Um Kindern einen gutenÜbergang in die Schule zu sichern und um die Arbeit mitSchulkindern in Horten und altersgemischten Gruppen zuunterstützen, konkretisiert das von der Bundesregierunginitiierte Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- undJugendhilfe (Kinder- und Jugendhilfeweiterentwick-lungsgesetze – KICK) dieses gesetzliche Gebot im Hin-blick auf die Fachkräfte in Tageseinrichtungen in § 22aAbs. 2 SGB VIII. Die Berichtskommission bestätigtdurch ihre Forderung nach einer Weiterentwicklung derÜbergänge zwischen Kindergarten und Schule den vonder Bundesregierung aufgegriffenen Regelungsbedarf(Empfehlung 7.3.3; 1).

Die Bundesregierung begrüßt es, wenn andere Systemevon der Kinder- und Jugendhilfe lernen und deren Prinzi-pien der Teilhabe und Verantwortung übernehmen. Siehält es auch für wichtig, dass bei dem Ausbau eines inte-grierten Systems von Bildung, Erziehung und Betreuungdie Potenziale der Kinder- und Jugendhilfe eingesetztwerden. Allerdings erachtet sie es für unerlässlich, dasshierbei die originäre Funktionsbestimmung der Kinder-und Jugendhilfe und ihre Strukturen Beachtung finden.

Mit ihrem Leitziel, junge Menschen in ihrer individuellenund sozialen Entwicklung zu fördern und dazu beizutra-gen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen(§ 1 Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII), intendiert sie zwar ebensowie die Schule die soziale Integration junger Menschen.Die Kinder- und Jugendhilfe hat aber im Gegensatz zurSchule keinen eigenen Bildungs- und Erziehungsauftrag,sondern knüpft an den elterlichen Erziehungsauftrag an.Sie ist zwar primär präventiv ausgerichtet, hat aber inWahrnehmung des staatlichen Wächteramtes (Artikel 6Abs. 2 Satz 2 GG) auch fürsorgerische Aufgaben zu er-füllen. Ihre Aufgaben werden als Angelegenheiten derkommunalen Selbstverwaltung ausgeführt. Die Leis-tungserbringung erfolgt in Koexistenz öffentlicher undfreier Träger der Jugendhilfe unter Beachtung des Grund-

Page 25: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 15 – Drucksache 15/6014

satzes der Subsidiarität der öffentlichen Jugendhilfe. Dierechtliche Grundstruktur der Kinder- und Jugendhilfe istgeprägt von individuellen, subjektiven Rechtsansprüchen,die der oder dem Einzelnen bei Vorliegen der Vorausset-zungen allein ihr oder ihm zustehende Leistungen zu-spricht. Diese Leistungsverpflichtungen sind jedochgrundsätzlich gegenüber Verpflichtungen anderer, insbe-sondere auch der Schule, nachrangig.

5 Kinder und Jugendliche stärken – Chancengerechtigkeit fördern

Die Bundesregierung will mit Kindern und Jugendlichendie Zukunft gemeinsam gestalten und strebt eine Gesell-schaft an, die offen ist für Innovationen, die dynamischund wettbewerbsfähig ist. Diese Gesellschaft muss densozialen Zusammenhalt sichern, den Ausgleich schaffenzwischen Alt und Jung, Freiheit und Sicherheit, Teilhabeund Mitbestimmung für alle Generationen und Gruppen.Es muss jedem und jeder ermöglicht werden, sich den ei-genen Fähigkeiten entsprechend zu entwickeln. Die Bun-desregierung sieht ebenso wie die Kommission in derHerstellung von Chancengerechtigkeit eine der herausra-genden Aufgaben aktueller Kinder- und Jugendpolitik.

Weitere Schritte sind durch die Bundesregierung bereitsumgesetzt. Das TAG ist der erste Teil einer Reform desKinder- und Jugendhilfegesetzes, der zweite Teil – dasGesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugend-hilfe (KICK) – wird im Oktober 2005 in Kraft treten. DasKICK ist auch in Bezug auf den Ausbau der Tagesbetreu-ung ein großer Erfolg. Es ergänzt das TAG an für eine ge-lingende Kooperation der am Entwicklungsprozess desKindes beteiligten Akteure entscheidenden Stellen:

– Verpflichtung der Tageseinrichtungen, mit den Schu-len und den Einrichtungen der Familienbildung zu ko-operieren (§ 22a),

– Verpflichtung des Jugendamts, Eltern über das Betreu-ungsangebot sowie die pädagogische Konzeption der

Einrichtungen zu informieren und sie bei der Auswahlzu beraten (§ 24),

– Neuregelung des Erlaubnisvorbehalts für die Kinder-tagespflege (§ 43),

– Einführung sozial gestaffelter Elternbeiträge für dieöffentlich finanzierte Kindertagespflege nach demVorbild der Elternbeteiligung bei Tageseinrichtungen(§ 90),

– Neuordnung der Statistik für Kinder in Tageseinrich-tungen und Kindertagespflege (§§ 99 ff.) – Vereinfa-chung der Beurteilungsgrundlage,

– Aufnahme von Kindern in öffentlich vermittelter Kin-dertagespflege in die gesetzliche Unfallversicherung.

Mit der Gestaltung nachhaltiger Politik für Kinder undJugendliche will die Bundesregierung auch in Zukunft dieangestrebten Ziele umsetzen: angemessene Bedingungenfür Lebensverläufe und verlässliche Optionen zur Reali-sierung von Lebensplänen,

Die Bundesregierung strebt an, die öffentlichen Systemeder Betreuung, Bildung und Erziehung – gemeinsam mitden Ländern und Kommunen – so zu reformieren, dasssie ihren Beitrag zur Zukunftssicherung und Chancenge-rechtigkeit für unsere Kinder und Jugendlichen leistenkönnen. Es gibt eine gesamtgesellschaftliche Verantwor-tung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen,die in erster Linie von Eltern, aber auch von der Politikund den Handelnden in den Institutionen der Betreuung,Erziehung und Bildung wahrgenommen wird. Die Bun-desregierung will erreichen, dass diese Aufgabe von allenBeteiligten zukünftig stärker als bisher, insbesondere inForm ressortübergreifender Kooperationen von Kinder-und Jugendpolitik, Bildung, Schule, Sport, Umwelt, Ver-kehr, Verbraucherschutz und Gesundheit wahrgenommenwird. Darüber hinaus sind aber alle gesellschaftlichenAkteure – Wirtschaft, Verbände, Kirchen, Medien – ge-fordert, ihren Beitrag zu guten Rahmenbedingungen fürdas Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen zu leis-ten.

Page 26: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 27: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 17 – Drucksache 15/6014

Seite

Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland– Zwölfter Kinder- und Jugendbericht –

I n h a l t s v e r z e i c h n i s

S e i t e

Mitglieder der Sachverständigenkommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

Ständiger Gast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

Mitglieder der Arbeitsgruppe Zwölfter Kinder- und Jugendbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

Bildung, Betreuung und Erziehung vor und neben der Schule – eine Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

Teil A Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und konzeptionelle Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

1 Rahmenbedingungen des Aufwachsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

1.1 Bildung, Betreuung und Erziehung im Kontext gesellschaftlicher Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

1.2 Die Entwicklung der Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

1.2.1 Kontinuitäten und Diskontinuitäten familialer Lebenswelten . . . . . 52

1.2.2 Diffusion und Trennung lebensweltlicher und institutioneller Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

1.2.3 Mediatisierung und Virtualisierung von Lebenswelten . . . . . . . . . . 59

1.2.4 Internationalisierung von Lebenswelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

1.2.5 Aufwachsen in einer alternden Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

1.3 Soziale und gesellschaftliche Teilhabe als Bedingungen des Aufwachsens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

1.3.1 Sozio-ökonomische Lage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

1.3.2 Ethnische Zugehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

1.3.3 Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

1.3.4 Region . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

1.4 Veränderungen des Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

1.4.1 Die Entgrenzung von Bildung, Betreuung und Erziehung . . . . . . . 73

Page 28: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 18 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Seite

1.4.2 Das Wachstum der Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungs-berufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

1.4.3 Ökonomische Aspekte des Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

2 Bildung – ein konzeptioneller Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

2.1 Begriffliche Annäherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

2.2 Bildungsdimensionen und Bildungsziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

2.2.1 Dimensionen der Aneignung von Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

2.2.2 Individuelle Bildungsprozesse im Spiegel von erwerbbaren und erworbenen Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

2.3 Bildungsorte und Lernwelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

2.3.1 Differenzierung und Spezialisierung: Bildung in der modernen Gesellschaft und die Grenzen der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90

2.3.2 Bildung im Kindes- und Jugendalter – Bildungsreform als Neu-gewichtung des Verhältnisses von Bildungsorten und Lernwelten . 91

2.3.3 Bildungsorte und Lernwelten: ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

2.4 Bildungsmodalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94

2.4.1 Formelle und informelle Bildungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

2.4.2 Formale und non-formale Bildungssettings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

2.4.3 Bildungsmodalitäten im Zusammenspiel von Bildungsprozessen und Bildungssettings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

2.5 Bildung im Lebenslauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

2.6 Bildung und Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

2.6.1 Grundsätzliche ökonomische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

2.6.2 Produktion und Finanzierung von Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

2.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

Teil B Bildungsprozesse im Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . 103

3 Die ersten Jahre – Bildung vor der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

3.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

3.2 Frühkindliche Entwicklungs- und Bildungsprozesse . . . . . . . . . . . 104

3.2.1 Bildung als Austauschprozess zwischen Kind und Umwelt . . . . . . 104

3.2.2 Pflege, Betreuung und Bindung als Basis frühkindlicher Entwicklung und Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

3.2.3 Entwicklungsangemessene Erfahrungs- und Lernangebote der Erwachsenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

3.2.4 Entwicklungsdimensionen (Weltbezüge) und Entwicklungs-themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

Page 29: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 19 – Drucksache 15/6014

Seite

3.3 Ressource Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110

3.3.1 Gesundheit sozial benachteiligter Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

3.3.2 „Neue“ Kinderkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

3.4 Frühkindliche Entwicklung und Bildung im Rahmen der Familie . 113

3.4.1 Individuell und sozial bedingte Einflussfaktoren . . . . . . . . . . . . . . 114

3.4.2 Einfluss besonderer Lebenslagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

3.5 Frühkindliche Entwicklung und Bildung im Rahmen erweiterter Bildungsgelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

3.5.1 Müttergruppen, Spiel- und Krabbelgruppen, Eltern-Kind-Gruppen als Bildungsgelegenheiten der Kleinkindphase . . . . . . . . . . . . . . . . 123

3.5.2 Tagespflege und Kindertageseinrichtungen als Bildungsgelegen-heiten der Kleinkind- und Vorschulphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

3.5.3 Bedeutung früher Kontakte zu Gleichaltrigen . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

3.6 Frühkindliche Entwicklung und Bildung im Kontext der Medien . 126

3.6.1 Entwicklungsabhängige Medienrezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

3.6.2 Mediale Angebote und Mediennutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

3.6.3 Medienerfahrungen in verschiedenen Bildungskontexten . . . . . . . . 128

3.7 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

4 Bildungsprozesse im Schulalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

4.1 Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

4.2 Bildungsprozesse in der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

4.3 Bildungsprozesse in der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

4.4 Bildungsprozesse in den Gleichaltrigen-Gruppen . . . . . . . . . . . . . . 144

4.5 Bildungsprozesse an anderen Bildungsorten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148

4.5.1 Vereine/Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148

4.5.2 Nebenschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

4.5.3 Kulturbezogene Bildungsorte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

4.6 Bildungsprozesse in anderen Lernwelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

4.6.1 Selbst organisierte und institutionell ungebundene Aktivitäten . . . 154

4.6.2 Familiäre Hausarbeit und Schülerjobs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

4.6.3 Bildungsprozesse im Kontext der Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

4.7 Bildungsprozesse im Zusammenspiel von Bildungsorten und Lernwelten – eine Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

Page 30: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 20 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Seite

Teil C Bildungsangebote und Bildungsleistungen im Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

5 Bildungsangebote und Bildungsleistungen im frühen Kindesalter . 164

5.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164

5.2 Familie als Leistungssystem – Leistungen und Angebote für Familien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166

5.2.1 Leistungen der Familie für die frühkindliche Bildung . . . . . . . . . . 167

5.2.2 Leistungen für Familien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1685.2.2.1 Öffentliche monetäre Leistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168

5.2.2.2 Öffentliche Infrastrukturleistungen und private Angebote . . . . . . . 170

5.3 Bildungsorte in öffentlicher Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174

5.3.1 Rechtliche Regelungen auf Bundes- und Länderebene . . . . . . . . . . 174

5.3.2 Tagespflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1775.3.2.1 Formen und Träger von Tagespflegeangeboten . . . . . . . . . . . . . . . 177

5.3.2.2 Angebot und Inanspruchnahme der Tagespflege . . . . . . . . . . . . . . . 179

5.3.2.3 Strukturmerkmale der Tagespflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184

5.3.2.4 Bedarf an Tagespflegestellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

5.3.2.5 Kosten der Tagespflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

5.3.2.6 Pädagogische Qualität in der Tagespflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

5.3.2.7 Sicherung pädagogischer Qualität in der Tagespflege . . . . . . . . . . 187

5.3.3 Institutionelle Kindertagesbetreuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1885.3.3.1 Formen und Träger der institutionellen Kindertagesbetreuung . . . . 189

5.3.3.2 Platzangebot, Versorgungsquoten und Inanspruchnahme . . . . . . . . 192

5.3.3.3 Zukünftiger Bedarf an Plätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196

5.3.3.4 Qualitative Anforderungen an die institutionelle Kindertages-betreuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

5.3.3.5 Auf dem Weg zur Verbesserung pädagogischer Qualität . . . . . . . . 205

5.3.3.6 Gesellschaftliche Kosten der institutionellen Kindertagesbetreuung 212

5.4 Übergänge zwischen Familie und Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . 220

5.4.1 Übergänge als biografisches Erfordernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220

5.4.2 Übergang von Familie in außer-familiale Bildungseinrichtungen . 222

5.4.3 Übergang vom Kindergarten in die Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224

5.5 Qualitätssicherung und Steuerungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

5.5.1 Qualitätssicherung als inputorientierte Verwaltungssteuerung . . . . 227

5.5.2 Qualitätssicherung durch Qualitätsmanagement . . . . . . . . . . . . . . . 228

5.5.3 Qualitätssicherung nach einheitlichen Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . 229

5.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230

Page 31: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 21 – Drucksache 15/6014

Seite

6 Bildungsangebote im Schulalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232

6.1 Bildungsaufgaben der Kinder- und Jugendhilfe – Jugendarbeit, Hort und schulbezogene Jugendsozialarbeit zwischen Anspruchund Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

6.1.1 Jugendarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2346.1.1.1 Bildungsauftrag und Bildungsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234

6.1.1.2 Organisatorische Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236

6.1.1.3 Bildungsprogramme und Bildungsleistungen der Jugendarbeit . . . 241

6.1.1.4 Stärken und Schwächen der Jugendarbeit unter der Perspektive von Bildungsleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

6.1.2 Der Hort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2526.1.2.1 Bildungsauftrag und Bildungskonzepte des Horts . . . . . . . . . . . . . . 2536.1.2.2 Institutionelle Struktur und Organisationsmerkmale . . . . . . . . . . . . 2546.1.2.3 Bildungsangebot und Bildungsleistungen in der Horterziehung . . . 2576.1.2.4 Stärken und Schwächen der Horterziehung unter der Perspektive

von Bildungsleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

6.1.3 Schulbezogene Jugendsozialarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2616.1.3.1 Bildungsauftrag und Bildungsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2626.1.3.2 Institutionelle Struktur und Organisationsmerkmale schulbe-

zogener Jugendsozialarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2666.1.3.3 Bildungsleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

6.2 Schule als formaler Bildungsort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

6.2.1 Bildungsansprüche an Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272

6.2.2 Organisatorische Struktur, rechtliche, finanzielle und personelle Situation im deutschen Schulsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274

6.2.3 Bildungsleistungen des Schulsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280

6.2.4 Reformbedarf der Schule unter der Perspektive ganztägiger Angebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282

6.3 Empirische Darstellung von Lernwelten außerhalb von Schule und Kinder- und Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

6.3.1 Nachhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

6.3.2 Auslandsaufenthalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286

6.3.3 Schülerjobs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

6.3.4 Kommerzielle Sportanbieter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288

6.3.5 Kinder- und Jugendreisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290

6.4 Zum Verhältnis von Jugendhilfe und Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292

6.4.1 Systematischer und historischer Kontext der getrennten Entwicklung von Jugendhilfe und Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

6.4.2 Jugendhilfe und Schule – Gemeinsamkeiten und Unterschiede . . . 298

6.4.3 Schul- und bildungsbezogene Kooperationsperspektiven aus Sicht der Kinder- und Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

Page 32: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 22 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Seite

6.5 Das „Projekt Ganztagsschule“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305

6.5.1 Das „Projekt Ganztagsschule“ – Erwartungen und Ansprüche . . . . 305

6.5.2 Beobachtbare Entwicklungen, programmatische und konzep-tionelle Eckwerte, fachliche und organisatorische Tendenzen . . . . 309

6.5.2.1 Ganztagsschulen in Deutschland – ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . 3096.5.2.2 Konturen der neuen Ganztagsschule – Programme zum

Ausbau von Ganztagsschulen in den Bundesländern: exemplarische Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311

6.5.2.3 Fachliche und organisatorische Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3166.5.2.4 Kooperation von Schule und Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3226.5.2.5 Zusammenfassung: Auf dem Weg zur Ganztagsschule . . . . . . . . . 327

6.5.3 Das Projekt Ganztagsschule: eine vorläufige Einschätzung . . . . . . 328

6.6 Institutionelles Zusammenwirken von Bildungsorten und Lernwelten – Bilanz und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330

Teil D Zukunftsperspektiven für ein öffentlich verantwortetes System von Bildung, Betreuung und Erziehung . . . . . . . . . . . . . 337

7 Auf dem Weg zu einem abgestimmten System von Bildung, Betreuung und Erziehung. Quantitative und qualitative Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

7.1 Konzeptionelle Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

7.2 Eckwerte für den Auf- und Ausbau eines öffentlich verant-worteten Systems von Bildung, Betreuung und Erziehung . . . . . . . 342

7.2.1 Die ersten Lebensjahre – Perspektiven für Familien und Kindertageseinrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342

7.2.2 Das Schulalter – Perspektiven für ein Zusammenwirken von Kinder- und Jugendhilfe und Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344

7.2.3 Gemeinsame Perspektiven: Strukturen, Finanzen, Forschung . . . . 347

7.3 Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3497.3.1 Bildung, Betreuung und Erziehung im frühen Kindesalter . . . . . . . 3497.3.2 Bildung, Betreuung und Erziehung im Schulalter . . . . . . . . . . . . . . 3507.3.3 Herausforderungen für ein neues System von Bildung,

Betreuung und Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353

Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen im Text . . . . . . . . . . . . . . . . 390

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393

1 Datenanhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393

1.1 Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen im Anhang . . . . . . . . . 393

1.2 Tabellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395

1.3 Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406

2 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420

Page 33: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 23 – Drucksache 15/6014

Seite

3 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426

4 Von der Kommission für den Zwölften Kinder- und Jugendbericht bestellte Expertisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431

5 Zuarbeiten zu einzelnen Themenbereichen des Zwölften Kinder- und Jugendberichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432

6 Von der Sachverständigenkommission für den Zwölften Kinder- und Jugendbericht veranstaltete Anhörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 433

Page 34: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 24 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Mitglieder der Sachverständigenkommission Zwölfter Kinder- und Jugendbericht

Ilsa Diller-Murschall

Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e.V. in Bonn, Stell-vertretende Geschäftsführerin/GeschäftsbereichsleiterinFachpolitik; Mitglied des Vorstands der Arbeitsgemein-schaft für Jugendhilfe (AGJ); außerdem u. a. Mitglied imDeutschen Verein, im Fachbeirat für den berufsbegleiten-den Fernstudiengang Bildungs- und Sozialmanagementmit Schwerpunkt frühe Kindheit (B.A.) an der FH Kob-lenz, im ISS-Kuratorium

Prof. Dr. Heinz-Hermann Krüger

Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an derMartin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Mitglied imDirektorium des Hallenser Zentrums für Schulforschung;Mitherausgeber der Zeitschrift für Erziehungswissen-schaft und der Zeitschrift für qualitative Bildungs- undSozialforschung

Martina Liebe; M.A. Päd.

Lehramt für Volksschulen; Leiterin der Abteilung fürGrundsatzfragen im Bayerischen Jugendring, KdöR.;Mitglied im Vorstand des Instituts für Medienpädagogikin Forschung und Praxis (JFF); Mitglied im Landes-jugendhilfeausschuss Bayern

Prof. Dr. Thomas Rauschenbach (Vorsitzender)

Direktor des Deutschen Jugendinstituts e.V.; Professor fürErziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Sozialpä-dagogik an der Universität Dortmund; Leiter des For-schungsverbunds DJI/Universität Dortmund

Dagmar Szabados

Bürgermeisterin der Stadt Halle (Saale); allgemeine Ver-treterin der Oberbürgermeisterin und zuständig für denGeschäftsbereich Jugend, Soziales und Gesundheit; Vor-sitzende des Ausschusses für Soziales, Jugend und Fami-lie des Deutschen Städtetages; Vorsitzende des Kurato-riums des Deutschen Jugendinstituts e.V.; Mitglied desVorstands des Deutschen Vereins; Mitglied des Vorstandsder Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe (AGJ)

Prof. Dr. Wolfgang Tietze

FU Berlin, Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psy-chologie, Professor für Erziehungswissenschaft mit demSchwerpunkt Kleinkindpädagogik; Geschäftsführer derPädQUIS gGmbH, Kooperationsinstitut der FU (mit zweiTeilprojekten an der Nationalen Qualitätsinitiative desBMFSFJ beteiligt)

Prof. Dr. Gert G. Wagner

Lehrstuhlinhaber für Volkswirtschaftslehre an der TUBerlin und Forschungsdirektor am Deutschen Institut fürWirtschaftsforschung (DIW) Berlin, Leitung der Längs-schnittstudie Sozio-oekonomisches Panel (SOEP); Mit-glied des Wissenschaftsrats und Vorsitzender des Rats fürSozial- und Wirtschaftsdaten

Ständiger GastDr. Wolfgang MackDeutsches Jugendinstitut e.V. München

Arbeitsgruppe Zwölfter Kinder- und JugendberichtDr. Jürgen Barthelmes

Kirsten Bruhns

Dr. Brigitte Seifert

Anne Zehnbauer

Anne Eisfeld (Sachbearbeitung)

Anschrift der Geschäftsstelle:

Deutsches Jugendinstitut e.V.

Nockherstraße 2, 81541 München

Postfach 90 03 52, 81503 München

Tel.: (089) 623 06 0

Fax: (089) 623 06 162

Page 35: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 25 – Drucksache 15/6014

Vorwort

Die Bundesregierung hat am 4. Juni 2003 beschlossen,dass sich der 12. Kinder- und Jugendbericht dem Thema„Bildung und Erziehung außerhalb der Schule“ widmensoll. Dieses Thema wurde im Berichtsauftrag für dieSachverständigenkommission spezifiziert: „Das erste Jahr-zehnt des neuen Jahrhunderts soll zum Jahrzehnt der Fa-milien und ihrer Kinder werden. Hier liegt die Zukunftder Gesellschaft. Die Bundesregierung will in diesemJahrzehnt die Rahmenbedingungen für das Aufwachsender nachfolgenden Generation verbessern. Dieses sindvor allem Reformen im Bereich Bildung, Betreuung undErziehung. Der Ausbau der Kinderbetreuung für Kinderunter drei Jahren, die Verbesserung der Qualität der Kin-dertagesbetreuung, die Unterstützung des Erziehungsauf-trags der Eltern, die Gestaltung des Übergangs von Kin-dertageseinrichtungen zur Schule und die Angebote fürKinder und Jugendliche im Schulalter sind für die Bun-desregierung strategische Schlüsselfragen.“

Diese Aufgaben beziehen sich, so der Berichtsauftrag, aufdie Bearbeitung von zwei thematischen Schwerpunkten,zum einen auf die „Förderung im Elementarbereich“ mitdem Ziel der Erarbeitung struktureller, finanzieller undinhaltlicher Eckpunkte, zum anderen auf die „Angebotefür Kinder und Jugendliche im Schulalter“ mit dem Zielder Erarbeitung konkreter und umsetzbarer Kooperations-modelle von Jugendhilfe und Schule.

In Anbetracht dieser Ausgangskonstellation waren für dieKommission zwei Überlegungen maßgebend: Erstenssollte sich der Bericht auf Fragen der Bildung und Erzie-hung vor und neben der Schule beziehen und damit zweiin den politischen und wissenschaftlichen Diskursen ei-genständig verhandelte Themengebiete zusammenführen.Zweitens war damit die terminologisch und inhaltlich of-fene Frage aufgeworfen, wie die Kommission sich kon-zeptionell zu den Fragen der Bildung und Erziehung, derBetreuung und Förderung verhält. Dies machte für dieKommission eigene begriffliche Vergewisserungen not-wendig.

Die Kommission hat den Auftrag dahingehend ausgelegt,dass sie das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen –vor allem vor und neben der Schule – in den Mittelpunktihrer Aufmerksamkeit gerückt hat. Deshalb hat sie auchden Arbeitstitel des Berichtsauftrags geringfügig abge-wandelt: „Bildung, Betreuung und Erziehung vor undneben der Schule“. Insoweit sind die Themen Bildung,Betreuung und Erziehung, sind Bildungs- und Erzie-hungsprozesse im frühen Kindesalter und im Schulaltersowie deren Unterstützung durch die Kinder- und Jugend-hilfe die zentralen Eckpunkte des Berichts. Da Schuleeine zentrale Lebenswirklichkeit von Kindern und Ju-gendlichen ist, wird auch ihr zwangsläufig und sachge-recht eine gewisse Aufmerksamkeit zuteil, ohne dass sieselbst einen Kernbestandteil des Berichts bildet.

Im Unterschied zu den bisherigen Kinder- und Jugendbe-richten war die Arbeit der Kommission dadurch geprägt,dass zeitgleich bedeutsame politische und parlamentari-sche Aktivitäten zum Ausbau des Betreuungsangebots fürunter dreijährige Kinder – vor allem in Westdeutschland –sowie zum Ausbau der Ganztagsschulen in der gesamtenRepublik eingeleitet worden sind. Beides war für die Ge-staltung des Berichts und für die Kommission eine beson-dere Herausforderung, da weder die politische noch diereale Entwicklung im Berichtszeitraum von Anfang anabzusehen war.

Parallel zum Berichtszeitraum wurde seit 2002 vom Bun-destag nicht nur das 4-Milliarden-„InvestitionsprogrammZukunft Bildung und Betreuung – IZBB“ zum Ausbauder Ganztagsschulen auf den Weg gebracht. Vielmehrliegt inzwischen auch das vom Bundestag beschlosseneund am 1. Januar 2005 in Kraft getretene „Tagesbetreu-ungsausbaugesetz (TAG)“ vor. Unstrittig werden beideGroßprojekte – ungeachtet der damit verbundenen Finan-zierungsfragen und der unterschiedlich bewerteten Aus-baugeschwindigkeit – das Aufwachsen von Kindern inDeutschland nachhaltig beeinflussen. Erstmals wird esfür das ehemalige Bundesgebiet denkbar, dass nicht nurein verschwindend geringer Teil der Kinder bereits in frü-hen Jahren einen wesentlichen Teil des Tages in öffent-lich organisierten und verantworteten Bildungs-, Betreu-ungs- und Erziehungseinrichtungen verbringt. Kindheitwird für diese Kinder zu einem nicht unerheblichen Teilzu einer „Institutionen-Kindheit“. Umso wichtiger wirdein sorgfältiges, qualifiziertes und der kindlichen Ent-wicklung angemessenes Angebot.

Wie kaum in einem anderen Bereich zeigen sich in denRahmenbedingungen des Aufwachsens von Kindernebenso anhaltende wie markante Unterschiede zwischenWest- und Ostdeutschland. Nach wie vor sind Kinderbe-treuungsangebote, die in der DDR wie in keinem anderenStaat der Welt ausgebaut waren, insbesondere für unterDreijährige und für Kinder im Schulalter in den östlichenBundesländern in erheblich höherem Maße vorhanden alsim Westen. Zudem ist dort auch im Kindergartenalter dasAngebot an Ganztagsplätzen nahezu die Regel, in West-deutschland hingegen immer noch die Ausnahme. Unab-hängig davon, ob diese gravierenden Unterschiede es be-rechtigt erscheinen lassen, von einer anhaltend geteiltenKultur des Aufwachsens zwischen Ost und West zu spre-chen, wird in diesem Punkt offenkundig, dass die westli-chen Bundesländer diesbezüglich einen beträchtlichenNachholbedarf haben, sich aber die realen Bedingungenzwischen den westlichen und östlichen Bundesländern indieser Hinsicht nach wie vor gravierend unterscheiden.

Vor diesem Hintergrund muss der vorliegende Bericht inmanchen Teilen als ein typischer „Westbericht“ gelesenwerden. Insbesondere die Beschreibung der unzuläng-

Page 36: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 26 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

lichen und unbefriedigenden Lage und der sich abzeich-nenden Ausbaubedarfe sind in Anbetracht der langjährigenVersäumnisse der westlichen Bundesländer formuliert.Der Bericht kann aber auch als eine Darstellung gelesenwerden, die in ihren quantitativen Ausbaudimensionengerade die östlichen Bundesländer zum Vorbild nimmt;insofern ist Ostdeutschland in dieser Hinsicht in gewisserWeise auch ein impliziter Bezugspunkt für den Ge-samtausbau der Kinderbetreuung in Deutschland.

Der vorliegende Bericht stellt zwar den Begriff der Bil-dung in den Mittelpunkt, ist aber dennoch kein Bildungs-bericht im herkömmlichen Sinne. Er ist es mit Blick aufdie beiden Themenschwerpunkte schon deshalb nicht,weil diese Themen üblicherweise in keinem Bildungsbe-richt auf nationaler oder internationaler Ebene Eingangfinden. Zugleich unterscheidet er sich dadurch, dass ihmein erweitertes Bildungsverständnis zugrunde liegt, dem-zufolge aus biografischer Sicht von Kindern alle Lern-und Bildungsprozesse ins Blickfeld zu rücken sind, unge-achtet dessen, ob sie als Ergebnis einschlägiger Bildungs-instanzen zustande kommen oder als Elemente offiziellerLehrpläne des Bildungssystems vorgesehen waren. Kin-der lernen das, was sie lernen – und nicht (immer) das,was sie sollen –, Kinder lernen dann, wann, und dort, wosie wollen – und nicht (immer) dann, wann, und dort, woihnen etwas angeboten wird. Mit dieser Ausgangslagekonfrontiert, versucht der Bericht nicht nur einen eigenenkonzeptionellen Zugang auszubuchstabieren, sondern denBlick auch auf die realen Bildungs- und Lernprozesse vonKindern und Jugendlichen zu richten, stärker ihre Bil-dungsbiografie in den Blick zu nehmen, als dies in Bil-dungsberichten bislang üblich war.

Der Bericht ist jedoch auch deshalb kein Bildungsberichtherkömmlicher Art, weil er das Thema Bildung – mehrals alle Bildungsberichte zuvor – vor dem Hintergrund ei-ner Trias von Bildung, Betreuung und Erziehung zu ak-zentuieren versucht. Häufig verwendet vor allem im Be-reich der Früh- und Elementarpädagogik – in derenKontext sie auch ihren gesetzlichen Niederschlagfindet –, spielt dieser Dreiklang von Bildung, Betreuungund Erziehung bislang weder in der Schule als dem he-rausragenden Bildungsort für Heranwachsende noch inden allgemeinen bildungspolitischen Debatten oder in derwissenschaftlichen Diskussion eine erkennbare Rolle.Über eine eher formelhafte Verwendung im Bereich derKindertagesbetreuung hinaus ist die Trias von Bildung,Betreuung und Erziehung bislang nie hinausgekommen.Der vorliegende Bericht nimmt die reale Situation desAufwachsens von Kindern und Jugendlichen zum ge-danklichen Ausgangspunkt und versucht aus dem, wasandernorts vielfach als Sozialisation, als reale Wirkungauf Kinder und Jugendliche verstanden wird, jenen Teil inden Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken, der amehesten als realisiertes Bildungs- und Lerngeschehen ver-standen werden kann.

Im Horizont dieser Überlegungen und im Lichte des Be-richtsauftrags entfaltet sich der Aufbau des Berichts. Erist untergliedert in vier Teile und sieben Hauptkapitel:

– Nach einer problemorientierten Einleitung wird inTeil A der Rahmen für die Ausdifferenzierung dernachfolgenden Berichtsteile skizziert, zunächst in Ka-pitel 1 der soziale Wandel und der soziale Kontext desAufwachsens von Kindern und Jugendlichen, an-schließend in Kapitel 2 die begrifflich-konzeptionelleVerortung innerhalb der Diskussion um Bildung, Be-treuung und Erziehung.

– In Teil B stehen die Lern-, Bildungs- und Entwick-lungsprozesse der Kinder und Jugendlichen im Mittel-punkt, wird die Bildung im individuellen Lebenslaufzum Bezugspunkt. Während sich Kapitel 3 dabei mitder frühen Kindheit bis zum Schuleintritt beschäftigt,werden in Kapitel 4 die Bildungsprozesse im Schulal-ter thematisiert.

– Demgegenüber legt Teil C seinen Akzent auf die Leis-tungen der Bildungssysteme, soweit sie für die anste-henden Berichtsthemen einschlägig sind. In Analogiezu Teil B wird hier wiederum eine Untergliederung indie beiden institutionellen Phasen der Kindheit vorge-nommen. Kapitel 5 ist infolgedessen neben der Fami-lie vor allem auf die Institutionen der Kinderbetreuungausgerichtet, und Kapitel 6 unternimmt den Versuch,sich insbesondere von der Kinder- und Jugendhilfe so-wie der Schule her den Fragen einer Kooperation vonBildungsorten und Lernwelten, die bisher kaum in Bil-dungsberichten thematisiert worden sind, anzunähern,wie es im Umfeld der neueren Ganztagsschuldebatteverstärkt gefordert wird.

– In Teil D geht es auf der Basis einer Bilanz wesent-licher Bestandteile des Berichts zuallererst um dieIdentifizierung der Eckwerte einer künftigen Gesamt-konzeption von Bildungs-, Betreuungs- und Erzie-hungsangeboten, um die Entwicklung von Perspek-tiven und schließlich um die Zuspitzung auf wichtigeEmpfehlungen, wie sie sich aus der Sicht der Kom-mission darstellen.

Der Zwölfte Kinder- und Jugendbericht ist kein Gesamt-bericht; er beschäftigt sich mit ausgewählten, aktuellenFragestellungen. Deshalb sind Grenzziehungen und Aus-lassungen nicht nur unvermeidlich, sondern zugleich not-wendige und hilfreiche Selbstbeschränkungen. In diesemSinne müssen auch für den Zwölften Kinder- und Jugend-bericht Einschränkungen gemacht werden.

Nur am Rande behandelt werden Fragen des Übergangsvon Schülerinnen und Schülern mit schlechten Startchan-cen für die berufliche Ausbildung bzw. den Arbeitsmarkt.Mit Blick auf diesen Punkt hat sich die Kommission vonAnfang an entschieden, den thematischen Horizontgrundsätzlich auf die Phase bis zum Ende der allgemeinbildenden Schulzeit zu begrenzen. Zudem werden in die-sem Bericht drei Themenbereiche nicht explizit behan-delt, die ebenso wichtig sind, aber nur in Spezialberichtenangemessen analysiert werden können. Es ist dies zumErsten der Zusammenhang von weltanschaulich-religiö-ser Bindung und Aspekten der Bildung, Betreuung undErziehung (insbesondere der Rolle von religiöser Unter-weisung außerhalb von Schulen), zum Zweiten die beson-dere Situation von behinderten Kindern und Jugendlichen

Page 37: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 27 – Drucksache 15/6014

und zum Dritten die Lage von jungen Menschen in Ein-richtungen der Erziehungshilfe.

In Anbetracht der sich immer deutlicher abzeichnendenstarken Bedeutung des Migrationshintergrunds von Kin-dern muss dieser Thematik künftig ebenfalls spezielleAufmerksamkeit gewidmet werden. Obgleich sich dieKommission bemüht hat, hierauf jeweils in den einzelnenKapiteln einzugehen, blieben die Möglichkeiten bis zumEnde dennoch unbefriedigend, nicht zuletzt deshalb, weilbei diesem Thema nach wie vor ein erhebliches Defizit anaussagekräftigem und zuverlässigem Datenmaterial be-steht.

Der Zwölfte Kinder- und Jugendbericht ist auch kein Kin-der- und Jugendhilfebericht. Weder beansprucht er, allerelevanten Aufgaben- und Themenfelder der Kinder- undJugendhilfe ins Blickfeld zu rücken, noch hält es dieKommission für angemessen, die in diesem Bericht imMittelpunkt stehenden Fragen mit einer Neuausrichtungder gesamten Kinder- und Jugendhilfe auch nur in Ver-bindung zu bringen. Die praktischen und politischen Fol-gen der hier in Frage stehenden Themen werden an derKinder- und Jugendhilfe nicht spurlos vorübergehen, sietangieren allerdings einzelne Teile – Kindertageseinrich-tungen, Jugendarbeit, schulbezogene Jugendsozialarbeit –weit mehr als andere.

Zwischen der Abgabe des Berichts durch die Kommis-sion und seiner anschließenden Beratung in den Parla-menten – nach Vorlage einer Stellungnahme der Bundes-regierung – liegt ein für die Kommission unbekannterZeitraum von mehreren Monaten. Diese Zeit werden wirnutzen, um die ebenfalls zur Veröffentlichung vorgesehe-nen Expertisen-Bände möglichst zeitgleich zu veröffentli-chen.

Ein Kinder- und Jugendbericht ist das Ergebnis einerKommissionsarbeit in einem thematisch vorgegebenenund zeitlich befristeten Rahmen. Für den Zwölften Kin-der- und Jugendbericht stand der vergleichsweise kurzeZeitraum von knapp zwei Jahren zur Verfügung. Der vor-liegende Bericht wurde – neben unzähligen Stunden, indenen Textfassungen angefertigt, durchgearbeitet, umge-schrieben und nach und nach fertig gestellt wurden – in17 Sitzungen bzw. an insgesamt 34 Sitzungstagen und inetlichen Arbeitsgruppentreffen erarbeitet. Angesichts derschwierigen und heute nicht mehr zeitgemäßen Rahmen-bedingungen für die Arbeit von sieben berufenen Kom-missionsmitgliedern – nebenher und ohne Entlastung vonihrer beruflichen Tätigkeit – sowie in Ermangelung vonDatenmaterial bzw. eindeutiger Befunde und Erkennt-nisse sollte dies nicht als selbstverständlich betrachtetwerden, sondern Anlass sein, diese Arbeitsform für dieErstellung künftiger Berichte zu überdenken, damit diewichtige und zum Teil für die Fachpraxis wegweisendeFunktion der Kinder- und Jugendberichte nicht unnötigerschwert oder gar gefährdet wird.

Dass der vorliegende Text dennoch fachlich differenziertund wissenschaftlich fundiert erstellt werden konnte, istnicht zuletzt der flexiblen und vielfältigen Unterstützungsowie den umfassenden Anregungen zu verdanken, diedie Sachverständigenkommission sowohl durch einekleine Arbeitsgruppe des Deutschen Jugendinstituts (DJI)

als auch durch externe Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftler sowie einschlägige Fachleute erhalten hat. DieSachverständigenkommission hat 16 Anhörungen und öf-fentliche Dialogforen veranstaltet, die in Anbetracht derFülle der thematischen Facetten etliche richtungswei-sende Impulse geben konnten. Gleiches gilt auch für die19 Expertisen, die die Kommission im Laufe ihrer Arbeitin Auftrag gegeben hat. Darüber hinaus sind zusätzlicheAnfragen zu speziellen Auswertungen bzw. thematischvertiefenden Daten an Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftler mit großem Entgegenkommen beantwortet wor-den. Ebenso haben sich Verbände und Organisationen derKinder- und Jugendhilfe mit hilfreichen Hinweisen zuzentralen aktuellen Fragestellungen und bereichsspezifi-schen Ergebnissen an die Sachverständigenkommissiongewandt. Alle diese Materialien sind, so gut es ging, inden Bericht eingeflossen. Allen Expertinnen und Exper-ten sei für ihre engagierte und qualifizierte Beteiligungherzlich gedankt.

Berichte einer Kommission sind per se Gemeinschafts-werke. Sie kommen nur zustande in einem vielschichti-gen Geflecht von Diskussionen, Protokollen, Vorlagen,Arbeitsgruppen, Rohtexten und Entwürfen. So habenauch an diesem Bericht zahlreiche Personen direkt undindirekt mitgewirkt (vgl. auch die Übersicht zu den Zuar-beiten im Anhang). Dass dieses überhaupt möglichwurde, hat die Kommission der DJI-ArbeitsgruppeDr. Jürgen Barthelmes, Dr. Brigitte Seifert, Anne Zehn-bauer und ganz besonders Kirsten Bruhns zu verdanken,die wie keine andere Person in diesem Bericht alle Fädenzusammengehalten hat. Ohne ihr unermüdliches Engage-ment wäre die Arbeit in dieser Form nicht möglich gewe-sen. Im organisatorischen Bereich wurde sie dabei unter-stützt von Anne Eisfeld und Jessica Alt. Als ständigerGast mitgewirkt hat daneben Dr. Wolfgang Mack, dersich in Verbindung mit einem im DJI durchgeführten Pro-jekt in die Kommissionsarbeit insbesondere im Kontextder Bildungsfragen und des Ganztagsschulprojekts überdas erwartbare Maß hinaus eingebracht hat. In bewährterForm hat auch die Dortmunder Arbeitsstelle Kinder- undJugendhilfestatistik diese Berichtskommission in Fragender amtlichen Daten beraten und umfangreiches Daten-material zur Verfügung gestellt. Mitarbeiterinnen undMitarbeiter des DJI haben für die Sachverständigenkom-mission Daten ausgewertet und Arbeitsergebnisse aufbe-reitet sowie an vielen Stellen die Arbeit am Bericht mitRat und Tat unterstützt. Auch ihnen allen sei hier nocheinmal herzlich gedankt. Und mein Dank gilt abschlie-ßend auch der Kommission selbst und ihren hier unge-nannten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die alle mitdafür verantwortlich sind, dass es uns gelungen ist, diesenBericht vorzulegen.

München, im April 2005

Prof. Dr. Thomas RauschenbachVorsitzender der Sachverständigenkommission

Page 38: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 28 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Zusammenfassung

Einleitung: Bildung, Betreuung und Erziehung vor und neben der Schule

Deutschland hat mit Blick auf sein öffentliches Bildungs-,Betreuungs- und Erziehungsangebot einen unübersehba-ren Nachholbedarf. Zu lange und zu einseitig hat die ehe-malige Bundesrepublik nahezu ausschließlich auf Familieund Schule als den fraglos gegebenen Stützpfeilern vonKindheit und Jugend gesetzt. Dabei war die Familie vorallem für die Betreuung und Erziehung der Kinder, dieSchule für die Bildung verantwortlich. Gemeinsam bilde-ten sie das Koordinatensystem für das mehr oder minderreibungslose Aufwachsen von Kindern in einer sich raschwandelnden Welt.

Dabei hat sich der Westen Deutschlands in seinem Den-ken und Handeln auf eine spezifische und lange Zeit auchwirksame Variante verlassen: auf das selbstverständlicheZusammenspiel einer geschlechtsspezifisch organisiertenFamilie einerseits und einer auf diesem Familienmodellaufruhenden Halbtagsschule andererseits. Vor allemdurch die familieninterne Rollenaufteilung mit einem be-rufstätigen Vater als dem Alleinernährer und einer imHaushalt sorgenden Mutter, dem „männlichen Ernährer-modell“, ließ sich die Halbtagsschule als Regelschule ei-nigermaßen problemlos realisieren. Nur so war die für dieKinder notwendige Verlässlichkeit gewährleistet, nur sokonnte auch die frühkindliche Betreuung und Versorgungder Kinder in den eigenen vier Wänden ermöglicht wer-den.

Diese bundesrepublikanische Nachkriegskonstellation istim Laufe der Jahrzehnte brüchig geworden. Eine wach-sende Zahl junger Frauen mit höheren Bildungsabschlüs-sen, steigende Anteile erwerbstätiger Frauen und Müttersowie zunehmende Scheidungszahlen haben nach undnach dazu beigetragen, dass das bundesdeutsche Famili-enmodell der „Hausfrauenehe“ seine Selbstverständlich-keit eingebüßt hat und nicht mehr der entscheidendeMaßstab für die Organisation des Aufwachsens von Kin-dern bleiben kann.

Ergebnis dieser veränderten Konstellation sind die in denletzten Jahren breit geführten öffentlichen Debatten umBetreuung und Bildung. Beide haben ihren Kern in dendamit zusammenhängenden, unzureichend geklärten Fra-gen, wer in welcher Form und in welchem Umfang fürdie Bildung, Betreuung und Erziehung der nachwachsen-den Generation zuständig ist. Auch wenn die Bildungs-und die Betreuungsfrage häufig getrennt diskutiert wer-den, haben sie dennoch in den genannten Unzulänglich-keiten ihren gemeinsamen Ursprung. Insoweit, dies istleitend für diesen Bericht, sind sie Ausdruck eines ge-meinsamen Problemzusammenhangs.

Die zu konstatierenden Veränderungen machen deutlich,dass sich die Lage der Kinder, Jugendlichen und ihrer Fa-

milien in zweifacher Hinsicht verändert hat: Auf der ei-nen Seite droht die „Lebensform Familie“ in einer altern-den Gesellschaft erheblich an Bedeutung zu verlieren.Von der einstmaligen Gewissheit, dass sich junge Er-wachsene in aller Regel nicht nur auf eine Partnerschafteinlassen, sondern auch eine Familie, einen eigenenZwei-Generationen-Haushalt mit Kindern gründen, istgegenwärtig nicht mehr allzu viel zu spüren. Dass „Fami-lie“ von jungen Menschen nicht mehr ohne weiteres alslebbar, nicht mehr als eine ebenso selbstverständliche wieattraktive Lebensform angesehen wird, weist in dieseRichtung.

Auf der anderen Seite deuten diese Befunde an, dass dasZusammenspiel von Beruf und Familie, von individuellbevorzugten und gesellschaftlich möglichen Mustern derLebensführung nicht für uneingeschränkt machbar gehal-ten wird, dass die Lebensentwürfe von Frauen und Män-nern und die Bedarfe bzw. Bedürfnisse von Kindern zu-mindest nicht bruchlos kompatibel sind. In diesem Sinnegeht es um die Gelingensbedingungen realisierter Eltern-schaft, also um die Bedingungen der Lebensform Familieund des Aufwachsens von Kindern. Neben dem demogra-fischen Problem zurückgehender Geburtenzahlen findensich Eltern mithin vielfach zwischen fehlenden Betreu-ungsmöglichkeiten und einer diffusen Verunsicherung inErziehungsfragen wieder, mit denen sich vor allem jungeFrauen häufig – nicht zuletzt in der eigenen Partner-schaft – allein gelassen fühlen.

Aber auch der zweite Ort des Aufwachsens, die Schule,findet sich im Lichte internationaler Leistungsvergleichs-studien in keinem ruhigen Fahrwasser. Alle Studien derletzten Jahre weisen darauf hin, dass neben den unbe-friedigenden schulischen Leistungen vor allem die damitverbundene soziale Frage, d. h. die Überwindung derherkunftsabhängigen Unterschiede im deutschen Bil-dungssystem nicht wirklich gelöst wird. Dahinter deutetsich ein Problem an, das mit dem traditionellen Familien-modell stärker zusammenhängt, als es auf den erstenBlick erscheinen mag: die stillschweigende Annahme ei-ner allseits zeitlich belastbaren, umfassend verlässlichenund alltagskompetenten Familie. In Anbetracht dieserAusgangslage wird gegenwärtig in Politik und Öffent-lichkeit die Ganztagsschule als die beste Antwort auf dieBildungs- und Betreuungsdefizite der deutschen Halb-tagsschule betrachtet. Spätestens mit dieser Entwicklungwurde die Betreuungs- durch die Bildungsdebatte er-gänzt, vermengten und überlagerten sich Bildungs- undBetreuungsfragen ebenso wie die lange Zeit altersmäßiggetrennten Bereiche der vorschulischen und schulischenKindheit.

Zwei Leitmotive umschreiben die damit zusammenhän-genden Blickrichtungen: „Bildung von Anfang an“ wurdezu einem Leitgedanken, mit dem die Bedeutung der Bil-

Page 39: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 29 – Drucksache 15/6014

dungsfrage in den ersten Lebensjahren in den Mittelpunktgerückt werden sollte; und „Bildung ist mehr als Schule“sollte zum Ausdruck bringen, dass Bildungsprozesse vonKindern und Jugendlichen weitaus weniger ortsgebundensind, als oft unterstellt wird, d. h. dass Lernen diesseitsund jenseits der Schule und des Unterrichts stattfindet.Die Frage ist also, wie Bildungsprozesse so gestaltet wer-den können, damit Kinder und Jugendliche auf ganz un-terschiedlichen Wegen und in möglichst breiter Form er-reicht werden können.

Der Bericht lässt sich von der Idee leiten, dass öffentlicheBildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebote künftigso organisiert werden müssen, dass dadurch nicht nur einAufwachsen in einem neuen Zusammenspiel von privaterund öffentlicher Erziehung, von Familie und Kinderta-gesbetreuung, von Schule und außerschulischen, auch ge-werblichen Angeboten ebenso verlässlich wie qualifiziertmöglich wird, sondern dass dadurch auch nachhaltige fa-milien- und kindheitspolitische Effekte zu erwarten sind.Infolgedessen steht nicht nur die Quantität, sondern auchdie Qualität der Angebote auf der Agenda politischer Ge-staltung.

Mit den in den letzten zehn Jahren angestoßenen Refor-men – Kindergartenrechtsanspruch, Tagesbetreuungsaus-baugesetz und Ganztagsschulprogramm – wird damiterstmalig in Deutschland ein durchgehendes Bildungs-,Betreuungs- und Erziehungsangebot für Heranwachsendebis zum 14. Lebensjahr denkbar, liegt so etwas wie einverlässliches und planbares Unterstützungsprojekt für Fa-milien im Bereich des Möglichen, das sowohl familien-und geschlechterpolitische, arbeitsmarkt- wie sozialpoli-tische, bildungs- sowie kindheits- und jugendpolitischeZiele verfolgt.

Obgleich die Trias von „Bildung, Betreuung und Erzie-hung“ im Rahmen der Kindertagesbetreuung seit langemals Begründung für entsprechende Konzepte herangezo-gen wird, wurde bislang versäumt, die Besonderheit undden Eigensinn dieses integrierten Konzepts auszuweisen.Dies gilt auch insofern, als in Deutschland innerhalb derKindertagesbetreuung eine Unterschätzung der Seite derBildung in dieser Trias ebenso festzustellen ist wie auchumgekehrt die Schule die Themen Betreuung und Erzie-hung bislang weitgehend vernachlässigt hat. Dabei hat esden Anschein, als würden in Deutschland bislang Betreu-ung, Erziehung und Bildung doch eher im Nacheinanderals eine aufsteigende Abfolge im kindlichen Lebenslaufkonzipiert und organisiert als im Nebeneinander gleich-zeitig zu bewältigender Aufgaben. In deutlichem Unter-schied zu dieser altersmäßigen Anordnung von Betreu-ung, Erziehung und Bildung plädiert dieser Bericht füreine aufeinander abgestimmte Sichtweise für das gesamteKindes- und Jugendalter. Infolgedessen muss „Bildungvon Anfang an“ ebenso zu einem konzeptionellen An-spruch werden wie „Betreuung und Erziehung“ zu einemintegralen Bestandteil einer auf ganztägige Angebote aus-gerichteten (Ganztags-)Schule, so dass am Ende beidesstimmt: „Bildung ist mehr als Schule“ und „Schule istmehr als Bildung“.

Um diesem Anspruch im Ansatz gerecht werden zu kön-nen, werden die drei Begriffe Bildung, Betreuung und Er-ziehung deutlicher, als dies bislang der Fall war, in ihrenGemeinsamkeiten, ihren Besonderheiten und ihren jewei-ligen unterschiedlichen Aspekten ausformuliert. Zugleichwird der Bildungsbegriff in seiner erweiterten Form alsGrundbegriff für den Bericht eingeführt, da er am ehestenoperationalisierbar erscheint in Anbetracht der unglei-chen Möglichkeiten, Bildung, Betreuung und Erziehungzu einem expliziten Thema, zu einem eigenen Gegen-stand der Vermittlung zu machen, der planbar, gestaltbarund bearbeitbar ist.

Mit den Konzepten von Bildung und Betreuung im Rah-men von Ganztagsschulen einerseits und dem Ausbau derBetreuung für unter Dreijährige andererseits sollen nach-haltige Wirkungen erzielt werden. Beide von der Politikaufgegriffenen Problembereiche sind Ausdruck diesesDefizits, wobei es in unterschiedlicher Weise und Kon-notation dabei um ein Zusammenspiel der Fragen vonBildung, Betreuung und Erziehung geht. Nur in einerkonsequent komplementären Berücksichtigung diesesDreiklangs kann es gelingen, weiterführende Antwortenauf diese grundlegenden Herausforderungen am Beginndes 21. Jahrhunderts für Deutschland zu finden. Jenseitsder damit verbundenen finanziellen gesamtstaatlichenBelastungen und der unübersehbar schwierigen fiskali-schen Rahmenbedingungen für einen erfolgreichen Aus-bau an Ort und Stelle wird es größter Anstrengungen be-dürfen, um diese elementare Aufgabe in den nächstenJahren bedarfs-, fach- und sachgerecht zu bewältigen.

Teil A: Gesellschaftliche Bedingungen und konzeptionelle Grundlagen

1 Rahmenbedingungen des AufwachsensDie Unterstützung und Förderung von Bildungsprozessender jungen Generation muss sich einerseits an gesell-schaftlichen Erfordernissen und andererseits an den le-bensweltlichen Erfahrungen von Kindern und Jugendli-chen orientieren. Diese leiten sich aus demografischen,wirtschaftlichen, rechtlichen, politischen und sozialenEntwicklungen ab, die die Lebenssituation und die Le-bensführung der jungen Menschen und ihrer Familien be-einflussen. Veränderungen in den gesellschaftlichen Rah-menbedingungen und ihre Auswirkungen für dasAufwachsen von Kindern und Jugendlichen deuten aufdie Notwendigkeit einer Um- und Neugestaltung des der-zeitigen Systems von Bildung, Betreuung und Erziehunghin.

In der Familie erfahren heute immer mehr Kinder – imOsten Deutschlands öfter als im Westen – Diskontinuitä-ten in familiären Konstellationen, sie wachsen häufigerals früher ohne bzw. mit einer geringeren Anzahl an Ge-schwistern auf, und der Anteil der Kinder, der mit nur ei-nem Elternteil zusammenlebt, hat sich ebenfalls erhöht.Außerdem gibt es mit der wachsenden Erwerbstätigkeitbeider Elternteile, mit von „Normalarbeitsverhältnissen“abweichenden Arbeitszeiten und Arbeitszeitlagen sowiemit zunehmenden Anforderungen an Flexibilität und Mo-

Page 40: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 30 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

bilität im Berufsleben viele Hinweise darauf, dass sichgemeinsame Familienzeiten verringern und die Organisa-tion des Familienalltags erschwert ist.

Neben der Familie haben altersspezifische Institutionender Bildung, Betreuung und Erziehung im Lebensalltagvon Kindern und Jugendlichen ein großes Gewicht ge-wonnen. Sie bieten altersgerechte Aneignungs- und Lern-möglichkeiten, stellen an die jungen Menschen aber auchAnforderungen zur Integration unterschiedlicher Erfah-rungswelten und tragen zu deren alters- und genera-tionenspezifischen Separierung bei. Gleichzeitig stehenHeranwachsenden vielfältige Erfahrungs- und Lernmög-lichkeiten offen, die alters- und lebensphasenspezifischeBeschränkungen aufheben bzw. minimieren, z. B. durchden Zugang zu Informations- und Unterhaltungsmedien,durch eine Angleichung des Freizeitverhaltens von Er-wachsenen, Kindern und Jugendlichen sowie durch früheArbeitsmarkterfahrungen. Auch im Bildungsbereich zei-gen sich alltags- und lebenslaufspezifische Entgrenzun-gen, u. a. mit dem Vordringen von Bildungsangeboten indie Freizeitwelt der Heranwachsenden, mit „Kinder-Unis“ und „Seniorenstudium“.

Eine große Bedeutung für die Lebensführung jungerMenschen besitzt die mediale Durchdringung des Alltags.Sie eröffnet neue Informations- und Unterhaltungsmög-lichkeiten und verlagert bzw. erweitert die Erfahrungs-und Lernwelten von Kindern und Jugendlichen. Diewachsende Bedeutung digitaler Medien in der Arbeits-welt und im internationalen Austausch beinhaltet darüberhinaus neue, gesellschaftlich immer relevanter werdendeBildungsanforderungen.

Kinder und Jugendliche wachsen heute in einer durch In-ternationalisierungsprozesse geprägten Welt auf. Da-durch erweitern sich nicht allein ihre Bewegungs- und In-formationsräume, sondern ihre Lebenswelten entwickelnsich im Zuge von demografischen Entwicklungen undtransnationalen Wanderungsprozessen zunehmend zu in-terkulturellen Beziehungs- und Wissenswelten. Da davonauszugehen ist, dass sich diese Entwicklung in Zukunftfortsetzt, stehen die Institutionen der Bildung, Betreuungund Erziehung vor der Herausforderung, die Heranwach-senden mit den Fähigkeiten und Kompetenzen auszustat-ten, die es ihnen erlauben, sich in einer internationalisier-ten Welt und in interkulturellen Sozialräumen zubewegen und zu bewähren, die Lern- und Bildungschan-cen zu nutzen, die sich hier bieten und Konfliktpotenzialezu mindern.

Dass Kinder und Jugendliche heute in einer Gesellschaftaufwachsen, die auf dem Weg ist, sich zu einer „alterndenGesellschaft“ zu entwickeln, wirft – insbesondere ange-sichts der zu erwartenden strukturellen Veränderungen –auch für die Organisation des Bildungs-, Betreuungs- undErziehungssystems neue Fragen auf. Welche Konsequen-zen eine Veränderung der Altersstruktur der Bevölkerungfür die alltägliche Lebensführung und -gestaltung vonKindern und Jugendlichen haben wird, ist hingegen nochkaum absehbar.

Die vielfältigen Optionen, die sich Kindern und Jugendli-chen heute für ihre Lebensgestaltung bieten, beinhaltenChancen für zahlreiche soziale, kulturelle und kognitiveBildungs- und Lernprozesse, bergen jedoch auch Risikenund Konfliktpotentiale und erfordern deswegen vorberei-tende und begleitende Unterstützung.

Die optionale Vielfalt der Erfahrungswelten und Bil-dungsmöglichkeiten steht jedoch nicht allen Kindern undJugendlichen gleichermaßen offen und bietet nicht allendie gleichen Chancen zur Lebensplanung und Zukunfts-gestaltung. Möglichkeiten zur sozialen und gesellschaftli-chen Teilhabe sowie für Aneignungs- und Lernprozessedifferieren nach sozialer und ethnischer Herkunft, nachGeschlecht und Region. Hieraus ergeben sich besondereHerausforderungen für die Organisation von Bildung, Be-treuung und Erziehung.

Anstrengungen für die Ermöglichung einer gleichberech-tigten Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen an Bil-dungsprozessen sind vor allem erforderlich angesichts

– der erheblichen Anzahl von Kindern, die in Armutleben, insbesondere der Kinder von Alleinerziehendensowie aus – vor allem süd-/osteuropäischen – Migran-tenfamilien. Herauszuheben ist in diesem Kontext derenge Zusammenhang zwischen ökonomisch benach-teiligten Lebenslagen von Familien und dem Bildungs-niveau der Eltern. Er weist auf den hohen Stellenwertvon Bildung für die individuelle Lebensbewältigunghin und wirft die Frage auf, wie derartige „Armuts-Bildungs-Spiralen“ durchbrochen werden können;

– der geschlechtsspezifischen Unterschiede in den schu-lischen Leistungen der Heranwachsenden, den unglei-chen Zugangsmöglichkeiten von Frauen und Männernzur Erwerbstätigkeit, zu hohen beruflichen Positionenund Gehaltsklassen sowie der nach wie vor bestehen-den geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der Fa-milie. Dabei geht es nicht allein um die Verbesserungindividueller, sondern auch gesellschaftlicher Perspek-tiven, denn die Gesellschaft kann es sich nicht leisten,dass die wachsende Anzahl hoch qualifizierter Frauenaufgrund von Vereinbarkeitsproblemen von Beruf undFamilie auf Kinder verzichtet;

– teilweise erheblicher sozialräumlicher Unterschiedeim Zugang zu Bildungsorten und Lernwelten. Benach-teiligt sind Kinder und Jugendliche, die in Stadtvier-teln mit einer relativ homogenen Bevölkerungszusam-mensetzung aus niedrigen Sozialschichten – hierzugehören auch viele Migrantenfamilien – aufwachsen,die in ländlichen Gebieten mit mangelnden Bildungs-,Betreuungs- und Erziehungsangeboten leben, sowieKinder und Jugendliche aus strukturell benachteiligenGebieten mit einem mangelnden Arbeitsmarktange-bot, hohen Abwanderungsquoten und infrastrukturel-len Ausdünnungen. Großräumige Disparitäten findensich sowohl zwischen Ost- und West- sowie Nord- undSüddeutschland als auch zwischen und innerhalb voneinzelnen Bundesländern.

Page 41: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 31 – Drucksache 15/6014

Die Veränderungen der privaten Lebenswelten lassen sichin ihren gesellschaftlichen Folgen auch an den Verände-rungen des Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungssys-tems ablesen. Dabei deutet sich für diese eine zeitlich-bi-ografische, eine örtlich-institutionelle und eine inhaltlich-thematische Entgrenzung an. Die Bildungs-, Betreuungs-und Erziehungsinstitutionen, einschließlich der Familie,stehen zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor der Aufgabe,sich selbst an die veränderten Rahmenbedingungen anzu-passen, sich als so zukunftsfähig zu erweisen, dass sie ih-rer Kernaufgabe – Kinder auf ihrem Weg des Erwachsen-werdens zu unterstützen – gerecht werden können.

Das neu erwachte öffentliche Interesse an Bildung, Be-treuung und Erziehung ist Ausdruck der gewachsenen ge-sellschaftlichen Bedeutung dieses Bereichs. Dies lässtsich an der Entwicklung der Sozial- und Erziehungsbe-rufe ablesen: Zwischen 1975 und 2003 hat sich die Zahlder Beschäftigten in dieser Branche von rund 900 000 aufzuletzt 2,4 Mio. im Jahre 2003 erhöht. Waren 1950 ge-rade mal 1,7 Prozent aller Beschäftigten in Deutschlanddieser Branche zuzuordnen, so ist dieser Anteil bis 2003auf über 8 Prozent angestiegen. Heute ist jeder 12. Ar-beitsplatz in Deutschland bzw. jeder 8. Arbeitsplatz vonFrauen in den Sozial- und Erziehungsberufen zu finden.

Unter dem Strich macht diese Entwicklung deutlich, dassdie gesamte Dynamik und Entwicklung des öffentlichenBildungs-, Betreuungs- und Erziehungssystems inzwi-schen auch eine erhebliche arbeitsmarktpolitische Bedeu-tung erlangt hat; dass dieses Arbeitsmarktsegment für dieEntwicklung der Erwerbstätigkeit von Frauen bis heuteein wesentlicher Motor gewesen ist; dass die Veränderun-gen von Familie und Lebenswelt zu diesem stetigen undnachhaltigen Ausbau beigetragen haben. Gegenwärtig er-gänzen sich die private und öffentliche Verantwortungvon Bildung, Betreuung und Erziehung mehr denn je.

Diese Expansion des nichtschulischen Bildungsbereichszeigt sich auch mit Bezug auf das jährlich für Bildungaufgewendete Finanzvolumen. So ist der im Rahmen derBildungsfinanzberichterstattung erfasste Anteil für dieAusgaben für Tageseinrichtungen für Kinder sowie fürdie Jugendarbeit von 8,4 Prozent der Bildungsausgabenim Jahre 1975 (0,26 Prozent des BIP) auf 13,0 Prozent imJahr 2001 gestiegen (0,52 Prozent des BIP), was umge-rechnet etwa 11 Mrd. Euro entsprach. Vergleicht man nununter Finanzgesichtspunkten den Bereich der Kindertages-einrichtungen mit den Schulstufen, so liegen die öffentli-chen Pro-Kopf-Ausgaben im Elementarbereich unterhalbderer im Primar- als auch Sekundarbereich. Bezieht manallerdings die privaten Ausgaben – also die Elternbeiträgeund die Ausgaben der Freien Träger – mit ein, zeigt sich,dass pro Kind im Elementarbereich in Deutschland der-zeit mehr Geld aufgewendet wird als im Primarbereich.

International vergleichende Befunde der OECD zu denAusgaben für den Elementar- und den Primarbereich las-sen erkennen, dass die Ausgaben für den Elementarbe-reich in Deutschland kaufkraftbereinigt über dem OECD-Durchschnitt liegen, die Ausgaben für den Primarbereichdarunter. Vergleicht man dabei die privaten und öffentli-chen Finanzierungsanteile, so spielen in Deutschland

– wie auch in Irland, den USA oder Japan – private Bil-dungsausgaben eine erheblich größere Rolle für die vor-schulische Bildung und Betreuung als in den meisten an-deren OECD-Staaten.

2 Bildung – ein konzeptioneller Rahmen

(1) Bildung ist ein umfassender Prozess der Entwick-lung einer Persönlichkeit in der Auseinandersetzung mitsich und ihrer Umwelt. Das Subjekt bildet sich in einemaktiven Ko-Konstruktions- bzw. Ko-Produktionsprozess,eignet sich die Welt an und ist dabei auf bildende Gele-genheiten, Anregungen und Begegnungen angewiesen,um kulturelle, instrumentelle, soziale und personaleKompetenzen entwickeln und entfalten zu können. Umdiesen umfassenden Prozess beschreiben zu können,muss Bildung in einem weiten Sinne gebraucht werden.Dabei geht der Bericht davon aus, dass hierin auch Pro-zesse der Betreuung und Erziehung eingelagert sind.

Im Bildungsbegriff sind Vorstellungen von der Gesell-schaft und deren Entwicklung ebenso aufgehoben wieVorstellungen von den Individuen und deren persönlicherEntwicklung. Bildung dient in ihrer gesellschaftlichenFunktion der Reproduktion und dem Fortbestand der Ge-sellschaft, der Sicherung, Weiterentwicklung und Tradie-rung des kulturellen Erbes, der Herstellung und Gewähr-leistung der gesellschaftlichen und intergenerativenOrdnung, der sozialen Integration und der Herstellungvon Sinn. In das, was als Bildung definiert wird, fließensomit auch Vorstellungen darüber ein, was die Gesell-schaft zusammenhält und welche Werte für die Gesell-schaft leitend sind.

Aneignung von Welt und Entfaltung eines individuellenProfils der Person ist in einem modernen Konzept vonBildung nicht allein funktional im Sinne einer Einbin-dung in eine bestehende Gesellschaft, als eindimensio-nale Instrumentalisierung oder als einseitige Zurichtungder Individuen zu verstehen. Dazu gehört auch der An-spruch von Bildung, die einzelnen Subjekte zu befähigen,sich Zumutungen und Ansprüchen der Gesellschaft, dieder individuellen Entfaltung entgegenstehen, zu widerset-zen.

Bildung wird in diesem Bericht als sozialwissenschaftlichfundierter Begriff definiert. Damit sind empirische, nicht-normative Aussagen über Bildung in Bezug auf konkreteLebensbereiche, Entwicklungsanforderungen, Bewälti-gungsaufgaben, Gesellungsformen und Handlungsop-tionen möglich. Deshalb wird Bildung als Aneignung vonWelt in vier Bezügen konkretisiert:

– Mit der kulturellen Welt werden vor allem jene Welt-bezüge umschrieben, die sich auf das „kulturelleErbe“, auf die gattungsgeschichtlich-symbolischen Er-rungenschaften und Überlieferungen beziehen.

– Mit der materiell-dinglichen Welt werden vor allemjene Weltbezüge umschrieben, die sich auf die äußereWelt der Natur und der von Menschenhand geschaffe-nen Dinge, des gesellschaftlich Produzierten, bezie-hen.

Page 42: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 32 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

– Mit der sozialen Welt werden vor allem jene Weltbe-züge umschrieben, die sich auf die soziale Ordnungder Gesellschaft, also die Regeln des kommunikativenUmgangs, der zwischenmenschlichen Verhältnisseund der politischen Gestaltung des Gemeinwesens, be-ziehen.

– Mit der subjektiven Welt werden vor allem jene Welt-bezüge umschrieben, die sich auf die eigene Person,sowohl auf die eigene „Innenwelt“ als auch auf die ei-genen „Körperwelten“, beziehen.

Bildung in dem hier vorgeschlagenen Sinne ist ein Pro-zess des Aufbaus und der Vertiefung von Kompetenzen inden dargestellten Dimensionen. Die vier genannten Welt-bezüge beziehen sich dabei auf jeweils unterschiedlichebasale Kompetenzen:

– kulturelle Kompetenzen im Sinne der sprachlich-sym-bolischen Fähigkeit, das akkumulierte kulturelle Wis-sen, das „kulturelle Erbe“ anzueignen, die Welt mittelsSprache sinnhaft zu erschließen, zu deuten, zu verste-hen, sich in ihr zu bewegen;

– instrumentelle Kompetenzen im Sinne einer objektbe-zogenen Fähigkeit, die naturwissenschaftlich erschlos-sene Welt der Natur und der Materie sowie die tech-nisch hergestellte Welt der Waren, Produkte undWerkzeuge in ihren inneren Zusammenhängen zu er-klären, mit ihnen umzugehen und sich in der äußerenWelt der Natur und der stofflichen Dinge zu bewegen;

– soziale Kompetenzen im Sinne einer intersubjektiv-kommunikativen Fähigkeit, die soziale Außenweltwahrzunehmen, sich mit anderen handelnd auseinan-der zu setzen und an der sozialen Welt teilzuhaben so-wie an der Gestaltung des Gemeinwesens mitzuwir-ken;

– personale Kompetenzen im Sinne einer ästhetisch-ex-pressiven Fähigkeit, eine eigene Persönlichkeit zu ent-wickeln, sich als Person einzubringen, mit sich undseiner mentalen und emotionalen Innenwelt umzuge-hen, sich selbst als Eigenheit wahrzunehmen und mitder eigenen Körperlichkeit, Emotionalität und Gedan-ken- sowie Gefühlswelt klarzukommen.

(2) Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichenfinden an vielen Orten statt; sie sind nicht an die Grenzeninstitutioneller Zuständigkeit gebunden. Sie erfolgen inder Schule, der Familie, in Einrichtungen und Angebotender Kinder- und Jugendhilfe, in der Gleichaltrigen-Gruppe, im Gebrauch und in der Nutzung von Medien,aber auch beim Besuch kommerzieller Freizeitangebote,in Nachhilfeinstituten, bei Auslandsreisen oder beim Job-ben.

Von Bildungsorten im engeren Sinne wäre vor allem dannzu sprechen, wenn es sich um lokalisierbare, abgrenzbareund einigermaßen stabile Angebotsstrukturen mit einemexpliziten oder zumindest impliziten Bildungsauftraghandelt. Sie sind eigens als zeit-räumliche Angebote ge-schaffen worden, bei denen infolgedessen der Angebots-charakter überwiegt. Im Unterschied dazu sind Lernwel-ten weitaus fragiler, nicht an einen geografischen Ort

gebunden, sind zeit-räumlich nicht eingrenzbar, weiseneinen deutlich geringeren Grad an Standardisierung aufund haben auch keinen Bildungsauftrag. Von ihrer Funk-tion her handelt es sich bei ihnen eher um institutionelleOrdnungen mit anderen Aufgaben, in denen Bildungspro-zesse gewissermaßen nebenher zustande kommen.

Mit Blick auf potenzielle Bildungsprozesse von Kindernund Jugendlichen vor, in und neben der Schule wird somitzweierlei angesprochen: die systematische Inblicknahmeganz unterschiedlicher Bildungsorte und Lernwelten alsmöglicher oder faktischer Orte der Bildung einerseits so-wie das Verhältnis dieser Bildungsorte und Lernweltenzur Schule andererseits.

(3) Bildungsprozesse können mehr oder weniger forma-lisiert sein. Neben den formalisierten Prozessen gilt es,den informellen Prozessen größere Aufmerksamkeit zuwidmen. Damit Bildung in diesem umfassenden Sinnebeim Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen ange-messen zu begreifen ist, muss deshalb das Zusammen-spiel der unterschiedlichen Bildungsorte und Lernweltenund der dabei verlaufenden formalen und informellen Bil-dungsprozesse verstärkt in den Blick genommen werden.

Das Bildungsgeschehen wird traditionell als formalisier-ter Prozess gedacht, der an eigens dafür eingerichtetenInstitutionen nach vorgegebenen Regeln und vorgefertig-ten Plänen arrangiert und curricular gestaltet stattfindet.Seit einigen Jahren steigt allerdings die Aufmerksamkeitfür informelle Bildungsprozesse.

Im Unterschied zu formellen und informellen Bildungs-prozessen zielt die bereits implizit verwendete Unter-scheidung von formalen und non-formalen Bildungsset-tings auf den Grad der Formalisierung der geplantenBildungsarrangements. Als formale Bildungsorte gelteninsbesondere jene Institutionen, die nicht nur ein dezi-diertes Ziel der Bildung ihrer Nutzerinnen und Nutzerverfolgen, sich also ausdrücklich mit Bildungsfragen be-schäftigen, sondern die Bildungsprozesse zugleich auchnach definierten Regeln und rechtlichen Vorgaben struk-turieren.

(4) In diesem Bericht stehen nicht die Bildungsinstan-zen, sondern das Bildungsgeschehen aus dem Blickwin-kel des Lebenslaufs von Kindern und Jugendlichen imVordergrund. Bildungsprozesse kumulieren im frühen Le-bensverlauf, in der Biografie von Kindern und Jugend-lichen, nehmen andere Formen an, bauen im günstigenFall aufeinander auf, verstärken sich untereinander undführen so zu einem höheren Niveau der Verallgemeine-rung.

Unstrittig kommt es im Prozess des Aufwachsens zu einerAkkumulation gelingender wie misslingender Bildungs-prozesse, also zu einer Verstärkung bereits vorgängig er-folgter Bildungsprozesse. Damit radikalisieren sich dieFragen nach den sozialen, d. h. den nicht-genetischenoder individuellen Ursachen für die Entstehung misslin-gender Bildungsbiografien. Sollen mithin die Bildungsbio-grafien, die erfolgreichen wie die risikoreichen Bildungs-prozesse verstärkt ins Blickfeld der fachpolitischenBeobachtung gerückt werden, sind die bildungssystem-

Page 43: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 33 – Drucksache 15/6014

abhängigen Blickrichtungen zu überwinden und die Bil-dungsprozesse im Lebensverlauf selbst in den Mittel-punkt zu stellen.

(5) In ökonomischer Perspektive ist Bildung ein Dienst-leistungsprodukt, das von unterschiedlichen Produzenten,dem Staat, freien Trägern und privaten Anbietern, zusam-men mit den Konsumenten hergestellt werden kann.Auch Bildung muss in einer Welt mit knappen Ressour-cen möglichst sparsam produziert werden. Aufgrund vonInformationsmängeln, externen Effekten und dem gesell-schaftlichen Ziel der Chancengleichheit kommt dem Staatbei der Finanzierung und der Sicherstellung der Qualitäts-kontrolle eine herausgehobene Bedeutung zu. Durch wenBildung produziert und auf welche Weise Qualität ambesten gesichert wird, muss im Einzelfall unter den gege-benen Randbedingungen und den gesellschaftlichen Ziel-setzungen geprüft werden.

Teil B: Bildungsprozesse im Kindes- und Jugendalter

3 Die ersten Jahre – Bildung vor der SchuleAuf der Grundlage neuerer Forschungsergebnisse werdendie wesentlichen Merkmale und Erfordernisse von Ent-wicklungs- und Bildungsprozessen in der Lebensphasevon bis zu sechs Jahren dargestellt. Besonderer Wert wirddabei auf die ersten drei Lebensjahre gelegt. Es wird ge-zeigt, dass die Entwicklung in früher Kindheit von zweiGegensätzlichkeiten geprägt ist: Zum einen ist die Ent-wicklung in dieser Lebensphase ausgesprochen robust;Kinder gehen Beziehungen ein, sie lernen, ihre Fähigkei-ten zu entwickeln und sich ihre Lebenswelt anzueignen.Zum anderen sind sie in dieser frühen Phase jedoch auchim höchsten Maße verletzlich; Entwicklungs- und Bil-dungsprozesse kleiner Kinder sind in jeder Hinsicht ab-hängig von der Lebensumwelt, die ihre primären Bezugs-personen und andere Erwachsene ihnen bereitstellen.

Frühe Entwicklungs- und Bildungsprozesse von Kindernsind insbesondere durch folgende Voraussetzungen undErfordernisse gekennzeichnet:

– Die Entwicklung wird heute als dynamischer Interak-tionsprozess zwischen der genetischen Ausstattungdes Menschen und seinen sozialen Erfahrungen, sei-ner sozialen Interaktion mit der Umwelt verstanden.Die Art des Zusammenspiels von biologischen und le-bensweltlichen Bedingungen beeinflusst die Entste-hung kindlicher Bildungsprozesse maßgeblich.

– Entwicklung lässt sich als Transaktionsprozess be-schreiben. Jedes Kind bringt darin seine individuellenVerhaltensbesonderheiten (u. a. Verhaltensstile, Tem-perament) ein, nimmt seine Umwelt individuell wahrund „antwortet“ entsprechend auf seine Umwelt. Ent-wicklung unter einem transaktionalen Gesichtspunktzu verstehen, ermöglicht ein besseres Verständnis so-wohl der komplexen Erfordernisse hinsichtlich derkörperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Ent-wicklung eines Kindes als auch der Einflüsse, die fürseine Entwicklung und Bildung nachteilig sind bzw.zu Beeinträchtigungen und Störungen führen können.

– Selbstregulation muss als entwicklungsnotwendigeAufgabe des Kindes in Alltagserfahrungen in früherKindheit erworben werden. Stresssituationen, die dieRegulationsfähigkeit des Kindes übersteigen, könnenFehlanpassungen und Störungen in verschiedener Hin-sicht bewirken. Nicht alle Kinder erlernen in gleichemAusmaß, sich selbst zu regulieren; dies ist sowohl bio-logisch als auch sozial bedingt. Entwicklungs- undVerhaltensauffälligkeiten des Kleinkindes hängen im-mer auch mit Störungen der Erwachsenen-Kind-Be-ziehung zusammen.

– Der Entwicklungs- und Bildungsverlauf des Kleinkin-des ist in hohem Maße von fürsorglichen, pflegendenund betreuenden Beziehungen in verlässlichen, emo-tional sicheren und beschützenden Settings zu weni-gen erwachsenen Bezugspersonen abhängig. Die frü-hen Bindungsbeziehungen unterscheiden sich vonallen späteren Beziehungen.

– Bildung ist als ko-konstruktiver Prozess zu verstehen,an dem das Kind und die erwachsenen Bezugsperso-nen beteiligt sind. Wenn zwischen dem Kind und sei-nen Bezugspersonen eine positive Beziehung besteht,die Erwachsenen die Bedürfnisse des Kindes verste-hen und unmittelbar beantworten, kann es sich förder-lich (im Sinne von umfassendem Wohlergehen) entwi-ckeln und seine kognitiven, sprachlichen, sozialen undemotionalen Fähigkeiten aufbauen.

– Das Kind bedarf in der frühen Kindheit vielfältigerAnregungen durch seine Umgebung, die es zur Explo-ration und Auseinandersetzung mit der es umgeben-den kulturellen, materiellen und sozialen Welt ermuti-gen.

– In der Kleinkindphase, spätestens ab dem dritten Le-bensjahr, bedürfen Kinder neuer, den familialen Rah-men erweiternde und ergänzende Bildungsgelegenhei-ten. Die Familie bietet zwar den Boden für elementareEntwicklungs- und Bildungsprozesse des Kindes, je-doch sind unter den gegebenen gesellschaftlichen Be-dingungen ihre Möglichkeiten, Kindern die Teilhabean der komplexen, pluralistischen und einem schnel-len Wandel unterworfenen Gesellschaft zu ermögli-chen, eingeschränkt.

– Familie kann nur das weitergeben und beim Kind ini-tiieren, was innerhalb des Rahmens ihrer sozialen undkulturellen Ressourcen liegt. Der Bildungshintergrundder Eltern, die reale Lebenslage und die konkreten Le-bensbedingungen haben einen stark modifizierendenEinfluss darauf, welche Chancen der Entwicklung undBildung Kinder in ihrer familialen Umwelt zur Verfü-gung stehen. Aufgrund eines niedrigen Bildungsni-veaus, verbunden mit sozial benachteiligten und pre-kären Lebenslagen sowie unter ungünstigen sozio-ökonomischen Bedingungen, gelingt es vielen Fami-lien nicht, die Bedürfnisse ihrer Kinder zu erfüllen, ih-nen genügend Zeit und Aufmerksamkeit zu widmenund ihnen anregungsreiche Bedingungen des Auf-wachsens zu bieten. Kinder, die unter Armutsbedin-gungen aufwachsen, einen Migrationshintergrund ha-

Page 44: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 34 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

ben, mit Behinderungen leben müssen oder derenEltern psychisch beeinträchtigt sind, haben erschwerteEntwicklungs- und Bildungsbedingungen.

Hieraus lassen sich folgende Schlussfolgerungen zie-hen: Vor dem Hintergrund der Erkenntnisse und Be-funde zu Entwicklungs- und Bildungsprozessen in frü-her Kindheit sowie den Erfordernissen, die sich aufgrundgesellschaftlicher Wandlungsprozesse ergeben, muss dieEntwicklung von Kindern mehr denn je sowohl als eineAngelegenheit der Eltern als auch der Gesellschaft insge-samt betrachtet werden. Das angesammelte Wissen überEntwicklungsbedingungen, Entwicklungsbeeinträchtigun-gen und -risiken von kleinen Kindern macht einen Dia-log und eine gemeinsam geteilte Verantwortung für dasAufwachsen der Kinder erforderlich. Die Verantwortungdafür, dass Kinder sich positiv entwickeln, kann nichteinseitig der einzelnen Familie übertragen werden; siemuss im Rahmen eines neuen Verständnisses von öffent-licher Verantwortung gemeinsam übernommen werden.Da die Entwicklungs- und Bildungsprozesse der Kinderweitgehend von den Umwelten abhängig sind, in die siehineinwachsen – sei es die Familie, die Tagespflege oderdie Kindertagesbetreuung –, ergibt sich als große gesell-schaftliche Herausforderung, die Qualität der Bildungs-welt der Familie ebenso wie die der Bildungsorte Tages-pflege und Kindertageseinrichtungen sowie sonstigerbildungsrelevanter Erfahrungsräume und Lernwelten zuoptimieren. Es liegt im öffentlichen Interesse, dass dieKinder sich förderlich und ihre Möglichkeiten ausschöp-fend entwickeln können, damit sie an der Gesellschaftumfassend teilhaben können, die ihrer bedarf.

Im Einzelnen ergibt sich Folgendes:

– Die Lebensphase der frühen Kindheit darf nicht nurals Vorbereitungszeit für die Schule gesehen werden,sondern muss als eine eigenständige Phase ausgespro-chen vielfältiger Entwicklungs- und Bildungsmöglich-keiten wahrgenommen werden. Entwicklungs- undBildungsprozesse der Kinder verlaufen individuellverschieden. Erwachsene können diesem Faktum nurdurch die Anerkennung individueller Entwicklungsge-schwindigkeiten und -verläufe sowie durch eine indi-viduell abgestimmte Förderung gerecht werden.

– Die Familie muss als grundlegender und bedeutsamerOrt der Vermittlung von Bildung anerkannt werden.Sie ist der wichtigste Ort, die Bereitschaft und Fähig-keit zu lebenslangem Lernen bei den Kindern anzule-gen, aber auch ein Ort, an dem die lebenslang wirksa-men Bildungsdifferenzen entstehen. Damit mehrChancengleichheit durch individuelle Förderung derKinder möglich wird, muss die Familie in ihrer Leis-tungsfähigkeit unterstützt werden. Hierzu bedarf esverstärkter Aufmerksamkeit und verbesserter Bil-dungs- und Informationsangebote für werdende Müt-ter und Väter sowie für Eltern von kleinen Kindern.Hierzu ist es erforderlich, das Netz von Multiplikato-ren/innen, zu denen u. a. auch Frauen- und Kinder-ärzte, Hebammen sowie Mitarbeiter/innen von Famili-enbildungsstätten gehören, weiter auszubauen.

– Kinder brauchen für ihre Entwicklung neben der Bil-dungswelt der Familie schon frühzeitig weitere Bil-dungsgelegenheiten. Ihr eigenständiger Wert für diefrühen Entwicklungs- und Bildungsprozesse des Kin-des muss in der Öffentlichkeit stärker vermittelt wer-den. Durch zielgruppenadäquate Angebote sollte dieAttraktivität einer Inanspruchnahme für möglichstviele Familien erhöht werden. Hierzu gehören die För-derung und Unterstützung der Akzeptanz von Mutter-Kind-Gruppen und Elterngruppen ebenso wie die derInanspruchnahme von Angeboten der Kinderbetreu-ung insbesondere bei bildungsmäßig und sozial be-nachteiligten Familien mit eingeschränkten sozialen,kulturellen und ökonomischen Ressourcen.

Kinderbetreuungseinrichtungen müssen vor dem Hinter-grund der umfangreichen Erkenntnisse zu den Entwick-lungsbedürfnissen und -erfordernissen von kleinen Kin-dern größtmögliche Qualität bieten, um sowohl stabileBeziehungen als auch eine anregungsreiche Umwelt si-cherzustellen. In erster Linie muss es um die Verbesse-rung der Ausbildung des Personals in Einrichtungen derKindertagesbetreuung gehen. Das Wissen von Erzieherin-nen und Erziehern über Grundbedürfnisse und Entwick-lungserfordernisse in früher Kindheit muss ebenso ver-größert werden wie das Wissen über altersphasentypischeEntwicklungsschritte und -merkmale, um auf Entwick-lungsverzögerungen und -störungen rechtzeitig und ef-fektiv eingehen zu können. Erzieher und Erzieherinnenmüssen insbesondere auch durch ihre Basisqualifikationin die Lage versetzt werden, sich ständig weiterbilden zukönnen, u. a. damit sie sich mit neuen Forschungser-kenntnissen, die für die nächsten Jahre zu erwarten sind,auseinandersetzen können.

4 Bildungsprozesse im Schulalter

Im Mittelpunkt stehen die Bildungsprozesse und derKompetenzerwerb von Heranwachsenden im Schulalter.Mit dem Eintritt in die Grundschule ändert sich auch dergesellschaftliche Status sowie die Rollenzuschreibungdes Kindes: Das Kind wird zum Schüler/zur Schülerin.Neben der nach wie vor wichtigen Bildungswelt der Fa-milie und nach dem Besuch einer Kindertageseinrich-tung, die in der Regel der erste öffentliche Bildungsort fürdas Kind ist, kommt die Schule als neuer Bildungsorthinzu, den anschließend alle Kinder zumindest neunJahre lang besuchen müssen. Zugleich werden für diemeisten Kinder und Jugendlichen auch Gleichaltrigen-Gruppen als neue Lernwelten nach und nach bedeutsa-mer. Ein nicht zu unterschätzender Teil von ihnen nutztdarüber hinaus die Lernangebote der außerschulischenJugendarbeit, der Vereine und Verbände sowie der Kul-turarbeit. Bildungsprozesse finden in diesem Alterschließlich auch im Rahmen selbst organisierter Freizeit-aktivitäten, im Kontext von Gelegenheitsarbeiten zuHause oder in Gestalt von Schülerjobs statt. Nicht zu ver-gessen sind darüber hinaus die Medien, die schon ab demfrühen Kindesalter in vielfältigen Formen und als elemen-tare Bestandteile des Aufwachsens als eigene Lernweltenhinzukommen.

Page 45: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 35 – Drucksache 15/6014

Mit dem Bedeutungsgewinn schulischer Abschlüsse, dersich in der Verallgemeinerung und Inflation von schuli-schen Bildungstiteln zeigt, wird der Erwerb von bildungs-relevanten Ressourcen und Bildungskompetenzen in au-ßerschulischen Bereichen zunehmend wichtiger. Dasheißt, dass den Angeboten der außerschulischen Bildungs-orte in Gestalt der Institutionen der Jugendhilfe, der Kul-turarbeit, den so genannten Nebenschulen (z. B. Nach-hilfe, Sprachschulen, Musikschulen) oder auch anderenLernwelten (z. B. Schülerjobs, Medien) eine veränderteund erhöhte Bedeutung zukommt. Aktuelle Zeitbud-getstudien machen deutlich, dass Kinder und Jugendlicheim Alter zwischen 10 und 15 Jahren nicht nur rund27 Stunden pro Woche mit dem Lernen in und für dieSchule verbringen, sondern daneben durchschnittlichnoch weitere 5 Stunden pro Woche in informellen Kon-texten lernen (z. B. in Nebenschulen, in selbst organisier-ten Gruppen, mit Medien).

Welche Kompetenzen Kinder und Jugendliche im Rah-men von formellen und informellen Bildungsprozessenim Kontext dieser vielfältigen Bildungs- und Lernweltenim Verlaufe ihrer Bildungsbiografien erwerben, darüberliefern die Ergebnisse der Familien-, Kindheits-, Jugend-und Schulforschung erste, z. T. noch vorläufige Erkennt-nisse, die sich zugespitzt wie folgt zusammenfassen las-sen:

– Obwohl Heranwachsende sich auf dem Weg von derKindheit in die Jugendphase ständig weitere Sozial-welten und Bildungsorte erschließen, stellt die Familieauch für Kinder und Jugendliche im Schulalter jenebasale Bildungswelt dar, in der grundlegende Kompe-tenzen für den Umgang mit sich selbst sowie der kul-turellen, materiell-dinglichen und sozialen Welt er-worben werden. Zumeist ist die Familie auch der„gatekeeper“, der den Heranwachsenden Zugänge zuanderen Erfahrungswelten eröffnet, und die Auseinan-dersetzung mit den angebotenen Orientierungsmusternerfolgt in enger Wechselwirkung mit familialen An-eignungsprozessen. Sowohl die ökonomischen und so-zialen als auch die Bildungsressourcen der Familie ha-ben einen entscheidenden Einfluss darauf, wie sich dieschulischen Bildungschancen der Kinder und derenTeilhabe an außerschulischen Bildungs- und Lerngele-genheiten gestalten.

– Ein zweiter zentraler Bildungsort im Alltagsleben derSechs- bis Sechzehnjährigen ist die Schule, die dieHeranwachsenden mit der Erwartung konfrontiert,sich sukzessive systematisches Wissen und grundle-gende Kompetenzen in den Bereichen der mathema-tisch-naturwissenschaftlichen, der sprachlichen, derhistorisch-politischen sowie der ästhetisch-expres-siven Bildung anzueignen. De facto gelingt es demdeutschen Schulsystem jedoch gegenwärtig nicht hin-reichend, allen Heranwachsenden eine Grundbildungim Bereich der mathematisch-naturwissenschaftli-chen Kompetenzen sowie der Lesekompetenzen zuvermitteln. Dieses Defizit gilt erst recht für den Be-reich der politischen Kompetenzen zur Teilhabe an derdemokratischen Gesellschaftsordnung sowie der sozi-

alen bzw. der personalen Kompetenzen zur Lebensbe-wältigung. Die Schule sortiert zudem einen Teil derSchüler/innen zu früh aus, produziert hohe und päda-gogisch wenig sinnvolle Sitzenbleiberquoten sowie zuviele Schüler/innen mit prekären Bildungsbiografien,unter denen Arbeiterkinder und Kinder aus Familienmit Migrationshintergrund überproportional vertretensind. Zudem hat sie sich bislang nur punktuell gegen-über den kindlichen und jugendlichen Lebensweltengeöffnet und mit den – insgesamt noch zu wenigen –außerunterrichtlichen Bildungs- und Betreuungsange-boten bislang nur bedingt jene Schüler/innen erreicht,die auf außerunterrichtliche Förderangebote besondersangewiesen wären.

– Während die Grundschule und die verschiedenenSchulformen der Sekundarstufe I von allen Heran-wachsenden mehr oder weniger erfolgreich besuchtwerden, nehmen darüber hinaus zwischen einem Fünf-tel und knapp der Hälfte der Kinder und JugendlichenLerngelegenheiten an außerschulischen Bildungsortenwahr. Dabei kann man typologisch zwischen Bil-dungsorten unterscheiden, die sich zum einen direktauf die Kompensation und Ergänzung schulischerLeistungen beziehen (z. B. Nachhilfe, Musikschulen,Sprachkurse); zum anderen sind es die Bildungsange-bote der Jugendarbeit, Vereine, Verbände und kulturel-len Einrichtungen, die im Gegensatz zum Bildungsan-gebot der Schule ihre Stärken in der Förderung dersozialen und personalen Kompetenzen der Heran-wachsenden haben.

– Bildungspotentiale liegen auch in den selbst organi-sierten kulturellen Freizeitpraxen der Heranwachsen-den sowie in den bereits von über einem Drittel derFünfzehnjährigen ausgeübten Schülerjobs, die nichtnur Erfahrungen im Umgang mit Verantwortung undGeld, sondern auch den Erwerb eines breiten Spek-trums an praktisch-technischen, kommunikativen undpersonalen Kompetenzen ermöglichen.

– Weitere wichtige Lernwelten, die über die gesamteSchulzeit eine zentrale Rolle im Alltagsleben dermeisten Kinder und Jugendlichen einnehmen, sind diePeers und die Medien. Die Gleichaltrigen-Gruppenstellen einen spezifischen Lern- und Erfahrungsraumfür Heranwachsende dar, deren Potentiale vor allemim Bereich der Förderung der sprachlich-kommunika-tiven, sozialen und Selbstkompetenzen liegen. Im re-zeptiven, vor allem aber im aktiven Umgang mit Me-dien erwerben Heranwachsende beiläufig oder auchgezielt technische Fertigkeiten, kulturelles Wissen so-wie Orientierungen zur Entwicklung von Persönlich-keits- und Lebenskonzepten. Beide Lernwelten habenaber auch ihre Schattenseiten (z. B. Mitgliedschaft inaggressiven Straßencliquen, exzessiver Medienkon-sum), die sich auf gelingende Bildungsprozesse ehernegativ auswirken können.

Stellt sich die Forschungslage zum Bildungs- und Kom-petenzerwerb von Kindern und Jugendlichen in den je-weiligen außerschulischen Bildungsorten insgesamtschon relativ bescheiden dar, so gilt dies erst recht für Un-

Page 46: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 36 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

tersuchungen, die diese Prozesse des Bildungs- und Kom-petenzerwerbs vor dem Hintergrund des Zusammenspielsmehrerer Bildungsorte und Lernwelten analysieren:

– Relativ gut untersucht ist als Teilausschnitt aus diesemInterdependenzzusammenhang nur der Einfluss fami-lialer Lebenslagen auf den schulischen und außerschu-lischen Bildungserwerb. Dabei zeigt sich, dass Kinderund Jugendliche aus Familien mit geringen ökonomi-schen, kulturellen und sozialen Ressourcen (z. B. Ar-beiterfamilien, Familien mit Migrationshintergrund,von Armut betroffene Familien) in doppelter Weisebenachteiligt sind: Sie haben nicht nur die schlechte-ren schulischen Bildungschancen, sondern auch weni-ger Zugänge und Möglichkeiten zum außerschuli-schen Bildungserwerb in der Welt der Vereine,Jugendverbände und der Kulturarbeit, der kulturellenFreizeitpraxen sowie der Medien.

– Die bislang wenigen Studien, die den Erwerb von ma-thematischen Kompetenzen, Lesekompetenzen oderpolitischer Bildung vor dem Hintergrund des Zusam-menspiels von schulischen, familialen und außerschu-lischen Bedingungsfaktoren untersucht haben, machendeutlich, dass der Prozess des Bildungs- und Kompe-tenzerwerbs bei Kindern und Jugendlichen nicht nurvom formalen Bildungsort Schule, sondern ganz we-sentlich auch von nicht-schulischen Einflüssen abhän-gig ist.

Für die aktuellen Debatten um den Ausbau ganztägigerBildungs-, Erziehungs- und Betreuungsangebote sowieum die Neubestimmung des Verhältnisses von Schule undJugendhilfe haben diese Erkenntnisse zur Konsequenz,dass neben der schulischen Bildung auch den Orten deraußerschulischen Bildung ein weitaus größerer Stellen-wert zukommt, als er in den bisherigen bildungspoliti-schen Diskussionen eingeräumt wurde. Zugleich stelltsich im Rahmen neuer vernetzter, ganztägiger Bildungs-landschaften vor allem die Herausforderung, kumulativeBenachteiligungseffekte in Bildungsprozessen auszuglei-chen.

Teil C: Bildungsangebote und Bildungs-leistungen im Kindes- und Jugendalter

5 Bildungsangebote und Bildungs-leistungen im frühen Kindesalter

Die öffentlichen Leistungen für die Bildung, Betreuungund Erziehung von Kindern im Alter bis zu sechs Jahrenbeziehen sich im Wesentlichen auf die für diese Alters-gruppe relevanten Bereiche: Familie, Tagespflege und Ta-geseinrichtungen für Kinder sowie die Verknüpfungendieser Systeme.

Kinder und Familien brauchen heutzutage ein öffentli-ches Angebot, das den Erwachsenen Mut macht, sich aufdas „Abenteuer Kinder“ einzulassen, und das Kindernund Eltern zugleich erweiterte Bildungswelten und Erfah-rungsräume zur Verfügung stellt. Dafür braucht es ver-lässliche Angebote, die sich in einer Vielfalt von organi-satorischen Rahmenbedingungen konkretisieren können;leitender Gesichtspunkt hierfür sind die Bedarfe und Be-

dürfnisse von Kindern und Familien. Zugleich ist nebeneiner notwendigen quantitativen Erweiterung bzw. Stabi-lisierung des Angebots eine Verbesserung auf der qualita-tiven Ebene unabdingbar, um die positiven Effekte einerfrühen Förderung realisieren zu können. Vor diesem Hin-tergrund sind sowohl die Leistungen als auch die Verän-derungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten der frühenBildungswelten und -orte in den Blick zu nehmen.

(a) Bildungswelt Familie

(1) Leistungen der Familie:

– Familie ist die erste, überdauernde Bildungswelt, inder grundlegende Kompetenzen erworben sowie kul-turelles und soziales Kapital weitergegeben werden.

– Merkmale der Familie und das Anregungsniveau imfamilialen Umfeld haben – unabhängig von den Fami-lienformen – den größten Einfluss auf die kindlicheEntwicklung und den Bildungsweg von Kindern.

– Qualitätsbeeinträchtigend für den individuellen Bil-dungsprozess wirken sich sowohl ökonomisch, zeit-lich, sozial und kulturell defizitäre Ressourcen alsauch mangelnde Kommunikationsprozesse innerhalbder Familie aus.

– Familien in prekären Lebenslagen bieten nicht auto-matisch schlechtere Bildungsbedingungen für Kinder;diese hängen von vorhandenen Netzwerken und weite-ren Unterstützungssystemen ab.

– Die Betreuung innerhalb der Familien wird zum über-wiegenden Teil durch die Eltern (Mutter) geleistet; inden familialen Betreuungsmix (an Wochentagen) sindverschiedene weitere Personen involviert (Großeltern,Geschwister, Nachbarn, bezahlte Helfer), die für Kin-der Anregungspotentiale beisteuern können.

– Eltern ermöglichen ihren Kindern Bildungsprozesseauch durch vielfältige Zugänge zu familienunabhängi-gen Lernwelten.

(2) Leistungen für Familien:

– Monetäre Leistungen für Familien (Erziehungsgeldu. a.) sind unverzichtbar, jedoch alleine nicht ausrei-chend, um adäquate Bildungsbeteiligung und Bil-dungserfolge von Kindern zu gewährleisten. Die der-zeitige Höhe des Erziehungsgeldes scheint weniggeeignet, jungen Familien einen Ausgleich gegenüberdem vorgeburtlichen Einkommen zu bieten.

– Die Leistungen für Familien müssen den Auf- undAusbau einer Infrastruktur für Familien umfassen. Dasbetrifft z. B. Angebote zur Stärkung der elterlichen Er-ziehungskompetenz oder gemeinsame Angebote fürKinder und Eltern, um die soziale Isolierung von Fa-milien zu überwinden.

– Die Angebote der Familien- und Elternbildungsin-stitutionen werden von einem großen Teil der Elternfür wichtig befunden, jedoch nur von einer kleinenGruppe genutzt. Junge Mütter mit kleinen Kindernund Mütter mit mittlerem und hohem Bildungsab-schluss stellen die Hauptgruppe der Nutzerinnen dar.

Page 47: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 37 – Drucksache 15/6014

– Programme, die die Selbsthilfe von Familien aktivie-ren, und Projekte, die Eltern im alltäglichen Kontextder Familie Hilfestellungen geben sowie Förderanre-gungen vermitteln, erreichen eine breitere Gruppe vonEltern und finden eher Zugang zu sozial benachteilig-ten Familien.

– Eine Ausweitung des Angebots der Familienbildungsowie eine engere Verknüpfung zwischen Familienbil-dung und Kindertageseinrichtungen sowie den Eigen-initiativen von Eltern ermöglichen es allen Familien,nach ihren jeweiligen Bedürfnissen diese Form der ge-sellschaftlichen Unterstützung in Anspruch zu neh-men.

(b) Bildungsorte in öffentlicher Verantwortung

– Tageseinrichtungen für Kinder und Kindertagespflegesind die beiden Orte, an denen Bildung, Betreuungund Erziehung außerhalb der Familie in öffentlicherVerantwortung stattfinden. Im neuen Tagesbetreu-ungsausbaugesetz vom 1. Januar 2005 ist der Bil-dungsauftrag für beide Bereiche deutlich formuliert.

– Die Inanspruchnahme von Plätzen variiert mit demAlter der Kinder und dem vorhandenen Angebot, dassich in Ost und West quantitativ deutlich unterschei-det. Der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatzist in seiner einfachen Form als Halbtagsplatz in allenBundesländern umgesetzt; in manchen Bundesländerngilt ein erweiterter Rechtsanspruch für andere Alters-gruppen. Für die Drei- bis Sechsjährigen fehlen jedochnach wie vor (regional unterschiedlich) ganztägigeAngebote.

– Die Zugangschancen zu einer institutionellen Bildung,Betreuung und Erziehung von Kindern im vorschuli-schen Alter sind in Deutschland sehr unterschiedlich.Dies gilt insbesondere für die unter dreijährigen Kin-der, bei denen in den östlichen Bundesländern und– mit gewissem Abstand – auch in den Stadtstaateneine um ein Vielfaches höhere Platzchance besteht,wobei sich im Übrigen in den letzten zwölf Jahrenkaum eine Veränderung ergeben hat. Ähnliches giltaber auch für die jüngeren Kinder im Kindergartenal-ter. Von solchen regionalen Gegebenheiten und demAlter der Kinder abgesehen sind es zum einen Fakto-ren der Familiensituation (Erwerbssituation, Alleiner-ziehendenstatus), die den Einbezug eines Kindes ineine Kindertageseinrichtung beeinflussen, zum ande-ren aber auch der Bildungsstatus der Eltern, wobei beihöherem Bildungsstatus bei den Kindern im Kinder-gartenalter wie auch schon bei den unter Dreijährigendie Beteiligungswahrscheinlichkeit an einer institu-tionellen Bildung, Betreuung und Erziehung wächst.Bei den Kindern im Kindergartenalter wirkt sich zu-sätzlich der Migrationsstatus (Nicht-EU-Ausländer)auf die Kindergartenbeteiligung aus. Da durch die vor-liegenden Analysen die Nicht-Teilnahme an der Kin-dergartenerziehung nur unzureichend geklärt werdenkann – es gibt Hinweise, dass hierzu auch immerhin10 Prozent der Kinder der älteren Kindergartenjahr-gänge zählen –, bedarf es zukünftig differenzierter

Forschungsanstrengungen und mehr noch entspre-chender Anstrengungen in der Praxis, um geradediese, aufgrund der vorliegenden Analysen klar als so-zial benachteiligt erkannte Gruppe von Kindern mög-lichst früh und umfassend zu fördern.

– Der gesetzlich festgelegte bedarfsorientierte Ausbaufür die unter Dreijährigen erfordert vor allem im Wes-ten eine weitgehende Neuplanung der Angebotsstruk-tur. Das politische Ziel, bis 2010 für knapp 20 Prozentder unter Dreijährigen einen Betreuungsplatz zu schaf-fen, verlangt eine entschiedene Ausbaupolitik. WennTagespflege im Rahmen des Gesamtangebots30 Prozent des Betreuungsbedarfs für unter Dreijäh-rige abdecken soll, kann dies nur mit einem intensivenAusbau und Aufbau eines qualitativen Angebots ge-lingen, auch wenn weiterhin darauf gesetzt wird, dassEltern Tagespflege privat finanzieren und die öffentli-che Hand nur die Vermittlung geeigneter Tagespflege-personen und Beratungsleistungen übernimmt.

– Die Trägerstrukturen in Ost- und Westdeutschland zei-gen nach wie vor Unterschiede: Freie Träger haben imOsten zwar deutlich zugenommen, die Situation ist je-doch nicht mit der Dominanz dieser Trägergruppe imWesten vergleichbar. Weitere Träger (z. B. Elternini-tiativen, Betriebe) spielen eine geringe Rolle.

– Bezüglich der Alterszusammensetzung bestehenderInstitutionen liegen zwar keine empirischen Belege füreine förderliche Zusammensetzung der Kindergruppenvor, dennoch geht der Trend in den Kindertagesein-richtungen in Richtung einer weiteren Flexibilisierungund Öffnung der Einrichtungen.

– Die Vielfältigkeit der bestehenden Formen von Tages-pflegeverhältnissen ist ein Resultat der hohen Flexibi-lität von Tagespflege, die auf die spezifischen Betreu-ungsbedarfe von Eltern und Kindern eingehen kann.Sie macht es jedoch gleichzeitig schwierig, das Sys-tem Tagespflege insgesamt zu erfassen und zu steuern.

– Es ist unstrittig, dass die pädagogische Qualität in Ta-gespflege und Tageseinrichtungen verbessert werdenmuss, soll das Ziel einer frühen Bildung in institutio-nellen Kontexten zufriedenstellend umgesetzt werden.

– Die auf Kindertageseinrichtungen wie auch die Tages-pflege bezogene Qualitätsdiskussion bei Fachwissen-schaft, Fachpolitik und Praxis in Deutschland hat dieVielfalt der Komponenten pädagogischer Qualität wieauch ihre Verwobenheit bislang zu wenig im Zusam-menhang gesehen, sondern ihr Augenmerk vorwie-gend nur auf einzelne Qualitätsmerkmale gerichtet.Dies gilt auch für die aktuelle Diskussion, in der miteiner verbesserten Erzieherinnenausbildung, mit Cur-ricula und Rahmenplänen, Einrichtungskonzeptionenund Kriterienkatalogen für die pädagogische Arbeitvorwiegend nur Merkmale der Orientierungs- undStrukturqualität thematisiert, Merkmale der Prozess-qualität jedoch kaum ins Blickfeld gerückt werden.Auch so genannte „Outcomes“ bei Kindern wurden inder Vergangenheit kaum berücksichtigt.

Page 48: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 38 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

– Die Diskussion um die geeigneten und zielführendenVerfahren in der Qualitätssicherung und -entwicklungist noch längst nicht abgeschlossen. Noch verharrendie unterschiedlichen Akteure in der Ausdifferenzie-rung ihrer jeweils eigenen Konzepte. Dabei geht es je-doch nicht nur um die Kontroversen zwischen unter-schiedlichen Positionen und um eine unterschiedliche„Qualitätspolitik“, sondern es zeigt sich, dass vieleFragen offen sind, die sich sowohl auf die Güte der In-strumente als auch die Gestaltung des Prozesses rich-ten.

– Bei einer frühen Betreuung in einer Kindertagesein-richtung muss mit einem deutlich erhöhten Risiko in-fektionsbedingter Erkrankungen für die Kinder ge-rechnet werden. Vieles spricht dafür, dass es sichbesonders bei den Atemwegserkrankungen um einvorgezogenes Erkrankungsgeschehen handelt, so dasssich zu Beginn des Schulalters kaum mehr Differen-zen in Abhängigkeit der institutionellen Betreuungausmachen lassen. Mit erhöhten Krankheitsraten istbesonders im ersten halben Jahr nach Beginn der insti-tutionellen Betreuung zu rechnen; dies gilt für Vor-schulkinder aller Altersstufen. Bei jungen Kindern,besonders im ersten Lebensjahr, ist dieses Geschehenjedoch besonders ausgeprägt. Im Hinblick auf allergi-sche Erkrankungen hat meist eine frühe institutionelleBetreuung einen protektiven Effekt (Training des Im-munsystems). Durch räumliche Gestaltung, gute Be-lüftung und überlegte Hygienemaßnahmen lassen sichInfektionsrisiken in Kindertageseinrichtungen redu-zieren. Ein zentraler Risikofaktor ist die Betreuungvon Kindern auf engstem Raum (crowding). Vor die-sem Hintergrund dürfte bei sehr jungen und krank-heitsanfälligen Kindern eine Tagespflegebetreuung al-leine oder in einer Kleingruppe eine Alternativedarstellen.

– Das Fehlen von empirischen Studien sowohl für dieTagespflege als auch die Tageseinrichtungen ist ekla-tant und gibt einen Hinweis auf das halbherzige öf-fentliche und wissenschaftliche Interesse an der Kin-derbetreuung.

– Die Beachtung von Übergängen zwischen den unter-schiedlichen Bildungsorten und Lernwelten ist einvergleichsweise neues Thema für den frühkindlichenBereich. Bei einer Zunahme der Orte und zuständigenPersonen werden Übergänge einerseits selbstverständ-licher, bergen andererseits jedoch sowohl Chancen alsauch Risiken für den individuellen Bildungs- und Le-bensverlauf, die der aufmerksamen Begleitung durchErwachsene bedürfen.

6 Bildungsangebote im SchulalterMit Blick auf die Bildungsprozesse im Schulalter wirdeine Vielfalt und Vielzahl von Bildungsorten und Lern-welten sichtbar, die allerdings nicht von allen gleicherma-ßen genutzt werden. Diese Vielfalt an Gelegenheitenwirft in Bezug auf Bildungsverläufe von Kindern und Ju-gendlichen Fragen nach den Wechselwirkungen in derWahrnehmung und Nutzung dieser Angebote auf. In Be-

zug auf deren Organisation stellen sich Fragen nach demZusammenspiel der institutionalisierten Bildungsange-bote.

Dieses Zusammenspiel für die Bildung aller Kinder undJugendlichen fruchtbar zu machen und in einer produkti-ven Weise zu gestalten, kommt wesentlich der Schule so-wie der Kinder- und Jugendhilfe zu. Die Kooperationzwischen diesen beiden Institutionen wird so zu einer bil-dungsrelevanten Aufgabe. An Aktualität gewinnen dasZusammenspiel unterschiedlicher Akteure und die Ge-staltung eines aufeinander abgestimmten Systems vonBildung, Betreuung und Erziehung durch den Aus- undAufbau ganztägiger Angebote für Heranwachsende imSchulalter. Dieser Aus- und Aufbau von Ganztagsschulenund Schulen mit ganztägigen Angeboten markiert einenbildungspolitischen Paradigmenwechsel in Deutschlandmit weitreichenden Implikationen für Schule und Jugend-hilfe und wird deshalb als „Projekt Ganztagsschule“ be-zeichnet. Es stellt in doppelter Weise eine Herausforde-rung für die Schule und für die Kinder- und Jugendhilfedar, da ein zügiger quantitativer Ausbau mit der Entwick-lung qualitativer Standards in Einklang gebracht werdenmuss.

Als bildungsbedeutsame und -relevante institutionelleOrte und Angebote werden ausgewählte Leistungsberei-che der Kinder- und Jugendhilfe, der Schule sowie dersonstigen Lernwelten von Kindern und Jugendlichen imSchulalter in den Blick genommen. In diesem Rahmengeht es darum, das gesamte Spektrum vorhandener Bil-dungsangebote – auch kommerzielle Angebote und Leis-tungen – in eine Diskussion um die Weiterentwicklungund Reform öffentlicher Bildung, Betreuung und Erzie-hung einzubeziehen.

Mit der Jugendarbeit wird ein Bereich der Kinder- undJugendhilfe thematisiert, der eine explizite, auch gesetz-lich verankerte, Bildungsaufgabe hat. Bildungsangeboteund -leistungen der Jugendarbeit weisen, im Gegensatzzu vielen formalen Bildungsinstitutionen, einen hohenGrad an Selbstorganisation durch Jugendliche auf. Siesind durch eine Aneignungs- und Vermittlungsstrukturgekennzeichnet, in der lebensweltliche und sozialräumli-che Bedingungen und Gegebenheiten zum unverzichtba-ren Bestandteil gehören.

Der Hort als ein weiterer Leistungsbereich der Kinder-und Jugendhilfe bietet ein erweitertes Bildungsangebotfür Kinder im (Grund-)Schulalter, in dem soziales Lernenund Eigenaktivitäten der Kinder eine große Rolle spielen.Er definiert sich dabei als eine Institution, die Defiziteschulischer Betreuung und Förderung kompensiert undsich infolgedessen von der Schule konzeptionell ab-grenzt. Der Hort versteht sich gleichzeitig aber auch alsErgänzung zur Schule und offeriert Betreuungs- und För-derangebote, die von der Schule selbst nicht bereitgestelltwerden.

In der schulbezogenen Jugendsozialarbeit werden expli-zite Bildungsangebote sowie kompensatorische Leistun-gen für schulpflichtige Kinder und Jugendliche erbracht,um diese im Fall von Lern- und Schulschwierigkeiten zu

Page 49: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 39 – Drucksache 15/6014

unterstützen. Schulbezogene Jugendsozialarbeit hat des-halb den Schulerfolg von Kindern und Jugendlichen inbenachteiligten und erschwerten Lebenslagen als Maß-stab und Kriterium ihrer Bildungsangebote und -leistun-gen. Ein weiterer Bezugspunkt ist der erfolgreiche Über-gang von der Schule in Ausbildung und Arbeit.

Schule als formaler Bildungsort wird in diesem Kapitelebenfalls in Bezug auf ihre Struktur und ihre Leistungendargestellt. In ihrer allgemeinbildenden Form hat sie denAnspruch, Bildung für alle Kinder und Jugendlichen zuvermitteln. Dennoch bestehen im deutschen Schulsystemerhebliche Unterschiede in der Förderung von Heran-wachsenden unterschiedlicher sozialer Herkunft. So istdas Prinzip der Chancengleichheit in der Schule nochlängst nicht verwirklicht; im Gegenteil, herkunftsbe-dingte Benachteiligungen werden vom deutschen Schul-system durch Benachteiligungen in der Bildungslaufbahnnoch verschärft.

Neben der Kinder- und Jugendhilfe und der Schule sindfür die Bildung von Kindern und Jugendlichen im Schul-alter auch andere Lernorte von Bedeutung, denen bislangvergleichsweise wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde, seies, weil sie übersehen oder als irrelevant betrachtet wur-den, sei es, weil sie als privatgewerblich organisierte inihrer möglichen Wirkung unterschätzt wurden. Als Lern-orte und -gelegenheiten werden exemplarisch u. a. Fit-nessstudios, Schülerjobs und Auslandsaufenthalte in denBlick genommen, da nicht die Rechtsform darüber ent-scheidet, ob und inwieweit Lernorte für Kinder und Ju-gendliche relevant sind.

Schule und Jugendhilfe repräsentieren unterschiedlicheFormen von Bildungsangeboten und Bildungsleistungen.In der Jugendhilfe selbst betonen Jugendarbeit, Hort undschulbezogene Jugendarbeit unterschiedliche Akzenteund Schwerpunktsetzungen. Damit ist zwar einerseitseine Vielfalt von öffentlichen Bildungsangeboten gege-ben, sie stellt jedoch auch hohe Anforderungen an eineOrganisation des Zusammenspiels. Hinzu kommt, dassSchule und Jugendhilfe über völlig ungleiche personelleund finanzielle Ressourcen verfügen. BildungspolitischeVorstellungen, wie ein konsistentes System von Bildung,Betreuung und Erziehung aufgebaut werden kann, habenihre Plausibilität im Hinblick auf diese unterschiedlichenAusgangsbedingungen zu erweisen.

Das Zusammenspiel von Bildungsorten und Lernweltenmuss angesichts der Pluralität und Heterogenität von Le-benslagen so beschaffen sein, dass unterschiedliche Bil-dungsangebote und Lernformen mit ihrem jeweiligenEigensinn allen Kindern und Jugendlichen Differenzer-fahrungen ermöglichen. Dies erfordert Zugänge zur Weltdurch unterrichtliche Repräsentation ebenso wie in derdirekten Begegnung, Auseinandersetzung und Einmi-schung. Das Zusammenspiel von Bildungsangeboten undLernwelten ist deshalb darauf anzulegen, Kindern und Ju-gendlichen unterschiedliche Kulturen, Weltdeutungen,Traditionen, Einstellungen und Orientierungen nahe zubringen und ihnen zu ermöglichen, sich mit ihnen ausei-nanderzusetzen. Erforderlich sind Anregungen und Gele-genheiten, in diesen Begegnungen neue Perspektiven

übernehmen, Haltungen ausprobieren und Differenzenund Unterschiede aushalten zu können.

Ein produktives Zusammenspiel von Bildungsorten undLernwelten ist nur möglich, wenn es vor Ort in erreichba-rer Nähe ein differenziertes, quantitativ gut ausgebautesund qualitativ anspruchsvolles Angebot gibt, das eineGrundversorgung für alle gewährleistet. Für diese Leis-tungen sind an erster Stelle öffentliche Institutionen zu-ständig. Bund und Länder haben dabei die Aufgabe, Rah-menbedingungen zu schaffen, um regionale Disparitätenauszugleichen. Den Kommunen kommt indes eine orga-nisierende und gestaltende Funktion bei der Schaffung ei-nes differenzierten Angebots in einer pluralen lokalenBildungslandschaft zu. Schule und Jugendhilfe müssendiese Grundversorgung gewährleisten können und andereAnbieter als Akteure in das Zusammenspiel von Bil-dungsorten und Lernwelten einbeziehen.

Kooperation bedeutet dann, in einem gemeinsamen Pro-zess bedarfsgerechte Angebote zu entwickeln, d. h. Bil-dungsangebote im Sinne einer professionellen Dienstleis-tung zu erbringen, die alle Kinder und Jugendlichen, gleichwelcher Herkunft und sozialen Lage, als Ko-Produzentenihrer Bildungsprozesse einbezieht. In diesen Prozess kön-nen und müssen vom Grundsatz her alle Aufgabenberei-che und Handlungsfelder von Jugendhilfe und Schule ein-bezogen werden. Damit Kooperation nicht mehr nur inden Randbereichen der Institutionen, sondern in ihremZentrum erfolgt, sind durch Schule und Jugendhilfe ge-eignete Strukturen zu schaffen. Es bedarf einer kommu-nalen Bildungsplanung, in deren Rahmen Leitvorstellun-gen in einem offenen Diskussionsprozess erarbeitetwerden, Maßnahmen und Verfahren zur Erreichung derZiele etabliert werden sowie regelmäßige und datenba-sierte Formen der Überprüfung und Veränderung der ge-wählten Strategien durchgeführt werden. Planung kannsich nicht nur auf Strukturplanung beschränken, sie mussals ressortübergreifende Bildungsplanung auch fachlich-inhaltliche Fragen in den Bereichen von Schule und Ju-gendhilfe umfassen.

Die Gestaltung von Angeboten durch die Schule sowiedurch die Kinder- und Jugendhilfe erfolgt in dem ProjektGanztagsschule unter besonderen Voraussetzungen undunter spezifischen Rahmenbedingungen. Mit dem Inves-titionsprogramm des Bundes und den Programmen derLänder ist ein starker Anstieg von Ganztagsschulen undSchulen mit ganztägigen Angeboten zu verzeichnen, undes ist eine Bewegung entstanden, die Chancen für weitrei-chende bildungspolitische Reformen eröffnet.

Bei den neuen Ganztagsschulen überwiegen offene For-men, in denen die Teilnahme für die Schülerinnen undSchüler am Ganztagsbetrieb freiwillig, nach der Anmel-dung durch die Eltern allerdings in der Regel für ein Jahrverpflichtend ist. Diese Konstruktion führt dazu, dassSchulen mit ganztägigen Angeboten bisher häufig in ei-ner additiven Form organisiert sind, bei dem der Vormit-tag und die Organisation der Lehrerarbeit weitgehend un-berührt bleiben und lediglich für einen Teil derSchülerschaft um ein zusätzliches Angebot am Nachmit-tag ergänzt werden. Verstärkt wird diese Zweiteilung,

Page 50: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 40 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

wenn der Nachmittagsbereich von einem außerschuli-schen Träger organisiert wird, Kooperationen zwischenSchule und Träger lediglich auf formale Absprachen undOrganisationsfragen beschränkt sind und pädagogischeFragen und Themen nicht in einem kontinuierlichen fach-lichen Austausch erörtert werden.

Auch wenn die Kinder- und Jugendhilfe im Vergleich zurSchule über deutlich weniger Ressourcen verfügt, kannsie doch wichtige Akzente bei der Gestaltung von Ganz-tagsschulen bzw. von Schulen mit ganztägigen Angebo-ten setzen. Sie sollte sich deshalb offensiv in diesen Pro-zess einbringen. Dazu muss sie klären, in welcher Form,in welchem Umfang und unter welchen Bedingungen diesmöglich ist und wo ihre Grenzen liegen. Zu berücksichti-gen ist in diesem Zusammenhang, dass sich die Aus-gangsbedingungen in den jeweiligen Leistungsbereichender Jugendhilfe sehr unterschiedlich darstellen.

Der Aus- und Aufbau von Ganztagsschulen und Schulenmit ganztägigen Angeboten in Kooperation von Schuleund außerschulischen Trägern bietet die Chance, nichtnur eine neue pädagogische Kultur an der Schule zu ent-wickeln, sondern generell zu einem neuen System vonBildung, Betreuung und Erziehung beizutragen. Dabei istinsbesondere das Zusammenwirken von Schule sowieKinder- und Jugendhilfe geeignet, starre Strukturen, über-kommene Traditionen und nicht mehr zeitgemäße Kon-zepte und Organisationsformen zu überwinden. Voraus-setzung dafür ist allerdings, dass Unterschiede undDifferenzen bezogen auf den Auftrag, das Selbstverständ-nis sowie die Arbeits- und Organisationsformen zwischenSchule und Jugendhilfe nicht zum Anlass genommenwerden, sich voneinander abzugrenzen. Vielmehr muss esals Herausforderung begriffen werden, in der Unter-schiedlichkeit die jeweiligen Stärken und Zuständigkeitenzu akzeptieren und gemeinsam an der Entwicklung einerneuen pädagogischen Kultur mitzuwirken.

Teil D: Zukunftsperspektiven für ein öffentlich verantwortetes System von Bildung, Betreuung und Erziehung

7 Auf dem Weg zu einem abgestimmten System von Bildung, Betreuung und Erziehung. Quantitative und qualitative Perspektiven

Im Lichte des hier vorgelegten Berichts werden abschlie-ßend seine konzeptionellen Grundlagen zusammengefasstsowie einige wesentliche Eckwerte bilanziert. Hieraufaufbauend werden zukunftsweisende Rahmenüberlegun-gen mit Blick auf den anstehenden politischen Gestal-tungsbedarf entwickelt. Dabei werden zukunftsfähigeZiele jenseits der tagesaktuellen Machbarkeit markiert,die von Politik und Öffentlichkeit im Auge behalten wer-den sollten.

(a) Konzeptionelle Grundlagen erschließen sich anhandvon fünf Leitlinien, die sich aus dem vorliegendenBericht ergeben und das Konzept einer umfassenden öf-fentlichen Unterstützung und Ergänzung von Familien in

ihren Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsleistungenskizzieren.

1. Im Mittelpunkt steht der Lebenslauf und die Bil-dungsbiografie der Kinder. Nicht die Erfordernisse undInteressen der einzelnen Bildungs-, Betreuungs- und Er-ziehungssysteme sind zentrale Ausgangspunkte bei denÜberlegungen zu einer Um- und Neugestaltung des Bil-dungs-, Betreuungs- und Erziehungssystems, sondern dieWirkungen, die sie unter der Zielsetzung erreichen, dieHeranwachsenden bei der Entwicklung zu handlungsfähi-gen, kompetenten, sozialen und verantwortlichen Perso-nen zu unterstützen.

2. Ausgangspunkt ist die Trias von Bildung, Betreuungund Erziehung. Da in der Lebensrealität von Kindern undJugendlichen Bildung, Betreuung und Erziehung mitei-nander verwoben sind, ist das zukünftige Bildungs-, Be-treuungs- und Erziehungsangebot aufeinander abzustim-men, so dass die Dimensionen „Bildung“, „Betreuung“und „Erziehung“ zu systematischen Bestandteilen von pä-dagogischen Konzepten und praktischem Handeln wer-den.

3. Grundlegend ist ein erweitertes Bildungsverständ-nis mit einer Vielfalt von Orten, Gelegenheiten und Inhal-ten. In Anbetracht der Relevanz sowohl eines lebenswelt-lichen als auch eines organisierten Lernens sindmöglichst umfassend alle Orte einzubeziehen, in denensich faktisch Bildungs- und Lernprozesse vollziehen.

4. Es besteht eine öffentliche Gesamtverantwortungfür eine „Bildung für alle“. Zu verankern ist der An-spruch auf Chancengerechtigkeit und ein partizipativesBildungsverständnis. Die Bedeutung von Bildung als Ge-meinschaftsaufgabe ergibt sich vor dem Hintergrund, alleKinder und Jugendlichen den Herausforderungen der Zu-kunft entsprechend zu qualifizieren, herkunftsbedingteungleiche Ausgangsbedingungen auszugleichen und diejunge Generation zu befähigen, dass sie am gesellschaftli-chen Geschehen möglichst eigenständig teilnehmen undverantwortlich mitwirken kann. Erforderlich ist ein parti-zipatives und ein individuell orientiertes Bildungskon-zept.

5. Anzustreben sind tragfähige Zukunftskonzepte vonBildung, Betreuung und Erziehung in einem verbessertenZusammenspiel sowie einer Bildungs- und Erziehungs-partnerschaft aller bildungs- und lernrelevanten Akteure.Erforderlich sind aufeinander abgestimmte, ergänzendeAngebote sowie ein ganztägiges, verlässliches Bildungs-,Betreuungs- und Erziehungsangebot, in das Eltern alskompetente Partner und die jungen Menschen als Mitge-staltende und Mitverantwortliche einbezogen werden.Hierzu bedarf es der Anstrengung auf allen föderalenEbenen und unter Einbeziehung aller wichtigen gesell-schaftlichen Akteure.

(b) Vor dem Hintergrund der Leitlinien ergeben sichEckwerte für den Ausbau und für Reformen von Schulesowie Kinder- und Jugendhilfe vor dem Hintergrund derZielvorstellung, dass ein konsistentes und qualitativhochwertiges System ganztägiger Bildungs-, Betreuungs-und Erziehungsangebote für Kinder und Jugendliche er-forderlich ist. Sie beziehen sich auf die Relevanz der Fa-

Page 51: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 41 – Drucksache 15/6014

milie als Bildungswelt – insbesondere in den ersten Le-bensjahren –, auf die Erweiterung der Erfahrungs- undSozialwelten von Kindern bereits ab dem zweiten Le-bensjahr sowie auf die Gestaltung der Orte und Gelegen-heiten für Bildung und Lernen für Kinder und Jugendli-che im Schulalter. Deutlich wird, dass eine Beschränkungdes Ausbaus von Angeboten auf bestimmte Altersgrup-pen, soziale Statusgruppen, Regionen oder Bildungs-gänge nicht plausibel begründet werden kann, dass aberdie Förderung von Lern- und Bildungsprozessen heißt,derartige Besonderheiten und Differenzen durch institu-tionelle Gestaltung zu berücksichtigen. Die Erreichungsowohl quantitativer als auch qualitativer Aus- bzw. Um-bauziele wird nicht ohne Veränderungen der Schule sowieder Kinder- und Jugendhilfe möglich sein. Deswegensind – auch mit dem Wissen, dass derartige Prozesse Zeitbrauchen – frühzeitig Akzente zu setzen, damit in diesenbeiden Systemen innere und äußere Reformen eingeleitetwerden können.

(c) Die Beschreibung der Eckwerte im Bereich der Kin-dertagesbetreuung und der Kooperation zwischen Ju-gendhilfe und Schule mündet in die Formulierung vonEmpfehlungen. Sie bündeln zentrale, politikrelevante Ent-wicklungserfordernisse, ohne Anspruch auf eine vollstän-dige Auflistung aller im Bericht erwähnten Einzelemp-fehlungen zu erheben.

Empfehlungen zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit

1. Die Möglichkeiten zu Bildung, Betreuung und Erzie-hung der Kinder im ersten Lebensjahr innerhalb derFamilie müssen öffentlich unterstützt werden. Ziel ist es, unzumutbare Einbrüche im Haushaltsnetto-einkommen zu vermeiden und die Erziehungskompe-tenz der Familie zu stärken. Aufzubauen und weiter zuentwickeln sind Netzwerke zur Elternbildung und zurUnterstützung von Familien.

2. Der Rechtsanspruch auf eine öffentlich geförderteKindertagesbetreuung sollte auf Kinder unter dreiJahren erweitert werden. Dies gilt sowohl für dieKindertagesbetreuung als auch die Tagespflege. Für Kinder ab dem vollendeten zweiten Lebensjahrsollte Bildung, Betreuung und Erziehung vorwiegendin Gruppen erfolgen. Zur Realisierung des Rechtsan-spruchs wird vorgeschlagen, bis zum Jahr 2008 allezweijährigen Kinder in den erweiterten Rechtsan-spruch einzubeziehen und diesen bis spätestens 2010auf alle unter dreijährigen Kinder auszuweiten.

3. Der Rechtsanspruch auf ein Platzangebot in Kinder-tagesbetreuung ist auf Ganztagsplätze auszuweiten.Dabei sollte die tägliche Betreuungszeit für bis sechs-jährige Kinder fünf zusammenhängende Stunden nichtunterschreiten und entsprechend dem elterlichen Be-darf ein ganztägiges Angebot gewährleistet werden.

4. Der Bildungsanspruch muss in allen öffentlich ver-antworteten Formen der Kindertagesbetreuung fürKinder aller Altersgruppen beachtet werden. Alle Kinder haben Anspruch auf individuelle Förde-rung in allen Bildungsbereichen entsprechend denRahmenplänen der Länder. Der Bildungsanspruch ist

– auch für unter drei Jahre alte Kinder in Tageseinrich-tungen und in Tagespflege – weiter zu entwickeln undentwicklungsgemäß umzusetzen.

5. Frühe Bildungsförderung muss für Kinder unab-hängig von ihrer sozialen Herkunft und ihrer Le-benslage realisiert werden. Der frühe Zugang zu öffentlich geförderten Angebo-ten ist über Beratungs- und Unterstützungssystemeexplizit auch für Kinder mit Migrationshintergrundund aus bildungsfernen Schichten zu erleichtern.

6. Qualitätssicherung ist eine zentrale Aufgabe in allenFormen öffentlich verantworteter Kindertagesbe-treuung. Erforderlich ist eine Qualitätssteuerung, die sowohlein internes Qualitätsmanagement der Träger als auchein externes, von Trägern und Finanzgebern unabhän-giges, nach bundeseinheitlichen Kriterien arbeitendesQualitätssicherungssystem beinhaltet.

7. Es ist ein öffentlich verantwortetes Bildungs- undQualitätsmonitoring im Vorschulalter einzuführen.Bildungsstandsmessungen beim Übergang in dieGrundschule sowie individuelle Bildungs- und Ent-wicklungsdiagnosen bei Drei- bis Vierjährigen sollenermöglichen, dass allen Kindern, insbesondere aberden von Benachteiligung bedrohten sowie jenen mitbesonderen Begabungen, individuelle Förderung an-geboten werden kann. Das Qualitätsmonitoring bein-haltet eine regelmäßige Berichterstattung über Quali-tätsindikatoren in verschiedenen Bereichen und derenVeränderung.

8. Das durchschnittliche Schuleintrittsalter von gegen-wärtig über 6,5 Jahren ist auf 6,0 Jahre abzusenken.Vorzusehen ist eine Ausweitung des Früherziehungs-systems auf jüngere Altersjahrgänge und eine stärkereBildungsorientierung der Kindertageseinrichtungen inVerbindung mit einer flexiblen Einschulung. Anzu-streben ist eine moderate Vorverlegung des Schulein-trittsalters bis 2010 um bis zu sechs Monate.

9. Öffentlich verantwortete Kindertagesbetreuung musskostenfrei werden. Beiträge der Eltern sind mit Blick auf den Bildungs-auftrag abzulehnen.

Empfehlungen zur Bildung, Betreuung und Erziehung im Schulalter1. Die Realisierung eines umfassenden Bildungskon-

zepts setzt eine grundlegende Veränderung derSchule sowie ein Zusammenspiel von Schule undanderen Bildungsorten und Lernwelten voraus.Schule muss zu einem Ort umfassender Gelegenheitenund vielfältiger Anregungen für Bildung werden.Dazu sind am Ort Schule lebenslagen- und altersspezi-fische Leistungen und Angebote der Jugendhilfe undanderer Bildungsträger einzurichten und vorzuhalten.

2. Der umfassende gesellschaftliche Anspruch auf Bil-dung erfordert ganztägige Angebote für Kinder undJugendliche im Schulalter. Sie sind schnellstmöglich und bestmöglich auf- undauszubauen. Ziele sind ein flächen- und bedarfs-

Page 52: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 42 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

deckendes Angebot sowie eine grundlegende pädago-gische Reform der Schule mit einer Rhythmisierungdes Tagesablaufs und der Einbeziehung alternativerLernformen. Für ihre Entwicklung kommen derSchule sowie der Kinder- und Jugendhilfe verantwort-liche und strukturierende Funktionen zu.

3. Das Zusammenspiel unterschiedlicher Bildungsorteund Lernwelten muss zu einer erweiterten Kompe-tenzentwicklung beitragen. Schwerpunkt muss dieVerknüpfung unterschiedlicher Bildungsorte undLernwelten sein. Lebensweltbezogene Leistungen und selbst organi-sierte Formen der Jugendhilfe sind unabhängig vonSchule in ihrem Eigensinn zu erhalten, und professio-nelle Dienstleistungen, Beratungs- und Unterstützungs-angebote der Jugendhilfe sind stärker auf das Systemganztägiger Bildung, Betreuung und Erziehung zu be-ziehen.

4. Maßstab des Aus- und Umbaus ganztägiger Ange-bote muss die individuelle Förderung von Kindernund Jugendlichen sein. Anstelle von Klassenwiederholungen und schulischerSelektion bei Leistungsunterschieden ist eine alters-,entwicklungs-, geschlechts- und lebenslagengerechteindividuelle Förderung aller Kinder und Jugendlichenerforderlich. Zu überdenken ist, ob der grundständigegemeinsame Schulbesuch von Schülern und Schüle-rinnen verlängert werden sollte.

5. Das Zusammenspiel unterschiedlicher Bildungsorteund Lernwelten muss strukturell und personell ge-sichert werden. Sowohl auf Seiten der Schule als auch der Jugendhilfesind organisatorische und strukturelle Voraussetzun-gen für eine Zusammenarbeit zu schaffen. Darüberhinaus sind weitere außerschulische Akteure, wie z. B.Vereine und Verbände sowie Institutionen der Kulturund die Wirtschaft als Kooperationspartner einzube-ziehen. In jedem kommunalen Jugendamt sollte ein ei-gener Arbeitsbereich „Jugendhilfe und Schule“ einge-richtet werden, der die Gesamtverantwortung desöffentlichen Trägers in diesem Feld angemessen wahr-nimmt.

6. Ganztagsschulen und ganztägige Angebote solltenvon multiprofessionellen Teams mit einem aufgaben-angemessenen Qualifikationsprofil aufgebaut undverantwortet werden. Erforderlich ist eine neue Form der Kooperation vonLehrpersonal und sozialpädagogischen Fachkräften.Dazu gehören ein neues Verständnis von Lehrerarbeitim Verhältnis von Unterricht und anderen Aufgaben,längere Präsenzzeiten in der Schule sowie die Ein-richtung individualisierter Lehrerarbeitsplätze in derSchule. Im Rahmen der Ausbildung ist bei den Lehr-kräften auf die Zusammenarbeit mit der Kinder- undJugendhilfe, bei den sozialpädagogischen Fachkräftenintensiver auf Bildungsaufgaben im Rahmen ganztägi-ger Angebote vorzubereiten.

7. Die Entwicklung von Ganztagsschulen erfordert einegrößere Selbstständigkeit der Einzelschule und einestärkere Vernetzung im Sozialraum. Der Aufbau ganztägiger Bildungsangebote setzt einegrößere Autonomie der Einzelschule voraus. Zudemmuss Schulentwicklung zu einer Entwicklung derSchullandschaft im kommunalen Raum zum Zweckder Einbindung von Schulen in sozialräumliche Netz-werke beitragen.

Empfehlungen im Lichte der Herausforderungen für ein neues System von Bildung, Betreuung und Erziehung

Die folgenden Empfehlungen beziehen sich auf das Kin-des- und Jugendalter insgesamt.

1. Das Zusammenspiel und die Abstimmung der Bil-dungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebote fürKinder und Jugendliche sind zu verbessern. Mehr vernetzte Angebote für Kinder und Eltern aus ei-ner Hand, „Häuser für Kinder“ bzw. „Häuser für Fa-milien“, eine wechselseitige Anbindung von Kinder-garten und Schule sowie aufeinander abgestimmteschulische und nicht-schulische Angebote könnendazu beitragen, dass die unterschiedlichen Lebens-und Lernwelten der Kinder enger verzahnt werden.Damit Stabilität und Verlässlichkeit in einem solchenSystem gesichert und die bestmögliche Förderung vonKindern erreicht wird, ist eine Entscheidungskompe-tenz vor Ort von maßgeblicher Bedeutung.

2. Das Zusammenspiel unterschiedlicher Bildungs-akteure und -gelegenheiten ist sozialräumlich auszu-gestalten und in kommunaler Verantwortung zu or-ganisieren. Ziel ist der Aufbau einer kommunalen Bildungsland-schaft als Infrastruktur für Kinder und Jugendliche,die getragen wird von Leistungen und Einrichtungender Schule, der Kinder- und Jugendhilfe, von kulturel-len Einrichtungen, Verbänden und Vereinen, Institu-tionen der Gesundheitsförderung sowie von privatenund gewerblichen Akteuren vor Ort. Ein vernetztesund verbindliches Zusammenspiel unterschiedlicherBildungsakteure erfordert größere Selbstständigkeitund mehr Handlungsmöglichkeiten der einzelnen In-stitutionen, insbesondere auch der Einzelschule.

3. Kommunale Bildungsplanung ist als integrierteFachplanung aufzubauen. Verengungen und Be-grenzungen der Teilsysteme Kinder- und Jugendhilfesowie Schule sind zugunsten eines konsistenten kom-munalen Gesamtsystems für Bildung, Betreuung undErziehung zu überwinden. Dazu sind kommunale Jugendhilfeplanung und Schul-entwicklungsplanung zu integrieren sowie mit derSozialplanung und der Stadtentwicklungsplanung ab-zustimmen. Zentraler Akteur einer solchen Bildungs-planung muss die Kommune sein. Zu prüfen ist, inwie-weit sich – gegebenenfalls noch weiter zuentwickelnde – partizipative Modelle der Jugendhilfe-planung auf integrierte Formen der Planung – unter Be-teiligung auch privater Anbieter – übertragen lassen.

Page 53: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43 – Drucksache 15/6014

4. Kommunale Bildungslandschaften erfordern eineneue Abstimmung und eine neue Justierung derrechtlichen Regelungen. Kommunen müssen als zentrale Akteure kommunalerBildungsplanung stärker bei der inhaltlichen Ausge-staltung der Schulen beteiligt werden. Auf Länder-und Bundesebene ist eine intensivere Kooperationzwischen Bildungs- und Jugendministerien erforder-lich.

5. Der Ausbau ganztägiger Angebote erfordert zusätzli-che finanzielle Anstrengungen und eine Anpassungder Finanzierungsstrukturen. Der Ausbau von Ganztagsplätzen in der Kindertages-betreuung sowie von Ganztagsschulen erfordert höherePersonalkosten und zusätzliche Mittel für Infrastruk-turmaßnahmen. Die höheren Kosten für ganztägigeAngebote im Schulalter können durch die Einbezie-hung von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nurbedingt kompensiert werden und auch Elternbeiträgestellen keinen akzeptablen Finanzierungsweg dar. An-gesichts der prekären Finanzlage vieler Kommunensind Möglichkeiten des finanziellen Ausgleichs zuschaffen. Angebote der Kinder- und Jugendhilfe sindals Teil einer kommunalen Bildungslandschaft stärkereinzubeziehen und unter Beteiligung der Länder so-wie, wo dies verfassungsrechtlich möglich ist, desBundes zu finanzieren.

6. Die Aus- und Weiterbildung der pädagogischenFachkräfte muss reformiert werden. Die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern istauf Hochschulniveau anzuheben. In der Aus- und Wei-terbildung von Sozialpädagogen bzw. Sozialpädago-ginnen und Lehrkräften an Hochschulen ist der Bil-dungsbezug generell zu stärken, auf die Kooperationmit anderen Berufsgruppen vorzubereiten, und inter-disziplinäre und institutionenübergreifende Perspekti-

ven sind zu integrieren. Erforderlich sind gemeinsameStudienanteile für das Lehramts- und das Sozialpäda-gogikstudium.

7. Planung und Steuerung muss auf der Basis gesicher-ten Wissens erfolgen. Angestrebt werden muss einsystematischer Auf- und Ausbau eines Systems zurQualitätsentwicklung und -steuerung aller Angeboteunter Beachtung der im vorliegenden Bericht ent-wickelten Kriterien. Notwendig sind als Grundlagen zur Bewertung undzur Verbesserung des angestrebten integrierten Bil-dungs-, Betreuungs- und Erziehungskonzepts zudemeine Systematisierung und Qualifizierung von Datenund Instrumenten einer bildungsbezogenen Sozialbe-richterstattung bei Bund, Ländern und Gemeinden.

8. Die empirische Bildungsforschung ist auf vor- undaußerschulische Bereiche auszuweiten. Die Kinder-und Jugendhilfestatistik ist über Einrichtungen hi-nausgehend auf Personen auszuweiten. Zusätzlich zur statistischen Routineberichterstattungbesteht Forschungsbedarf hinsichtlich unabhängigerquantitativer Evaluationsstudien, qualitativer Fallstu-dien zu Best-Practice-Modellen, vergleichender expe-rimenteller Interventionsstudien zu den Effekten ganz-tägiger Bildung, Betreuung und Erziehung sowiehinsichtlich einer verstärkten, einem breiten Bildungs-begriff verpflichteten empirischen Bildungsforschung.Zusätzlich sind Modellversuche einzurichten und un-abhängig zu evaluieren, um eine umfassende flächen-deckende Einführung ganztägiger Bildungs-, Betreu-ungs- und Erziehungsangebote vorzubereiten. Dieeinschlägigen öffentlich erhobenen Daten sind der Re-Analyse von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerin-nen in datenschutzrechtlich einwandfreier Weise zurVerfügung zu stellen.

Page 54: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 44 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Bildung, Betreuung und Erziehung vor und neben der Schule – eine Einleitung

Deutschland hat mit Blick auf sein öffentliches Bildungs-,Betreuungs- und Erziehungsangebot einen unübersehba-ren Nachholbedarf. Zu lange und zu einseitig hat die„alte“ Bundesrepublik nahezu ausschließlich auf Familieund Schule als den fraglos vorhandenen Stützpfeilern vonKindheit und Jugend gesetzt. Dabei war die Familie vorallem für die Betreuung und Erziehung der Kinder, dieSchule für die Bildung verantwortlich. Gemeinsam bilde-ten sie das Koordinatensystem für das mehr oder minderreibungslose Aufwachsen von Kindern in einer sich raschwandelnden Welt.1

Auch wenn die Zentrierung auf die Kombination aus Fa-milie und Schule typisch ist für alle modernen Industrie-staaten, so hat sich der Westen Deutschlands in seinemDenken und Handeln in dieser Hinsicht dennoch auf einespezifische und lange Zeit auch wirksame Variante ver-lassen: auf das selbstverständliche Zusammenspiel einergeschlechtsspezifisch organisierten Familie einerseits undeiner auf diesem Familienmodell aufruhenden Halbtags-schule andererseits. Vor allem durch die familieninterneRollenaufteilung mit einem berufstätigen Vater als demAlleinernährer und einer im Haushalt sorgenden Mutterließ sich auch die Halbtagsschule als Regelschule einiger-maßen problemlos realisieren. Nur so war die für die Kin-der notwendige Verlässlichkeit gewährleistet, nur sokonnte auch die frühkindliche Betreuung und Versorgungder Kinder privat ermöglicht werden.

Diese für das bundesrepublikanische Nachkriegsdeutsch-land bis in die 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts hinein ty-pische Konstellation des „Ernährermodells“ („malebreadwinner“), wie es in der Sozialpolitik genannt wird,ist im Lauf der Jahrzehnte brüchig geworden. So habenseither nicht nur deutlich mehr junge Frauen höhere Bil-dungsabschlüsse erworben, sondern sie werden anschlie-ßend auch weitaus häufiger erwerbstätig als noch ein,zwei Jahrzehnte zuvor. Aufgrund gestiegener Schei-dungszahlen tragen instabiler gewordene Ehegattenfami-lien zusätzlich dazu bei, dass das bundesdeutsche Famili-enmodell seine Selbstverständlichkeit eingebüßt hat undnicht mehr der alleinige Maßstab für die Organisation desAufwachsens von Kindern bleiben kann. Ein damit zu-sammenhängender Handlungsbedarf ist inzwischen un-übersehbar geworden. Nicht ohne Grund war deshalb imZehnten Kinder- und Jugendbericht bereits von einer„neuen Kultur des Aufwachsens“ und im Elften von ei-

nem „Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung“ dieRede.

Ausfluss dieser Entwicklung sind zwei in den letzten Jah-ren zum Teil breit geführte öffentliche Debatten, dieDiskussionen um Betreuung einerseits und um Bildungandererseits. Beide haben ihren Kern in den damit zusam-menhängenden, unzureichend geklärten Fragen, wer inwelcher Form und in welchem Umfang für die Bildung,Betreuung und Erziehung der nachwachsenden Genera-tion zuständig ist. Auch wenn der Betreuungs- und derBildungsfrage auf den ersten Blick eine je eigene Dyna-mik zugrunde liegt, sie in unterschiedlichen Kontextendiskutiert werden und auch zu unterschiedlichen Maßnah-menbündeln führen, haben sie dennoch in den Unzuläng-lichkeiten des Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungs-angebots ihren gemeinsamen Ursprung. Insoweit sind sie– diese Grundannahme ist für den Bericht leitend – Aus-druck eines gemeinsamen Problemzusammenhangs. Dieserlässt sich (a) aus der Sicht der Familie und der Betreu-ungsfrage, (b) aus Sicht der Schule und der Bildungs-frage, (c) aus der damit zusammenhängenden politischenDynamik der letzten Jahre sowie (d) aus der Verwoben-heit von Bildung, Betreuung und Erziehung skizzieren.

(a) Familie und Betreuung: Mit der Familie fängt fürfast alle Kinder alles an. Sie ist das Betreuungszentrum,sie ist die basale Lernwelt, in der Kinder aufwachsen, inder sie jenes Urvertrauen entwickeln und jene elementa-ren Fähigkeiten und Fertigkeiten erlangen können, die siebefähigen, sich zunehmend eigenständig in der Welt zubewegen. Damit kommt der Familie mit Blick auf die Bil-dung, Betreuung und Erziehung der Kinder eine ebensozentrale wie lebensbegleitende Schlüsselfunktion zu.

Im Lichte dieser elementaren Bedeutung hat die Bundes-republik lange Zeit auf die Autonomie, Unversehrtheitund Selbstregulationskraft der Familie gesetzt, hat unter-stellt, dass die Familie – flankiert insbesondere durchfinanzielle Leistungen sowie durch punktuelle Unterstüt-zungen seitens der Kinder- und Jugendhilfe (z. B. Kinder-garten, Familienbildung oder Erziehungsberatung) – zu-sammen mit der Halbtagsschule eine ausreichendeGrundlage für das Aufwachsen von Kindern bietet. Alleanderen Unterstützungsformen für Kinder, Jugendlicheund ihre Familien – allen voran eine ausgebaute Infra-struktur – haben demgegenüber stets nur eine marginaleRolle gespielt.

Unverkennbar haben sich jedoch die Rahmenbedingun-gen und die Hintergrundsannahmen für diesen deutschenWeg lange Zeit fast unmerklich, aber letztlich dennochfolgenreich verändert – teilweise verstärkt durch die Ent-wicklungen in den neuen Bundesländern. Dafür gibt esmehrere Indizien: So ist die Zahl der Familien – Eltern

1 Diese Ausführungen beziehen sich unübersehbar auf die Entwicklun-gen im Westen Deutschlands, auf die – angesichts der bestehendenMängel – schwerpunktmäßig auch die nachfolgenden Aussagen zie-len. Die DDR hatte von Anfang an einen anderen Weg der institu-tionellen Organisation von Bildung, Betreuung und Erziehunggewählt und insoweit auch eine andere Tradition in das wiederverei-nigte Deutschland eingebracht.

Page 55: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 45 – Drucksache 15/6014

mit mindestens einem Kind unter 18 Jahren – seit 1970um rund ein Drittel zurückgegangen, obgleich die Zahlder jungen Erwachsenen, also der Generation im gebär-fähigen Alter, im gleichen Zeitraum um mehr als10 Prozent gestiegen ist. Zeitgleich hat sich das Verhält-nis der Mehrgenerationen- zu Eingenerationenhaushaltenvon 10 : 4 auf 10 : 9 verschoben. Das heißt: Keine andereLebensform hatte in den letzten Jahrzehnten einen so star-ken Bedeutungsverlust zu verzeichnen wie die Familiebzw. die „Eltern-Kind-Gemeinschaften“.

Dies alles ist auf der einen Seite ein Effekt der demografi-schen Veränderungen, also Resultat einer „alternden Ge-sellschaft“, in der sich das Verhältnis der jüngeren zu denälteren Generationen sukzessive verschiebt. Auf der an-deren Seite deutet es aber auch auf einen Bedeutungsver-lust des traditionellen Familienmodells und des Ernährer-modells hin. Hinzu kommt darüber hinaus, dass derAnteil der Alleinerziehenden an allen Familien 1970 imWesten noch bei unter 9 Prozent, im Jahr 2004 im gesam-ten Bundesgebiet jedoch bei 20 Prozent lag. Auch diesunterstreicht, dass das traditionelle Muster der arbeitstei-ligen Ehegattenfamilie nicht mehr fraglos als Grundformdes Aufwachsens unterstellt werden kann – zumal diesesin Ostdeutschland so nie gegolten hat – und dass flankie-rende infrastrukturelle Unterstützungssysteme unabding-bar geworden sind.

Die damit einhergehenden unbewältigten Probleme einerverlässlichen Betreuung der Kinder jenseits der Familiehaben diesem traditionellen Familienmodell seine Selbst-verständlichkeit genommen. Dass die Lösung der Betreu-ungsfrage zwar keine hinreichende Antwort auf die Ver-wirklichung des Kinderwunsches, aber dennoch einnotwendiger Baustein zu seiner Realisierung ist, zeigtsich nicht zuletzt daran, dass die Anzahl der jährlich ge-borenen Kinder in den alten Bundesländern von über800 000 im Jahr 1970 auf 610 000 – inklusive Berlin – imJahr 2003 gesunken ist. Wurden 1970 noch 13,5 Geburtenauf 1 000 Einwohner gezählt, so waren es 2003 nur noch8,8 Geborene pro 1 000 Einwohner.2

Dies alles zusammengenommen macht deutlich, dass sichdie Lage der Kinder, Jugendlichen und ihrer Familien inzweifacher Hinsicht verändert hat: Auf der einen Seitedroht die „Lebensform Familie“ bzw. drohen „Eltern-Kind-Gemeinschaften“ – wie sie zusammenfassend in deramtlichen Statistik bezeichnet werden – in einer alterndenGesellschaft erheblich an Bedeutung zu verlieren, sinddabei, zu einem Minderheitenmodell zu werden. Von dereinstmaligen Gewissheit, dass sich junge Erwachsene inaller Regel nicht nur auf eine Partnerschaft einlassen,

sondern auch eine Familie, einen eigenen Zwei-Genera-tionen-Haushalt mit Kindern gründen, ist gegenwärtignicht mehr allzu viel zu spüren. Dies legen sinkende Ge-burtenraten ebenso nahe wie die abnehmende Anzahl vonFamilien. Wenngleich Kinderlosigkeit nicht überschätztwerden sollte, ist der Rückgang der jährlich geborenenKinder um rund ein Viertel aber doch beachtlich. Dass„Familie“ von jungen Menschen nicht mehr ohne weite-res als lebbar, nicht mehr als eine ebenso natürliche wieattraktive Lebensform angesehen wird, weist in dieseRichtung. Und deshalb ist dieses Themenfeld zu einer ge-sellschaftlich zentralen Angelegenheit auf der politischenZukunftsagenda geworden.

Auf der anderen Seite deuten diese Befunde an, dass dasZusammenspiel von Beruf und Familie, von individuellbevorzugten und gesellschaftlich möglichen Mustern derLebensführung nicht für uneingeschränkt machbar gehal-ten wird, dass die Übereinstimmung zwischen den Lebens-entwürfen von Frauen und Männern und den Bedarfenbzw. Bedürfnissen von Kindern zumindest nicht bruchlosrealisierbar erscheint. In diesem Sinne geht es hierbei umdie Gelingensbedingungen realisierter Elternschaft, alsoum die Bedingungen der Lebensform Familie und desAufwachsens von Kindern.

Hinter dieser Problematik verbergen sich jedoch mehr alsnur die Betreuungsfrage und mehr als nur die Versorgungmit einem ausreichenden Platzangebot in Kindertagesein-richtungen. Vielmehr geht es dabei – neben den Struktu-ren in einer kinderfeindlichen Arbeitswelt – auch um dieFrage einer insgesamt wachsenden Verunsicherung in Er-ziehungsfragen. Obgleich derartige Tendenzen ungleichschwieriger zu diagnostizieren sind und die Gefahr einerunangemessenen Krisenrhetorik nicht zu übersehen ist,häufen sich die Indizien, dass auch mit Blick auf die elter-liche Erziehung vieles nicht mehr so selbstverständlichist, wie noch vor einigen Jahrzehnten.

Viele hundert Millionen Euro, die jährlich für Erzie-hungsratgeber und Elternzeitschriften ausgegeben wer-den, eine deutliche steigende Zahl von Rat suchenden El-tern in Beratungsstellen sowie eine nicht zu übersehendeKonjunktur von populären Fernsehsendungen in SachenErziehung sind nur einige Anzeichen, die andeuten, dassin Fragen der Erziehung zumindest ein Orientierungsbe-darf besteht, den es so früher nicht gab (was u. a. auch mitdem zunehmenden Bildungsgrad von Eltern zu tun habenkönnte). In der Politik ist dieser Bedarf mit Blick auf diePrivatsache Erziehung unter dem Motto „Stärkung derErziehungskompetenz“ der Eltern – zumindest ansatz-weise – angekommen.

Aber auch in den Grenzbereichen des alltäglichen Erzie-hungsgeschehens wird – jenseits der in den Medien oftüberschätzten Fälle extremer Vernachlässigung, Gefähr-dung des Kindeswohls und von Missbrauch – ein steigen-der Bedarf an familienunterstützenden, -ergänzenden undbisweilen auch -ersetzenden Hilfen sichtbar. Das illustrie-ren sowohl die steigenden Zahlen im Bereich der ambu-lanten Hilfen zur Erziehung und der seelischen Behinde-rung als auch das immer dichter werdende Netz ansozialen Diensten für Kinder, Jugendliche und ihre Fami-

2 Dies liegt vor allem daran, dass neben abnehmenden Fertilitätsratenin der Nachkriegszeit und durch den „Pillenknick“ die Zahl der Frau-en im gebärfähigen Alter zurückgegangen ist. Frauen dieser Alterstu-fe bekommen also im Durchschnitt seit den 1980er-Jahren nicht im-mer weniger Kinder – das wäre ein kontinuierliches Absinken derFertilitätsrate –, sondern die Zahl der Geburten sinkt, weil die Anzahlder Frauen sinkt, die Kinder bekommen. Hinzu kommt, dass das Ab-sinken der Fertilitätsrate in Europa zum Teil auch mit einem zeitli-chen Hinausschieben einer Erstgeburt bei Frauen zusammenhängt,was statistisch zu einem „Verzögerungseffekt“ führt.

Page 56: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 46 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

lien. Auch dies deutet darauf hin, dass mit Blick auf dasAufwachsen von Kindern das generalpräventiv zugestan-dene Vertrauen in die Erziehungskraft der Familie auf-grund ihrer Privilegierung in Artikel 6 Abs. 2 der Verfas-sung kein Garant dafür ist, dass Erziehungsprozesse auchunter den gegebenen Rahmenbedingungen zur Zufrieden-heit aller einigermaßen undramatisch und unauffälligablaufen. Das Dilemma der Erziehungsfrage liegt, zu-gespitzt formuliert, darin, dass die elterliche Erziehungs-kompetenz als alltagsweltlich gegeben, als immer schonvorhanden vorausgesetzt wird – ungeachtet der Frage, wound wie dies denn erworben worden sein soll –, so dassdie eigene Verunsicherung als individuelle Unfähigkeitbetrachtet und infolgedessen tabuisiert wird.

Neben dem demografischen Problem zurückgehenderGeburtenzahlen finden sich Eltern mithin vielfach zwi-schen fehlenden Betreuungsmöglichkeiten und einer dif-fusen Verunsicherung in Erziehungsfragen wieder, mitdenen sich vor allem junge Frauen häufig – nicht zuletztin der eigenen Partnerschaft – allein gelassen fühlen.

(b) Schule und Bildung: Aber auch hinsichtlich desAufwachsens außerhalb der Familie hat Deutschland kei-nen Grund, sich auf irgendwelchen Lorbeeren auszuru-hen. Ganz abgesehen von einer steigenden Zahl an Kin-dern mit Migrationshintergrund – in aller Regel in sichschon eine bildungs- und sozialpolitische Herausforde-rung mit Blick auf die sprachliche, kulturelle und sozialeIntegration – macht auch ein inakzeptabel hoher Anteilvon Schülerinnen und Schülern in der so genanntenPISA-„Risikogruppe“ deutlich, dass das Thema Bildungebenfalls kein Anlass zur Beruhigung liefert. Insofern be-wegt sich auch der zweite Ort des Aufwachsens, dieSchule, keineswegs in ruhigem Fahrwasser. Alle Studiender letzten Jahre weisen darauf hin, dass neben den un-befriedigenden schulischen Leistungen auch die damitverbundene soziale Frage, d. h. die Überwindung derherkunftsabhängigen Unterschiede im deutschen Bil-dungssystem nicht wirklich gelöst wird.

Dahinter deutet sich ein Problem an, das mit dem traditio-nellen Familienmodell stärker zusammenhängt, als es aufden ersten Blick erscheinen mag: die stillschweigendeAnnahme einer allseits zeitlich belastbaren, umfassendverlässlichen und alltagskompetenten Familie. Nicht vonungefähr hat Anfang der 1990er-Jahre vor allem im Kon-text der Grundschule eine Debatte an Bedeutung gewon-nen, die die Frage der Verlässlichkeit in den Vordergrundrückte. Insoweit war die „verlässliche Halbtagsschule“auch eine Reaktion auf die schwindenden Möglichkeitenfamilieninterner Betreuungsressourcen. Und nachdem diePISA-Befragungen deutlich gemacht haben, dass vor al-lem in der Breite, aber auch in der Spitze die Resultateder befragten Schülerinnen und Schüler in Deutschlandzu wünschen übrig lassen, hat in kürzester Zeit der erneutvorgebrachte Vorschlag des Ausbaus von Ganztagsschu-len an politischer Dynamik gewonnen. Ganztagsschulewird gegenwärtig in Politik und Öffentlichkeit als richtigeAntwort auf die Bildungs- und Betreuungsdefizite derdeutschen Halbtagsschule betrachtet.

Spätestens mit dieser Entwicklung wurde die Betreuungs-debatte durch die Bildungsdebatte ergänzt. Ferner ver-mengten und überlagerten sich Bildungs- und Betreu-ungsfragen ebenso wie die lange Zeit getrennten Bereicheder vorschulischen und schulischen Kindheit. Im Kerngeht es hierbei um eine zeitliche und örtliche Entgren-zung der Bildung. Mit zwei Leitmotiven lassen sich diedamit zusammenhängenden Blickrichtungen umschrei-ben: „Bildung von Anfang an“ wurde zu einem Leitge-danken, mit dem die Bedeutung der Bildungsfrage in denersten Lebensjahren in den Mittelpunkt gerückt werdensollte; und „Bildung ist mehr als Schule“ sollte zum Aus-druck bringen, dass Bildungsprozesse von Kindern undJugendlichen weitaus weniger ortsgebunden sind, als oftunterstellt wird, d. h. dass sie diesseits und jenseits derSchule und des Unterrichts ablaufen. Unter diesem Ge-sichtspunkt stellt sich die Frage, wie Bildungsprozesse sogestaltet werden können, dass sie Kinder und Jugendlicheauf ganz unterschiedlichen Wegen und in möglichst brei-ter Form erreichen, neu und verschärft.

(c) Die politische Verantwortung für das Aufwachsen:Wenn man diese Entwicklungen in der Summe bilanziert,liegt der Schluss nahe: Deutschland hat ein Bildungs-,Betreuungs- und Erziehungsproblem. Es kann nicht län-ger darauf hoffen, dass sich das alles lebensweltlich in derAlltagspraxis von alleine regelt; vor allem, dass Familienbei erheblich veränderten Rahmenbedingungen immernoch so funktionieren wie vor 30, 50 oder 100 Jahren.Deutschland muss die politische Gestaltung der damitverbundenen Aufgaben in Angriff nehmen.

Lange Zeit wurde der Handlungsbedarf im Bereich vonBildung, Betreuung und Erziehung nicht gesehen, unter-schätzt oder gar ignoriert. Infolgedessen blieb auch dieSchule im Kern bislang unverändert, trotz Vorschlägenfür ein neues „Haus des Lernens“ sowie ersten Ganztags-schuldiskussionen Anfang der 1990er-Jahre. Lediglich imBereich der Kinderbetreuung hat sich Deutschland, nachmehreren vergeblichen Anläufen und zusätzlich unterDruck gesetzt durch ein traditionsbedingt erheblich stär-ker ausgebautes Platzangebot in den östlichen Bundeslän-dern, zu Beginn der 90er-Jahre eher zögerlich durchge-rungen, das Versorgungsangebot für die drei- bissechsjährigen Kinder auszubauen. Wenn auch halbherzig– lediglich in Form von Halbtagsplätzen – und mit erneu-ten zeitlichen Verzögerungen, ist die Zahl der Kindergar-tenplätze in Westdeutschland bis Ende der 90er-Jahredennoch erheblich ausgeweitet worden. Obgleich die ent-sprechenden Zahlen demografie- und finanzbedingt inOstdeutschland zeitgleich stark zurückgegangen sind, istdas relative Platzangebot dort in großen Teilen bis heutedeutlich günstiger als im Westen.

Erst seit 2002 wurde auf Bundesebene beschlossen, deneingeschlagenen Weg konsequent weiterzugehen und dasAngebot weiter auszubauen. Ergänzt werden sollte dasKindergartenangebot für die Drei- bis Sechsjährigen indoppelter Weise: einerseits durch eine – zumindest vomAnspruch her – tendenzielle Ausweitung auf die gesamteAltersspanne der Kindheit, also von der Geburt bis zum14. Lebensjahr, andererseits durch eine inhaltliche Aus-

Page 57: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 47 – Drucksache 15/6014

weitung auf Fragen der Bildung für diese gesamte Alters-phase. Demzufolge sollen öffentliche Bildungs-, Betreu-ungs- und Erziehungsangebote künftig so organisiertwerden, dass dadurch nicht nur ein Aufwachsen in einemneuen Zusammenspiel von privater und öffentlicher Er-ziehung, von Familie, Kindertagesbetreuung, von Schuleund außerschulischen, auch gewerblichen Angebotenebenso verlässlich wie qualifiziert möglich wird, sonderndass dadurch auch nachhaltige bildungs-, jugend-, fami-lien-, sozial- und arbeitsmarktpolitische Effekte zu erwar-ten sind. Nicht nur die Quantität steht infolgedessen aufder Agenda, sondern auch die Qualität der Angebote.

Spätestens seit dem Beschluss des Bundestags zur Ein-richtung des „Investitionsprogramms Zukunft Bildungund Betreuung – IZBB“ im Jahr 2002 und der darauf auf-bauenden, gemeinsam von Bund und Ländern am 12. Mai2003 unterzeichneten Verwaltungsvereinbarung auf dereinen Seite sowie dem Beschluss zum quantitativen undqualitativen Ausbau der Tagesbetreuung für unter Drei-jährige mit dem Inkrafttreten des „Tagesbetreuungsaus-baugesetzes – TAG“ am 1. Januar 2005 auf der anderenSeite sind die Weichen für ein umfassendes öffentlichesBildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebot im Kin-des- und Jugendalter gestellt. Zusammen mit dem bereitsEnde 1992 im Rahmen des Schwangerschaftsbegleitge-setzes vom Bundestag beschlossenen Rechtsanspruch aufeinen Kindergartenplatz ab Vollendung des dritten Le-bensjahres wird damit erstmalig in Deutschland eindurchgehendes Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungs-angebot für Kinder denkbar, liegt so etwas wie ein ver-lässliches und planbares Unterstützungsprojekt für Fami-lien im Bereich des Möglichen. In den nächsten Jahrensoll diese Entwicklung konsequent bedarfsabhängig vo-rangetrieben werden.

Mit dem Ausbau dieses Angebots werden mehrere Zielezugleich verfolgt:

– Familienpolitisch soll Familie unter den stark verän-derten Rahmenbedingungen einer modernen Lebens-führung als Lebensform attraktiver und ohne struktu-relle Benachteiligungen lebbar gemacht werden;

– geschlechterpolitisch soll die einseitige Bindung derFrauen an Haushalt und Kindererziehung überwundensowie die Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsfra-gen innerhalb der Partnerschaften von Frauen undMännern ebenso neu aufgeteilt werden wie zwischenStaat, Markt und Haushalt;

– arbeitsmarktpolitisch soll – insbesondere in Anbe-tracht der steigenden Zahl erwerbstätiger jungerFrauen – die Balance von Beruf und Familie, soll dieMöglichkeit verbessert werden, Kinderwunsch undBerufswunsch miteinander zu vereinbaren;

– sozialpolitisch soll die inakzeptable Abhängigkeit derBildungs- und Qualifizierungschancen der Kinder vonihrer sozialen Herkunft verringert und der Zusammen-hang von Einkommensarmut, Kinderarmut und Bil-dungsarmut durchbrochen werden;

– bildungspolitisch sollen die bislang ungenutzten Lern-und Bildungspotenziale vor und neben der herkömmli-chen Halbtagsschule verstärkt einbezogen und besserausgeschöpft werden;

– kindheits- und jugendpolitisch sollen Kinder undJugendliche nicht als eine neue Generation der Be-nachteiligten aufwachsen, sondern ein bedarfs- undsachgerechtes Angebot an Lern-, Bildungs- und Ent-faltungsmöglichkeiten erhalten, das sie auf eine unsi-cher gewordene Zukunft angemessen vorbereitet.

Der politische Handlungsbedarf in diesen Punkten ist in-zwischen deutlicher und offenkundiger als noch vor eini-gen Jahren. Die Kluft zwischen der realen und realisiertenLage von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien be-ginnt sich zu schließen.

(d) Bildung, Betreuung und Erziehung: Die damit ver-bundenen Ziele lassen sich in ein fachlich zukunftsträch-tiges und politisch organisierbares Konzept vor allemdann überführen und nutzbar machen, wenn es gelingt,das entsprechende Angebot im Kindes- und Jugendalterin einem Zusammenspiel von Bildung, Betreuung und Er-ziehung, also in Form eines aufeinander abgestimmtenBildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebots auszu-bauen.

Obgleich die Trias von „Bildung, Betreuung und Erzie-hung“ im Rahmen der Kindertagesbetreuung seit langemals Begründung für entsprechende Konzepte herangezo-gen wird, wurde bislang versäumt, die Besonderheit undden Eigensinn dieses Konzepts auszuweisen. Erst in derjüngsten OECD-Studie, dem Länderbericht zur „Politikder frühkindlichen Betreuung, Bildung und Erziehung inder Bundesrepublik Deutschland“, wurde von einer inter-nationalen Gruppe aus Expertinnen und Experten dieserauch international besondere Ansatz eines, wie sie es nen-nen, „sozialpädagogischen Bildungskonzepts“ herausge-hoben. „Die Sozialpädagogik in der frühkindlichen För-derung in Deutschland umfasst und integriert mindestensdrei Konzepte: Betreuung (care), Bildung (education) undErziehung (upbringing). Tatsächlich definiert das SGBVIII diese drei Konzepte als die Aufgaben der frühkindli-chen Förderung. Dies ist von entscheidender politischerBedeutung. Diese breit gefasste sozialpädagogische Be-griffsbildung … ist ... auch entscheidend als Ausdruckdes ganzheitlichen pädagogischen Ansatzes, bei dem Be-treuung, Bildung und Erziehung nicht voneinander zutrennen sind“ (Organisation for Economic Cooperationand Development [OECD] 2004a, S. 24).

So sehr die international zusammengesetzte Gruppe dieBesonderheit dieses Konzepts auch heraushob, so wenigist dies in der deutschen Realität selbstverständlicheGrundlage für das Gesamtangebot an öffentlicher und pri-vater Bildung, Betreuung und Erziehung. Und dies inzweifacher Hinsicht: So merkt zum einen der Berichtselbst an, dass in Deutschland innerhalb der Kindertages-betreuung „eine Vernachlässigung der Bildung in demDreiergespann aus Betreuung, Bildung und Erziehung er-kannt“ worden ist (ebd.). Zum anderen gilt auch umge-kehrt, dass die bildungslastige Schule die Themen Be-

Page 58: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 48 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

treuung und Erziehung bislang unterschätzt hat; dies zeigtschon die Debatte um die verlässliche Halbtagsschule.

Mehr noch: Es hat geradezu den Anschein, als würde inDeutschland bislang Betreuung, Erziehung und Bildungdoch eher im Nacheinander als eine aufsteigende Abfolgeim kindlichen Lebenslauf konzipiert und organisiert, alsofälschlicherweise

– Betreuung und Pflege als besondere Aufgabe und He-rausforderung in der frühkindlichen, besonders in dervorsprachlichen Phase;

– Erziehung als Einübung von Regeln und Verhaltens-weisen in der Kleinkindphase, insbesondere im Vor-schulalter sowie

– Bildung als spezifische Herausforderung und Aufgabeder Schule bzw. ab dem Schulalter verstanden.

Dieser impliziten Ordnung folgend, wurden auch dieAusbildung und die Organisation der entsprechenden An-gebote im öffentlichen Bildungs- und Erziehungswesenbislang hierarchisch geregelt:

– So sind Kinderpflegerinnen und insbesondere Tages-mütter als die am schlechtesten Ausgebildeten und amgeringsten Bezahlten vor allem für die Phase der unterDreijährigen und damit für die Betreuung und Pflegezuständig.

– Im Unterschied dazu übernehmen im Kindergartenüberwiegend die an Fachschulen und damit auf mittle-rem Niveau ausgebildeten Erzieherinnen die Erzie-hung der Kinder, vor allem die Einübung in die sozia-len Regeln und die informellen kulturellen Technikendes sozialen Umgangs.

– Ab dem Schulalter sind die an Hochschulen ausgebil-deten und auch ökonomisch entsprechend besser ge-stellten Lehrerinnen und Lehrer für die Aufgabe dersystematisierten Vermittlung des Lernstoffes unddamit für die Frage der Bildung verantwortlich (undwerden insoweit auch besser bezahlt als beispiels-weise die Fachkräfte, die sich außerhalb der Schuleum Betreuungs- und Erziehungsfragen kümmern).

In gewisser Weise spiegeln damit die verwendeten Be-griffe des jeweils zuständigen Personals sogar ungewolltdiese implizite Sichtweise des Nacheinanders von Betreu-ung/Pflege, Erziehung und Bildung durch die Begriffe„Kinderpflegerin“, „Erzieherin“ und „Lehrer/Lehrerin“.

In deutlichem Unterschied zu dieser altersmäßigen Auf-teilung im Nacheinander von Betreuung, Erziehung undBildung fügt dieser Bericht viele Argumente für eine auf-einander abgestimmte Sichtweise für das gesamte Kin-des- und Jugendalter zusammen. Die bisherige Parzellie-rung sollte durch ein konsequenteres Ineinander vonBildung, Betreuung und Erziehung überwunden werden.Deshalb muss sowohl „Bildung von Anfang an“ zu einemkonzeptionellen Anspruch als auch „Betreuung und Er-ziehung“ zu einem integralen Bestandteil einer auf ganz-tägige Angebote ausgerichteten (Ganztags-)Schule wer-den, so dass am Ende beide Redewendungen ihre

Gültigkeit besitzen: „Bildung ist mehr als Schule“ wieauch umgekehrt „Schule ist mehr als Bildung“.

Um diesem Anspruch im Ansatz gerecht werden zu kön-nen, müssen alle drei Begriffe deutlicher als dies bislangder Fall war, in ihren Gemeinsamkeiten, ihren Besonder-heiten und ihren jeweiligen unterschiedlichen Aspektenausformuliert werden. In der Vergangenheit lag diesesSelbstverständnis der Förderung von Kindern allenfallsunausgesprochen zugrunde. Vor diesem Hintergrund er-halten die drei Begriffe eine besondere Bedeutung:

– Bildung: Auf breiter Ebene spätestens seit der erstenPISA-Studie im Jahre 2001, in Fachkreisen aber schondeutlich früher, ist eine Diskussion darüber entbrannt,ob und inwieweit für alle in Deutschland lebendenKinder ausreichende Bildungsangebote zur Verfügungstehen. Und aus Sicht der Kommission ist die Fragehinzuzufügen, ob sie in und neben der Schule das Not-wendige und das Richtige in einer angemessenen Zeitlernen. Neben den kognitiven Aspekten mangelnderLeistungsfähigkeit hat die deutsche Fachdebatte vorallem auch den Blick dafür geschärft, dass Bildungweiter gefasst werden muss als nur in ihrer schuli-schen Form. „Als Prozess der persönlichen Entwick-lung, der Kultivierung und Integration der Persönlich-keit unter Einbeziehung kognitiver, sozialer,kultureller und ethischer Aspekte“, wie dies dieOECD-Gruppe formuliert (OECD 2004a, S. 24), gehtes hier um die umfassende Aneignung derjenigen Fä-higkeiten und Fertigkeiten, jenes Wissens und Kön-nens, das zu einer eigenständigen Lebensführung imErwachsenenalter notwendig ist (vgl. dazu ausführlichKapitel 2).

– Betreuung: Mit dem Beschluss des Gesetzgebers aufEinführung eines Rechtsanspruchs auf einen Kinder-gartenplatz im Jahre 1992 wurde erstmals jenseits derSchulpflicht von staatlicher Seite die Gewährleistungeines Betreuungsangebots für Kinder ab der Vollen-dung des dritten Lebensjahrs bis zur Einschulungübernommen. Auch wenn die Realisierung noch ei-nige Jahre auf sich warten ließ und in Westdeutschlandmeist nur mit dem Anspruch auf einen Halbtagskin-dergartenplatz verbunden war, wurde damit dennochder Startschuss gegeben für den Ausbau eines Betreu-ungsangebots, der seither kein Ende gefunden hat.

Auch wenn dieses Angebot immer verkürzt als „Be-treuung“ bezeichnet worden ist, geht es doch deutlichüber die zeitweilige Zuständigkeitsverlagerung derVerlässlichkeit von der Familie auf öffentliches Perso-nal und eine damit verbundene „Aufsicht“ hinaus. Be-treuung umfasst hierbei vielmehr die physische Ver-sorgung, Ernährung und Pflege von Kindern, meintaber auch Unterstützung und Hilfe, also das, was manim Englischen mit dem Begriff „care“ umschreibenkann. Zuwendung, Sorge und der Aufbau von Bin-dung sowie einer persönlichen Beziehung – im Ju-gendalter bisweilen auch „Beziehungsarbeit“ ge-nannt – umfasst in etwa das, was Betreuung zu weitmehr macht als zu einem verlässlichen Angebot in derTradition einer Bewahrpädagogik.

Page 59: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 49 – Drucksache 15/6014

– Erziehung: Obgleich die Erziehung als Recht undPflicht der Eltern Verfassungsrang besitzt – lediglichergänzt durch den Bildungsauftrag der Schule –, kannimmer weniger selbstverständlich davon ausgegangenwerden, dass dieses Recht und diese Pflicht von Elterngleichermaßen gekonnt wie selbstverständlich umge-setzt wird. Zum einen häufen sich die Indizien auf pro-blembelastete Biografien von Kindern und Jugend-lichen, steigen die öffentlichen Nachfragen nachBeratung und Hilfe in Erziehungsfragen, ist das Aus-maß der so genannten PISA-„Risikogruppen“ zu groß,als dass dies allein auf die Bildungsunwilligkeit oder-unfähigkeit von Kindern und Jugendlichen zurückge-führt werden kann. Zum anderen ist aber auch eine la-tente Erziehungsunsicherheit zu konstatieren, die esEltern schwerer macht, einfach unbekümmert ihremErziehungsauftrag gerecht zu werden. Infolgedessenhat die Jugendministerkonferenz bereits im Jahre 2003eine Stärkung der Erziehungskompetenz gefordert.

Die Kennzeichnung der heutigen Gesellschaft als „Multi-optionsgesellschaft“ kann in diesem Zusammenhangebenso als Gewinn wie als Problem umschrieben werden.Mit der zunehmenden Vielfalt von Optionen, derEnthierarchisierung von Generationenbeziehungen, derÜberwindung von Rigidität in Erziehungsstilen und derDemokratisierung von Familienverhältnissen – Familien-forscher sprechen von einem Wechsel „vom Befehls- zumVerhandlungshaushalt“ – geht auch ein Verlust an Nor-mierung und Verbindlichkeit sowie einer Einheitlichkeitvon Lebensstilen einher. Eine Gesellschaft, die sich durchPluralität und eine hohe Bedeutung der Autonomie desEinzelnen auszeichnet, nimmt notgedrungen in Erzie-hungsfragen den Verlust an Eindeutigkeit in Kauf. Wenninfolge der damit einhergehenden Unübersichtlichkeit Er-ziehung eher vermieden und durch eine bloße Hoffnungauf eine sich von alleine entfaltende Form der Selbster-ziehung und Selbstregulation ersetzt wird – und nichtdurch die Befähigung dazu –, dann fehlen den nachwach-senden Generationen mit großer Wahrscheinlichkeitwichtige Gelegenheiten in punkto sozialmoralischerOrientierung und habitueller Sicherheit, die nicht automa-tisch an anderer Stelle substituiert werden. Die populäreRede von einer Stärkung der elterlichen Erziehungskom-petenz gewinnt vor diesem Hintergrund an handfester Re-levanz.

Die genannten drei Dimensionen einer Förderung vonKindern und Jugendlichen – Bildung, Betreuung und Er-ziehung – bilden einen inneren Zusammenhang, dessenRelevanz vor allem dann sichtbar wird, wenn die einzel-nen Dimensionen jeweils für sich betrachtet werden undsich dann als defizitär erweisen. Und dennoch stellt sichdabei ein bis heute nicht zureichend geklärtes Problem:die ungleichen Möglichkeiten, Bildung, Betreuung undErziehung zu einem expliziten Thema, zu einem eigenenGegenstand der Vermittlung zu machen, der planbar, ge-staltbar, bearbeitbar ist. Während dies bei der Bildung,wie man an der Schule anschaulich sehen kann, vor allemin allen wissens- und könnensbasierten Bereichen un-schwer möglich ist, entzieht sich Betreuung und Erzie-hung einer dementsprechenden Zugänglichkeit. Während

Bildung gewissermaßen die Auseinandersetzung über„etwas Drittes“, über Inhalte ist, die in der Regel außer-halb der beteiligten Personen und ihrer zwischenmensch-lichen Beziehung liegen, unterliegt Betreuung und Erzie-hung dem Modus der Selbstbezüglichkeit, ist also auf diebeteiligten Personen selbst verwiesen.

Aus dieser Ausgangslage lässt sich nur ein Schluss zie-hen: Wenn in einem aufeinander abgestimmten Bildungs-,Betreuungs- und Erziehungsangebot alle drei Dimensio-nen gleichermaßen zur Geltung kommen sollen, dannkann nur „Bildung“ als Motor fungieren. Nur sie kann diebeiden anderen Dimensionen mittransportieren. Wäh-rend „Bildung“ etwas Produkthaftes, etwas personenun-abhängig Beschreibbares an sich hat, haftet der Betreu-ung und der Erziehung etwas ungleich weniger Fassbaresan. Sie drückt sich eher in Haltungen, Einstellungen oderim zwischenmenschlichen Umgang und nicht sosehr invorzeigbarem Wissen, in überprüfbaren Leistungen, inFähigkeiten und Fertigkeiten aus. Oder anders formuliert:In dem Augenblick, in dem so etwas wie Betreuung oderErziehung geschieht, also „produziert“ wird, so der ent-sprechende Grundgedanke in der Dienstleistungstheorie,wird es gewissermaßen auch schon wieder verbraucht,also „konsumiert“; Produktion und Konsumtion gehenfließend ineinander über und Interaktion wird zur Arbeit(„Beziehungsarbeit“). Vor allem in Anbetracht dieserAusgangslage stellt die Kommission die Frage der Bil-dung in diesem Bericht in den Mittelpunkt, gewisserma-ßen als Motor für die Trias von Bildung, Betreuung undErziehung und für ein aufeinander abgestimmtes Bil-dungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebot.

Bildung ist genauso wenig wie Betreuung oder ErziehungSelbstzweck. Es sind jene Dimensionen, mit denen eineGesellschaft das Aufwachsen der nachkommenden Gene-ration zu regeln und zu ordnen versucht; das ist die ge-sellschaftliche Seite von Bildung, Betreuung und Erzie-hung. Zugleich sind es aber auch jene Dimensionen, mitdenen Kinder und Jugendliche in die Lage versetzt wer-den sollen, ihren eigenen Lebensweg und ihre eigene Le-bensführung kompetent zu regeln. Dies setzt voraus, dasssie nicht zu Objekten, sondern zu Ko-Subjekten des Bil-dungs-, Betreuungs- und Erziehungsgeschehens werden;dies ist die subjektbezogene Seite von Bildung, Betreu-ung und Erziehung. Bildungs-, Betreuungs- und Erzie-hungsprozesse müssen deshalb so gestaltet werden, dassKinder und Jugendliche zu aktiv Beteiligten werden, diedas Angebotene sich aneignen, es also annehmen oder ab-lehnen können. Dabei wird die Frage der sozialen Aner-kennung, der Akzeptanz der eigenen Person für Heran-wachsende auf dem Weg des Erwachsenwerdens zu einerwichtigen Randbedingung, damit Bildungs- Betreuungs-und Erziehungsprozesse erfolgreich zu dem beitragen,was sie sollen: zu einer eigenständigen, kompetenten, so-zial verantwortlichen Persönlichkeit.

Infolge der geschilderten Defizite im Zusammenspiel vonprivater und öffentlicher Verantwortung ebenso wie vonBildung, Betreuung und Erziehung hat sich Deutschlandnunmehr endgültig auf den Weg gemacht – getragen vonnahezu allen gesellschaftlichen Kräften –, diesen Miss-

Page 60: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 50 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

stand zu beseitigen: Mit den Konzepten von Bildung undBetreuung im Rahmen von Ganztagsschulen einerseitsund dem Ausbau der Betreuung für unter Dreijährige an-dererseits sollen nachhaltige Wirkungen erzielt werden.Beide von der Politik aufgegriffenen Problembereichesind Ausdruck dieses Defizits, wobei es in unterschiedli-cher Weise und Konnotation dabei um ein Zusammen-spiel der Fragen von Bildung, Betreuung und Erziehunggeht. Nur in einer konsequent komplementären Berück-sichtigung dieses Dreiklangs kann es gelingen, weiterfüh-rende Antworten auf diese grundlegenden Herausforde-rungen für Deutschland am Beginn des 21. Jahrhundertszu finden. Jenseits der damit verbundenen finanziellengesamtstaatlichen Belastungen und der unübersehbarschwierigen fiskalischen Rahmenbedingungen für einenerfolgreichen Ausbau an Ort und Stelle wird es größterAnstrengungen bedürfen, um diese elementare Aufgabein den nächsten Jahren bedarfs-, fach- und sachgerecht zubewältigen.

Dass bei der Umgestaltung der Bildungs-, Betreuungs-und Erziehungsangebote viele Einflussgrößen und Fak-toren gar nicht so eindeutig und die zu stellenden Fragen– auf die zum Teil politisch bereits Antworten gegebenwerden – noch gar nicht ausformuliert wurden, ge-schweige denn wissenschaftlich abgesicherte Antwortenmöglich sind, ist Ausgangspunkt und Anlass für diesenBericht. Mitten in einem bereits angelaufenen Prozess desAus- und Umbaus der öffentlichen Bildungs-, Betreu-ungs- und Erziehungsangebote in, vor und neben derSchule kommt es darauf an, einen Bezugspunkt außerhalbder politischen Aufgeregtheiten zu formulieren, der genü-gend fachliche Grundlagen und wissenschaftlich abgesi-chertes Wissen bietet, um frühzeitig weiterführende Ent-scheidungen ebenso zu fundieren wie evtl. notwendigwerdende Korrekturen und Weiterentwicklungen. DerBericht versucht im Rahmen seiner Möglichkeiten, fürden schwierigen Prozess notwendiger politischer Ent-scheidungen wichtige Anregungen zu geben.

Page 61: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 51 – Drucksache 15/6014

Teil A Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und konzeptionelle Grundlagen

1 Rahmenbedingungen des Aufwachsens

1.1 Bildung, Betreuung und Erziehung im Kontext gesellschaftlicher Entwicklung

Die hohe Aufmerksamkeit, die heute dem Prozess desAufwachsens und der Bildung, Betreuung sowie Erzie-hung von Kindern und Jugendlichen zukommt, ist histo-risch gesehen ein relativ junges Phänomen. Zwar wurdenKindheit bereits im 16./17. Jahrhundert und Jugend im18. Jahrhundert als eigenständige Lebensphasen „ent-deckt“, erst seit dem 19. Jahrhundert entwickelte sich je-doch vor dem Hintergrund des Bewusstwerdens ihrer Be-deutung sowohl für die subjektive Lebensgestaltung alsauch für die Zukunft der Gesellschaft ein öffentliches In-teresse an der Gestaltung kindlichen und jugendlichenHeranwachsens (Honig 2002, S. 311; Dudek 2002,S. 336). Herrschten zunächst noch weitgehend interven-tionistische und fürsorgerische Motive vor, so setzte sichim Lauf des 20. Jahrhunderts zunehmend ein an Unter-stützung und Förderung von Kindern und Jugendlichenorientiertes Selbstverständnis durch (Tenorth 1988). Engverknüpft war dieser Bedeutungswandel mit der Verände-rung des Kindheitsbildes: Wurden Kinder im Prozess desAufwachsens zunächst als passive Subjekte wahrgenom-men, die in ihrem Dasein und Werden gänzlich von denErziehenden abhängig sind, so werden sie heute als Sub-jekte mit eigenem Recht betrachtet, die ihre Entwicklungaktiv mitgestalten. Waren Ende des 19. und Anfang des 20. JahrhundertsKindheit und Jugend im Zuge der Trennung von Familieund Arbeit durch Prozesse der „Familialisierung“ und der„Scholarisierung“ charakterisiert, so entwickelte sich imLaufe des 20. Jahrhunderts mit der weiteren Ausdifferen-zierung gesellschaftlicher Teilsysteme ein eigenständigesfamilienergänzendes Betreuungs- und Erziehungssystemsowie ein mehrgliedriges Bildungssystem. Deren heutigeStruktur mit sich ergänzenden Betreuungs- und Erzie-hungsfunktionen von Familie und Jugendhilfe und derhiervor weitgehend separierten Bildungsfunktion im schu-lischen System wurde wesentlich durch die rechtlichenund gesellschaftlichen Entwicklungen in der früherenBundesrepublik Deutschland gestaltet, das mit der Wie-dervereinigung auf das ehemalige Gebiet der DeutschenDemokratischen Republik übertragen wurde. Damitwurde die dortige enge Verknüpfung von Bildung, Betreu-ung und Erziehung in staatlichen vorschulischen und au-ßerschulischen Institutionen unter einer kollektivistischenOrientierung aufgehoben und an das System einer im We-sentlichen voneinander abgegrenzten privat-familialenund öffentlich-schulischen bzw. sozial-fürsorgerischenOrganisation des Aufwachsens angepasst. Während sichmittlerweile – mit dem rechtlichen Anspruch auf einenKindergartenplatz und unter dem Einfluss einer zuneh-menden Erosion des männlichen „Ernährermodells“ (Leit-ner u. a. 2004) – familiäre und familienergänzende öffent-

liche Betreuung und Erziehung immer stärker aufeinanderzubewegt haben, wurde die Alleinzuständigkeit derSchule für Bildung bislang kaum hinterfragt und die Ab-wehr des Bildungssystem, in breiterem Umfang erzieheri-sche Funktionen zu übernehmen, weitgehend hingenommen.

Erst im Rahmen der aktuellen öffentlichen Debatte umdie Leistungsfähigkeit des allgemeinen Bildungswesens,die durch Zweifel an der „Zukunftsfähigkeit“ der jungenGeneration angesichts internationaler Leistungsverglei-che ausgelöst wurden und im „PISA-Schock“ gipfelten,wird diese Grenzziehung mit Blick auf die Reproduktionund Weiterentwicklung der Gesellschaft zur Dispositiongestellt.3 Ähnlich wie nach dem Ausrufen der „Bildungs-katastrophe“ im Jahr 1964 durch Picht wird auch heutebefürchtet, dass Deutschland im internationalen wissen-schaftlichen und ökonomischen Wettbewerb den An-schluss verlieren könnte und wiederum wird auf brachlie-gende Leistungspotenziale in der Schülerschaft aufgrundherkunftsbedingter Benachteiligung hingewiesen. An-ders als in den 1970er-Jahren geraten heute jedoch ver-stärkt auch Betreuungs- und Erziehungsressourcen derFamilie und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfein den Blick. Angeregt durch neue wissenschaftliche Er-kenntnisse zu Bildungspotenzialen in der frühen Kindheitund die Diskussion um den „Funktionsverlust der Fami-lie“ bei gleichzeitiger Betonung des Einflusses der Fami-lie auf Bildungsprozesse wird Bildung zu einem Themafür die frühkindliche öffentliche Betreuung und Er-ziehung sowie für die Förderung von Kindern und Ju-gendlichen außerhalb der Schule. Zusätzlich werdenBetreuungs- und Erziehungsaufgaben des schulischenBildungssystems eingeklagt. Damit wird eine ganzheitli-che und biografische Perspektive auf das Aufwachsen so-wie auf Lern- und Bildungsprozesse eingenommen, dienicht allein in sozial- und erziehungswissenschaftlichenDisziplinen, sondern auch in der Bildungsökonomie em-pirisch fundiert wird, wie z. B. vom Nobelpreisträger fürWirtschaft James J. Heckman (2000).

Dass sich Zielsetzungen, Problemdiagnosen sowie praxis-orientierte und politische Reformvorschläge für eine bes-sere Ausschöpfung von gesellschaftlichen Bildungspoten-zialen nicht mehr allein auf den Prozess des Aufwachsensin, sondern auch vor und neben der Schule richten, kannals Resultat einer Kumulation von gesellschaftlichen Ent-wicklungen im Bereich der Demografie, der Wirtschaftund des Arbeitsmarktes sowie damit einhergehender Pro-bleme aufgrund gesellschaftlich-historischer Ereignisse,wie der Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutsch-land, betrachtet werden. Zwar werden Richtung, Reich-weite und Risikopotenziale dieser Entwicklungen in Fach-

3 Zur PISA-Studie vgl. die Kurzdarstellung im Glossar (Anhang), indem ausgewählte, im Bericht häufiger vorkommende Studien undFachtermini knapp beschrieben werden.

Page 62: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 52 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

zirkeln bereits seit längerem diskutiert, doch erst mit dengegenwärtigen politischen Umsteuerungsmaßnahmen, diesich – wie z. B. die Hartz-Gesetze, die Gesundheitsreformund die Rentenstrukturreform – bis in die Lebensführungder Einzelnen hinein auswirken, dringen sie in dasBewusstsein einer breiten Bevölkerung. MangelndeBildungsleistungen von Schülerinnen und Schülern, dieFragen nach der Positionierung Deutschlands im interna-tionalen Wettbewerb aufwerfen, entfachen öffentliche De-batten um die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft und dieLebensbedingungen der Bevölkerung. Der Zusammenhang von Bildung, Betreuung und Erzie-hung erhält in diesem Kontext nicht allein deswegen einehohe Aufmerksamkeit, weil die junge Generation als„Zukunft der Gesellschaft“ deren Reproduktion und Wei-terentwicklung sichern soll, sondern auch, weil es imRahmen der „öffentlichen Verantwortung für das Auf-wachsen“ von Kindern und Jugendlichen (Bundesministe-rium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend [BMFSFJ]2002b) Aufgabe von Staat und Gesellschaft ist, den He-ranwachsenden eine bedürfnisgerechte und selbst be-stimmte Gestaltung ihres Lebens zu ermöglichen und ih-nen Chancen für den Erwerb von Kompetenzen zueröffnen, die ihnen eine eigenständige und eigenverant-wortliche Lebensführung ermöglichen. Überlegungenzum Um- und Ausbau des Bildungs-, Betreuungs- und Er-ziehungssystems müssen deswegen gesellschaftliche An-forderungen mit subjektiven Bedürfnissen und Fähigkei-ten sowie mit kindlichen bzw. jugendlichen Lebenslagenverknüpfen. Vor dem Hintergrund gesellschaftlichen Wan-dels, der Kindern und Jugendlichen in den Gegebenheitenund Entwicklungen ihrer sozialräumlichen Umwelt entge-gentritt, geraten Stabilitäten und Veränderungen in denLebenswelten der jungen Menschen in das Zentrum derBetrachtung. Dabei richtet sich im Folgenden die Auf-merksamkeit insbesondere auf familiäre, mediale, inter-kulturelle bzw. internationale und demografische Wand-lungsprozesse und Kontinuitäten. Inwieweit Kinder undJugendliche Chancen des Zugangs zu und der Teilhabe anunterschiedlichen Lebenswelten erhalten, wird mit Blickauf gesellschaftlich und sozial strukturierende Rahmenbe-dingungen im Kontext sozio-ökonomischer Lebenslagen,ethnischer Herkunft, Geschlecht und regionaler Bedin-gungen reflektiert.

1.2 Die Entwicklung der Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen

1.2.1 Kontinuitäten und Diskontinuitäten familialer Lebenswelten

Die primäre Lebenswelt von Kindern und Jugendlichenist die Familie. Ungeachtet der historischen Ausweitunginstitutioneller und staatlicher Erziehungs- und Bildungs-einflüsse kommt ihr eine zentrale Stellung für das Auf-wachsen von Kindern und Jugendlichen zu (Büchner2002; Ecarius 2002; Wissenschaftlicher Beirat für Fami-lienfragen 1998). Die Beobachtung und Analyse des ge-sellschaftlichen Wandels von Familienstrukturen und fa-miliären Beziehungen bildet deswegen einen zentralenAusgangspunkt für eine zukunftsorientierte Gestaltungvon Entwicklungs- und Bildungsprozessen im Kindes-und Jugendalter. Sie können Auskunft darüber geben,

welche Kommunikations- und Unterstützungspartner denKindern und Jugendlichen in der Familie in welchemzeitlichen Umfang zur Verfügung stehen, und bieten Hin-weise darauf, ob die familiären Lebenswelten im Prozessdes Aufwachsens durch soziale Kontinuitäten oder Dis-kontinuitäten geprägt sind. Zu berücksichtigen ist aller-dings, dass familienstrukturelle Bedingungen nicht diesozio-emotionale Qualität der Beziehungen in der Familiedeterminieren. Ihnen kommt vielmehr ein eigenständigerStellenwert für die Aneignungsprozesse von Kindern undJugendlichen zu (vgl. hierzu Kapitel 3 und Abschnitt 4.2).

Kinder und Jugendliche wachsen überwiegend mit einemGeschwisterkind in Lebensformen auf, die dem „Normal-entwurf“ der ehelichen Zwei-Eltern-Familie entsprechen.Gleichwohl leben sie häufiger als früher in „alternativenFamilienformen“: in nicht-ehelichen Paargemeinschaften,in Stieffamilien und Alleinerziehendenhaushalten.4 Dabeizeigen sich deutliche Differenzen in den familiären Le-bensverhältnissen von Kindern zwischen den alten undden neuen Bundesländern. In Ostdeutschland hat sich ineiner sehr viel kürzeren Zeitspanne und in einem größe-ren Umfang der Anteil von unter 18-Jährigen in ehelichenHaushalten verringert. Gleichzeitig wachsen erheblichmehr Kinder bei Alleinerziehenden auf als in West-deutschland (vgl. Abb. 1.1), was wesentlich auf den ho-hen und wachsenden Anteil nicht-ehelicher Geburten zu-rückgeführt werden kann (vgl. Tab. A-1.1 im Anhang).

A b b i l d u n g 1.1

Kinder unter 18 Jahren in Familien nach Familientyp (1961 bis 2003; in Prozent)

Quelle: Bayer/Bauereiss 2003, S. 293; Statistisches Bundesamt 2004a,S. 27; Datenbasis/Berechnungsgrundlage: Volkszählungen 1961, 1970,übrige: Mikrozensus

4 Vgl. hierzu die Beiträge in Bien/Marbach 2003.

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

1961

1970

1980

1985

1990

1991

1995

2000

2003

Ehepaare West

Ehepaare Ost

Alleinerziehende Ost

Alleinerziehende West

Page 63: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 53 – Drucksache 15/6014

Einen Eindruck vom Wandel kindlicher Familienweltenund der Vielfalt von Familienformen, in denen Kinderund Jugendliche heute häufiger als vor einem bzw. zweiJahrzehnten leben, sowie von den Unterschieden ihrerLebensverhältnisse in Ost- und Westdeutschland vermit-teln kindorientierte Auswertungen der Daten des Famili-ensurveys des Deutschen Jugendinstituts).5 Ihnen zufolgeleben Kinder in West- und deutlich ausgeprägter noch inOstdeutschland häufiger in nicht-ehelichen Lebensge-meinschaften, in Stiefelternkonstellationen sowie bei Al-leinerziehenden und werden zunehmend seltener ehelichgeboren, wobei voreheliche Geburten in Ostdeutschlandzwischen 1991 und 1994 zunächst zugenommen, bis2000 jedoch wieder abgenommen haben (vgl. Abb. 1.2).

Die Ergebnisse des DJI-Familiensurveys deuten darüberhinaus darauf hin, dass Kinder und Jugendliche im Al-tersverlauf im Jahr 2000 häufiger als 1988 (früheres Bun-desgebiet) bzw. 1991 (neue Bundesländer) in wechseln-den Familientypen leben. So erhöht sich der Anteil vonwestdeutschen Kindern und Jugendlichen, die bei Allein-erziehenden aufwachsen, bis zum 17. Lebensjahr konti-

nuierlich – ein Hinweis insbesondere darauf, dass Kinderund Jugendliche häufig mit der Trennung und der Schei-dung ihrer Eltern konfrontiert sind. Die Scheidungsrateist hier seit 1990 relativ kontinuierlich von 2 auf 2,67 imJahr 2003 (Scheidungen je 1 000 Einwohner) gestiegen.In Ostdeutschland liegt sie nach einem deutlichen Ein-bruch nach der „Wende“ mittlerweile bei 2,2. Dort deutenaltersbezogene Schwankungen in der Zugehörigkeit vonKindern zu unterschiedlichen Familienformen darauf hin,dass die Heranwachsenden stärkere Transformationen desFamilienlebens und somit Diskontinuitäten im Verlaufdes Aufwachsens erleben (Alt 2003).

Unterschiede in den Lebenssituationen von ost- und west-deutschen Kindern und Jugendlichen zeigen sich auch inden geringeren Geschwisterzahlen in den neuen Bundes-ländern. Vor allem zwei und mehr Geschwister sind imOsten relativ selten (15 Prozent), während 41 Prozentganz ohne Geschwister aufwachsen. In den Ländern desfrüheren Bundesgebiets haben Kinder demgegenüber zu37 Prozent zwei und mehr Geschwister, und der Anteilder Einzelkinder liegt bei 29 Prozent (Statistisches Bun-desamt 2004b, Tab. A1-15; Engstler/Menning 2003,S. 28). 5 Zum DJI-Familiensurvey vgl. Glossar.

A b b i l d u n g 1.2

Kindschaftsverhältnisse (westdeutsche und ostdeutsche Bundesländer; 1988 bis 2000; in Prozent)

* Nicht-eheliche LebensgemeinschaftenQuelle: Alt 2003, S. 240; DJI-Familiensurvey, 3. Welle

West 1988 West 1994 West 2000 Ost 1991 Ost 1991 Ost 2000

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

ehelich geboren vorehelich geboren alleinerziehend NEL* Waisen und Stiefkinder Sonstiges

83,3 82,577,4

61,5

46,4

5,3

4,9

12,0

10,3

6,79,7

12,5

19,5

1,9

4,24,5

5,1

10,5

18,1

3,1 5,76,1 9,8

75,0

0,1

0,17,0

5,6

0,1

3,13,2

1,0 3,5 0,40,4

Page 64: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 54 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Unter den ausländischen Familien mit Kindern6 sind ehe-liche Lebensgemeinschaften weiter verbreitet als in deut-schen Familien (im Jahr 2000 86 Prozent gegenüber78 Prozent), während der Anteil Alleinerziehender(12 Prozent gegenüber 15 Prozent) sowie nicht-ehelicheLebensgemeinschaften (2 Prozent gegenüber 6 Prozent)seltener sind. Hinsichtlich des generativen Verhaltens vonausländischen Familien zeigt sich im Zeitverlauf insge-samt zwar eine Annäherung an das der deutschen Fami-lien, Kinder in ausländischen Familien haben jedoch häu-figer mehr und seltener keine Geschwister als deutscheKinder (Sachverständigenrat für Zuwanderung und Inte-gration7 2004, S. 57; Engstler/Menning 2003, S. 55f.).Auf Differenzen in den Familienformen von Ausländerin-nen und Ausländern aus unterschiedlichen Herkunftslän-dern deuten Daten zum Familienstand von Zugewander-ten hin: Während mehr als drei Viertel der Türkinnen undTürken verheiratet sind und nur 7 Prozent in nicht-eheli-chen Partnerschaften leben, sind dies bei Personen ausder EU – ebenso wie bei den Aussiedlerfamilien – weni-ger als zwei Drittel; bei Letzteren sind auch nicht-eheli-che Partnerschaften mit 18 Prozent bzw. 14 Prozent deut-lich stärker vertreten als in der türkischen Population(Statistisches Bundesamt 2004a, S. 577).

Dass verallgemeinernde Aussagen zur familiären Situa-tion der Migrantenkinder problematisch sind, verdeutli-chen auch Ergebnisse des Kinderpanels des Deutschen Ju-gendinstituts8 zu acht- und neunjährigen Kindern mittürkischer oder deutsch-türkischer Staatsangehörigkeitsowie gleichaltrigen Kindern aus (Spät-)Aussiedlerfami-lien aus der ehemaligen Sowjetunion (vgl. Abb. 1.3). Sowachsen die türkischen Kinder häufiger als die Aussied-lerkinder in traditionellen Zwei-Eltern- und seltener inEin-Elternfamilien auf (11 Prozent gegenüber 16 Pro-zent). Außerdem haben die Kinder der Aussiedler/innensehr viel öfter keine Geschwister, während die türkischenKinder zu einem deutlich höheren Anteil mit zwei, dreioder mehr Geschwistern im Haushalt leben. Am häufigs-ten wachsen die Kinder in beiden Gruppen aber – wieauch deutsche Kinder – mit einem Geschwisterkind auf(Müller 2005a, 2005b).

A b b i l d u n g 1.3

Anteil von türkischen Kindern, Kindern aus Aussiedlerfamilien aus Russland und deutschen Kindern mit und ohne Geschwister im Haushalt

(2002; in Prozent)

Quelle: Müller 2005a, 2005b, Datenbasis: DJI-Kinderpanel 2002

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Kinder inDeutschland zwar überwiegend in familialen Lebensfor-men aufwachsen, die dem traditionellen „Normalent-wurf“ entsprechen, zunehmend aber auch in hiervon ab-weichenden Familienformen sowie in wechselndenfamiliären Konstellationen leben. Dies gilt – allerdingsmit deutlichen Differenzen nach Herkunftsländern – fürzugewanderte Familien in geringerem Maße als für nichtzugewanderte Familien. Insbesondere in Ostdeutschlandbedeutet Familienleben für eine wachsende Zahl von Kin-dern ein Leben ohne Geschwister, ein zeitweises oderdauerhaftes Zusammenleben mit einem einzigen Eltern-teil und zunehmende Transformationserfahrungen imWechsel unterschiedlicher Familienformen. Die Anpas-sung an das Leben in neuen familiären Konstellationenerfordert von Kindern und Jugendlichen die Bewältigungvon Veränderungen im Alltag sowie in den sozio-emotio-nalen Beziehungen. Dadurch entstehen einerseits Chan-cen für Entwicklungs- und Lernprozesse, andererseitskönnen psychosoziale Belastungen aber auch zu Entwick-lungs- und Lernverzögerungen führen (Schlemmer2004a; Schmitz/Schmidt-Denter 1999), die erhöhte An-forderungen an das Erziehungs- und Bildungssystem zursozialen und emotionalen Unterstützung der Heranwach-senden sowohl im Rahmen von Beratung, Familienhilfe,sozialpädagogischer Einzelfallhilfe als auch freizeitorien-tierter Jugendhilfe-Angebote und im Rahmen des Schul-

6 Zur Situation von Kindern und Jugendlichen aus zugewanderten Fa-milien bietet die amtliche Statistik nur einen begrenzten Einblick.Viele Aussagen müssen sich deswegen auf Haushalte von Auslän-dern und Ausländerinnen (Nichtdeutsche im Sinne des Artikel 116Abs. 1 des Grundgesetzes inkl. Staatenlose und Personen mit „unge-klärter“ Staatsangehörigkeit) beschränken. Zuwanderung stellt einkomplexes demografisches Phänomen dar. In Deutschland handelt essich dabei um eine Zuwanderung nicht allein von Ausländern undAusländerinnen, sondern auch von (Spät-)Aussiedlern und Aussied-lerinnen und ihren Familienangehörigen, die bei ihrer Ankunft diedeutsche Staatsbürgerschaft erhalten. Die hier lebenden Aussiedler/innen sind jedoch in den meisten amtlichen Statistiken nicht erkenn-bar, ebenso wenig wie Personen oder Haushalte mit Migrationshin-tergrund, die mit deutscher Staatsbürgerschaft in der ersten, zweitenoder dritten Generation von Zugewanderten in Deutschland leben (zuAnalyseproblemen vgl. auch Diefenbach 2004, S. 227f.).

7 Zum Sachverständigenrat für Zuwanderung und Integration vgl.Glossar.

8 Zum DJI-Kinderpanel vgl. Glossar.

7

41

35

9 8

34

11

4 3

18

52

21

7

2

48

0

10

20

30

40

50

60

0 1 2 3 4+

Anzahl der Geschwister

türkisch Aussiedler/innen deutsch

Page 65: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 55 – Drucksache 15/6014

alltags durch entsprechend qualifiziertes Personal stellen(Schlemmer 2004a; Buhren u. a. 2002).

Die Häufigkeit familiärer Interaktionen und des Zusam-menseins der Kinder mit ihren Eltern wird wesentlichdurch die zeitliche Inanspruchnahme von Vätern undMüttern durch Erwerbstätigkeit bestimmt. Aus dem Ver-gleich zwischen Familien mit und ohne Migrationshinter-grund, die unter 16-jährige Kinder haben, ergibt sich,dass in vielen Migrantenfamilien ein Elternteil, in der Re-gel die Mutter, häufiger als in autochthonen Familiennicht erwerbstätig ist (Volkhardt 2004, S. 14ff.; Fuchsu. a. 2003, S. 90).9 Dies wird auch für ausländische Fami-lien anhand von Daten der amtlichen Statistik bestätigt.Danach sind im Jahr 2003 von den ausländischen Frauenzwischen 25 und 54 Jahren mit unter 18-jährigen Kindernim Haushalt lediglich 43 Prozent aktiv erwerbstätig(deutsche Frauen: 67 Prozent).

Innerhalb der autochthonen Bevölkerung ist im letztenJahrzehnt die mütterliche Erwerbstätigkeit kontinuierlichgestiegen, was vor allem durch die Zunahme halbtags be-schäftigter Mütter im früheren Bundesgebiet bedingt war.Gleichwohl hat auch in den neuen Bundesländern dieTeilzeitbeschäftigung zugenommen (vgl. Abb. 1.4)10 –aufgrund mangelnder Arbeitsmarktangebote vorwiegendzulasten der Vollzeiterwerbstätigkeit und nicht, wie inWestdeutschland, der „stillen Reserve“ (StatistischesBundesamt 2004c, S. 44; Engstler/Menning 2003,S. 111f.). Dennoch haben ostdeutsche Kinder nach wievor häufiger eine vollzeiterwerbstätige Mutter, währendMütter westdeutscher Kinder öfter – in geringerem zeitli-chen Umfang als ostdeutsche – Teilzeit arbeiten odernicht erwerbstätig sind. Für die Väter gilt, dass sie sowohlin Ost- als auch in Westdeutschland, unabhängig vom Al-ter und von der Kinderzahl, in der Regel einer Vollzeiter-werbstätigkeit nachgehen (Schäfer/Vogel 2005).

9 Volkhardt weist auf Unterschiede der Erwerbsbeteiligung von Müt-tern nach Herkunftsländern hin.

10 Die Teilzeitquote von Frauen in Westdeutschland lag 2003 bei fast45 Prozent, in Ostdeutschland bei annähernd 27 Prozent (Statisti-sches Bundesamt 2004c, S. 44).

A b b i l d u n g 1 . 4

Erwerbsbeteiligung1 und übliche Wochenarbeitszeit der 15- bis 64-jährigen Mütter mit Kindern im Haushalt2 (1991 bis 2003; in Prozent)

1 2000 und 2003 ohne vorübergehend Beurlaubte.2 Alle Kinder im Haushalt, ohne Altersbeschränkung.Datenbasis: Mikrozensus; Quelle: Statistisches Bundesamt 2004b, Tab. A4-1; Engstler/Menning 2003, S. 24511

11 Zum Mikrozensus vgl. Glossar.

19,3

10,3

21,9

2,6

13,4

64,6

26,7

12,6

17,5

6,8

15,2

47,8

29,7

13,316,3

8,7

17,1

43,6

0

10

20

30

40

50

60

70

bis 20 21-35 36 und mehr bis 20 21-35 36 und mehr

Westliche Flächenländer Östliche Flächenländer (einschl. Berlin-Ost)

Wöchentliche Arbeitszeit in Stunden

1991 2000 2003

Page 66: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 56 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Die beruflich bedingten Abwesenheitszeiten verändernsich nach Alter und Anzahl der Kinder: Fast ein Viertelder aktiv erwerbstätigen Mütter in den neuen Bundeslän-dern, die im Jahr 2003 wöchentlich 36 und mehr Stundenarbeiten, haben ein Kind im Alter von unter drei Jahren,während dies in den Ländern der früheren Bundesrepubliknoch nicht einmal für ein Zehntel gilt. Diese Differenzenerhöhen sich mit dem Alter des jüngsten Kindes, undzwar innerhalb des charakteristischen Musters von Teil-zeit- bzw. Vollzeitbeschäftigung (vgl. Abb. 1.5).

Vollzeit-Beschäftigungsverhältnisse der ostdeutschenMütter verringern sich erst, wenn das dritte Kind geborenist, bei westdeutschen Frauen hingegen bereits mit demzweiten Kind, hier gepaart mit einem ca. zehnprozentigenZuwachs an teilzeitbeschäftigten Müttern, der in dieserStärke keine Entsprechung in den neuen Bundesländernfindet (Statistisches Bundesamt 2004b; Tab. 4-2).

Eine Differenzierung der Zeit, die Eltern für Kinderbe-treuung12 aufwenden, nach Familienformen zeigt, dass al-leinerziehende Frauen13 im Durchschnitt täglich eineDreiviertelstunde weniger Zeit mit ihren Kindern verbrin-gen als Mütter in Paarhaushalten, allerdings anderthalb

12 Grundlage sind die von Kahle (2004) ausgewerteten Daten der Zeit-budgeterhebung 2001/2002 des Statistischen Bundesamtes (zur Zeit-budgetstudie vgl. Glossar). Als Betreuungszeiten werden Zeiten fürKörperpflege und Beaufsichtigung, Spiel und Sport, Begleitung desKindes bei Terminen, Gespräche mit den Kindern, Vorlesen und Er-zählen, Hausaufgabenbetreuung und Anleitungen, Fahrdienste undWegezeiten sowie sonstige Tätigkeiten zusammengefasst.

13 Zeiten für Kinderbetreuung liegen für alleinerziehende Väter auf-grund der geringen Fallzahlen nicht vor. Der insgesamt um ca. an-derthalb Stunden geringere Zeitaufwand alleinerziehender Männerfür Haushaltsführung und Betreuung der Familie legt jedoch nahe,dass sie weniger Zeit in Kinderbetreuung investieren als alleinerzie-hende Frauen.

A b b i l d u n g 1.5

Erwerbsstatus von 15- bis 64-jährigen Frauen nach Alter des jüngsten Kindes1 (westdeutsche und ostdeutsche Bundesländer; 2003; in Prozent)

1 Ledige Kinder, die in einer Eltern-Kind-Gemeinschaft leben.Quelle: Statistisches Bundesamt 2003: Sonderauswertung des Mikrozensus

9

24

10

34

15

45

25 24

21

20 46

33

54

28

424

158

26

7

21

10

47

2835

7

24

6

28

50

16

14

20

2

1 5

0

20

40

60

80

100

West Ost West Ost West Ost West Ost

unter 3 Jahre 3 bis 6 Jahre 6 bis15 Jahre 15 Jahre und älter

erwerbstätig 36 Std. und mehr erwerbstätig unter 36 Std. vorübergehend beurlaubt

erwerbslos Nicht-Erwerbspersonen

Page 67: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 57 – Drucksache 15/6014

Stunden mehr als Väter in Paarhaushalten.14 Die Unter-schiede zwischen diesen beiden Gruppen sind zum einenauf längere Erwerbszeiten der Alleinerziehenden (auchbei Vollzeitbeschäftigung beider Gruppen) zurückzufüh-ren, zum anderen darauf, dass diese zu einem geringerenAnteil jüngste Kinder unter 6 Jahren haben, für die derBetreuungsaufwand höher als für 6- bis 18-Jährige ist.Berücksichtigt man das Alter des jüngsten Kindes imHaushalt, so zeigt sich, dass sich alleinerziehende Frauenfür Kinder unter 6 Jahren täglich eine Viertelstunde mehrZeit nehmen als Mütter in Paarfamilien, während sich derZeitaufwand für die 6- bis 18-Jährigen nur minimal unter-scheidet. Dabei ist aus Sicht der Kinder zu berücksichti-gen, dass sie in Paarfamilien von zusätzlicher Zeit profi-tieren, die ihnen die Väter widmen (Kahle 2004).15

Insgesamt belegt der Vergleich der Zeitbudgetdaten von1990/1991 und 2001/2002, dass Kinder heute mehr Zeitmit ihren Eltern verbringen als noch vor zehn Jahren, mitden Müttern nach wie vor öfter als mit den Vätern (Meieru. a. 2004; Sellach u. a. 2004). Dabei wird die zusätzlicheZeit, die Eltern in Ostdeutschland für Kinderbetreuungaufwenden, vor allem auf den Rückgang der außerfamilia-len Betreuung von Kindern im Krippenalter zurückge-führt und ergibt sich demnach – auch wegen der hohenArbeitslosenquoten – eher „zwangsläufig“. Der Anstiegin Westdeutschland erklärt sich vor allem durch die Zu-nahme der Zeit, die „nebenher“ für die Betreuung aufge-wandt wird, kann also nicht als zusätzliche Zeit für Ge-spräche und intensive Beschäftigung von Eltern mit ihrenKindern interpretiert werden (Bundesministerium für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend/Statistisches Bundes-amt 2003b, S. 24).

Dass Kinder in Ostdeutschland häufiger erwerbstätigeund insbesondere vollzeit-erwerbstätige Mütter haben alsin Westdeutschland, kann neben einer stärkeren Erwerbs-orientierung der Frauen16 auf einen besseren Ausbau derKinderbetreuungseinrichtungen zurückgeführt werden(Beckmann 2002). In Westdeutschland mangelt es insbe-sondere an Betreuungseinrichtungen für Kinder unter dreiJahren und für Schulkinder sowie an Ganztagsplätzen inKindergärten (vgl. Kapitel 5).17 Ebenso wie in den Län-dern der früheren Bundesrepublik fehlt es aber auch inden neuen Bundesländern an zeitlich flexiblen Betreu-ungsmöglichkeiten, denn Erwerbsarbeit verläuft immerweniger im Rahmen der „Normalarbeitszeit“, so dass dieArbeitszeitlage von Müttern und Vätern oft nicht mehr

dem institutionellen Rhythmus von Schule und Kinder-garten entspricht.18 Dies zeigt sich in der zahlenmäßigenZunahme von geringfügigen Beschäftigungsverhältnis-sen, Teilzeitarbeit, befristeten Arbeitsverhältnissen undSelbstständigkeit19 ebenso wie an der Ausweitung vonSchicht- und Wochenendarbeit, Überstunden und Gleit-zeiten (Bauer/Munz 2005; Statistisches Bundesamt2004c, S. 42ff.). Auch die Erwerbstätigkeit zu „unty-pischen“ Arbeitszeiten hat zugenommen. So arbeiten fast40 Prozent der Frauen mit unter 14-jährigen Kindern inden Abendstunden (19 bis 22 Uhr) und am Samstag, mehrals ein Viertel am Sonntag und 16 Prozent nachts (Stöbe-Blossey 2004, S. 9). Entscheiden sich Frauen für Arbeits-zeiten an den Wochenenden oder am Abend, so kann diesteilweise darauf zurückgeführt werden, dass dadurch Lü-cken bzw. Engpässe in der Kinderbetreuung kompensiertwerden sollen. Dies kommt zwar den Bedürfnissen vonKindern entgegen, gleichzeitig wird damit jedoch inZwei-Eltern-Familien der Umfang der gemeinsamen Fa-milienzeit verringert, d. h. Kinder sind zunehmend selte-ner mit beiden Elternteilen zusammen.20

Als Chance für eine größere Zeitsouveränität von Elternund für „mehr Zeit für Kinder“ wird die Flexibilisierungvon Arbeitszeiten und -orten im Rahmen von Arbeitszeit-konten, Vertrauensarbeitszeit und nicht vertraglich geregel-ten Arbeitszeiten, die sich vor allem bei höher qualifizier-ten Beschäftigten finden, betrachtet (Bauer/Munz 2005;Wagner 2001; ISO-Informationen 2000/2001; Groß u. a.2000). Der US-Ökonom Dan Hamermesh (1996) sieht so-gar eine Benachteiligung von niedrig qualifiziertenFrauen in den USA und in Deutschland, die unterdurch-schnittlich häufig zu ungünstigen Zeiten erwerbstätigsind. Positive familiäre Effekte werden in der Diskussionum die „Entgrenzung von Familien- und Arbeitswelt“ je-doch mit dem Hinweis auf zusätzliche Belastungen, er-höhte Anforderungen an familiäre Aushandlungsprozesseund den zusätzlichen organisatorischen Aufwand, u. a.bei der Abstimmung mit institutionellen Zeitvorgaben vonKindertageseinrichtungen und Schule, infrage gestellt(Jurczyk/Lange 2002; Jurczyk/Oechsle 2002). Im Rah-men aktueller Diskurse zur Arbeitszeitflexibilität wird dieForderung erhoben, Kinderbetreuungsangebote quantita-tiv auszuweiten bzw. – bezogen auf die neuen Bundeslän-der – zu erhalten und zeitlich umfassender sowie flexiblerzu gestalten (Lange 2004a; Gottschall/Voß 2003; Beiträgein DISKURS 2002).

14 Der tägliche Zeitaufwand errechnet sich aus der Gesamtzahl der Wo-chentage, d. h. dass in die täglichen Durchschnittszeiten auch die anden Wochenenden deutlich höheren Zeitanteile eingehen.

15 Inwieweit in die gegenüber Paarfamilien um eine halbe Stunde wö-chentlich höhere zeitliche Inanspruchnahme von informellen Betreu-ungsarrangements durch alleinerziehende Frauen auch Betreuungs-zeiten von getrennt lebenden Vätern eingehen, lässt sich aus denDaten der Zeitbudgetstudie nicht erschließen.

16 Die stärkere Erwerbsorientierung drückt sich auch in einer kürzeren– wenn auch häufigeren – Inanspruchnahme von Elternzeit/Erzie-hungsurlaub aus (Engelbrech/Jungkunst 2001).

17 Zum Zusammenhang von mütterlicher Erwerbstätigkeit und Kinder-betreuung vgl. auch Schäfer/Vogel 2005; Stöbe-Blossey 2004; Spießu. a. 2002.

18 Auch Halbtagsbeschäftigung ist nicht unbedingt gleichmäßig überWochentage verteilt und liegt nicht ausschließlich am Vormittag,wenn Halbtagskindergärten geöffnet sind oder die Kinder zur Schulegehen (Stöbe-Blossey 2004).

19 Selbstständigkeit hat insbesondere durch die Gründung von „Ich-AGs“ stark zugenommen.

20 Nach Untersuchungen in den USA gehen mit atypischen Beschäfti-gungszeiten von Eltern eine größere Komplexität von Kinderbetreu-ungsarrangements, die anfälliger für Störungen und Ausfälle sind, ei-ne Verringerung der Interaktionshäufigkeiten mit den Kindern undseltenere gemeinsame Mahlzeiten einher. Während Nachtschichtenvon Müttern mit selteneren außerhäuslichen Aktivitäten von Mütternmit ihren Kindern verbunden sind, nimmt die Gesprächshäufigkeitbei Vätern in Schichtarbeit zu (Presser 2003).

Page 68: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 58 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Die Bedeutung einer zeitlich umfassenderen und flexible-ren institutionellen Bildung, Betreuung und Erziehungaus der Sicht von Kindern und Jugendlichen ist bislangkaum diskutiert und erforscht worden. Um gleichermaßenkindgerechte und familienfreundliche Formen der Orga-nisation von Erziehung und Bildung zu entwickeln, ist esdeswegen unerlässlich, die Wechselwirkungen zwischenelterlichen Einbindungen, kindlichen Entwicklungserfor-dernissen sowie Erwartungen und Ansprüchen derArbeitswelt zu analysieren. Gleichzeitig ist vor dem Hin-tergrund von Abstimmungserfordernissen bei der Ar-beitszeitgestaltung, der Familienorganisation, den elterli-chen Erziehungs- und Bildungsansprüchen sowie denkindlichen Interessen und Bedürfnissen nach den Voraus-setzungen und Konsequenzen für die zeitliche und perso-nelle Strukturierung, die inhaltliche Gestaltung von Be-treuungs- und Bildungsangeboten sowie nach ihrerQualität zu fragen.

1.2.2 Diffusion und Trennung lebensweltlicher und institutioneller Räume

Der Kinderalltag wie auch die Biografien von Kindernund Jugendlichen sind heute weitgehend institutionellstrukturiert (Büchner 2002). Zur Institutionalisierung bei-getragen haben insbesondere die Vermehrung von Kin-derbetreuungsangeboten – in Westdeutschland vor allemder Kindergartenplätze (Tietze 2002) –, die Verlängerungder Schulzeit im Lebensalter („Bildungsmoratorium“;Helsper/Böhme 2002) sowie der alltäglichen Unterrichts-und Lernzeiten, vor allem beim Besuch weiterführenderSchulen (ebd.), und eine Fülle von Freizeitangeboten, dievon Vereinen und Verbänden, der Kinder- und Jugend-hilfe sowie von gewerblichen Anbietern (insbesondere imBildungs- und Kulturbereich) organisiert werden (Fuhs2002). Durch die Schaffung spezieller kindlicher und ju-gendlicher Lebensräume verfestigt sich zum einen dieTrennung der Lebenswelten von Kindern und Erwachse-nen, zum anderen differenzieren sich mit der wachsendenVielfalt von Angeboten die Lebenswelten von Kindernund Jugendlichen sowohl im Tages- als auch im Biogra-fieverlauf aus. Letzteres wird unter dem Aspekt der örtli-chen und zeitlichen Partikularisierung alltäglicherLebensführung als institutionelle „Verinselung des Kin-derlebens“ (Zeiher 1983) und mit Blick auf die institutio-nelle „Verregelung“ von Kindheit und Jugend im biogra-fischen Verlauf als Standardisierung und Verzeitlichungdes Kinder- und Jugendlebens charakterisiert (Nauck1995).

Institutionelle Lebenswelten strukturieren den Alltag, be-stimmen und begrenzen Handlungs- und Bewegungs-räume. Die in den ersten sechs Jahren noch wesentlichdurch das Leben in der Familie und in Kinderbetreuungs-arrangements bestimmten Lebenswelten differenzierensich mit dem Schuleintritt und mit zunehmendem Alteraus. Dies erfolgt zunächst noch abhängig von Zugängen,die durch die Eltern eröffnet werden – oftmals auch umBetreuungsprobleme zu lösen –, zunehmend aber selbstorganisiert bzw. durch Gleichaltrige vermittelt. Im Be-griff der „Terminkindheit“ wird die zeitliche Strukturie-rung des Lebensalltags vor allem durch außerschulische

und außerfamiliale Angebote, wie z. B. durch Sportver-eine oder Musikschulen, aber auch durch Verabredungenmit Freundinnen und Freunden deutlich (Fuhs 2002;Strozda 1996). Mit der Inanspruchnahme vielfältiger in-stitutioneller Angebote ist ein Wechsel von sozialen undräumlichen Settings verbunden, die einerseits soziale undkognitive Integrationsleistungen von den Kindern und Ju-gendlichen erfordern, andererseits zusätzliche Erfah-rungs- und Entwicklungsmöglichkeiten beinhalten. Ne-ben Familie, Kindergarten und/oder Schule sind sie alsseparierte Lern- und Lebenswelten durch je spezifischeRollenerwartungen, räumliche Verortungen, zeitlicheVorgaben sowie Teilhabe- und Handlungsmöglichkeitencharakterisiert. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nichtalle Angebote allen Kindern und Jugendlichen gleicher-maßen zugänglich sind. Soziale, ökonomische und kultu-relle Ressourcen sowie Milieuzugehörigkeiten kanalisie-ren die Teilnahmemöglichkeiten und führen deswegenhäufig zu relativ sozial homogenen Zusammensetzungender Nutzergruppen.

Ein anderer Aspekt der Lebensführung der Heranwach-senden gerät in den Blick, wenn Kindheit als „Konsum-kindheit“ gekennzeichnet wird (Fuhs 2002) und wenn dieaußerinstitutionellen Aktivitäten bzw. die beliebtestenFreizeitaktivitäten von Kindern und Jugendlichen berück-sichtigt werden, etwa Gleichaltrigenkommunikation bzw.-unternehmungen, Cliquen-Leben, Fernsehen sowie Vi-deo- und PC-Spiele. Dadurch werden Freiräume undSelbstgestaltungsmöglichkeiten im Alltag von Kindernund Jugendlichen sichtbar, die sich zeitlich im Alter von10 bis 14 Jahren auf wochentags knapp sechs Stunden be-laufen und im Alter von 15 bis 19 Jahren noch etwas an-wachsen.21 In diesen Lebenswelten verlieren altersspezi-fische Standardisierungen vielfach ihre Geltung – insoziologischen Theorien ist von der „Erosion der Kind-heit“ und einer „Destandardisierung des Jugendalters“ dieRede (Mierendorff/Olk 2002). Von den institutionellenLebenswelten der Kinder scheinen diese „Freizeitwelten“– wie auch das Familienleben – weitgehend getrennt zusein. Damit geraten in den Institutionen der Bildung, Be-treuung und Erziehung sowohl Lern- und Bildungs- alsauch Gefährdungspotenziale im Alltag von Kindern undJugendlichen aus dem Blick. Angesichts der Separierungvon kindlichen und jugendlichen Lebenswelten im Tages-und biografischen Verlauf ist deswegen nach Organisati-onsformen und Konzepten zu fragen, wie diese zugunsteneiner Förderung von Kindern und Jugendlichen aufeinan-der bezogen bzw. im lokalen Raum vernetzt werden kön-nen.

Gleichzeitig zeigen sich aber auch Auflösungstendenzenvon altersdifferenzierten Lebenswelten. So werden z. B.Kinder in einem „Verhandlungshaushalt“22 (Büchner2002), in dem zwei Drittel der 10- bis 15-jährigen Kinderleben, schon früh in biografisch relevante Entscheidungen

21 Vgl. BMFSFJ/Statistisches Bundesamt 2003; zu geschlechtsspezifi-schen Unterschieden vgl. auch Abschnitt 1.3.3.

22 Eine partnerschaftlich-egalitäre Eltern-Kind-Beziehung beschreiben23 Prozent der im Kindersurvey von 1993 befragten Kinder(Zinnecker u. a. 1996).

Page 69: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 59 – Drucksache 15/6014

einbezogen (Kötters 2000, S. 146f.), und auch die Arbeits-welt ist kein ausschließlicher Erwachsenenbereich mehr.Bereits ältere Kinder ab 13 Jahren und in noch größeremAusmaß Jugendliche verdienen ihr eigenes Geld durch„Jobben“ neben der Schule (Tully 2004a, 2004b;Schneider/Wagner 2003). Sie agieren zugleich als eigen-ständige Konsumenten und werden von der Geschäftsweltauch als solche angesprochen (Feil 2003). Angleichungenzeigen sich darüber hinaus in Übereinstimmungen im Me-dien- und Freizeitverhalten von Erwachsenen, Kindern undJugendlichen. Schließlich deuten Sprachreisen, Kinder-akademien, Schülerfirmen sowie Praktika in Betriebenebenso auf die Auflösung altersstrukturierter Bildungsver-läufe hin wie Bildungsprogramme für Senioren oder viel-fältige Formen des Seniorenstudiums an Hochschulen.

Unter dem Eindruck einer Diskussion, die die Bedeutungschulischer Bildung für die Realisierung individuellerund gesellschaftlicher Zukunftsentwürfe betont, weitensich Bildungsprozesse in die schulfreie Zeit von Kindernund Jugendlichen aus. Dies führt zu einer funktionalenEntdifferenzierung, die als Trend zur „Verschulung vonFreizeit“ sowie als „Entgrenzung von Bildung“ gekenn-zeichnet werden kann. Sie zeigt sich

– in der Förderung schulischen Lernens durch Nachhil-feunterricht, in kommerziellen Angeboten von Schü-lerhilfen, Paukkursen oder speziell für Kinder und Ju-gendliche entwickelten Computerkursen,

– in Zertifizierungen im Rahmen kommerzieller und in-stitutioneller Freizeitangebote, z. B. bei der Teilnahmean sportlichen, kulturellen oder medialen Kursen undVeranstaltungen oder bei sozial motivierten Aktivitä-ten, wie ehrenamtliches Engagement und Freiwilli-genarbeit,

– in bildungsorientierten Perspektiven auf Aneignungs-prozesse von Kindern und Jugendlichen in nichtschu-lischen Settings, wie z. B. bei Auslandsaufenthalten(sprachliche und interkulturelle Kompetenzen), derTeilnahme an Gruppenreisen oder Gruppenangeboten(Teamfähigkeit), bei sportlichen Hobbys (Körperbe-wusstheit, Leistungsorientierung) oder künstlerischerTätigkeit (kreatives Potenzial).

Die wachsende Bedeutung und kompetenzorientierte Ver-wertung außerschulischer Bildungsaktivitäten beinhaltetdie Gefahr der Verschärfung bestehender Ungleichheitensowie der Entstehung neuer Ungleichheiten, soweit derZugang zu ihnen sozial, kulturell und ökonomisch selek-tiv strukturiert ist. Im Zuge der „Entgrenzung von Bil-dung“ entstehende neue Maßstäbe für Bildungsbeteili-gung und die Bewertung von Kompetenzen könnendeswegen dem Anspruch einer besseren „Bildung füralle“ zuwiderlaufen, wenn es an sozialpolitischen und in-stitutionellen Unterstützungsleistungen für Kinder undJugendliche aus bildungsfernen bzw. bildungsarmen Mi-lieus fehlt, die meist durch einen niedrigen sozialen Sta-tus und geringere finanzielle Spielräume gekennzeichnetsind. In welchen Bereichen dies sinnvoll und erforderlichist und wie vor dem Hintergrund sowohl individueller als

auch gesellschaftlicher Betreuungs-, Entwicklungs- undBildungsbedarfe generell die Leistungsfähigkeit beste-hender Erziehungs- und Bildungseinrichtungen erhöhtwerden kann, erfordert eine Analyse der Kompetenzge-winne in derartigen lebensweltlichen Erziehungs- undBildungsarrangements. Sie bildet angesichts der erhöhtenRelevanz erziehungs- und bildungsorientierter Aktivitä-ten außerhalb traditioneller Bildungseinrichtungen dieVoraussetzung, um Entscheidungen zur Neuorganisationeines vernetzten Bildungsangebots treffen zu können.

1.2.3 Mediatisierung und Virtualisierung von Lebenswelten

Medien beeinflussen die Lebensführung von Kindern undJugendlichen in den Bereichen der Interaktion, der Frei-zeitgestaltung sowie der Wissensaneignung und der Bil-dung. Erziehungs- und Bildungsrelevanz erhalten insbe-sondere digitale Medien, u. a. durch den Einsatz als Lehr-und Lernmittel in Schulen und in kommerziellen sowieöffentlichen Freizeit- und Lernangeboten.

Medien gehören heute zum alltäglichen Erfahrungsfeldvon Kindern und Jugendlichen. Radio und CDs, Fernse-hen und Video sowie das Handy haben sich mittlerweilezu selbstverständlichen Bestandteilen ihrer Lebensweltenentwickelt, und die Häufigkeit, mit der Kinder und Ju-gendliche Computer und Internet nutzen, hat in den letz-ten Jahren erheblich zugenommen (vgl. Abb. A-1.1 undA-1.2 im Anhang). Trotz der wachsenden Bedeutung vonMedien und moderner Informationstechnologie weisendie Freizeitpräferenzen von Kindern und Jugendlichen23

darauf hin, dass digitale Medien oder Fernsehen, dem ineinzelnen Sozial- und Altersgruppen viel Zeit gewidmetwird (vgl. Abb. A-1.1 im Anhang), ihr Leben nicht domi-nieren. Allerdings kann von einer weitgehenden Durch-dringung der Lebensführung von Kindern und Jugendli-chen durch Medien gesprochen werden, betrachtet manderen vielfältige Präsenz und Nutzung im Alltag. Zu be-rücksichtigen sind allerdings alters-, geschlechts-, bil-dungs- und schichtspezifische Unterschiede in der Nut-zung und im Zugang zu den Medien (StatistischesBundesamt 2005; Expertise Theunert24; Tully 2004a; Ottou. a. 2003).

Die Verbreitung und die Verwendung von elektronischenMassenmedien verdankt sich deren vielfältigen Nut-zungsmöglichkeiten: Sie transportieren Wissen und Infor-mationen, dienen der Unterhaltung, ermöglichen ortsun-abhängige, synchrone oder asynchrone Kommunikationzwischen Gruppen und Einzelpersonen, und sie entwer-

23 Zu den häufigsten Beschäftigungen gehören Interaktionen mit Freun-den bzw. Freundinnen und mit Familienmitgliedern sowie Sporttrei-ben (IJF Institut für Jugendforschung 2005; Buhren u. a. 2002; zu-sammenfassend Thole 2002).

24 In dieser Zitierweise werden die Expertisen angegeben, die für den12. Kinder- und Jugendbericht erstellt wurden (vgl. die Auflistung imAnhang). Die Seitenzahlen beziehen sich auf die eingereichten Ma-nuskripte, d. h. dass sie nicht mit den Seitenzahlen der Expertisen inden vier für Herbst 2005 zur Veröffentlichung vorgesehenen Bändenübereinstimmen.

Page 70: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 60 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

fen mehr oder weniger realitätsgetreu nachgebildete vir-tuelle Räume und Welten. Die mediale Informations- undKommunikationstechnologie ist darüber hinaus zu einemgrundlegenden Bestandteil der Arbeitswelt geworden, diewirtschaftliches Wachstum und Standortvorteile begrün-det.25

Der Begriff der „Mediatisierung“ greift die Durchdrin-gung des Alltags durch die Ausweitung und die zuneh-mende Nutzung elektronischer Medien auf, und imZusammenhang mit der sich ausweitenden Computerbe-nutzung wird „Virtualisierung“ als ein Aspekt der Media-tisierung benannt. Hier richtet sich die Aufmerksamkeitauf die Erweiterung und Ausdifferenzierung computer-vermittelter virtueller Welten und auf die Herauslösungvon Wahrnehmen und Handeln aus räumlichen und leibli-chen Bezügen. Fragen nach der Auswirkung von Mediati-sierung auf Entwicklungsprozesse, auf Meinungs- undWertbildungen sowie auf Interaktionsformen, -themenund -häufigkeiten innerhalb der Familie und im weiterensozialen Umfeld sind Bestandteil kontroverser wissen-schaftlicher Diskussionen.26 Hinweise für die Gestaltungvon Bildungsprozessen in Kindheit und Jugend kann diealters- und sozialdifferenzierte Auswertung von Diskur-sen geben, die einerseits die Gefahren und Probleme der„heimlichen Miterzieher“ – ursprünglich auf das Fernse-hen bezogen – und andererseits die Chancen thematisie-ren, die sich insbesondere aus der Nutzung digitaler Me-dien ergeben.

Da Medienkompetenzen sich zunehmend zu kulturellenund beruflichen Basisqualifikationen entwickeln, gleich-zeitig jedoch soziale Differenzen im Zugang zu und in derNutzung von neuen Medien bestehen, kann auf eine sys-tematische Integration ihres Erwerbs in die öffentlicheErziehung und Bildung nicht verzichtet werden. Weil dieTeilhabe an virtuellen und medialen Welten gleichzeitigein unleugbarer Bestandteil kindlicher und jugendlicherRealität ist, die zwar Lernchancen eröffnet, aber auch Ge-fahren beinhaltet, ist es gleichzeitig notwendig, Formender alters-, geschlechts-, bildungs- und sozialstrukturelldifferenzierten Aneignung dieser Welten anzuregen undzu vermitteln (Theunert/Eggert 2003; Otto u. a. 2003). DaMedien – wie in diesem Bericht noch ausführlich gezeigtwird – bereits im frühkindlichen Alter eine zentrale Rolleim Familienalltag spielen, sollte das Thema Medienerzie-hung und Bildung auch in der vorschulischen Erziehungaufgegriffen werden.

1.2.4 Internationalisierung von Lebenswelten Das Stichwort „Globalisierung“ suggeriert eine weltweiteAnnäherung bzw. den Druck zur Angleichung von Wirt-schafts-, Arbeits- und Lebensformen. Damit werden Ar-gumentationen auf eine – so nicht existierende – „globali-sierte Welt“ hin orientiert und der Eindruck erweckt, dasswichtige gesellschaftliche Prozesse durchgängig nicht

mehr national reguliert werden können. So wird Globali-sierung beispielsweise gerne für die hohe Arbeitslosigkeitin Deutschland verantwortlich gemacht. Dem steht abergegenüber, dass andere wohlfahrtsstaatliche Gesellschaf-ten – etwa in den Niederlanden oder in Skandinavien –niedrigere Arbeitslosenraten haben. Auch eine „globali-sierte Welt“ ermöglicht offenkundig noch länder- bzw.gesellschaftsspezifische Gestaltungsmöglichkeiten. Diesgilt in gleicher Weise für den Bildungsbereich, der durchinternationale Leistungsvergleiche und vor dem Hinter-grund des internationalen wirtschaftlichen Wettbewerbs,in dem die Qualität von Bildung und Ausbildung einezentrale Rolle spielt (Henke 2005), in den Mittelpunkt derDiskussion um die gesellschaftliche Entwicklung inDeutschland geraten ist. Aus internationalen Vergleichenfolgt kein unmittelbarer Druck, Um- und Neustrukturie-rungen des bundesrepublikanischen Erziehungs-, Betreu-ungs- und Bildungssystems an Modelle der im Leistungs-vergleich erfolgreicheren Länder anzupassen. Vielmehrkann und wird Deutschland einen eigenen Weg wählen;die Reflexion der Erfahrungen anderer Länder könnenhierbei hilfreich und anregend sein.

Mit dem hier verwendeten Begriff der Internationalisie-rung wird auf einen Prozess allmählicher transkulturellerDurchdringung verwiesen, der sich auf wirtschaftlicheund soziale Entwicklungen, auf kulturelle Ausdrucksfor-men und politische Regulierungen bezieht. Die Europäi-sierung, die für Deutschland im Zuge des Zusammen-wachsens und der Erweiterung Europas eine besondersgroße Bedeutung erhält, sowie die Zuwanderung vonMigrantinnen und Migranten können als Teil der Interna-tionalisierung verstanden werden.

Ausdruck der Internationalisierung von Lebensweltensind das Vordringen von Wissen und Informationen ausaller Welt sowie – oftmals ohne Bewusstsein ihrer Her-kunft – die Integration von im internationalen bzw. euro-päischen Rahmen vereinbarten Rechtsansprüchen in sozialeund personale Wahrnehmungs- und Deutungsmuster. DieAuseinandersetzung mit anderen Kulturen im Rahmenvon freizeit-, erwerbs- oder schulbedingten Auslandsauf-enthalten, das Erleben kultureller Heterogenität im eige-nen Land aufgrund grenzüberschreitender Arbeitskräfte-mobilität und Flüchtlingsbewegungen sowie die Adaptionglobaler Marken- und Modetrends ebenso wie internatio-naler Kulturprodukte gehören heute zu selbstverständli-chen Merkmalen der Lebensführung und des Aufwach-sens in Deutschland.

Für Kinder und Jugendliche ergibt sich mit der zuneh-menden Internationalisierung von Lebenswelten eineAusweitung der Erfahrungs- und Aneignungsmöglichkei-ten, die bereichernd für Bildungsprozesse sein können.Gleichzeitig können sich aber auch Gefühle der Über-forderung einstellen, die bei jungen Menschen ohne Mi-grationshintergrund Voreingenommenheiten, Fremdheits-erfahrungen, Stereotypisierungen und Verunsicherungenbedingen können, wie sie sich beispielsweise in extremerForm in fremdenfeindlichen Haltungen äußern. Bei Kin-dern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund bein-

25 Zur Bedeutung von Medien für das Wirtschaftsleben vgl. den Medi-enbericht der Bundesregierung (1998).

26 Einen Überblick liefert Theunert (Expertise); vgl. auch Barthelmes2001; Lischka 1995.

Page 71: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 61 – Drucksache 15/6014

halten unzureichende Anstrengungen zu ihrer Integrationin die Aufnahmegesellschaft die Gefahr von Ausgren-zungs- und Benachteiligungserfahrungen. Diese könnenzu Entwicklungsproblemen und Verhaltensweisen führen,die eine fähigkeitsadäquate Bildungsbeteiligung erschwe-ren und soziale Teilhabe beeinträchtigen. Dabei ist nichtallein die Gruppe der neu zugewanderten Kinder und Ju-gendlichen zu berücksichtigen, vielmehr zeigen sich ins-besondere in der zweiten Generation, also bei jenen, dieals Kinder von Zugewanderten in Deutschland geborenwurden, Integrationsprobleme, die deren soziale, kultu-relle und ökonomische Chancen mindern (Fertig 2004;Frick/Wagner 2000; vgl. auch Abschnitt 1.3.2).

Nach Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP)27

liegt der Anteil der Personen mit Migrationshintergrundin Deutschland im Jahr 2003 bei insgesamt 17 Prozent(vgl. Tab. 1.1), bei den unter Sechsjährigen bei22 Prozent und den 7- bis 17-Jährigen bei 23 Prozent. Diegrößten Gruppen in diesen Altersstufen bilden – in Über-einstimmung mit den amtlichen Daten zur ausländischen

Bevölkerung28 – Heranwachsende aus der Türkei und Ex-Jugoslawien.

Angesichts demografischer, ökonomischer und politi-scher Entwicklungen ist von einer weiteren Verflechtungund Durchmischung der Nationen und Kulturen inDeutschland auszugehen. Dabei ist mit einer – wie schonin den letzten Jahren – hohen Fluktuation von Zu- undwieder Abwandernden zu rechnen (Sachverständigenratfür Zuwanderung und Integration 2004, S. 57f.; ExpertiseGogolin, S. 7ff.). Außerdem dürfte sich mit der EU-Ost-erweiterung und dem Zutritt weiterer Länder zur EU dieMischung unterschiedlicher Herkunftskulturen weiterverstärken. Schließlich kann angenommen werden, dassdie zuwandernde Bevölkerung durch soziale Unter-schiede mit einerseits sozio-ökonomisch schlechter ge-stellten Familien, die die Nachfrage nach gering entlohn-ten Beschäftigten befriedigen (Gogolin/Pries 2004),andererseits mit Familien aus gehobeneren Schichten ge-kennzeichnet sein wird, die den Bedarf an hochqualifi-

27 Zum Sozio-oekonomischen Panel vgl. Glossar.28 Vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und

Integration (2004, S. 6 und Tab. 5).

Ta b e l l e 1.1

Bevölkerung in privaten Haushalten nach Altersgruppen und Migrationshintergrund (Deutschland; 2003)

1 Gewichtete Anzahl in 1 000.2 Gerundet.Quelle: SOEP 2003, gewichtete Querschnittsanalysen; Expertise DIW, eigene Berechnungen

Alters-gruppen

Autoch-thone Be-völk. West

Autoch-thone

Bevölk. Ost

Alloch-thone Be-völkerung

davon Autoch-thone und

alloch-thone Be-völkerung

Aussied-ler/innen

EU,westlicheIndustrie-

länder

Türkei,Ex-Jugos-

lawienSonstige

Zeilen-%2 Zeilen-% absolutZeilen-% Zeilen-% Zeilen-% Zeilen-% Zeilen-% absolut1

Spalten-%

Unter 6 J.65 14

1 21722 3 4 9 6

5 4327

7 bis 17 J.61 16

2 30623 4 6 8 6

98 72812

18 bis 59 J.65 18

7 93217 4 5 5 4

45 72856

60 bis 64 J.66 20

83714 3 4 3 4

5 9267

65 Jahre und älter 73 18

1 3039 3 2 1 2

14 78818

Insgesamt absolut1

6653 804

1814 302

1713 595

42 915

43 453

53 945

43 282

10081 701

Page 72: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 62 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

ziertem Personal befriedigen werden (müssen).29 Auf je-den Fall ergeben sich Anforderungen an das Erziehungs-und Bildungssystem – vom frühkindlichen Alter bis indie Sekundarschulen hinein – unterschiedliche soziale,sprachliche und kulturelle Voraussetzungen von zuge-wanderten Kindern und Jugendlichen zu berücksichtigen.Dabei müssen sich die Konzepte auf unterschiedliche Ty-pen von Migranten und Migrantinnen, d. h. auf differie-rende Migrationsmotive, sprachliche Vielfalt, zeitlichePerspektiven hinsichtlich der Bleibeabsichten sowie aufunterschiedliche Einstellungen zur Herkunfts- und An-kunftsregion einstellen (Gogolin/Pries 2004).

Im Zuge der wachsenden Multikulturalität unserer Gesell-schaft, einer zunehmenden personalen und beruflichenMobilität sowie der Ausweitung internationaler Informa-tions-, Wissens- und Kommunikationsangebote bzw. -an-forderungen ist von einer zunehmenden Relevanz von(Fremd-)Sprachkenntnissen, Auslandserfahrungen, in-ternationalen Begegnungen und der Aneignung interkultu-reller Kompetenzen auszugehen. Es wird wesentlich vonder Organisation von Bildung, Betreuung und Erziehungabhängen, ob die mit diesen Entwicklungen einherge-henden Bildungspotenziale ausgeschöpft, einseitige Ori-entierungen sowie Abwertungen im interkulturellenMiteinander vermieden und die gesellschaftlichen Voraus-setzungen für die im Zuge der Internationalisierung desArbeits- und Wirtschaftsmarktes erforderliche Leistungs-fähigkeit vermittelt werden können.

Zu den vorrangigen Aufgaben wird es gehören, sowohlautochthonen Kindern und Jugendlichen als auch jungenMenschen mit Migrationshintergrund eine konstruktiveAuseinandersetzung mit kultureller Heterogenität zu er-möglichen, gemeinsame Referenzpunkte zu verdeutli-chen, die eine Basis für einen gemeinsamen Dialog undfür Begegnung bilden, sowie die erlebte Mehrsprachig-keit bildungsbezogen zu nutzen.30 Besondere Bedeutungfür die Erhöhung von Bildungs- und Teilnahmechancenvon Migrantenkindern und -jugendlichen kommt dabeidem (zusätzlichen) Erwerb der deutschen Sprache bzw.mehrsprachiger Kompetenz zu, wobei Mehrsprachig-keit idealerweise bedeutet, dass sowohl die Mutterspra-che als auch die deutsche Sprache beherrscht wird.

1.2.5 Aufwachsen in einer alternden Gesellschaft

Kinder und Jugendliche wachsen in Deutschland in einerzunehmend alternden Gesellschaft auf: Im Jahr 2030 wird– nahezu unabhängig vom Zuwanderungsgeschehen –etwa jede dritte Person in Deutschland 60 Jahre alt oderälter und nur noch jede sechste wird unter 20 Jahre altsein.31 Zwar ist es nicht zwangsläufig, dass die Zahl der

Bevölkerung auf dem Gebiet der Bundesrepublik dras-tisch abnehmen wird, da eine hohe Zuwanderung die Ge-samtzahl der Einwohner stabilisieren könnte (Statisti-sches Bundesamt 2003a, S. 27f.). Eine Alterung derBevölkerung wäre aber auch dann nicht aufzuhalten, daauch Zuwanderer altern. Zuwanderung könnte Alterungallenfalls verlangsamen.

Durch die Notwendigkeiten einer menschenwürdigen, fi-nanziell und gesundheitlich-pflegerisch ausreichendenVersorgung von zunehmend mehr alten Menschen sowieeiner erheblich steigenden Zahl zu finanzierender Renten-jahre in der Nacherwerbsphase – bei einer künftig sinken-den Zahl von Erwerbstätigen –, fällt es dem Staat insge-samt schwerer, diese Aufgaben auf gleich bleibendemNiveau zu erfüllen. Zwar ist kein Determinismus in Rich-tung eines globalen Abbaus staatlicher Daseinsfürsorgegegeben, aber ihr Ausbau ist aus heutiger Sicht wenigwahrscheinlich. In diesem Zusammenhang wird im öf-fentlichen Diskurs die Frage aufgeworfen, ob durch ge-schickte Re-Regulierung zumindest in Teilbereichenstaatlicher Daseinsfürsorge nicht dieselbe Qualität beiniedrigeren Kosten erreichbar wäre. Außerdem wird inletzter Zeit lebhaft diskutiert, ob und wie die über längereZeit vergleichsweise konstant niedrige Fertilitätsrate ver-ändert werden kann. Damit ist die Hoffnung verbunden,dass mehr Kinder helfen würden, die InnovationskraftDeutschlands zu stärken und die sozialen Sicherungssys-teme – seien sie staatlich oder privat organisiert – zu fi-nanzieren.

Geringe Kinderzahlen in Deutschland sind zum einen aufden Rückgang von Familien mit drei und mehr Kindernsowie auf die wachsende Anzahl Kinderloser zurückzu-führen (Schwarz 2003, S. 431ff.). Insgesamt bleibenMänner häufiger als Frauen, Deutsche häufiger als Aus-länderinnen, Ledige und Geschiedene häufiger als Ver-heiratete und höher Gebildete häufiger als Personen mitniedrigem Bildungsniveau kinderlos (Schmitt 2005;Engstler/Menning 2003, S. 74). Die derzeit vielfach rezi-pierte These, dass sich die deutsche Bevölkerung in Fa-milien bzw. Frauen entweder mit oder ohne Kinder pola-risiert, wird nach Statusgruppen differenziert und als einPhänomen insbesondere des generativen Verhaltens vonHochqualifizierten beschrieben: Frauen, die über akade-mische Bildungsabschlüsse verfügen und beruflich Lei-tungspositionen bekleiden, bekommen zu einem höherenAnteil keine Kinder (Dorbritz 2003; Wirth/Dümmler2004 und – relativierend – Schmitt 2005).32 Dies trifft al-lerdings auf Frauen, die in der DDR schulische bzw. be-rufliche Abschlüsse erworben haben, nicht zu – sie wei-sen den niedrigsten Anteil kinderloser Haushalte auf.Mittlerweile zeichnet sich allerdings eine Annäherung anwestdeutsche Verhältnisse ab, was möglicherweise da-

29 Dies empfiehlt der Sachverständigenrat für Zuwanderung und Inte-gration (2004, S. 200).

30 Vgl. auch Sachverständigenrat für Zuwanderung und Integration(2004, S. 256).

31 Diese Annahme beruht auf der 10. koordinierten Bevölkerungsvor-ausberechnung unter der Annahme eines Wanderungssaldos vonmindestens 200 000 pro Jahr und einer durchschnittlichen Lebenser-wartung im Jahr 2050 von 81 bzw. 87 Jahren (Statistisches Bundes-amt 2003b, S. 29f.).

32 Bei Promovendinnen sind dies z. B. in der Altersstufe der 30- bis34-Jährigen 67 Prozent, in der Altersgruppe der 35- bis 39-Jährigen45 Prozent und bei der Altersgruppe der 40- bis 44-Jährigen37 Prozent, während die entsprechenden Anteile bei Frauen mit ei-nem dualen Ausbildungsabschluss bei 36 Prozent, 24 Prozent und24 Prozent liegen (Mikrozensusdaten; Dorbritz 2003, S. 412). Zu denProblemen von Aussagen auf Grundlage von Mikrozensusdaten vgl.Schmitt 2005; allgemeine Angaben zum Mikrozensus enthält dasGlossar im Anhang.

Page 73: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 63 – Drucksache 15/6014

durch bedingt ist, dass die Vereinbarkeit von Familie undBeruf, die in der DDR zum Zwecke der Mobilisierungdes weiblichen Arbeitskräftekapitals gefördert wurde,heute erschwert ist.

Die Entwicklung der Fertilität steht – internationalen Ver-gleichsstudien folgend – in einem komplexen Zusammen-hang mit einer Vielzahl von Faktoren, die von der Wirt-schafts- und Arbeitsmarktlage über gesellschaftlicheWertorientierungen und familien- sowie sozialpolitischeRegelungen bis hin zum Angebot an Kinderbetreuungs-einrichtungen reichen (Sleebos 2003). So kann der Ge-burtenrückgang in den neuen Bundesländern mit der Ver-ringerung der Geburtenziffer von 1,56 im Jahr 1989 auf0,83 im Jahr 1992 und 0,77 im Jahr 1994 (Engstler/Men-ning 2003, S. 71) darauf zurückgeführt werden, dass dieEntwicklung von Beschäftigungsmöglichkeiten und Ein-kommenssituationen als unsicher wahrgenommen wur-den (Rürup/Gruescu 2003, S. 49; Witte/Wagner 1995).Für das frühere Bundesgebiet werden insbesondere Pro-bleme der Vereinbarkeit von Familie und Beruf aufgrundunzureichender Kinderbetreuungsmöglichkeiten mit ei-nem geringen Ausmaß an Krippen- und Hortangeboten,fehlenden Ganztagsplätzen in Kindergärten und zu gerin-ger zeitlicher Flexibilität der Angebote als Hindernis-grund für die Entscheidung, Kinder zu bekommen, belegt(Hank u. a. 2003; Seyda 2003).33

Mit der Verschiebung der Altersstruktur der Bevölkerungergeben sich für die nachwachsende Generation Pro-bleme, deren Lösungen derzeit noch nicht abzusehensind. Es können sich nicht nur Belastungen für die Bezie-hung zwischen Jungen und Alten, neue Gemeinsamkeitenbzw. Verschiedenheiten der Erfahrungswelten und verän-derte Austauschbeziehungen zwischen den Generationenherausbilden, auch die Lebenslagen von Kindern und Ju-gendlichen sowie ihre Entwicklungs- und Bildungschan-cen können hierdurch beeinflusst werden. Unter diesemGesichtspunkt ist das Generationenverhältnis im demo-grafischen Wandel nicht allein ein Thema der existenziel-len Sicherung und des sozialen Friedens. Es berührt auchdie für die Reproduktion und den innovativen Wandel derGesellschaft zentrale Frage nach den künftigen Bildungs-und Erziehungspotenzialen und -möglichkeiten. MitBlick auf die Entwicklung der direkten und indirektenKosten der schulischen Qualifizierung zwischen Anfangund Ende der 1990er-Jahre, die auf einen unzureichendenAnstieg hoch qualifizierter Bildungsabschlüsse in der Be-völkerung hinweisen, erscheinen wirtschaftliches Wachs-tum und ökonomische Standortqualitäten in Deutschlandgefährdet. Als Gegenmaßnahmen werden u. a. eine Stei-gerung der Zahl von Hochschulabsolventen bzw. -absol-ventinnen sowie die Erleichterung der Arbeitsaufnahmefür qualifizierte Nichterwerbspersonen, wie z. B. Frauenmit Kindern, empfohlen (Henke 2005, S. 13). Damit erge-ben sich Herausforderungen, die über schulische Förder-maßnahmen hinausreichen und sowohl erzieherische alsauch betreuende Initiativen verlangen – nicht allein, weil

das Schulsystem die erforderlichen Qualifikationen bis-lang nur unzureichend hervorgebracht hat, sondern auch,weil Voraussetzungen erfolgreicher Bildungsbeteiligung inden vor- bzw. außerschulischen Institutionen und Lebens-welten begründet sind (Carneiro/Heckman 2003).

1.3 Soziale und gesellschaftliche Teilhabe als Bedingungen des Aufwachsens

Die soziale und gesellschaftliche Teilhabe in der Bundes-republik ist wesentlich von der Position ihrer Mitgliederin der sozialen Ordnung abhängig. Sie wird zentral be-stimmt durch die sozio-ökonomische Lage, durch die eth-nische Zugehörigkeit sowie durch das Geschlecht unddurch regionale Lebensbedingungen (BMFSFJ 2002b).Als gesellschaftliche und soziale Strukturkategorien ste-hen diese Faktoren in enger Wechselwirkung insbeson-dere mit Entwicklungen im wirtschaftlichen, politischenund rechtlichen System sowie mit demografischen Verän-derungen.

1.3.1 Sozio-ökonomische LageDie sozio-ökonomische Lebenssituation von Kindern undJugendlichen leitet sich wesentlich aus der weitgehendvom Bildungsniveau abhängigen Beteiligung und Stel-lung der Eltern im Erwerbssystem sowie – damit ver-knüpft – deren Einkommen her und steht in einem engenZusammenhang mit der Familienform (Paarhaushalte oderAlleinerziehende), der Anzahl und dem Alter der Kinder.Sie lässt sich zum einen aus dem bedarfsgewichteten Net-toeinkommen (Äquivalenzeinkommen) der Familien undzum anderen aus der Armutsquote erschließen.34

Die Berechnung des bedarfsgewichteten Einkommenszeigt, dass die Differenzen des auf den Durchschnitt allerHaushalte bezogenen Äquivalenzeinkommens zwischenPaaren mit und ohne Kinder im Jahr 2003 nur geringfügigsind. Mit wachsender Kinderzahl und bei einem niedrige-ren Alter des jüngsten Kindes verschlechtert sich die Ein-kommenssituation jedoch, wenngleich auch in relativ mo-deratem Umfang (Grabka/Krause 2005, S. 4).35 Deutlichprekärer als bei Paaren mit Kindern stellt sich die Ein-kommenssituation der Alleinerziehenden dar. Ihr Äquiva-

33 Auf diesen Zusammenhang weisen auch zahlreiche internationaleStudien hin, vgl. z. B. DiPrete u. a. 2003; Engelhardt u. a. 2001.

34 Die folgenden Daten des SOEP von 2003 (Grabka/Krause 2005) undder Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS; vgl. Glossar) von1998 und 2003 (Engstler/Menning 2003; Bundesministerium für Ge-sundheit und Soziale Sicherung [BMGS] 2005) stützen sich auf dieneue OECD-Skala und die 60 Prozent-Median-Definition der Ar-mutsquote (zur Armutsquote und zum Äquivalenzeinkommen sowiezur OECD-Skala vgl. Glossar). In den SOEP-Berechnungen sindEinkommensvorteile bei selbst genutztem Wohneigentum berück-sichtigt. Noll und Weick (2005, S. 6) weisen darauf hin, dass die Un-gleichheit der Verteilung von Einkommen auf der Grundlage derEVS-Daten tendenziell unterschätzt wird, u. a. weil die Stichprobeim Bereich der oberen Einkommen nur Haushalte bis zu einer be-stimmten Höhe, im Jahr 2003 bis zu 18 000 Euro, erfasst.

35 Berechnungen auf Grundlage der EVS von 1998 zeigen die relationaleVerschlechterung der Einkommenssituation in Haushalten mit zweiund drei Kindern gegenüber Haushalten mit einem Kind: 95 Prozentbzw. 96 Prozent gegenüber 97 Prozent des durchschnittlichen Haus-haltseinkommens. Erst ab vier und mehr Kindern ist ein deutlicherEinkommensnachteil (88 Prozent des durchschnittlichen Haushalts-einkommens) zu verzeichnen (Engstler/Menning 2003, S. 151).

Page 74: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 64 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

lenzeinkommen liegt 2003 bei nur 70 Prozent des Durch-schnittseinkommens (Grabka/Krause 2005, S. 3).36 Auchdie Differenzierung nach dem Alter des jüngsten Kindesbestätigt die benachteiligte Situation von Alleinerziehen-den (vgl. Tab. 1.2).

Ta b e l l e 1.2

Einkommensposition1 von Paar- und Allein-erziehendenhaushalten mit Kindern

(Deutschland; 2003)

1 Bezogen auf das durchschnittliche äquivalenzgewichtete Pro-Kopf-Einkommen von Haushalten in Deutschland.

Quelle: Grabka/Krause 2005; SOEP 2000

Vor dem Hintergrund der in Tabelle 1.2 dargestellten Ein-kommenspositionen verwundert es nicht, dass Alleiner-ziehende insgesamt einem hohen und gegenüber Paarenmit Kindern einem deutlich höheren Armutsrisiko ausge-setzt sind. 2003 lag die durchschnittliche Armutsrate inder Bevölkerung den SOEP-Daten entsprechend bei16 Prozent, bei Familienhaushalten mit (ledigen) Kindernbei 13 Prozent und bei Alleinerziehenden bei knapp unter40 Prozent (Grabka/Krause 2005).37 Alleinerziehende mit

einem unter 4-jährigen jüngsten Kind weisen mit62 Prozent eine außerordentlich hohe Armutsquote38 auf,die mit zunehmendem Alter des jüngsten Kindes zwarsinkt, bei einem Alter von über 16 Jahren aber immernoch oberhalb der durchschnittlichen Armutsrate liegt(vgl. Abb. 1.6).39 Eine wachsende Zahl von Kindern inFamilien bedingt demgegenüber nicht per se ein höheresArmutsrisiko als in Haushalten mit weniger oder gar kei-nen Kindern (Corak u. a. 2005, S. 9).

A b b i l d u n g 1.6

Armutsrate 2003 bei Paaren und Alleinerziehenden nach dem Alter des jüngsten Kindes

(in Prozent)

Quelle: Grabka/Krause (2005), Datenbasis: SOEP 2003

Betrachtet man die Armutssituation der Kinder und Ju-gendlichen für sich genommen, so zeigt sich seit den1990er-Jahren ein konstanter Anstieg (Corak u. a. 2005).2003 weisen Kinder in allen Altersgruppen eine über-durchschnittlich hohe Armutsrate auf, besonders stark be-troffen sind die unter 5-Jährigen (vgl. Abb. 1.7). NachDaten zum Sozialhilfebezug40 zeigt sich ein enger Zu-sammenhang mit der Lebensform des Haushalts: Mehrals die Hälfte dieser Kinder und Jugendlichen lebt in Al-leinerziehendenhaushalten, gut ein Drittel in Zwei-Eltern-Familien (Bundesministerium für Gesundheit und SozialeSicherung [BMGS] 2005, S. 76f.). 36 Dabei befinden sich – den EVS-Daten von 1998 folgend – alleiner-

ziehende Frauen, bei denen das Einkommen bei einem Kind33 Prozent unterhalb des durchschnittlichen Einkommens liegt, in ei-ner sehr viel ungünstigeren Einkommenslage als Männer, bei denendie Differenz nur 9 Prozent beträgt (Engstler/Menning 2003, S. 151).

HaushaltstypRelative Einkommens-

position in %

Paare mit Kindern

Jüngstes Kind

0–3 Jahre 84

4–7 Jahre 100

8–11 Jahre 102

12–16 Jahre 94

Ab 16 Jahren 114

Alleinerziehende mit Kindern

Jüngstes Kind

0–3 Jahre 50

4–7 Jahre 54

8–11 Jahre 69

12–16 Jahre 67

Ab 16 Jahren 88

37 Auf der Grundlage von Berechnungen aus der EVS liegt die durch-schnittliche Armutsrate bei 13,5 Prozent, bei Familienhaushalten mit(ledigen) Kindern bei 13,9 Prozent und bei Alleinerziehenden bei35,4 Prozent (BMGS 2005, S. 76).

38 Zur Armutsquote vgl. Glossar.39 Dies entspricht einem generellen europäischen Trend: Die durch-

schnittliche Armutsrate bei allein erziehenden Eltern und ihren Kin-dern liegt 2001 bei 35 Prozent (Europäische Kommission und Euro-stat 2004).

40 Zur Sozialhilfe vgl. Glossar.

62

56

44

38

2220

1410

13

7

0

10

20

30

40

50

60

70

0-3Jahre

4-7Jahre

8-11Jahre

12-16Jahre

> 16Jahre

Alter des jüngesten Kindes

Arm

uts

rate

in %

Alleinerziehende

Paare

Page 75: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 65 – Drucksache 15/6014

A b b i l d u n g 1.7

Entwicklung der Armutsraten bei unter 20-Jährigen (1984 bis 2003; in Prozent)1

1 Anteil der Personen, deren verfügbares Einkommen weniger als 60 Prozent des Medians der Gesamtbevölkerung beträgt. Annahme einer unver-änderten Armutsgrenze.

Quelle: Grabka/Krause 2005, Datenbasis: SOEP 2003

23,822,8

19,4

15,5 17,7

17,4

14,813,0

13,5

20,4

12,4

15,7

0

5

10

15

20

25

1984 1993 2003

Arm

uts

rate

in %

0-5 Jahre 5-10 Jahre 10-15 Jahre 15-20 Jahre

In den neuen Bundesländern sind Kinder und Jugendlichesowie Paare mit Kindern und Alleinerziehende einem hö-heren Armutsrisiko als im früheren Bundesgebiet sowiegegenüber dem bundesdeutschen Durchschnitt ausgesetzt(Corak u. a. 2005; Noll/Weick 2005, S. 4; Engstler/Menning 2003, S. 154f.). Das höchste Armutsrisiko tru-gen 2002 Paare mit drei und mehr Kindern (40 Prozentgegenüber einem gesamtdeutschen Durchschnitt von29 Prozent) und Alleinerziehende mit zwei Kindern(64 Prozent gegenüber 59 Prozent). Bei den unter 10-jäh-rigen Kindern liegt die Armutsquote um 8 Prozentpunkteüber dem bundesdeutschen Durchschnitt (StatistischesBundesamt 2004a, S. 632f.).

Fast alle „Armutsepisoden“ sind kurz und dauern nichtlänger als drei Jahre. Auf der anderen Seite kehrt Armutoft wieder zurück. Wie vielfältige Analysen des SOEP-Datensatzes von 1998 bis 2003 zur relativen Einkom-mensarmut belegen, ist es mehr als der Hälfte der Betrof-fenen gelungen, ihre Situation zu verbessern, und zwarmit geringen Unterschieden in den Mobilitätsmustern derost- und westdeutschen Bundesländer (Biewen 2003,S. 7). Von den Kindern, die die Armutssituation überwun-den haben, fällt im Zeitraum von vier Jahren wieder die

Hälfte in Armut zurück, wobei dieses Risiko in Ost-deutschland deutlich höher ist als in Westdeutschland:58 Prozent der Kinder sind nach drei Jahren und83 Prozent nach fünf Jahren wieder arm (Corak u. a.2005, S. 16ff.).41 Erwachsene, die – gegebenenfalls zu-sammen mit ihren Kindern – längere Zeit einem erhöhtenArmutsrisiko ausgesetzt sind, sind häufiger niedrig quali-fiziert und außerdem oft allein erziehend oder leben inHaushalten mit drei und mehr Kindern. Trennung oderScheidung, Arbeitslosigkeit bzw. Zusammenleben mitArbeitslosen oder Nichterwerbstätigen sind weitereMerkmale dieser Gruppe (Bundesministerium für Ge-sundheit und Soziale Sicherung [BMGS] 2005, S. 25).

Dass die ökonomische Lage von Familien wesentlich vonder Erwerbsbeteiligung der Eltern abhängt, zeigt sich da-rin, dass sich die Armutsquoten in Familien auf imDurchschnitt etwa 80 Prozent bzw. bei Kindern unter achtJahren sogar auf über 95 Prozent erhöhen, wenn die El-tern nicht erwerbstätig sind, während die Armutslagen bei

41 Grundlage sind Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirt-schaftsforschung (DIW) nach der alten OECD-Skala unter Berück-sichtigung des Mietwerts von selbst genutztem Wohneigentum.

Page 76: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 66 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

zwei Erwerbseinkommen nahezu vernachlässigbar sind(Grabka/Krause 2005, Tab. 2). Die hohe Arbeitslosigkeitund die wachsende Anzahl Langzeitarbeitsloser, die ins-besondere in Ostdeutschland, hier vor allem bei Frauen,eine Zunahme diskontinuierlicher Erwerbsverläufe be-dingt (Schmidt/Schmitt 2004), stellen deswegen ein ho-hes Armutsrisiko dar. Die Armutsraten bei Alleinerzie-henden sind anders als bei Paaren jedoch selbst beimBezug von Erwerbseinkommen, auch aus Vollzeiter-werbstätigkeit, relativ hoch (Grabka/Krause 2005, S. 9f.;vgl. auch Abschnitt 1.2.1). Ihre geringeren finanziellenSpielräume ergeben sich insbesondere daraus, dass sie,verglichen mit der Gesamtbevölkerung, im unteren Ein-kommensbereich überproportional vertreten sind42 undein niedriges individuelles Einkommen nicht durch einPartnereinkommen ergänzt wird. Darüber hinaus erhaltensie weniger Unterstützung als Paare durch ihre Eltern,und ein Zehntel bekommt bis zum 14. Lebensjahr desKindes keine Unterhaltszahlungen sowie danach auchkeine Ersatzzahlungen mehr von der Unterhaltsvor-schusskasse (Sopp 2002).

Kinder, die im Elternhaus Arbeitslosigkeit, Armut undTransferbezüge erfahren und mit der Perspektive kon-frontiert sind, möglicherweise später selbst von Arbeits-losigkeit und von Armut bedroht zu sein, verlangen – wiein diesem Bericht in den Kapiteln 3 und 4 gezeigt wird –besondere öffentliche Aufmerksamkeit. Dabei spielenFragen einer ausreichenden und qualitativ guten institu-tionellen Bildung, Betreuung und Erziehung ebenso eineRolle, wie Fragen des Zugangs zu bildungsrelevanten au-ßerinstitutionellen Förderangeboten und zu Angebotender erzieherischen Familienunterstützung. Investitionenin die Bildung von Kindern und Jugendlichen fördern de-ren Chancen zur sozialen Teilhabe und individuellen Ver-wirklichung und tragen dazu bei, dass soziale und kultu-relle Ressourcen gebildet werden können, die späterenArmutslagen vorbeugen.43 Ob das Aufwachsen von Kin-dern und Jugendlichen durch individuelle und familiäreBelastungen, die mit einem Aufwachsen in Armut einher-gehen, beeinträchtigt wird, muss im Kontext weiterer Sta-tusvariablen betrachtet werden (Walper 2004). Dabeikommt dem Bildungsniveau im Elternhaus eine wichtigeRolle zu, denn hinter Einkommensarmut verbirgt sich oft„Bildungsarmut“ von Eltern, wie empirische Untersu-chungen belegen, die in multifaktoriellen Analysen dieBedeutung elterlicher Schul- und Berufsabschlüsse undeinen bildungsorientierten Lebensstil in der Familie fürdie Chancen der Heranwachsenden zum Kompetenzer-werb und zur Bildungsbeteiligung herausarbeiten.44

1.3.2 Ethnische Zugehörigkeit

Die Bedeutung der ethnischen Zugehörigkeit für die Le-bensführung und für Teilhabechancen von Kindern undJugendlichen wird ersichtlich aus Differenzen in der Bil-dungsbeteiligung, in den Bildungsabschlüssen und imberuflichen Status der Eltern sowie in den sich unter-scheidenden sozio-ökonomischen Lebenslagen zwischenjungen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund.

Die Entwicklung des Schulbesuchs bei ausländischenSchülerinnen und Schülern in den letzten zehn Jahrenzeigt nur geringfügige Veränderungen beim Besuch derunterschiedlichen Schularten. Die höchsten Zuwächsesind bei den Gesamt- und Sonderschulen zu verzeichnen(vgl. Abb. 1.8). Zu berücksichtigen sind herkunftsbe-dingte und geschlechtsspezifische Unterschiede zwischenden unterschiedlichen Gruppen.

A b b i l d u n g 1.8

Anteil ausländischer Schülerinnen und Schüler nach ausgewählten Schularten

(1992 bis 2002; in Prozent)

Quelle: Statistisches Bundesamt (Bundesministerium für Bildung undForschung [BMBF] 2004a, S. 68)

Besonders Kinder, deren Familien aus der Türkei kom-men, sind zu einem hohen Anteil an den niedrigen Schul-stufen vertreten (Gogolin u. a. 2003, S. 5; Herwartz-Em-den 2003, S. 688ff.). Mädchen ausländischer Herkunfterreichen höherwertigere Abschlüsse als ausländischeJungen und verlassen die Schule seltener ohne Haupt-schulabschluss (Heß-Meining 2004; Herwartz-Emden

42 In Westdeutschland auch dadurch bedingt, dass ein Drittel keine Be-rufsausbildung hat.

43 Im 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (vgl.Glossar) werden für Familien die Stärkung individueller (schulischeund berufliche Qualifikationen sowie Alltags-, Haushalts- und Fami-lienkompetenzen), materieller (Familieneinkommen und Vermögen)sowie struktureller Ressourcen (Betreuung, Information, Beratung,berufliche Qualifizierung und Beschäftigungsförderung) gefordert(BMGS 2005, S. 85).

44 Zur Bedeutung des Bildungsniveaus im Elternhaus vgl. z. B. Schnei-der 2004; Baumert u. a. 2001, S. 16; Grundmann 1999a, S. 347;Büchner/Krüger 1996, S. 208ff.; methodisch besonders differenziert:Francesoni u. a. 2005, S. 40. Internationale Überblicke finden sich inHeckman/Masterov 2005; Corak 2004b; Carneiro/Heckman 2003.

0

5

10

15

20

25

30

1992 1994 1996 1998 2000 2002

HauptschuleGymnasiumRealschuleGesamtschuleSonderschule

Page 77: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 67 – Drucksache 15/6014

2003, S. 701f.; Solga 2003, S. 721, 724). Wenngleichmehr ausländische Jugendliche als früher höhere Bil-dungsabschlüsse erreichen, so liegt ihr Anteil an denSchülerinnen und Schülern mit Realschulabschluss und(Fach-)Hochschulreife doch deutlich unter und bei Absol-ventinnen und Absolventen mit Hauptschulabschluss so-wie ohne Schulabschluss über dem Niveau der deutschenVergleichsgruppen (vgl. Tab. 1.3).

Ta b e l l e 1.3

Deutsche und ausländische Abgänger/innen und Absolventen/Absolventinnen des Schuljahres

2002/2003 nach Abschlussarten (in Prozent)

1 Abweichungen durch Rundungen möglich.Quelle: Statistisches Bundesamt 2004f

Geringere Bildungschancen von Kindern und Jugendli-chen aus zugewanderten Familien lassen sich auch ausDaten zu Heranwachsenden mit Migrationshintergrunderschließen. So ergibt sich aus der PISA-Studie 2003,dass der Anteil 15-jähriger Schülerinnen und Schüler ausMigrantenfamilien in den niedrigen Schulformen höherund in den höheren geringer ausfällt (vgl. Tab. A-1.2 imAnhang). Gleichzeitig zeigen Migrantenjugendlicheüberwiegend schwache Lese- und Mathematikleistun-gen, die wesentlich auf sprachliche Probleme, den sozia-len Status und die unzureichende Einkommenssituationder Migrantenfamilien zurückgeführt werden (Rammu. a. 2004; Baumert/Schümer 2001).

Auf Differenzen zwischen den Bildungschancen von Kin-dern und Jugendlichen der ersten und (überwiegend)zweiten Generation von Zuwanderern aus Italien und derTürkei weisen Ergebnisse des Integrationssurveys desBundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB), hin(Below 2003).45 Danach erreichen die türkischen häufigerals die italienischen Befragten Realschul- und seltenerGymnasial- und Hauptschulabschlüsse. Italienerinnen undItaliener mit deutschem Pass haben sehr viel häufiger – inetwa so oft wie die autochthonen Schülerinnen und Schü-ler – eine (Fach-)Hochschulreife als die türkische Ver-gleichsgruppe. Dies wird – neben sehr guten Deutsch-

kenntnissen und einem deutschen Elternteil – als positiverEffekt von Integrationsmerkmalen auf Bildungschanceninterpretiert. Als hoch signifikant für das Erreichen eineshöheren Bildungsabschlusses (Abitur) erweist sich unterKontrolle einer Vielzahl von Faktoren das elterliche Bil-dungsniveau. Negativ wirken ein traditionell-konservativesSchulsystem46, das Wohnen in Gemeinden mit geringererEinwohnerzahl, die Identifikation mit dem Herkunftsland,die Befürwortung traditioneller Geschlechterrollen unddie türkische Nationalität, die anders als ein italienischerMigrationshintergrund eigene Effekte auf eine Benachtei-ligung im Bildungsbereich erhält. Im Vergleich von ersterund zweiter Generation zeigen sich positive Zusammen-hänge mit den Merkmalen der Integration, die insbeson-dere in der italienischen Stichprobe zur Verringerung derUngleichheit im Bildungssystem beitragen.

Zur Position von Aussiedlerkindern im Bildungssystemin Deutschland liegen Hinweise vor, nach denen diesezwar im Niveau der besuchten Schulen und in den Leis-tungen unter jenen der autochthonen Kinder liegen, abereine höhere Position als Kinder aus Migrantenfamilienanderer Herkunft einnehmen (Kristen 2002; Dietz 1999).

Angesichts dieser Daten ergibt sich ein dringender Bedarfzur Förderung von bildungsbenachteiligten Kindern undJugendlichen aus Migrantenfamilien, denn mit dem Feh-len eines Schulabschlusses sowie mit dem Zurückfallenim Bildungs- und Leistungsgefälle werden die Ausbil-dungs- und Erwerbschancen von Migrantenjugendlichengefährdet, und das Risiko von Ausbildungs- und Arbeits-losigkeit wird erhöht (Granato 2003).47 Damit die Ab-wärtsspirale der Entstehung von „Bildungsarmut“ mit derFolge eines geringen sozialen Status aufgrund der Her-kunft aus bildungsfernen und sozio-ökonomisch niedrigpositionierten Familien unterbrochen wird, ergibt sich aufallen Ebenen und in allen Feldern der Bildung, Betreuungund Erziehung ein dringender Handlungsbedarf. Die vor-liegenden Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dasssich Förderinitiativen nicht auf städtische Agglomera-tionsräume mit ihrem relativ hohen Migrantenanteil be-schränken dürfen und dass insbesondere der Sprachförde-rung besondere Aufmerksamkeit – nicht allein imfrühkindlichen, sondern auch im Schulalter – gewidmetwerden muss (Expertise Gogolin). Gleichzeitig ist Hin-weisen nachzugehen – u. a. durch weitere wissenschaftli-

Abschlussart Insge-samt Deutsche

Auslän-der/

innen

Ohne Hauptschul-abschluss 8,9 7,9 19,2

Hauptschulabschluss 26,0 24,5 41,6

Realschulabschluss 40,5 41,6 29,1

Fachhochschulreife 1,2 1,2 1,3

Allg. Hochschulreife 23,5 24,8 8,9

Insgesamt1 100 100 100

45 Zum Integrationssurvey des BiB vgl. Glossar.

46 Die Differenzierung in traditionell-konservative, traditionell-liberale,reformiert-konservative und reformiert-liberale Bildungssysteme be-zieht sich ausschließlich auf westdeutsche Bundesländer und folgt ei-ner Klassifikation nach strukturellen und inhaltlichen Kriterien (Be-low 2003, S. 124).

47 Die Tatsache, dass ausländische weibliche Jugendliche, die gegen-über männlichen ausländischen Jugendlichen seltener die Schule oh-ne Abschluss verlassen, dennoch häufiger als diese keinen Berufsab-schluss haben – im Jahr 2000 traf dies auf 42 Prozent der 20- bis29-jährigen Ausländerinnen gegenüber 34 Prozent der Ausländer zu(Gogolin u. a. 2003, S. 7; Troltsch 2000) –, weist darauf hin, dass indiesem Kontext jenseits herkunftsbedingter Unterschiede auch Ge-schlechterdifferenzen eine Rolle spielen (vgl. die Diskussion in Bed-narz-Braun 2004, S. 177ff., zur Datenlage und zu geschlechterorien-tierten Erklärungsansätzen). Von Below (2003, S. 45) beschreibt denhohen Anteil türkischer Migrantinnen ohne Berufsabschluss als be-sorgniserregend (vgl. auch Abschnitt 4.3).

Page 78: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 68 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

che Analysen –, nach denen der Migrationsstatus alssolcher in bestimmten Herkunftsgruppen einen eigenstän-digen benachteiligenden Effekt erhält.

Die ökonomische Situation von Kindern und Jugendli-chen aus Migrantenfamilien kann als prekärer als die vondeutschen Heranwachsenden bezeichnet werden. Bei ih-nen ist die Armutsquote gegenüber deutschen Kindernzwischen 1991 und 2001 erheblich stärker gestiegen (um10 Prozentpunkte gegenüber 0,5 Prozentpunkten).48 Zwarunterscheidet sich die Dauer von Armutslagen kaum vonder deutscher Kinder, aber ein Rückfall in die Armutssitu-ation innerhalb von zwei Jahren erfolgt bei ihnen seltenerals bei diesen (12 Prozent gegenüber 35 Prozent)49 (Co-rak u. a. 2005). Auch in der Sozialhilfequote50 spiegeltsich die schwierige ökonomische Situation von ausländi-schen Kindern und Jugendlichen. Ende 2002 lag sie beiden unter 18-Jährigen bei gut 13 Prozent (um nahezu7 Prozentpunkte höher als bei den deutschen Kindern).51

Der höhere Anteil der ausländischen gegenüber deut-schen Sozialhilfebeziehern und -bezieherinnen wird dar-auf zurückgeführt, dass im Durchschnitt die Kinderzahlin den Familien höher ist, dass Ausländer und Auslände-rinnen wesentlich stärker von Arbeitslosigkeit betroffensind (Arbeitslosenquote 2002: 19 Prozent gegenüber11 Prozent) und dass sie zu einem geringeren Anteil überqualifizierte Bildungsabschlüsse verfügen (StatistischesBundesamt 2003b, S. 14 f.).

Auch hinsichtlich des Armutsniveaus von Migrantenfa-milien bestehen deutliche Diskrepanzen nach den Her-kunftsländern und dem rechtlichen Status der Zugewan-derten sowie nach der Zusammensetzung von Haushaltenaus Personen mit und ohne Migrationshintergrund (Tucci/Wagner 2005).52 Sie erklären sich insbesondere aus Zu-sammenhängen mit dem Bildungsniveau und dem beruf-lichen Status. Armutslagen finden sich häufiger, wennkein Berufsabschluss vorliegt. Noch in der zweiten undder dritten Generation der in den 1950er- und 1960er-Jah-ren zugewanderten überwiegend niedrig qualifiziertenBeschäftigten wirkt sich die strukturell niedrige Stellungdieser Gruppe in Risiken in der schulischen Laufbahn undauf dem Arbeitsmarkt aus. Bei den in den letzten Jahr-zehnten nach Deutschland gekommenen Migrantinnenund Migranten mit formal niedriger Bildung bedingen in-tergenerationale Transmissionsmechanismen und Famili-ennachzug niedrige soziale Platzierungen (Sachverständi-genrat für Zuwanderung und Integration 2004, S. 96).

Mit der Zunahme des Anteils von Migrantinnen und Mi-granten in der Bevölkerung sind – sowohl mit Blick auf diegesellschaftliche Entwicklung als auch mit Blick auf dieindividuelle Förderung und Erhöhung der Zukunftschan-cen von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfa-milien – enorme Herausforderungen an das System derBetreuung, Erziehung und Bildung verbunden. Dringlicherscheint es, Förderinitiativen zu entwickeln, um die Bil-dungschancen von Kindern und Jugendlichen mit Migra-tionshintergrund zu verbessern, die aus ökonomischschlechter gestellten und bildungsfernen Milieus stam-men. Dies gilt für einen vergleichsweise hohen Anteil derZugewanderten, wenngleich vor groben Verallgemeine-rungen angesichts der Diversifizierung von Migration mitDifferenzen in der Herkunft, der Aufenthaltsdauer und imsozialen Status gewarnt werden muss (Expertise Gogolin).Ein besonderes Augenmerk sollte dabei auf die Gruppeder Kinder und Jugendlichen der zweiten und der drittenGeneration gerichtet werden, denn es ist anscheinend derdeutschen Gesellschaft nicht ausreichend gelungen, sie sozu integrieren, dass sie Zuversicht in ihre Zukunft undihre Fähigkeiten entwickeln können (Fertig 2005, Son-derauswertung von SOEP-Daten).

1.3.3 GeschlechtIn der öffentlichen Diskussion wird weitgehend die Mei-nung vertreten, dass Geschlecht als gesellschaftlichesStrukturmerkmal seine prägende, sozial differenzierendeKraft verliert. Die Geschlechter scheinen sich in vielenEinstellungs- und Handlungsorientierungen sowie Le-bensweisen anzugleichen. Belegt wird dies – im Wesent-lichen unter Bezug auf den westdeutschen historischenKontext – mit der Tendenz zu höheren Bildungsabschlüs-sen bei Mädchen und der Zunahme weiblicher Studieren-der, dem Anstieg der Ausbildungsbeteiligung bei jungenFrauen und deren zunehmender Erwerbsorientierung so-wie der ansteigenden Erwerbsbeteiligung von Frauen(Hofäcker/Lück 2004). Individuelle Gleichstellungsan-sprüche und politische Maßnahmen zur Gleichberechti-gung von Frauen in Beruf und Gesellschaft werden zu-nehmend akzeptiert, und die Erwerbstätigkeit vonMüttern ist auch im früheren Bundesgebiet keine Ausnah-meerscheinung mehr. Hinsichtlich der Erwerbs- und Kar-rierewünsche von Frauen und Müttern zeichnet sich einbreite gesellschaftliche Akzeptanz ab, und der Wunschnach einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familiewird unterstützt, indem u. a. ausreichende und bedarfsge-rechte Kinderbetreuungseinrichtungen gefordert werden.Auch der Habitus des „neuen Mädchens“, der Durchset-zungskraft und Leistungsorientierung signalisiert sowieGleichberechtigung einklagt, wird als Ausdruck verän-derter Geschlechterverhältnisse interpretiert (Oechsle/Geissler 1998).

Neben diesen Anzeichen, dass Geschlechtergrenzen sichin der Auflösung befinden und Benachteiligungen vonFrauen abgebaut werden, zeigen sich jedoch auch Be-harrungstendenzen in der gesellschaftlichen Geschlechter-hierarchie sowie die Entstehung von neuen Benachteili-gungsstrukturen. Beispiele finden sich in Westdeutschlandvor allem im Kontext von Erwerbstätigkeit und Familie: in

48 SOEP-Daten 1991 bis 2002, Berechnung der Armutsquote auf derGrundlage einer 50 Prozent-Median-Armutsgrenze.

49 Die Autoren weisen darauf hin, dass es sich hierbei um ein statisti-sches Artefakt handeln könnte.

50 Hier: Laufende Hilfe zum Lebensunterhalt.51 Bezogen in der ausländischen Bevölkerung Ehepaare ohne Kinder zu

knapp 15 Prozent Sozialhilfe, so waren es bei Ehepaaren, die Kinderim Alter unter 18 Jahren hatten, fast 21 Prozent, während gut17 Prozent der alleinerziehenden Frauen mit Kindern gleichen AltersSozialhilfe erhielten.

52 Differenziert wurde u. a. nach: westliche, nicht-westliche Staaten,Ausländerinnen/Ausländer, Aussiedler/Aussiedlerinnen, Eingebür-gerte.

Page 79: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 69 – Drucksache 15/6014

der Rückkehr zu einer traditionellen Arbeitsteilung vonPaaren nach der Geburt des ersten Kindes, der primärenZuständigkeit von Frauen für die Lösung des „Vereinbar-keitsproblems“, der damit einhergehenden, vielfach unge-wollten Aufgabe oder Reduzierung der Erwerbstätigkeitund deren negativen Folgen für Erwerbsbeteiligung, be-ruflichen Aufstieg und Einkommen (Schäfer/Vogel 2005;Ziefle 2004; Beckmann 2002). In Ostdeutschland gewinntdie traditionelle geschlechtsspezifische familiäre Arbeits-teilung als Folge zunehmender Arbeitsmarktprobleme anBoden. Wie westdeutsche Frauen erfahren ostdeutsche zu-nehmend, wenn auch noch in geringerem Ausmaß, Be-nachteiligungen im Zusammenhang mit der geschlechts-spezifischen Segmentierung des Arbeitsmarktes, bei derEinstellungspraxis in Betrieben und bei der Besetzung hö-herer Positionen im Beschäftigungsbereich sowie – 2001in noch deutlicherem Ausmaß als 1993 – in der Entloh-nung (Holst 2005; Hinz/Gartner 2005). Auf die anhaltendeGeltung von geschlechterstereotypen Erwartungen anKinder und Jugendliche weisen darüber hinaus Ge-schlechterdifferenzen in Freizeitpräferenzen und in derZeitverwendung von Mädchen und Jungen hin. So werdenMädchen stärker zu Haushaltsarbeiten herangezogen alsJungen, sie treiben seltener Sport, bevorzugen andereSportarten als Jungen und gehen häufiger kulturellen Be-schäftigungen in ihrer Freizeit nach (Cornelißen/Blanke2004b; Expertise Deutsches Institut für Wirtschaftsfor-schung [DIW]; Institut für praxisorientierte Sozialfor-schung [IPOS] 2003; Cornelißen u. a. 2002).

Gleichzeitig werden Benachteiligungen im Geschlechter-verhältnis angesichts des „Aufholens“ von Mädchen neu-erdings auch für Jungen konstatiert, insbesondere vordem Hintergrund der besseren schulischen Leistungenvon Mädchen und der „riskanten“ Verhaltensweisen vonJungen. Infrage gestellt werden geschlechtstypischeStrukturen auch mit der Diskussion um die „Feminisie-rung“ von Erziehung und Bildung (Expertise Rabe-Kleberg).

Einerseits führen die zu beobachtenden geschlechtsspezi-fischen Grenzauflösungen und normativen Verflüssigun-gen dazu, dass sich die Handlungsoptionen – derzeit vorallem für Mädchen – erweitern und dass sich Kinder undJugendliche selbst aktiv in dem offener gewordenenSpektrum von Verhaltenserwartungen verorten müssen.Andererseits sind Mädchen und Jungen nach wie vor inverschiedenen Bereichen mit relativ stabilen Geschlechter-konstellationen, Geschlechterstereotypen und geschlechts-spezifischen Verhaltenserwartungen konfrontiert, die ihreErfahrungen und ihre Lebensplanung geschlechtstypischkanalisieren. Häufig nehmen sie die gravierenden sozia-len, ökonomischen und beruflichen Ungleichheiten imGeschlechtersystem im Kindes- und Jugendalter jedochnoch nicht wahr. Nichtsdestoweniger sind diese zentralfür ihre Lebensführung und ihren Lebensalltag sowie fürihre spätere Positionierung in der gesellschaftlichenGeschlechterordnung. Wie gleichberechtigte Hand-lungschancen und der Zugang zu „geschlechterkodiertenWelten“ für beide Geschlechter eröffnet, geschlechtsspe-zifische Benachteiligungen abgebaut sowie Orientierun-gen, Aneignungs- und Umgangsmöglichkeiten mit beste-

henden Ambivalenzen geschlechtsbezogener Erfahrungenvermittelt werden können, sind deswegen zentrale Fragenvon Erziehung und Bildung.

Darüber hinaus besteht Bedarf an Instrumenten und Maß-nahmen, die dazu beitragen können, Benachteiligungenvon Frauen im Erwerbssystem abzubauen (vgl. auch Ab-schnitt 1.3.1). Dazu gehört neben arbeitsmarkt- und so-zialpolitischen Initiativen auch, in Westdeutschland aus-reichend Kinderbetreuungsmöglichkeiten bereitzustellen(Stöbe-Blossey 2004; Spieß u. a. 2002), in Ostdeutsch-land zum Erhalt des relativ guten Ausbaus der Kinderbe-treuungseinrichtungen beizutragen und in beiden Lan-desteilen deren Flexibilität und Qualität zu erhöhen.

Aus gesellschaftlicher Sicht erweisen sich eine unzurei-chende Ausstattung mit qualitativ hochwertigen Kinder-betreuungsangeboten in Westdeutschland sowie die rela-tiv hohe Resistenz gegenüber einer Veränderung dergeschlechtsspezifischen Arbeitsteilung als hinderlich füreine bessere und breitere Ausbildungs- bzw. Erwerbsinte-gration sowie eine Erhöhung der Aufstiegschancen vonFrauen und damit als volkswirtschaftlich problematisch(Spieß u. a. 2002). Gleichzeitig können mangelnde Kin-derbetreuungsangebote in Verbindung mit einer Minde-rung von Erwerbs- und Aufstiegschancen von Frauen auf-grund des „Geburtenrisikos“ und ihrer überwiegendenZuständigkeit für Kinderbetreuung in der Familie die Ent-scheidung für Kinder behindern. Dieser Zusammenhangkann sich insbesondere auch als Barriere bei hoch qualifi-zierten jungen Frauen auswirken, Kinder zu bekommen,und damit dazu beitragen, dass sich die Kinderzahlen inbildungsnäheren Schichten verringern (Wirth/Dümmler2004).

1.3.4 Region

Selbst wenn die wachsende gesellschaftliche Mobilitätsowie die Nutzung neuer Kommunikationsmittel Kindernund Jugendlichen einen Zugang zu ferneren, teilweiseauch „virtuellen“ Erfahrungswelten eröffnet haben, sindes doch – nach wie vor und auch in Zukunft – vor allemdie regionalen und lokalen Entwicklungen, die den Le-bensalltag konturieren. Für Kinder, Jugendliche und ihreFamilien stellen regionale und lokale Umwelten primäreRäume der Aneignung der dinglichen und sozialen Welt,der Versorgung mit Konsumgütern und Dienstleistungen,der Ausstattung mit Erziehungs-, Bildungs- und Unter-stützungsangeboten sowie der Reproduktion und Regene-ration dar. Differenzen in den sozialräumlichen Lebens-welten bedingen deswegen einen unterschiedlichenAnregungsgehalt und ungleiche Chancen für Entwick-lungs- und Bildungsprozesse von Kindern und Jugendli-chen.

Zwar haben sich regionale Disparitäten und raumstruktu-relle Unterschiede in Deutschland im Laufe der letztenzehn Jahre abgeschwächt, von einer Angleichung der Le-bensverhältnisse in den unterschiedlichen Teilräumenkann jedoch nicht gesprochen werden. Ungleiche sozial-räumliche Entwicklungen zeigen sich vor allem in

Page 80: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 70 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

– anhaltenden sozialen Segregationsprozessen in denStädten,

– der Abwanderung aus den Städten in deren (weiteres)Umland (Suburbanisierung),

– großräumigen Ost-West- sowie Nord-Süd-Disparitä-ten,

– unabhängig von Ost-West- bzw. Nord-Süd-Differen-zen bestehenden regionalen Disparitäten sowohl zwi-schen ländlichen Gebieten und Agglomerationsräu-men wie auch zwischen strukturschwachen undentwicklungsdynamischen ländlichen bzw. verdichte-ten Räumen (Lutter 2005; Bundesamt für Bauwesenund Raumordnung [BBR] 2000).

Diese strukturellen Prozesse vollziehen sich jedoch nichtüberall in gleichem Umfang und gleicher Intensität, viel-mehr zeigen sich regional differierende Ausprägungenund Ungleichzeitigkeiten aufgrund von unterschiedlichenAusgangslagen sowie Entwicklungsgeschwindigkeiten.Sie sind Resultat komplexer Interaktionsprozesse zwi-schen zentralen Komponenten dieser Prozesse, zu denendie Verteilung und Entwicklung der Bevölkerung, des Ar-beitsmarktangebots im Zuge wirtschaftlicher Dynamikensowie der materiellen, personellen und institutionellen In-frastruktur gehören (BBR 2000, S. 7ff.). Regionale Dis-paritäten nehmen Einfluss auf das Aufwachsen von Kin-dern und Jugendlichen sowie die Lebenssituation ihrerFamilien. Sie wirken im Wesentlichen über

– alters- und haushaltsspezifische sowie soziale und kul-turelle Mischungen bzw. Entmischungen in der Bevöl-kerungszusammensetzung des sozialen Umfeldes,

– die Verfügbarkeit und die Qualität des Wohnungs- undFreiflächenangebots,

– den Zugang zu Angeboten für Bildung, Erziehung undBetreuung (z. B. Schulen, Kindertageseinrichtungen,soziale und kulturelle Angebote),

– die Versorgung mit Kommunikations- und Unterstüt-zungsangeboten sowie mit haushaltsbezogenenDienstleistungen und Gütern sowie

– unterschiedliche individuelle sowie familiäre sozio-ökonomische Gestaltungsspielräume und Zukunfts-perspektiven im Zusammenhang mit dem regionalenArbeitsplatzangebot und mit Armutsrisiken.

(a) Aufwachsen in der Stadt

Kindern und Jugendlichen, die in Städten aufwachsen,bietet sich prinzipiell eine vergleichsweise hohe Vielfaltsozialer Erfahrungsmöglichkeiten durch unterschiedlicheBetreuungs-, Freizeit- und Bildungsangebote sowie einebunte Mischung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppenund -schichten. Inwieweit derartige Chancen wahrgenom-men werden können, ist jedoch wesentlich von der städti-schen Struktur sowie von der sozio-ökonomischen Lageder Familien abhängig, die den Wohnstandort, die Wohn-qualität und Wanderungsprozesse beeinflussen. So erhö-hen abwechslungsreiche kulturelle, soziale und kommer-zielle Angebote in „Singlestädten“ mit einem relativ

niedrigen Anteil von Familien – Universitäts- und Ver-waltungsstandorte sowie Dienstleistungszentren wieMünchen, Frankfurt am Main und Düsseldorf – die Le-bensqualität der Bewohnerinnen und Bewohner, und esbieten sich in der Regel ausreichende Erwerbsmöglich-keiten. Allerdings schränken ein relativ hohes Mietniveauund hohe Lebenshaltungskosten die Wahl derartigerWohnstandorte für Familien niedriger sozialer Schichtenein, und die geringe Verfügbarkeit von Betreuungsmög-lichkeiten für Kinder verringert deren Attraktivität(BMFSFJ 2005).

Innerhalb von Städten zeigen sich Differenzen zwischeneinzelnen Stadtteilen in der Wohn- und Wohnumfeldqua-lität, der Raumnutzung (z. B. Mischung von Gewerbe-und Wohnflächen) sowie der sozialen Zusammensetzungder Bewohnerschaft. Wesentliche Merkmale sozialräum-licher Segregationen sind die ökonomische Situation vonHaushalten (Einkommen, Eigentum, Position auf demArbeitsmarkt), soziale Unterschiede (Bildung, Gesund-heit, soziale Teilhabe, Position auf dem Wohnungsmarkt),kulturelle Unterschiede (ethnische Zugehörigkeit, Reli-gion, normative Orientierungen [Spieckermann/Schubert1997, S. 7, zit.n. Boos-Nünning/Otyakmaz 2000, S. 18]).Sie bedingen in Wechselwirkung mit dem Marktgesche-hen auf dem Wohnungs- bzw. Immobilienmarkt und regu-lierenden kommunalen Eingriffen eine Homogenisierungder Bevölkerungszusammensetzung städtischer Quar-tiere (Radtke 2004). Sozio-ökonomisch niedrig positio-nierte Bevölkerungsschichten konzentrieren sich vor al-lem in Großsiedlungen am Stadtrand, die überwiegend inden 60er- und 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts entstan-den sind, sowie in innenstadtnahen Altbauquartieren miteinem niedrigen Mietniveau. Bei Letzteren handelt essich um als „soziale Brennpunkte“ etikettierte Stadtviertelmit Sozialwohnungen sowie einem qualitativ schlechtenWohnungsbestand, die häufig ein hohes soziales Kon-fliktpotenzial aufweisen (Häußermann 2001; Neuhöfer1998). In derartigen Quartieren leben vielfach auch Fami-lien mit mehreren Kindern sowie Haushalte mit Mehr-fachbenachteiligungen53, für die das übliche Mietpreisni-veau in besser situierten Stadtvierteln nicht erschwinglichist, sowie Migrantinnen und Migranten aus niedrigen So-zialschichten mit einem – oftmals aufgrund von Arbeits-losigkeit – geringen Einkommen (Hillmann 2004; BBR2000, S. 100, 148; Neuhöfer 1998).

Der Anteil von Ausländerinnen und Ausländern betrug2003 in den Stadtstaaten – mit teilweise hohen Verdich-tungen in einzelnen Quartieren – zwischen 13 Prozentund 15 Prozent (mit Berlin) und erreicht in einzelnenStädten sogar ein Fünftel bis ein Viertel (z. B. Mannheim,München, Frankfurt/Main), in Offenbach fast ein Drittel(Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flücht-linge und Integration 2004, S. 10f.). Entsprechend hochist auch der Anteil von Schülerinnen und Schülern mitMigrationshintergrund in diesen Städten und – angesichts

53 Als Beispiele dienen Neuhöfer u. a. (1998, S. 39) „die deutsche al-leinerziehende Mutter, die zugleich Sozialhilfeempfängerin und Kli-entin der Familienfürsorge ist“ und „der entlassene Strafgefangene,der überschuldet ist und eine Drogentherapie absolviert hat“.

Page 81: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 71 – Drucksache 15/6014

von räumlichen Segregationsprozessen mit hohen Kon-zentrationen von Migrantinnen und Migranten – in ein-zelnen Stadtquartieren bzw. in den hier liegenden Schulen(Radtke 2004; Herwartz-Emden 2003; Gogolin u. a.2003). Dabei findet sich in entsprechenden Stadtviertelnoftmals eine Migrantenbevölkerung aus vielen verschie-denen Herkunftsregionen. So sprechen die Schülerinnenund Schüler in Hamburger Grundschulen ca. 100 ver-schiedene Familiensprachen außer Deutsch (Gogolin u. a.2003, S. 31ff.). Dass nicht allein ethnische Bindungenbzw. Vermittlungen für derartige räumliche Segregations-prozesse verantwortlich sind, sondern diese vor allem mitder unterschiedlichen ökonomischen Leistungsfähigkeitvon Haushalten zusammenhängt, zeigt sich darin, dassdeutsche Jugendliche vor allem dann in Nachbarschaftenmit ausländischen Familien leben, wenn ihr familiärerLebensstandard niedrig ist. Da derartige Nachbarschaftenoftmals nicht frei gewählt sind, führt das Zusammenlebennicht selten zu sozialen Konflikten (Münchmeier 2002,S. 82; Deutsche Shell 2000, S. 228).

Kinder und Jugendliche, die in innenstadtnahen verkehrs-reichen Wohngebieten mit einem schlechten Baubestand,mangelnden Spiel- und Freiflächen, einer homogenen Be-völkerung mit einem niedrigen Sozialstatus und einemhohen sozialen Konfliktpotenzial aufwachsen, sind in ih-ren Aneignungs- und Explorationsmöglichkeiten imhäuslichen Wohnumfeld erheblich eingeschränkt. Häu-ßermann und Kapphan (2000, S. 231) heben hervor, dassdie Möglichkeiten sozialen Lernens von Kindern undJugendlichen in derartigen Quartieren aufgrund fehlenderVorbilder im sozialen Umfeld, die „ein ‚normales’ Leben ...(z. B. Erwerbstätigkeit, regelmäßiger Schulbesuch etc.)“repräsentieren, ungünstig seien. Der Anpassungsdruck inderartigen Stadtvierteln beinhalte die Gefahr, sozial ab-weichende Verhaltensweisen zu entwickeln, die u. a. Aus-grenzungen, Abwertungen und Stigmatisierungen durchdie übrige Gesellschaft verstärken (Häußermann 2001;Neuhöfer 1998, S. 40f.). Darüber hinaus beinhaltet dieKonzentration von Schülerinnen und Schülern in einzel-nen Klassen und Schulen im Einzugsgebiet der so ge-nannten sozialen Brennpunkte die Gefahr der Bildungs-benachteiligung, wie Forschungsergebnisse aus den USAzu Zusammenhängen zwischen Leistungsmessungen undethnischer Homogenität in Schulen bzw. Schulklassen be-legen (Radtke 2004). Kindern und Jugendlichen mit Mi-grationshintergrund und ihren Familien können Stadt-quartiere mit einem hohen Anteil von Bewohnerinnenund Bewohnern gleicher Herkunft jedoch auch Rück-zugsmöglichkeiten aus spannungsreichen interethnischenBeziehungen sowie Schutz vor Marginalisierung und Dis-kriminierung in ihrem unmittelbaren Wohnumfeld bieten,die Selbstorganisationskraft der Familie stärken und Un-terstützungsfunktionen bei einer unsicheren Lebensper-spektive und bei Integrationsproblemen bereitstellen.Gleichzeitig ist aber auch zu berücksichtigen, dass durchderartige sozialräumlich segregierte Lebensweisen Inte-grationsprozesse behindert werden, da der Zugang zuNormen, Werten und Gewohnheiten der Mehrheitsgesell-schaft erschwert, Bildungschancen verringert und schuli-

sche Fördermaßnahmen gefährdet sind (Boos-Nünning/Otyakmaz 2000, S. 20).

(b) Aufwachsen auf dem Lande

Mit der wachsenden Mobilität, der stärkeren sozialenAusdifferenzierung der Dorfbevölkerung und einer zu-nehmenden Verringerung der sozialen Kontrolle habensich städtische und ländliche Lebenswelten einander an-genähert, ohne dass jedoch Unterschiede in den Lebens-weisen, in der infrastrukturellen Versorgung, im Arbeits-platzangebot sowie in der Wirtschaftskraft und -strukturgänzlich verschwunden wären (Schrapper/Spies 2002;BBR 2000, S. 67). Gleichzeitig existieren aber zwischenunterschiedlichen ländlichen Bereichen deutliche Dispa-ritäten in den Lebensbedingungen und in der Bevölke-rungszusammensetzung. Neben strukturschwachen Ge-bieten mit geringen Erwerbsmöglichkeiten und einerdefizitären Infrastruktur gibt es ländliche Räume, die sichdurch eine hohe wirtschaftliche Entwicklungsdynamikauszeichnen oder als Naherholungsgebiete in der Nähevon Agglomerationsräumen bzw. aufgrund ihrer Lageeine hohe Attraktivität und Wirtschaftskraft aufweisen(BBR 2000, S. 64f.). Insbesondere in peripheren ländli-chen Räumen ist das Einkommensniveau relativ niedrig,häufig weil Probleme bestehen, den wirtschaftlichenStrukturwandel bei abnehmenden Beschäftigungsmög-lichkeiten in der Landwirtschaft zu bewältigen. Abwan-derungen, Fernpendeln und die Annahme unterwertigerBeschäftigung bis hin zum Rückzug aus der Erwerbsar-beit sind – ebenso wie eine unzureichende Infrastruktur-ausstattung – Begleiterscheinungen derartiger Probleme(BBR 2000, S. 105).

Generell sind ländliche Räume durch eine gegenüberStädten geringere infrastrukturelle Dichte gekennzeich-net, u. a. ist die Erreichbarkeit von Schulen (insbesondereder Sekundarstufe II) sowie von Bildungs-, Betreuungs-und Erziehungsangeboten geringer (BBR 2000, S. 102)54

und für die Inanspruchnahme von kulturellen und sozia-len Angeboten ist eine hohe Mobilität erforderlich (BBR2000, S. 116). Hinsichtlich des Angebots an Kinder-betreuungseinrichtigungen „auf dem flachen Land“ be-stehen in Westdeutschland erhebliche Einschränkungeninsbesondere im frühkindlichen Bereich und bei Ganz-tagsplätzen. In Ostdeutschland zeichnet sich aufgrund derAbwanderung insbesondere jüngerer Menschen und derdemografisch bedingten zunehmendem Alterung der Be-völkerung ein Abbau von Bildungs-, Betreuungs- und Er-ziehungsangeboten ab. Ein derartiger Trend ist jedochauch in den alten Bundesländern, insbesondere in derNähe altindustrieller Produktionszentren zu beobachten,und wird sich möglicherweise im Zuge der räumlichenAusweitung von Suburbanisierungsprozessen, d. h. mitder zunehmenden Abwanderung in die Nachbarregionendes städtischen Umlands, auch in städtischen Agglomera-

54 Im Landesjugendbericht Baden-Württemberg für die 13. Legislatur-periode wird aufgrund des geringen Angebots von weiterführendenSchulen von einem „Bildungsgefälle zwischen ländlichen Regionenund Städten“ gesprochen (Sozialministerium Baden-Württemberg2004, S. 55).

Page 82: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 72 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

tionsräumen entwickeln (BBR 2000, S. 102, 171). MitBlick auf die Bildungschancen von Kindern und Jugend-lichen im ländlichen Raum ergeben sich hieraus großeplanerische und politische Herausforderungen, um denEinsatz finanzieller Mittel der sich verringernden öffentli-chen Haushalte effektiv und an den Interessen von Kin-dern und Jugendlichen orientiert einzusetzen.

Kinder und Jugendliche, die auf dem Land aufwachsen,profitieren in der Regel von geringen Verkehrsbelastun-gen sowie von mehr Spiel- und Freiflächen zur selbst be-stimmten Nutzung mit Gleichaltrigen. Ein Vorteil desAufwachsens auf dem Land kann auch in der Einbindungin ein überschaubares soziales Umfeld, sowie in eine sehrfein differenzierte Vereinsstruktur zur Freizeitgestaltunggesehen werden (Sozialministerium Baden-Württemberg2004, S. 55ff.; BBR 2000, S. 67). Andererseits könnendie größeren räumlichen Entfernungen, u. a. zur Schuleund zu Freizeiteinrichtungen bzw. -angeboten, in Verbin-dung mit einem mangelhaften Ausbau öffentlicher Ver-kehrsmittel zu Bewegungs- und Handlungsbarrieren fürKinder und Jugendliche werden. Sie bringen erhöhte Mo-bilitätsanforderungen sowie in der Regel eine stärkereAbhängigkeit von der Bereitschaft der Eltern zu „Fahr-diensten“ mit sich (Sozialministerium Baden-Württem-berg 2004, S. 56; Schrapper/Spies 2002, S. 66). Auch inden Möglichkeiten, interkulturelle Erfahrungen zu ma-chen, ist die überwiegende Anzahl der Heranwachsendenauf dem Land gegenüber Kindern und Jugendlichen, diein städtischen Lebensräumen aufwachsen, benachteiligt,da hier der Anteil von Migrantenfamilien relativ geringist (vgl. Abschnitt 1.3.4 (a); Expertise Gogolin; Gogolinu. a. 2003). Angebote zur Förderung internationaler Kon-takte könnten u. a. dazu beitragen, Toleranz und Akzep-tanz gegenüber anderen Kulturen und Lebensweisen zufördern (Schrapper/Spies 2002, S. 65; Sächsisches Staats-ministerium für Gesundheit und Familie 1996, S. 24). Diegeringe Anzahl von Kindern und Jugendlichen aus Mi-grantenfamilien stellen eine besondere Herausforderungfür die Entwicklung von erreichbaren bildungsförderndenintegrativen Organisationsformen der Bildung, Betreuungund Erziehung in ländlichen Regionen dar. Gebiete mit ei-ner hohen Konzentration von Migrantinnen und Migran-ten, wie sie aufgrund der Ansiedlung von Erstaufnahme-einrichtungen für Neuzuwandernde im ländlichen Raumin einigen Flächenländern gegeben sind, erfordern wie-derum Maßnahmen, um Separierungen der Bevölke-rungsgruppen zu vermeiden (Expertise Gogolin; Gogolinu. a. 2003).

Insgesamt ergeben sich je nach der Nähe und Ferne zuStädten, dem Arbeitsmarktangebot sowie der infrastruk-turellen Ausstattung ländlicher Wohngebiete mit Betreu-ungs-, Freizeit- und Bildungseinrichten differenzierteAnforderungen für die Förderung kindlicher und jugend-licher Lern- und Bildungsprozesse im ländlichen Bereich.

(c) Aufwachsen unter dem Aspekt großräumiger Disparitäten

Die Lebenssituationen in Ost- und Westdeutschland sinddurch Disparitäten gekennzeichnet, die sich in den neuenBundesländern in höheren Armutsbelastungen von Kin-

dern und in höheren Arbeitslosenquoten (im Jahr 200320 Prozent gegenüber 9 Prozent) mit einem großen Anteilvon Frauen und von Langzeitarbeitslosen (Bundesagenturfür Arbeit 2004) zeigen. Aufgrund wirtschaftlicher Pro-bleme und den damit verbundenen geringen Ausbil-dungschancen seit Anfang der 1990er-Jahre sind vorallem höher qualifizierte junge Menschen nach West-deutschland abgewandert, wobei sich dieser Trend mitt-lerweile jedoch zugunsten einer zunehmenden Binnen-wanderung innerhalb der neuen Bundesländernabgeschwächt hat (Deutscher Bundestag 2004, S. 19;BBR 2000, S. 15). In vielen ostdeutschen Städten – vorallem in Klein- und Mittelstädten – hat sich die Bevölke-rung aufgrund von Abwanderungen erheblich verringert;der Verlust liegt in den meisten Städten bei 10 Prozent bis20 Prozent (Mädling 2002, S. 8). Derartige Entwicklun-gen sind jedoch nicht auf die neuen Bundesländer be-schränkt, sondern finden sich auch im früheren Bundes-gebiet in strukturschwachen Regionen, insbesondere inaltindustriellen und monostrukturierten Regionen (BBR2000).55

Die demografische Entwicklung in Ostdeutschland mit ei-nem starken Rückgang der Geburten nach der Wiederver-einigung und mit noch immer unterhalb des westdeut-schen Durchschnitts liegenden Geburtenraten, die zurVeränderung des Altersaufbaus der Bevölkerung mit ei-nem hohen Anteil Älterer und einem geringen Anteil Jün-gerer führt, birgt für die Organisation des Bildungs-,Betreuungs- und Erziehungssystems besondere Heraus-forderungen. Ausgehend von der 10. koordinierten Be-völkerungsvorausberechnung (Statistisches Bundesamt2003a) ist aufgrund des zu erwartenden Rückgangs derAnzahl der Jugendlichen damit zu rechnen, dass die der-zeitige Infrastruktur der Kinder- und Jugendhilfe ausge-dünnt wird, so dass die Erreichbarkeit von Angeboten er-schwert werden dürfte. Hingegen wird sich bei denAngeboten für Sechs- bis Zehnjährige die Nachfrage biszum Jahr 2015 erhöhen, ebenso bei den Kindergartenkin-dern, allerdings auf einem niedrigeren Niveau, und dieAnzahl der Dreijährigen wird zunächst etwas sinken unddann wieder ansteigen (Deutscher Bundestag 2004,S. 25ff.).

Dadurch, dass Kinder in den neuen Bundesländern einbesser ausgebautes Angebot an Betreuungseinrichtungenvorfinden, kann angenommen werden, dass die weitge-hend selbstverständliche Erwerbstätigkeit von Mütternseltener zu Organisationsproblemen im Kinderalltag unddamit zu familiären Belastungen führt. Gleichzeitig sindmehr Kinder in Ost- als in Westdeutschland aufgrund derhohen Arbeitslosenquoten und stärkeren Diskontinuitätenzwischen Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit der Elternsowie einem größeren Anteil von Kindern, die bei Allein-erziehenden aufwachsen, von Armut betroffen bzw. be-

55 Die höchsten Arbeitslosenquoten sind im Jahr 2003 in Sachsen-An-halt und Thüringen registriert worden, aber auch in einzelnen Regio-nen in Nordhessen und Rheinland-Pfalz sowie in Bremen war die Ar-beitsmarktlage ausgesprochen problematisch. Demgegenüber lag dieArbeitslosenquote in Bayern und Baden-Württemberg deutlich unterdem bundesrepublikanischen Durchschnitt (Bundesagentur für Ar-beit 2004).

Page 83: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 73 – Drucksache 15/6014

droht. Dies dürfte – ebenso wie in anderen strukturschwa-chen Regionen mit hohen Arbeitslosenanteilen – denZugang zu kommerziellen bildungsrelevanten Angebotenfür einen größeren Anteil von Kindern und Jugendlicheneinschränken. Der geringere Anteil an Migrantinnen undMigranten in Ostdeutschland bedingt für Kinder und Ju-gendlichen einen Verlust an kulturellen Erfahrungen undführt darüber hinaus zu einer distanzierteren und frem-denfeindlicheren Haltung bei Jugendlichen als in West-deutschland. Entsprechende Haltungen werden nicht nurfür 16- bis 29-jährige Jugendliche auf der Grundlage desJugendsurvey des Deutschen Jugendinstitut 1997 belegt(Kleinert 2000), sondern auch in der 3. Welle des DJI-Ju-gendsurvey für 12- bis 15-Jährige und für 16- bis 29-Jäh-rige bestätigt. Für Letztere zeigt sich im Vergleich mitden Jugendsurvey-Daten von 1992 und 1997 allerdingseine Abnahme fremdenfeindlicher Orientierungen.56

1.4 Veränderungen des Bildungs-, Betreu-ungs- und Erziehungssystems

In den bisherigen Abschnitten dieses Kapitels standen dieveränderten Rahmenbedingungen des Aufwachsens undder Lebenslagen von Kindern, Jugendlichen und ihrenFamilien im Mittelpunkt. In diesem letzten Abschnittwird die Perspektive gewechselt und nach der institutio-nellen Seite lebensweltlicher Veränderungen, nach denFolgen für das Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungs-system gefragt. Diese sind zwar nicht streng nur auf diezuvor genannten Entwicklungen zurückzuführen, korres-pondieren aber dennoch mittelbar oder unmittelbar mitden diagnostizierten Veränderungen der privaten Lebens-welten, die sich in ihren gesellschaftlichen Folgen auchan den Veränderungen des Bildungs-, Betreuungs- undErziehungssystems ablesen lassen. Deshalb soll nachfolgend – auf einige ausgewähltePunkte konzentriert – danach gefragt werden, welcheVeränderungen und Herausforderungen im Lichte derveränderten Lebenswelten von Kindern, Jugendlichenund ihren Familien sich für das institutionelle Gefüge vonBildung, Betreuung und Erziehung in den letzten Jahr-zehnten ergeben haben oder gegenwärtig abzeichnen.Während zunächst die zeitlichen, örtlichen und inhaltli-chen Neuformatierungen des Bildungs-, Betreuungs- undErziehungssystems im Vordergrund stehen, werden an-schließend zwei empirische Indikatoren für die systembe-zogenen Veränderungen ins Blickfeld gerückt: der Wan-del und die Expansion des Arbeitsmarktes für „Sozial-und Erziehungsberufe“ sowie die Lage und die Entwick-lung der bildungsbezogenen Ausgaben in dem hier anste-henden Themenbereich.

1.4.1 Die Entgrenzung von Bildung, Betreuung und Erziehung

Dass sich das öffentlich verantwortete und gestaltete Bil-dungs-, Betreuungs- und Erziehungssystem auch im Ho-rizont veränderter Lebenslagen und privater Lebenswel-

ten in mehrfacher Hinsicht gewandelt hat bzw.gegenwärtig zu wandeln beginnt, zeigt sich nicht zuletztan den vielfältigen geplanten oder bereits realisierten Ver-änderungen der Institutionen des Bildungs-, Betreuungs-und Erziehungssystems. Durchgängig durch fast alle in-stitutionellen Kontexte auf dem biografischen Weg desAufwachsens von der frühen Kindheit bis ins Erwachse-nenalter – von der Kinderbetreuung in den ersten Lebens-jahren bis zur Hochschule – lassen sich umfangreiche De-batten und Aktivitäten um mehr oder minderweitreichende Reformabsichten und -vorhaben beobach-ten. Zugespitzt formuliert kann man sagen, dass es umeine grundlegende Modernisierung des Bildungs-, Be-treuungs- und Erziehungssystems bzw. um eine Anpas-sung an die vermuteten Erfordernisse des 21. Jahrhun-derts geht.

Dabei deutet sich für die Institutionen des Bildungs-, Be-treuungs- und Erziehungssystems im Kern, so die An-nahme, eine dreifache Entgrenzung der Prozesse von Bil-dung, Betreuung und Erziehung an, wie sie zum Teil auchschon in den vorigen Abschnitten thematisiert wordensind: eine zeitlich-biografische, eine örtlich-institutio-nelle und eine inhaltlich-thematische Entgrenzung.

Bei der zeitlich-biografischen Entgrenzung flexibilisierensich die Übergänge, die Statuspassagen und die zeitlichenMarkierungen im Lebensverlauf, erodieren die festenÜbergänge zwischen den einzelnen Abschnitten im Le-benslauf – etwa die Zeitpunkte des Beginns der institutio-nellen Kinderbetreuung, der Einschulung oder des Schul-abgangs –, ebenso wie sich eindeutige Zuordnungen vonLebensabschnitten zu feststehenden Stationen im Lebens-lauf lockern, indem beispielsweise Schulabschlüsse imErwachsenenalter nachgeholt werden, Kinder bereitsUniversitäten besuchen oder Senioren noch ein Studiumbeginnen. Die Rede von einer „Entstrukturierung“ und„Entstandardisierung“ der Jugendphase, wie dies in derJugendforschung seit den 1980er-Jahren genannt wird,kennzeichnet diese Auflösung klarer Grenzen und Zuord-nungen ebenso wie die Befunde der Familienforschung,etwa die Pluralisierung des Heiratsalters oder der Zeit-punkt der Geburt eines ersten Kindes in der Biografie vonjungen Paaren. Das Bildungs-, Betreuungs- und Erzie-hungssystem muss sich auf diese Herausforderung ein-stellen.

Bei der institutionellen Entgrenzung weicht das Exklusiv-recht und das Monopol der klassischen Erziehungsinstan-zen – etwa mit Blick auf die schwindende Definitions-macht der Familie – ebenso auf wie das derBildungsinstanzen mit Blick auf die Durchführung sowieauf die Vergabe von Bildungsabschlüssen und Zertifika-ten. Dies zeigt sich, wenn beispielsweise neben derSchule Jugendbildungswerke oder VolkshochschulenSchulabschlüsse, wenn überbetriebliche, staatliche Ak-teure neben den Betrieben Berufsabschlüsse der dualenAusbildung oder wenn private ManagementschulenHochschulabschlüsse neben den Fachhochschulen undUniversitäten vergeben. In allen diesen Fällen erweitertsich die Palette der Anbieter, eröffnen sich für die Men-schen mehr Wahlmöglichkeiten und treten die Anbieter

56 Die Ergebnisse der 3. Welle des DJI-Jugendsurveys (s. Glossar) sindAnfang des Jahres 2006 im VS Verlag für Sozialwissenschaften zurVeröffentlichung vorgesehen (Gille u. a. 2006); vgl. auch Gaiser u. a.2005.

Page 84: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 74 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

entsprechender Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungs-angebote in einen verstärkten Wettbewerb.

Bei der thematischen Entgrenzung schließlich wird dieAntwort auf die Frage, was Kinder und Jugendliche aufdem Weg des Aufwachsens eigentlich lernen müssen, im-mer weniger eindeutig. Themen und Inhalte der frühkind-lichen Erziehung sind dabei ebenso in Bewegung geratenwie der Themen- und Fächerzuschnitt der Schule oder dasAusbildungsprofil vieler beruflicher Ausbildungen imLichte der Debatte um Schlüsselqualifikationen oderKernkompetenzen. Unklar wird aber auch, welche The-men in einer Gesellschaft wo und wie vermittelt werden,was lebensweltlich weiter gegeben wird und was eigensgeplant werden muss. Es ist jedenfalls kaum zu bestrei-ten, dass viele wichtige Themen im Leben eines erwach-senen Menschen gerade nicht in der Schule vermitteltwerden (Richter 1999).

Aufgrund dieser Aufweichung bislang etablierter Zuord-nungen und Zuständigkeiten kommt auch das Verhältniszwischen den jeweils zuständigen Institutionen in Bewe-gung, geraten die diachronen und synchronen Übergängezwischen den Institutionen – beispielsweise vom Kinder-garten in die Schule oder von der Schule zu außerschuli-schen Akteuren – verstärkt ins Blickfeld, werden die In-stitutionen in ihrer Verfasstheit selber auf den Prüfstandgestellt. Nie zuvor hat es in der Bundesrepublik eine soumfassende und zeitgleiche Diskussion um den Verände-rungsbedarf aller Instanzen des Bildungs-, Betreuungs-und Erziehungssystems gegeben wie heute.

Spätestens seit der Einführung des Kindergartenrechtsan-spruchs und der damit erstmals denkbaren effektiv be-darfsgerechten Vollversorgung für die Kinder im Kinder-gartenalter ist die Frage des inhaltlichen Profils, desbedarfsdeckenden Angebots und der Qualität der Einrich-tungen ebenso zum Thema geworden wie die Frage desweitergehenden Ausbaus mit Blick auf die unter Dreijäh-rigen, die Kinder im Schulalter und auf den Anteil anganztägigen Angeboten im Kindergartenalter. Infolgedes-sen ist das inzwischen in Kraft getretene „Tagesbetreu-ungsausbaugesetz“, als erste Teilreform des bestehendenKinder- und Jugendhilfegesetzes, eine konsequente Um-setzung des ungedeckten Bedarfs.57

Damit hat sich aber auch die Fragestellung und die Blick-richtung verschoben: Bildung, Betreuung und Erziehung„von Anfang an“ werden zu einem neuen öffentlichenGrundthema mit ganz unterschiedlichen Vorschlägen:von einer stärker an schulischen Themen ausgerichtetenKindertagesbetreuung über eine generelle Verschulungder Kinderbetreuung – einschließlich der „Überweisung“an die zuständige Kultuspolitik – bis hin zu einer Vorver-legung des Einschulungsalters und der Schulpflicht.

Verändert hat sich nach PISA auch die Debatte um dieGestalt und den Auftrag der Bildungs-, Betreuungs- undErziehungsinstitutionen, insbesondere der Schule. Zwi-schen einer neuen Leistungsorientierung und einer besse-ren (Sprach-)Förderung vor allem der Migrantenkinderhat hauptsächlich die Debatte um den Ausbau der Ganz-

tagsschule eine neue Dynamik in der Frage des Zusam-menspiels der Schule und der Kinder- und Jugendhilfeentfacht. Mehr denn je stehen die Fragen im Raum, werheutzutage mit Blick auf das Aufwachsen von Kindern fürwas zuständig ist, wie einigermaßen gewährleistet wer-den kann, dass eine Kompetenz- und Persönlichkeitsent-wicklung auf breiter Ebene erfolgt und dabei möglichstalle Kinder, unabhängig von nationaler und sozialer Her-kunft, entsprechende Unterstützung und Anregung imProzess des Erwachsenwerdens erfahren und wie schließ-lich das Zusammenspiel und die Kooperation bislangvergleichsweise deutlich voneinander getrennter und ab-geschotteter Erziehungs- und Bildungsinstitutionen ge-fördert werden kann.

Die Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsinstitutionen,einschließlich der Familie, stehen zu Beginn des 21. Jahr-hunderts vor der schwierigen Aufgabe, sich an die verän-derten Rahmenbedingungen anzupassen, d. h. sich als sozukunftsfähig zu erweisen, dass sie ihrer Kernaufgabe– Kinder auf ihrem Weg des Erwachsenwerdens zu unter-stützen – gerecht werden können.

1.4.2 Das Wachstum der Bildungs-, Betreu-ungs- und Erziehungsberufe

Das neu erwachte öffentliche Interesse an Bildung, Be-treuung und Erziehung markiert zwar keinen Wendepunktin der politischen Gestaltung dieses Bereichs, ist aberdennoch Ausdruck seiner gewachsenen gesellschaftlichenBedeutung.

Dieser Bedeutungszuwachs lässt sich festmachen an derEntwicklung und der Expansion der Bildungs-, Betreu-ungs- und Erziehungsberufe (Rauschenbach 1999). Warder Ausbau des Bildungssystems in den späten 60er- undfrühen 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts im Zuge der da-maligen Bildungsreform noch vergleichsweise offenkun-dig, so ist das weitere Wachstum dieser personenbezoge-nen sozialen Dienstleistungsbranche – in der amtlichenStatistik zusammengefasst als „Sozial- und Erziehungs-berufe“58 – lange Zeit fast unbemerkt verlaufen (vgl. Tab.1.4). Anfang der 1950er-Jahre waren im westlichenNachkriegsdeutschland gerade einmal 367 000 Menschenin den so genannten „Sozial- und Erziehungsberufen“ tä-tig; 25 Jahre später, also 1975, waren es rund 900 000.59

57 Zum Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG) vgl. Glossar.

58 Die „Sozial- und Erziehungsberufe“ umfassen neben vielen kleinerenund anderen Berufsgruppen auf der einen Seite vor allem sämtlicheLehrerinnen und Lehrer (einschließlich der Hochschule) und auf deranderen Seite alle sozialen und sozialpflegerischen Berufe, also ne-ben der Kinder- und Jugendhilfe z. B. auch die Altenpflege (aller-dings nicht die Gesundheitsberufe). Auch wenn es sich dabei eindeu-tig nicht um Berufe der Bildung, Betreuung und Erziehung imKindes- und Jugendalter handelt, so sind es dennoch Berufe, die indi-rekt ebenfalls auf die veränderte Situation der Lebensform Familiereagieren.

59 Obgleich die amtliche Statistik bei den Berufskennziffern (BKZ)86 bis 89 von „Sozial- und Erziehungsberufen“ spricht, verbergensich dahinter zum einen auch die „geisteswissenschaftlichen und na-turwissenschaftlichen Berufe“ (BKZ 88), soweit sie nicht anderwei-tig genannt werden (darin enthalten sind beispielsweise auch "Erzie-hungswissenschaftler“ und „Psychologen“) und zum anderen die„Berufe in der Seelsorge“ (BKZ 89). Sie machen zusammen jedochnur knapp 15 Prozent der gesamten Gruppe der Sozial- und Erzie-hungsberufe aus.

Page 85: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 75 – Drucksache 15/6014

Wenngleich dies bereits ein erheblicher Anstieg auf mehrals das Doppelte war, so lösten doch erst die nächsten25 Jahre die eigentliche Dynamik dieses Bereichs aus.Zwischen 1975 und 2003 hat sich die Zahl der Beschäf-tigten in dieser Branche von rund 900 000 auf zuletzt2,4 Mio. im Jahre 2003 erhöht. Dahinter verbirgt sichnicht nur eine Steigerung um knapp 170 Prozent, sondernauch eine anhaltende und kontinuierliche Steigerung vonim Schnitt mehr als 50 000 Arbeitsplätzen pro Jahr – unddies bis zuletzt und ohne Trendbruch. Und das bedeutetzugleich: Mehr als jede zweite Stelle in den Sozial- und

Erziehungsberufen ist erst in den letzten 20 Jahren, alsoin den 80er- und 90er-Jahren hinzugekommen.60

60 Dieser Anstieg ist keineswegs, wie zu vermuten wäre, überwiegendoder gar allein auf den Zuwachs von Teilzeitstellen, also eine Stellen-teilung zurückzuführen. So entspricht, um ein Beispiel zu wählen,der Anstieg in den sozialen Berufen zwischen 1982 und 2003 um714 000 Personen umgerechnet in Vollzeitäquivalente einem Anstiegum rund 500 000 Vollzeitstellen. Das entspricht immer noch einemZuwachsvolumen von etwa 25 000 neuen Vollzeitstellen pro Jahr.

Ta b e l l e 1.4

Entwicklung der Sozial- und Erziehungsberufe (Berufskennziffer 86-89) zwischen 1950 und 2003 (westliche Bundesländer: 1950 bis 2003; Deutschland insgesamt: 1993 bis 2003)

1 BKZ = Berufskennziffer der amtlichen Statistik.Quelle: Statistisches Bundesamt, Volkszählungen, Mikrozensus, verschiedene Jahrgänge; eigene Berechnungen

Erwerbstä-tige

davon:Frauen

Sozial- und Erziehungsberufe BKZ1 86-89 darunter:

erwerbs-tätige

Frauen in 86-89

Soziale Berufe BKZ 86

Lehrer BKZ 87

Jahr absolutx 1 000

absolutx 1 000

absolutx 1 000

%-Anteil an (1)

%-Anteil an (2) x 1 000 x 1 000

(1) (2) (3) (4) (5) (6) (7)Westliche Bundesländer

1950 22 074 7 804 367 1,7 / 60 206

1961 26 500 9 886 492 1,9 / 96 272

1970 26 333 9 453 698 2,7 / 151 3811973 27 066 9 974 815 3,0 4,2 168 5431976 25 752 9 580 975 3,8 5,4 227 6431980 26 874 10 092 1 153 4,3 6,1 293 7211985 26 626 10 225 1 231 4,6 6,6 361 7481989 27 742 10 794 1 393 5,0 7,4 473 7771991 29 684 11 965 1 579 5,3 7,6 540 8581995 29 244 12 102 1 913 6,5 9,6 727 9321999 29 729 12 738 2 171 7,3 10,7 885 9592001 30 307 13 226 2 273 7,5 11,1 962 9862003 29 847 13 246 2 414 8,1 11,9 1 028 1 022

Deutschland insgesamt1993 36 380 15 084 2 265 6,2 9,5 866 1 1301995 36 048 15 109 2 413 6,7 10,2 950 1 1701997 35 805 15 256 2 586 7,2 10,8 1 039 1 2061999 36 402 15 744 2 696 7,4 11,1 1 133 1 1912001 36 816 16 187 2 794 7,6 11,4 1 215 1 2052003 36 172 16 176 2 954 8,2 12,3 1 295 1 246

Page 86: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 76 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Allein diese Entwicklung markiert schon in sich ein außer-gewöhnliches und nachhaltiges Wachstum dieser gesam-ten Branche.61 Setzt man diese Entwicklung darüber hin-aus in Relation zum Verlauf des gesamten Arbeitsmarktes,dann wird erkennbar, dass dieses Wachstum nicht nur in-nerhalb des Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungssys-tems an Bedeutung gewonnen hat, sondern im gesamtenArbeitsmarkt. Waren 1950 gerade mal 1,7 Prozent allerBeschäftigten in Deutschland dieser Branche zuzuordnen,so waren es Mitte der 70er-Jahre bereits 4 Prozent, alsoimmerhin jeder 25. Arbeitsplatz. Inzwischen ist dieser An-teil auf über 8 Prozent angestiegen, so dass heute jeder12. Arbeitsplatz in Deutschland in den Sozial- und Erzie-hungsberufen zu finden ist.

Betrachtet man gesondert die Dynamik der Frauener-werbstätigkeit, deren Anstieg die markanteste Verände-rung des westdeutschen Arbeitsmarktes in den letzten25 Jahren ist, so zeigt sich, dass die Branche der Sozial-und Erziehungsberufe zu einem der wichtigsten Arbeits-märkte für Frauen geworden ist: Jeder achte Arbeitsplatzder heute erwerbstätigen Frauen findet sich in den Sozial-und Erziehungsberufen; das sind rund 12 Prozent aller er-werbstätigen Frauen. Diese Relationen gelten auch mitBlick auf die gesamtdeutsche Entwicklung nach der Wie-dervereinigung.

Unter dem Strich macht diese Entwicklung dreierlei deut-lich: erstens, dass die gesamte Dynamik und Entwicklungdes öffentlichen Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungs-systems inzwischen auch eine erhebliche arbeitsmarkt-politische Bedeutung erlangt hat; zweitens, dass diesesArbeitsmarktsegment für die Entwicklung der Erwerbstä-tigkeit von Frauen bis heute ein wesentlicher Motor ge-wesen ist; drittens – und hierauf kommt es in dem hier an-stehenden Zusammenhang besonders an –, dass dieVeränderungen von Familie und Lebenswelt mit zu einemstetigen und nachhaltigen Ausbau des Bildungs-, Betreu-ungs- und Erziehungssystems beigetragen haben. Heuteergänzen sich die private und öffentliche Verantwortungvon Bildung, Betreuung und Erziehung mehr denn je.

1.4.3 Ökonomische Aspekte des Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungssystems

Das Finanzvolumen der Ausgaben für die öffentlich ver-antwortete Bildung, Betreuung und Erziehung inDeutschland adäquat einzuschätzen, ist nicht einfach.Grundsätzlich sind die Möglichkeiten einer Darstellungund Analyse der Ausgaben des Bildungs-, Betreuungs-und Erziehungssystems beschränkt. Für eine Beschrei-bung des Finanzvolumens in Deutschland kann auf Datendes Statistischen Bundesamts zurückgegriffen werden.Diese Daten sind veröffentlicht auf der Internetseite desStatistischen Bundesamts, im BLK-Bildungsfinanzbe-

richt, in den Grund- und Strukturdaten des BMBF und imOECD-Bericht „Bildung auf einen Blick“.

Versucht man das Finanzvolumen für Bildung insgesamtzu beschreiben, so wird normalerweise unterschiedenzwischen dem „Bildungsbudget“ im engeren Sinne (Aus-gaben für den Bildungsprozess plus Förderung von Bil-dungsteilnehmern) sowie Ausgaben für Bildung, For-schung und Wissenschaft zusammen, die neben dem Bil-dungsbudget auch noch die Ausgaben für Forschung undEntwicklung sowie für sonstige Bildungs- und Wissen-schaftsinfrastruktur beinhalten.62

Das Bildungsbudget beschreibt dabei zunächst die Ge-samtaufwendungen für Bildung – und dies erst einmalunabhängig davon, aus welchen Quellen diese erbrachtwerden. Diesbezüglich ist bei der Analyse des Bildungs-budgets des Weiteren zu unterscheiden zwischen Durch-führungs- und Finanzierungskonzept. Vereinfacht aus-gedrückt, geht es im Durchführungskonzept darum, wieviel Geld im Bildungssystem ankommt, und imFinanzierungskonzept, wo das Geld für die Bildung her-kommt. Das Finanzierungskonzept verweist darauf, dassBildungsausgaben sowohl aus Ausgaben öffentlicherHaushalte als auch aus privaten Ausgaben von Einzelper-sonen, Familien oder privaten (freien) Trägern bestehen.Das bundesdeutsche Bildungs- und Ausbildungssystemsetzt sich beginnend mit der Bildung im Kindergarten auseinem Mix verschiedener Finanzierungsanteile von „pri-vat“ und „öffentlich“ zusammen, der je nach Bildungs-stufe schwankt. Hinzu kommt im föderalistischen Systemder Bundesrepublik, dass sich „die öffentliche Hand“ aufdrei Ebenen verteilt, die – trotz der Bildungshoheit derLänder – je nach Bildungsstufe und -institution sehr un-terschiedlich an der Finanzierung und Förderung von Bil-dung beteiligt sind (z. B. die Kommunen und Länder inder Jugendarbeit oder Bund, Länder und Kommunen zu-sammen im Ausbau der Ganztagsschulen).

Sowohl der Mix der Ausgaben auf verschiedenen Ebenender öffentlichen Hand als auch der Mix privater und öf-fentlicher Ausgaben erschwert die statistische Erfassungder Bildungsausgaben dadurch, dass z. B. den Kommu-nen neben den Ausgaben auch Einnahmen durch Landes-mittel und/oder Elternbeiträge zukommen und so zwi-schen Brutto- und Nettoausgaben der öffentlichen Handunterschieden werden muss. Gleichzeitig werden be-stimmte Ressourceneinsätze privater Träger statistischnicht erfasst.

In der Durchführungsbetrachtung setzten sich die Ausga-ben für den Bildungsprozess aus Ausgaben für Personal,laufenden Sachaufwand sowie Investitionen zusammen.Den zweiten Teil des Bildungsbudgets im engeren Sinnestellt die Förderung von Bildungsteilnehmern/-teilnehme-rinnen dar (z. B. über Stipendien, die Förderung durch dieBundesagentur für Arbeit oder das Kindergeld für Elternvon Studierenden).61 Erinnert werden muss dabei nochmals daran, dass es sich hierbei um

alle Formen der personenbezogenen sozialen Dienstleistungsberufehandelt, also beispielsweise auch um Personen, die in der Altenpfle-ge tätig sind. Aber auch diese reagieren in gewisser Weise auf denWandel der Familie als Lebensform.

62 Im Weiteren wird bei der Präsentation der Daten vor allem Bezug aufdas Bildungsbudget im engeren Sinne genommen.

Page 87: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 77 – Drucksache 15/6014

(a) Ausgaben für Bildung vor und neben der Schule

Für die Darstellung in diesem Bericht wird auf einrich-tungsbezogene Ausgaben zurückgegriffen. Dabei sindempirisch vor allem der Bereich der vorschulischen Bil-dung, Betreuung und Erziehung sowie – in geringeremUmfang – die Jugendarbeit Gegenstand regelmäßiger Be-richterstattung. An diesen Beispielen soll das Ausgabevo-lumen in den Bereichen vor und neben der Schule veran-schaulicht werden.63

(1) Kindertageseinrichtungen: Der Bereich der Kinder-tageseinrichtungen bzw. der Elementarbereich64 ist in dernationalen und internationalen Bildungsberichterstattungneben der Schule und dem Ausbildungs- und Hochschul-wesen am besten dokumentiert. Die Bund-Länder-Kom-mission für Bildungsplanung und Forschungsförderung(BLK) geht in ihrem Finanzbericht von 2002/2003 (2004verabschiedet) von einem Ausgabevolumen von 4,3 Mrd.Euro für die „Durchführung des Bildungsprozesses“ inder öffentlichen vorschulischen Erziehung (Kindergärten,Vorklassen, Schulkindergarten – ohne Horte) und7,4 Mrd. Euro in der privaten „vorschulischen Erzie-hung“ (Kindergärten, Vorklassen, Schulkindergarten –ohne Horte) im Jahre 2001 aus.65 Seit 1995 ist im öffentli-chen Bereich eine Abnahme um 0,4 Mrd. Euro zu ver-zeichnen, während das Volumen in der privaten vorschu-lischen Erziehung zwischen 1995 und 2001 um 1,2 Mrd.Euro gestiegen ist.

Die amtliche Kinder- und Jugendhilfestatistik weist zumZeitpunkt 31. Dezember 2002 den Bereich der Tagesein-richtungen für Kinder mit Ausgaben in Höhe von10,95 Mrd. Euro aus. 1992, also 10 Jahre zuvor, lag dieserWert bundesweit noch bei 8,5 Mrd. Euro. Dabei ist diesesWachstum von über 2,4 Mrd. Euro neben dem inflations-bedingten Anstieg vor allem auf die Umsetzung desRechtsanspruchs und einer damit einhergehenden Aus-weitung der Platzzahlen zurückzuführen.

Vergleicht man die Ausgaben für die „vorschulische Er-ziehung“ mit den Ausgaben für die Schulen, so sind nachden Angaben von Dohmen u. a. (2004, S. 75) für den Vor-schulbereich im Jahr 2000 zwar 4 917 Euro pro Kind auf-gewendet worden, davon waren aber nur 3 090 Euro öf-fentliche Mittel (der Rest wurde von den Eltern oder denfreien Trägern aufgebracht). Verglichen mit den öffentli-chen Ausgaben für die öffentlichen Schulen waren das fürdie Grundschulen pro Kind und Jahr 3 426 Euro, für dieHauptschulen 4 704 Euro, für die Gymnasien 5 113 Euround für die Gesamtschulen 5 215 Euro, eine Zahl, die sichvor allem aus dem überwiegenden Ganztagsschulangebotdieser Schulform erklärt (Dohmen u. a. 2004, S. 81). Da-

mit ist unter den erwähnten Bildungssektoren, was die öf-fentlichen Ausgaben angeht, der Elementarbereich deram wenigsten kostenintensive. Allerdings schwanken diedurchschnittlichen Ausgaben im Bereich der Schule zumTeil erheblich. So bestehen deutliche Unterschiede zwi-schen den Ausgaben pro Schüler/in zwischen den neuenBundesländern, den „Flächenländern“ der alten Bundes-länder sowie den sehr ausgabenintensiven Stadtstaaten.

Stellt man diesen Analysen die OECD-Daten zu den Bil-dungsausgaben gegenüber, die auch die privaten Bil-dungsausgaben beinhalten, so finden sich für Deutsch-land im Jahr 2001 in (kaufkraftbereinigten) US-DollarAusgaben von 4 956 Dollar pro betreutem Kind für denElementarbereich gegenüber nur 4 237 Dollar pro Schü-ler/in für die Primarstufe, 5 366 Dollar pro Schüler/in undKopf für die komplette Sekundarstufe I (alle Schulfor-men) sowie 9 223 Dollar pro Schüler/in für die Sekundar-stufe II (OECD 2004b). Mit der Einbeziehung privaterBildungsausgaben verschiebt sich demnach die Ausga-benbilanz (vgl. Tab. 1.5 sowie den folgenden Ab-schnitt 2).

Demzufolge weist in Deutschland der Elementarbereichden höchsten Anteil an privaten Bildungsausgaben auf:Die OECD-Daten zeigen im Jahr 2001 für diesen Sektorein Verhältnis von 62 Prozent öffentlicher zu 38 Prozentprivater Ausgaben (Haushalte und Organisationen/Trä-ger), während die Relationen im Primar- und Sekundar-bereich bei 81 Prozent zu 19 Prozent und im Tertiärbe-reich bei über 91 Prozent zu 9 Prozent liegen (OECD2004b).

(2) Kinder- und Jugendarbeit: Die Ausgaben für Ein-richtungen der Jugendarbeit werden im Bildungsfinanz-bericht unter „sonstige Bildungseinrichtungen“ als Be-standteil des Bildungsbudgets aufgeführt. Dabei wurdendie Ausgaben für die Einrichtungen der Jugendarbeit vonder BLK für das Jahr 2001 mit 1,4 Mrd. Euro ausgewie-sen; dies macht somit 1,1 Prozent des Bildungsbudgetsim engeren Sinne aus (BLK 2004). Die amtliche Kinder-und Jugendhilfestatistik weist für das Jahr 2001 öffentli-che Ausgaben in Höhe von 1,42 Mrd. Euro und für dasJahr 2002 von 1,46 Mrd. Euro aus, was gleichzeitig einen(nicht preisbereinigten) Anstieg von 340 Mio. Euro seit1992 bedeutet. Auf die Bevölkerung zwischen 6 und un-ter 21 Jahren umgerechnet, ergibt dies für das Jahr 2002bundesweit ca. 109 Euro pro Kind/Jugendlicher/Jugendli-chem und Jahr, allerdings mit einer Spanne in den Bun-desländern zwischen 70 Euro und 196 Euro (Rauschen-bach 2004, S. 7). Die Steigerungen der Ausgaben für dieJugendarbeit sind in den alten und den neuen Bundeslän-dern jedoch ausgesprochen unterschiedlich ausgefallen.Preisbereinigt auf das Jahr 1992 betrug der Anstieg bis2002 in den alten Bundesländern insgesamt noch knapp3 Prozent, in den neuen Bundesländern immerhin68 Prozent (ebd.).

In den Grund- und Strukturdaten des BMBF werden dieAusgaben für die Kindertageseinrichtungen und die Ju-gendarbeit summiert sowie dem Schulsystem und demHochschulwesen gegenübergestellt. In der historischen

63 Nicht amtlich erfasst werden private Ausbildungsausgaben für „sons-tige Lernorte“, auf die im Abschnitt 6.3.1 näher eingegangen wird.

64 Die Abgrenzung dieses Sektors ist in den verschiedenen Statistikennicht unbedingt vergleichbar, da in der Regel die Horte nicht einbe-zogen werden, die in der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistikzumindest in den offiziellen Publikationen oftmals dem Feld der Kin-dertagesbetreuung zugerechnet werden.

65 Die BLK räumt aber ein, dass die Berechnungsergebnisse u. U. durchdie Privatisierung von Kindergärten verzerrt sind.

Page 88: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 78 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Ta b e l l e 1.5

Ausgaben im Elementarbereich pro Kindergartenkind im Vergleich mit den Ausgaben im Primar- und Sekundarbereich pro Schüler/in im Jahr 2001 in ausgewählten OECD-Staaten (in US-Dollar,

kaufkraftbereinigt, basierend auf Vollzeitäquivalenten)

1 Nur öffentliche und unabhängige private Bildungseinrichtungen.Quelle: OECD 2004b, Indikator eigene Berechnungen

Elementar-bereich

(3 Jahre bis Schulteintritt)

Sekundar-bereich darunter:

Primar-bereich insgesamt Sekundar-

bereich ISekundar-bereich II

US $ Index: Elementarbereich = 100

USA1 8 522 89 103 98 109

Norwegen 8 246 90 110 101 119

Großbritannien 7 595 58 78 k. A. k. A.

Österreich 5 713 115 150 146 155

Deutschland 4 956 85 134 108 186

Dänemark 4 542 167 179 168 188

Frankreich 4 323 111 188 173 206

Niederlande 4 228 115 151 160 140

Finnland 3 640 129 180 206 163

Spanien 3 608 116 151 k. A. k. A.

Schweden 3 504 180 185 179 189

Japan 3 478 166 188 177 198

Tschechien 2 449 76 141 133 150

OECD gesamt 4 490 107 149 k. A. k. A.

Rückschau machte der Anteil der Bildungsausgaben 1975im früheren Bundesgebiet für diesen Bereich 0,26 Pro-zent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus (umgerechnet2,3 Mrd. Euro), im Jahr 2001 waren es in ganz Deutsch-land 0,52 Prozent des BIP (umgerechnet 11 Mrd. Euro) –bei einem Höchststand Mitte der 1990er-Jahre von fast0,6 Prozent. Zum Vergleich: Das gesamte Schulwesen lag1975 bei 1,92 Prozent des BIP (16,8 Mrd. Euro), im Jahre2002 waren es 2,33 Prozent (47,6 Mrd. Euro). Damit istdas Verhältnis der außerschulischen Bildung von einerGrößenordnung von etwa 14 Prozent gegenüber denschulischen Ausgaben im Jahre 1975 auf zuletzt über23 Prozent gestiegen (BMBF 2004a, S. 340; vgl. Abb. A-1.3und A-1.4 im Anhang). Die gesamten Bildungsausgabenstiegen in diesem Zeitraum von 3,12 Prozent des BIP auf3,99 Prozent (wobei auch hier Anfang der 90er-Jahre einHöchststand von über 4,2 Prozent erreicht wurde; ebd.,S. 345) (vgl. Tab. 1.6).

(b) Bildungsausgaben im internationalen Vergleich

Auf der Grundlage der Arbeiten der OECD lassen sich– mit Hinweis auf die Probleme einer internationalen Da-tenangleichung für teilweise sehr heterogene Bildungs-systeme (insbesondere der Elementarbereich differiertzum Teil erheblich; dazu Oberhuemer/Ulich 1997) – überdie erwähnten Bildungsindikatoren internationale Verglei-che anstellen (OECD 2004b). Bei den Indikatoren wirdgrundsätzlich der Bereich der Elementarerziehung, derPrimarschulen und der Sekundarstufen unterschieden undmit Umrechnung auf den US-Dollar kaufkraftbereinigtoder mit Bezug auf das jeweilige BIP verglichen. Fasstman die Befunde der OECD-Bildungsindikatoren zu-sammen, so ist zum einen festzuhalten, dass die Ausga-ben für den Elementarbereich kaufkraftbereinigt überdem OECD-Durchschnitt liegen. So wurden für das Jahr2001 für Deutschland kaufkraftbereinigte Ausgaben proKind von – wie erwähnt – 4 956 Dollar ermittelt,

Page 89: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 79 – Drucksache 15/6014

Ta b e l l e 1 . 6

Bildungsausgaben nach Aufgabenbereichen und Anteilen an allen Bildungsausgaben und dem Bruttoinlandsprodukt (BIP)

(westliche Bundesländer: 1975 bis 1990; Deutschland insgesamt: 1992 bis 2002)

Quelle: BMBF 2004a, S. 340 und 345; eigene Berechnungen

Bildungsausgaben insgesamt

darunter:

Tageseinrichtungen und Jugendarbeit Schulen

inMio. €

%-Anteil am BIP

in Mio. €

in % von (1)

%-Anteil am BIP

in Mio. €

in % von (1)

%-Anteil am BIP

Jahr (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8)

Westliche Bundesländer

1975 27 406 3,12 2 305 8,4 0,26 16 828 61,4 1,92

1980 36 592 3,55 2 682 7,3 0,26 22 866 62,5 2,22

1985 39 518 3,62 3 156 8,0 0,29 24 360 61,6 2,23

1990 46 494 3,61 4 578 9,8 0,36 27 728 59,6 2,15

Deutschland

1992 67 832 3,88 9 406 13,9 0,54 38 801 57,2 2,22

1995 75 944 4,22 10 410 13,7 0,58 44 495 58,6 2,47

2000 79 264 3,91 10 949 13,8 0,54 46 723 58,9 2,31

2002 84 329 3,99 10 987 13,0 0,52 49 193 58,3 2,33

während der OECD-Mittelwert 4 490 Dollar betrug.Deutliche höhere Ausgaben finden sich aber in den USA,Norwegen und England (mit zum Teil deutlich über 7 500Dollar pro Kind), die übrigen skandinavischen Staatenliegen teilweise erheblich unter den deutschen Werten(Schweden, Finnland; vgl. Abb. A-1.3 und A-1.4 im An-hang).

Vergleicht man die Ausgaben für den Elementarbereichmit den Ausgaben für die schulischen Bildungsstufen, sosinken in Deutschland und einigen anderen Staaten dieAusgaben pro Schüler/in gegenüber dem Elementarbe-reich ab. Generell ist jedoch ein Anstieg der Ausgaben imPrimarbereich zu verzeichnen, so dass auch der Mittel-wert der OECD-Staaten mit 4 819 Dollar rund 7 Prozentüber den Pro-Kopf-Ausgaben im Elementarbereich liegt.Der gesamte Sekundarbereich ist den OECD-Daten zu-folge in allen Ländern deutlich kostenaufwändiger als derElementarbereich (mit Ausnahme von Großbritannien)und der Primarbereich. Dabei ist zu berücksichtigen, dassin vielen Ländern das Schulsystem als Ganztagsschulsys-tem organisiert ist und daher schulische Ausgaben nichtunbedingt vergleichbar sind.

Auf das BIP des jeweiligen Staates bezogen liegtDeutschland bei den Ausgaben für den Elementarbereichmit einer Quote von 0,6 Prozent ebenfalls über demOECD-Mittelwert von 0,5 Prozent und übertrifft damitauch die Anteile von Staaten wie die USA, Großbritan-

nien und Österreich (alle 0,5 Prozent des BIP), die deut-lich höhere pro Kopf-Ausgaben im Elementarbereich auf-weisen. Frankreich und Dänemark nehmen hier mitAnteilen von 0,7 Prozent bzw. 0,8 Prozent eine Spitzen-stellung ein (OECD 2004b).

Vergleicht man die privaten und öffentlichen Finanzie-rungsanteile, so ist der Anteil öffentlicher Mittel an denAusgaben im Elementarbereich in Deutschland imOECD-Vergleich als eher gering einzuschätzen, liegtdoch der OECD-Mittelwert bei 81 Prozent und finanziertbeispielsweise in Schweden (100 Prozent), den Nieder-landen (98 Prozent), in Frankreich (96 Prozent) undGroßbritannien (96 Prozent) fast ausschließlich die öf-fentliche Hand die vorschulische Erziehung. Das heißtumgekehrt, dass in Deutschland – wie auch in Irland, denUSA oder Japan – private Bildungsausgaben eine erheb-lich größere Rolle für die vorschulische Bildung und Be-treuung spielen als in den übrigen OECD-Staaten (vgl.Abb. 1.9).66 Dies zeigt sich ebenfalls mit Blick auf diePrimar- und Sekundarstufe (vgl. Abb. A-1.5 im Anhang).

66 Ausgewiesen wird für das Jahr 2001 ein privater Anteil von 37,7 Pro-zent in Deutschland. 2005 hat das Statistische Bundesamt festge-stellt, dass die Annahmen für die Schätzung des privat finanziertenAnteils in den letzten Jahren überhöht waren. In neuen Berechnun-gen mit korrigiertem Schätzverfahren ergibt sich für das Jahr 2002ein Anteil von etwa 23 bis 25 Prozent.

Page 90: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 80 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

A b b i l d u n g 1.9

Verhältnis der öffentlichen und der privaten Ausgaben im Elementarbereich in den OECD Staaten (2001; in Prozent)

Quelle: OECD 2004b

100

98,2

97,4

97,0

96,6

95,9

95,7

91,8

91,4

91,0

90,6

86,7

83,4

81,7

79,3

68,9

68,1

62,3

50,4

48,7

8,2

8,6

9,0

9,4

13,3

16,6

18,3

20,7

31,1

31,9

37,7

49,6

51,3

33,2

2,6

1,8

3,4

4,1

4,3

3,0

66,8

0 20 40 60 80 100

SchwedenNiederlande

SlowakeiItalien

BelgienFrankreich

GroßbritannienTschechien

KanadaFinnlandUngarnMexiko

SpanienDänemarkÖsterreichAustralien

USADeutschland

JapanSüdkorea

Irland

öffentliche Ausgaben private Ausgaben

(c) Bezahlung des Personals

Eine zentrale Rolle für Bildungsausgaben nehmen diePersonalkosten ein. Anhand der von der OECD doku-mentierten Bildungsindikatoren zeigt sich, dass im inter-nationalen Vergleich die deutschen Gehälter für Lehr-kräfte in der Primarstufe und im Sekundarbereich zu denhöchsten gehören. So verdient ein Lehrer/eine Lehrerin inDeutschland nach 15-jähriger Berufserfahrung im Pri-marbereich jährlich – kaufkraftbereinigt – über 44 500Dollar, im Sekundarbereich I über 47 000 Dollar und imSekundarbereich II 50 800 Dollar (vgl. Abb. A-1.6). Auf-fällig ist, dass Deutschland dabei zu den Ländern gehört,die zwischen den verschiedenen Alters- und Schulstufendas Personal unterschiedlich vergüten, was angesichts derpädagogischen Bedeutung gerade der frühen Bildungs-jahre suboptimal erscheint.

Leider stehen im Vergleich zu den Lehrern/Lehrerinnenkeine international vergleichbaren Daten für die Gehältervon Erziehern/Erzieherinnen zur Verfügung. Pasternack/Schildberg (Expertise) errechnen über die tarifliche Ein-gruppierung von Erziehern/Erzieherinnen ein Jahresge-halt, das auf dem Niveau der Primarstufenlehrkräfte deranderen europäischen Staaten liegt. Daraus ziehen sie denSchluss, dass die deutschen Erzieher/Erzieherinnen auchim internationalen Vergleich verhältnismäßig gut bezahltwerden.

2 Bildung – ein konzeptioneller Rahmen

Bildung ist seit einigen Jahren wieder zu einem zentralengesellschaftlichen und politischen Thema geworden. In-ternationale Leistungsvergleichsstudien – allen voran dieerste PISA-Studie der OECD aus dem Jahr 2000 (Bau-mert u. a. 2001) – haben mit ihrem Nachweis, dass deut-sche Schülerinnen und Schüler im internationalen Ver-gleich auffällig schlecht abschneiden und nur mäßigeLeistungen erbringen, eine längst fällige Diskussion überbildungspolitische Reformen angefacht.67 Wahrnehmun-gen und Interpretationen gesellschaftlichen Wandels, dieeine Entwicklung von der traditionellen Industriegesell-

67 Im Grunde genommen handelt es sich bei den Leistungsvergleichs-studien nicht, wie zumeist angenommen wird, um Schulleistungsstu-dien, sondern zunächst einmal um eine Befragung bzw. einen Kom-petenztest, bei PISA für 15-Jährige, während des Unterrichts; alleindiese Örtlichkeit suggeriert eine gewisse Schulnähe. Die Annahme,dass die dort gemessenen Leistungen, gute wie schlechte, in einemdirekten Zusammenhang zum Unterricht stehen – und nur dies würdees gerechtfertigt erscheinen lassen, von einer Schulleistungsstudie zusprechen –, wird durch die Studie selbst deutlich relativiert. Indemdie erste PISA-Studie festgestellt hat, dass nirgends in der Welt diesoziale Herkunft bei der Leistungsmessung so stark durchschlägt wiein Deutschland, weist sie selbst auf die Bedeutung schulunabhängi-ger Kontexte hin. Und dies heißt nichts anderes, als dass auch nicht-schulische Faktoren einen erheblichen Einfluss auf die gemessenenKompetenzen haben.

Page 91: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 81 – Drucksache 15/6014

schaft zu einer Dienstleistungs- und Wissensgesellschaftbetonen, bekräftigen die Notwendigkeit verbesserter Bil-dungsangebote, deren Gelegenheitscharakter von der frü-hesten Kindheit an über das lebenslange Lernen bis insAlter reichen muss. Der seit langem bekannte, aber nochnie so deutlich wie von der PISA 2000-Studie empirischbelegte enge Zusammenhang von Bildungserfolg und so-zialer Herkunft, der in Deutschland im internationalenVergleich insoweit besonders stark durchschlägt, als Kin-der und Jugendliche aus bildungsferneren Milieus und be-nachteiligten sozialen Schichten in der Schule zusätzlichbenachteiligt werden, hat dazu geführt, dass auch dieFrage von Gerechtigkeit und Chancengleichheit wiederneu auf die bildungspolitische Tagesordnung gesetzt wor-den ist.

Bildung wird in der aktuellen bildungspolitischen Diskus-sion als ein Produkt gehandelt, das in Deutschlandschlechter hergestellt wird als in anderen Ländern derOECD. So unbestritten richtig die Kritik an der Leis-tungsfähigkeit des Schulsystems sein mag, so vertrackt istgleichwohl die Verkürzung der Diskussion um Bildungauf die Leistungsfähigkeit eines einzigen Bildungsbe-reichs. Bildung ist mehr als das, was Institutionen bei je-nen hervorbringen, die sie besuchen, ist mehr als einmessbares Ergebnis an abfragbaren Wissensbeständen.Bildung ist ein offener und unabschließbarer Prozess, dervon den Menschen selbst gestaltet wird. Folglich ist Bil-dung nicht nur im Horizont von bildungsrelevanten Insti-tutionen zu diskutieren, sondern auch im Horizont der all-täglichen Lebensführung, also von individualisiertenLebensentwürfen, Lebensverläufen und Lebenslagen inVerbindung mit sozial, geschlechtsspezifisch, kulturell,regional und ethnisch unterschiedlichen Voraussetzungen,Bedingungen, Erwartungen und Resultaten.

Dieser Kinder- und Jugendbericht befasst sich deshalbmit Fragen der Bildung, Betreuung und Erziehung imKindes- und Jugendalter in einer doppelten Weise: Aus-gangspunkt sind zum einen nicht die Absichten und Pro-gramme, die Pläne und Postulate, sondern die Indizien,Spuren und Befunde realisierter Bildungsprozesse. An-satzpunkt ist aber zum anderen auch nicht allein oder vor-rangig das Bildungs- und Erziehungssystem, sind nichtdie Bildungsinstanzen, ist nicht die Schule, der Unterrichtund die dort zu vermittelnden fachlichen Inhalte –, ist so-mit nicht das Institutionengefüge der Bildung. Bezugs-punkt ist vielmehr das Bildungsgeschehen im Lebenslaufvon Kindern und Jugendlichen, ist die subjektgebundeneSeite des Bildungsgeschehens im Prozess des Aufwach-sens.68

Getragen von der Annahme, dass Bildungsprozesse kei-nen zeitlichen, sozialen und räumlichen Limitierungenunterliegen, dass sie also zu jeder Zeit, an allen Orten und

bei jedweder Gelegenheit zustande kommen können – un-abhängig davon, ob es dafür zugleich spezialisierte Insti-tutionen, eigens entwickelte Methoden und Verfahren so-wie definierte und reservierte Zeiträume gibt –, gilt es,den gesamten Prozess des Aufwachsens unter Bildungs-gesichtspunkten ins Blickfeld zu rücken, um zumindestplausibilisierende Hinweise, besser aber noch messbareIndikatoren für die bildungsbezogene Relevanz entspre-chender Orte, Modalitäten und Altersphasen im Kindes-und Jugendalter zu finden.

Der Bericht stellt deshalb die Verwobenheit und das Ein-gebundensein von Bildungsprozessen in die Lebenszu-sammenhänge, in die bildungsrelevanten Kontexte undLebenswelten der Kinder und Jugendlichen in den Vor-dergrund, um auf diese Weise zu vermeiden, dass eine in-stitutionelle Binnenperspektive vorschnell mit einem äu-ßeren Rahmen von Bildungsprozessen gleichgesetzt wird(Rauschenbach u. a. 2004). Die institutionengebundeneInblicknahme von Bildung wird dementsprechend dersubjektgebundenen Perspektive der Bildung im Lebens-lauf nachgeordnet, nicht etwa, weil die institutionelleEbene unwichtig geworden wäre oder aus dem Blickfeldgerückt werden sollte, sondern damit in den aktuellen Bil-dungs-Debatten gegenüber der herkömmlichen Selbstbe-züglichkeit einzelner Bildungsinstanzen ein externer Be-zugspunkt formuliert werden kann.

Ein Leitmotiv des Berichts ist es somit, möglichst vielefür die Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichenrelevanten Bildungsorte und Lernwelten zu einem Gegen-stand der Betrachtung zu machen. Dies hat seinen Grundweniger in einer formalen Vollständigkeitsidee oder inder Annahme, dass Kinder im Kern in den herkömmli-chen Bildungs- und Erziehungsinstitutionen nichts We-sentliches mehr für ihr Leben lernen. Vielmehr liegt die-ser Vorgehenswiese die Annahme zugrunde, dass dietraditionell für die Bildung von Kindern und Jugendli-chen „zuständigen“ Instanzen – Schule auf der einenSeite (vor allem zuständig für die Wissensvermittlungund die Kulturtechniken) und Familie auf der anderenSeite (insbesondere zuständig für die soziale Seite derBildung, Wertevermittlung und die alltägliche Lebensfüh-rung) – unter den veränderten gesellschaftlichen Bedin-gungen die Funktion der Ermöglichung von Bildungs-und Lerngelegenheiten für alle nicht alleine, nicht exklu-siv erfüllen können. Oder anders formuliert: Bildung imKindes- und Jugendalter kann in ihren heutigen Formennur angemessen erfasst werden, wenn die Vielfalt der Bil-dungsorte und Lernwelten, deren Zusammenspiel, derenwechselseitige Interferenz und Interdependenz, aber auchderen wechselseitige Abschottungen wahrgenommenwerden.

Dabei ist neben dem öffentlichen Bildungsort Schule– und der Familie mit ihren lebensweltgebundenen For-men der Bildung im Rahmen der alltäglichen Lebensfüh-rung – die Kinder- und Jugendhilfe in der Geschichte derBundesrepublik zu einem weiteren öffentlichen Akteur,zu einer Art zielgruppenspezifischem Generalakteur undLeistungsanbieter im Prozess des Aufwachsens von Kin-dern und Jugendlichen geworden. Im Rahmen der Kin-

68 Die subjektgebundene Seite der Bildung ist nicht gleichzusetzen mitder subjektiven Seite von Bildung, also der von den Subjekten selbstwahrgenommenen bzw. erlebten Seite der Bildung. Nicht die Frage„Wie erleben Betroffene ihren eigenen Bildungsprozess?“ ist der Be-zugspunkt, sondern der Versuch, als Aggregatebene der Beobachtungnicht vorrangig „Bildungsinstitutionen“ in den Mittelpunkt zu stel-len, sondern die „Bildungsbiografie“ von Lernenden.

Page 92: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 82 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

dertagesbetreuung, der Kinder- und Jugendarbeit, der Ju-gendsozialarbeit und der „Hilfen zur Erziehung“, um ihrewesentlichen Bereiche zu nennen, unterbreitet sie ingrundsätzlich freiwilliger Form bildungsrelevante Ange-bote für alle Kinder und Jugendlichen und ihre Familien.

Darüber hinaus sind aber auch die bildungsrelevanten Po-tenziale und Leistungen anderer Lern- und Bildungsar-rangements zu beachten, seien dies etwa die Medien oderdie Gleichaltrigen-Gruppen, seien es die Vereine und Ver-bände oder auch kommerzielle bildungsrelevante Ange-bote und Lernorte. In dieser Hinsicht bedarf es nicht nureiner Neubestimmung des Bildungsbegriffs, sondern zu-gleich auch einer deskriptiven Neuvermessung, einerzeit- und aufgabengemäßen Topografie der heutigen Bil-dungslandschaften und zuverlässiger Studien zu denWirkungen der unterschiedlichen Bildungsangebote und-arrangements. Dabei muss nach den Potenzialen undLeistungen einzelner Angebote ebenso gefragt werdenwie nach den Relationen dieser bildungsrelevanten Gele-genheiten untereinander mit Blick auf ihre verstärkendenoder neutralisierenden bildungsbezogenen Wirkungen aufKinder und Jugendliche. Diese integrierte – in den einzel-nen Lebenslauf eingebundene – Perspektive auf Bildungwird inzwischen auch von international führenden Bil-dungsökonomen formuliert (Heckman 2000).

Nachdem im ersten Kapitel eine einführende Gegen-wartsdiagnose mit Blick auf die Rahmenbedingungen desAufwachsens im Mittelpunkt stand, werden in diesemKapitel der konzeptionelle Rahmen gesteckt und die be-grifflichen Grundlagen des Berichts vorgestellt. Dabeiwerden zunächst die konzeptionellen Elemente des Be-griffs Bildung konkretisiert und die in diesem Begriff ent-haltenen analytischen und konzeptionellen Potenzialeausgelotet (vgl. Abschnitt 2.1). Daran anschließend wer-den Vorschläge für eine Konkretisierung eines empirischausgerichteten Bildungsbegriffs skizziert (vgl. Abschnitt2.2). Erst vor diesem Hintergrund lässt sich Bildung in-nerhalb eines Lebenslaufs als diachrone Abfolge sowieals synchrones Nebeneinander und Zusammenspielebenso elementarer wie vielfältiger Bildungsorte undLernwelten rekonstruieren, die für die Bildungsprozesseder Subjekte bedeutend und deshalb Gegenstand diesesBerichts sind (vgl. Abschnitt 2.3). Neben den Orten ma-chen auch unterschiedliche Arten des Zustandekommensvon – geplanten wie ungeplanten – Bildungsprozesseneine Vielfalt des Bildungsgeschehens sichtbar (vgl. Ab-schnitt 2.4). Die diachrone wie synchrone Abfolge vonBildungsorten und Lernwelten fügt sich auf der Ebene derje einzelnen Kinder und Jugendlichen lebensaltersspezi-fisch zu einem Bildungsprozess im Lebensverlauf, dersich, typologisch betrachtet, zu spezifischen Bildungskar-rieren und -biografien verdichtet, die Akteure zu Gewin-nern und Verlierern des Bildungsgeschehens, d. h. zu Bil-dungseliten oder zu spezifischen Risikogruppen, werdenlässt (vgl. Abschnitt 2.5). Dass das gesamte Bildungsge-schehen dennoch nicht als ein von politischen und ökono-mischen Kontexten unabhängiger Akt verstanden werdenkann, zeigt schließlich ein Blick auf das Verhältnis vonBildung und Ökonomie in der neueren bildungsökonomi-schen Diskussion (vgl. Abschnitt 2.6).

2.1 Begriffliche Annäherungen

Was ist Bildung? Wie kann Bildung angemessen um-schrieben werden? Welche Vorstellungen von Bildungsind für diesen Bericht leitend? Wie lassen sich diese Vor-stellungen von Bildung so konkretisieren, dass damitgesellschaftliche Verhältnisse und Entwicklungen, insti-tutionelle Zuordnungen, Verschiebungen und Aufgabensowie individuelle Bildungskarrieren und -biografienanalysiert und interpretiert, Potenziale und Gefährdungenauf gesellschaftlicher, institutioneller und individuellerEbene sichtbar gemacht sowie der Handlungsbedarf fürPolitik und Fachpraxis aufgezeigt werden können? Fra-gen dieser Art werden im Folgenden zu klären versucht.

Der Begriff Bildung wird in diesem Bericht in einem wei-ten Sinne gebraucht. Wie in Kapitel 1 dargestellt, könnendie den gesellschaftlichen Institutionen traditionell mitden Begriffen Bildung, Betreuung und Erziehung zuge-schriebenen Funktionen nicht mehr eindimensional erfülltwerden. Bildung ist eine Aufgabe und eine Leistung auchvon Einrichtungen der Kindertagesbetreuung, Betreuungwird als Leistung auch von der Schule erwartet und ein-gefordert, Erziehung ist eine Aufgabe sowohl der Familieals auch öffentlicher Bildungsinstitutionen. In den Bil-dungsbegriff, wie er im Folgenden entfaltet wird, sindauch Betreuung und Erziehung als Bedingungen von Bil-dung aufgenommen.69

Umgangssprachlich wird unter Bildung häufig das ver-standen, was jemand weiß, und – je nach Themengebiet –vielleicht auch noch, was er kann. Dabei wird nach die-sem Verständnis zwischen höherer und niederer Bildungunterschieden, je nachdem, was und wie viel jemandweiß, was und wie viel jemand kann. Bildung in diesemSinne wird gesellschaftlich bewertet, wird als mehr oderweniger gut und wichtig bezeichnet, je nachdem, ob sieder öffentlichen Wertschätzung entspricht und was die„Besitzer“ mit dieser Bildung anfangen können, ob siesich lohnt mit Blick auf berufliche Karriere und Einkom-men, mit Blick auf Partnerschaft, sozialen Status und kul-turelle Anerkennung.

Vermittelt wird diese Bildung offenbar zu großen Teilenin der Schule. Sie ist zumindest die gesellschaftlich zu-ständige und legitimierte Institution, die die Aufgabe hat,zu dieser „Bildung“ der Einzelnen beizutragen, sie zu

69 Bildungs- und erziehungstheoretisch ist eine eindeutige Abgrenzungder Begriffe Bildung und Erziehung nicht möglich. Im Gegenteil: Indieser Hinsicht konkurrieren unterschiedliche Bildungs- und Erzie-hungsbegriffe in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion. Alsgemeinsames Fundament können Selbstständigkeit und Mündigkeitals Ziel sowohl von Bildung als auch von Erziehung gelten. WährendErziehung häufig als (intentionales) Einwirken eines Erziehenden aufeinen zu Erziehenden gesehen wird, wird im Bildungsbegriff dasSubjekt des Bildungsprozesses stärker betont und Bildung somit alsein Prozess der selbst bestimmten Entwicklung der Persönlichkeitgedacht. Während Bildung und Erziehung Grundbegriffe der Erzie-hungswissenschaft im deutschsprachigen Raum darstellen, erscheintBetreuung demgegenüber als ein abgeleiteter Begriff. Mit demBegriff werden Funktionen betont, die für Bildungs- und Erziehungs-prozesse unabdingbar sind und deshalb als eigenständiger Aufgaben-bereich öffentlicher Bildungs- und Erziehungsinstitutionen ausge-wiesen werden müssen.

Page 93: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 83 – Drucksache 15/6014

prüfen und gegebenenfalls zu zertifizieren. Was in derSchule an die Kinder und Jugendlichen weitergegebenwird, ist nicht beliebig, ist in einem „Kanon“ immer wie-der neu aktualisierter Lehrpläne festgelegt. Lehrpläne undBildungsrahmenpläne sind das Ergebnis fachpolitischerAuseinandersetzungen darüber, welche Themen, Fächerund kulturellen Traditionen für so bedeutsam gehaltenwerden, dass sie Eingang in diesen Kanon finden. Da-durch werden diese Bereiche legitimiert und aufgewertet,andere, unter Umständen genauso bildungsrelevante The-mengebiete jedoch zugleich delegitimiert, zumindest alsnachrangig, als weniger wichtig eingestuft. Das, wasdann am Ende dieses Prozesses als Bildung „anerkannt“und der Schule als Vermittlungsaufgabe gegenüber allenKindern und Jugendlichen übertragen wird, ist das, wasüblicherweise „Allgemeinbildung“ genannt wird. Mitdiesem Verständnis wird eine ganz bestimmte Perspektiveauf Bildung gekennzeichnet, in der vieles ausgeblendetbleibt, was in den bildungstheoretischen Debatten derModerne zum Grundverständnis von Bildung gehört.70

In diesem Diskurs wird als eine zentrale Grundfigur einezweifache Bedeutung von Bildung hervorgehoben: Bil-dung in diesem Sinne ist – zumindest in ihrer deutschenVariante – ein zentraler Begriff der Moderne, der sowohlauf das Individuum als auch auf die Gesellschaft zielt. ImBildungsbegriff sind Vorstellungen von der Gesellschaftund deren Entwicklung ebenso aufgehoben wie Vorstel-lungen von den Individuen und deren persönlicher Ent-wicklung. Bildung hat deshalb immer zwei Funktionenim Blick: auf der einen Seite die Selbstkonstitution desSubjekts, auf der anderen Seite die Konstitution der Ge-sellschaft.71 Bildung dient in ihrer gesellschaftlichenFunktion der Reproduktion und dem Fortbestand der Ge-sellschaft, der Sicherung, Weiterentwicklung und Tradie-rung des kulturellen Erbes, der Herstellung und Gewähr-leistung der gesellschaftlichen und intergenerativenOrdnung, der sozialen Integration und der Herstellungvon Sinn. In das, was als Bildung definiert wird, fließensomit auch Vorstellungen darüber ein, was die Gesell-schaft zusammenhält und welche Werte für die Gesell-schaft leitend sind (Killius u. a. 2002).

Diese gesellschaftliche Seite von Bildung kann, so derzweite bildungstheoretische Grundgedanke, der dasNachdenken über Bildung seit dem Ende des 18. Jahrhun-derts in Deutschland bestimmt, nur durch die Bildung deseinzelnen Individuums erreicht werden (Benner 1995).Bildung wird dabei als ein aktiver Prozess gedacht, indem das sich bildende Individuum Subjekt und nicht Ob-jekt des Geschehens ist. Bildung in diesem Sinne meintdie Entwicklung der Person in einem umfassenden Sinne.Alle Kräfte des Menschen sollen, so Wilhelm von Hum-

boldt in einer wichtigen bildungstheoretischen Schriftvon 1792, in einem ausgewogenen Verhältnis zueinandergebildet werden (Humboldt 1960). Die Bestimmung desMenschen sei „die höchste und proportionierliche Bil-dung seiner Kräfte zu einem Ganzen“. Bildung als selbstbestimmter und aktiver Prozess der Entwicklung der Per-son ist, auch das wurde bereits von Humboldt als Voraus-setzung für gelingende Bildung formuliert, auf die Frei-heit der Person sowie auf Verhältnisse angewiesen, dieAnregungen ermöglichen und von der größten Armut undNot befreit sind. Diese Einsicht ist auch im 21. Jahrhun-dert nach wie vor aktuell.

Bildung ist ein aktiver Prozess, in dem sich das Subjekteigenständig und selbsttätig in der Auseinandersetzungmit der sozialen, kulturellen und natürlichen Umwelt bil-det. Bildung des Subjekts in diesem Sinne braucht folg-lich Bildungsgelegenheiten durch eine bildungsstimulie-rende Umwelt und durch die Auseinandersetzung mitPersonen. Bildung erfolgt dabei in einem Ko-Konstruk-tionsprozess zwischen einem lernwilligen Subjekt und sei-ner sozialen Umwelt. In diesem Sinne sind, wie dies be-reits in der Einleitung formuliert wurde, Kinder undJugendliche als Ko-Produzenten ihres eigenen Bildungs-prozesses zu begreifen.

Für das Subjekt bedeutet dies die „Auseinandersetzungdes Menschen mit der Umwelt und die Ausprägung einerLebensfigur oder eines Lebensprofils in dieser Auseinan-dersetzung mit der Umwelt“ oder anders formuliert: „Bil-dung meint ... den für den Menschen charakteristischenProzess der Aneignung von Welt und der Entwicklungder Person in dieser Aneignung“ (Thiersch 2004, S. 239).Aneignung erfordert Auswahl, Gestalten, Deuten und In-terpretieren. Aneignungshandeln ist deshalb als ein akti-ver Prozess, in den das Subjekt zentral involviert ist, zuverstehen. Um derartige Prozesse zu gewährleisten, zu-mindest wahrscheinlich zu machen, braucht es Gelegen-heiten, werden in modernen Gesellschaften eigene insti-tutionelle Gegebenheiten wie Schulen oder Hochschulenbenötigt, die die Bedingung der Möglichkeit von Bil-dungsprozessen wahrscheinlicher werden lassen. Deshalbmuss, wenn es um Bildung in dieser subjektbezogenenPerspektive geht, auch nach den institutionellen Angebo-ten und Leistungen für derartige Aneignungsprozesse ge-fragt werden.

In diesem Verständnis hebt sich Bildung als ein offenerProzess von Vorstellungen über Bildung im Sinne einerAllgemeinbildung ab, in der jene gesellschaftlichenGruppen, die über die Definitionsmacht und die Durch-setzungsfähigkeit verfügen, bestimmen, was als Bildunggelten kann und soll. Dieses Bildungskonzept stellt einenkritischen Gegenpart zu Positionen dar, in denen Bildungals ein eindimensionales Instrument zur Belehrung undzur Sicherung von Herrschaftswissen instrumentalisiertwird.

Aneignung von Welt und Entfaltung eines individuellenProfils der Person ist in einem modernen Konzept vonBildung nicht allein funktional im Sinne einer Einbin-dung in eine bestehende Gesellschaft, als eindimensio-nale Instrumentalisierung oder als einseitige Zurichtung

70 Diese Vorstellung von Bildung hat sich in Deutschland im 19. Jahr-hundert weitgehend durchgesetzt und bestimmt bis heute bildungspo-litische Denkmuster. Sie basiert auf materialen Bildungstheorien, indenen im Gegensatz zu Vorstellungen formaler Bildung die Auswahlvon Inhalten, denen ein bildender Gehalt unterstellt wird, entschei-dend für das Hervorbringen von Bildung ist (Ehrenspeck 2002; Lan-gewand 1994).

71 Diese Position vertritt u. a. Tenorth (2004a, 1994).

Page 94: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 84 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

der Individuen zu verstehen. Bildung der Person in Aus-einandersetzung mit der Welt „meint kritische Selbsttätig-keit, ist also orientiert am Bild eines guten, gelingendenLebens, an Maximen, in denen das Individuelle seine Ori-entierung findet“ (Thiersch 2004, S. 240). Dazu gehörtauch der Anspruch von Bildung, die einzelnen Subjektezu befähigen, sich Zumutungen und Ansprüchen der Ge-sellschaft, die der individuellen Entfaltung entgegenste-hen, zu widersetzen. Kritikfähigkeit und Rollendistanzstellen insoweit ein zentrales Element von Bildung dar(Klafki 1991).

Bildung in diesem Sinne hat zwei wichtige Implikatio-nen, die sich gegen eine doppelte Reduktion des Bil-dungsbegriffs richten: zum einen gegen eine einseitigeInstrumentalisierung und Ausrichtung des Bildungsge-schehens auf die Erfordernisse der eigenen späteren Exis-tenzsicherung, auf Beruf und Arbeitswelt; zum anderengegen einen allein kognitiv geprägten Bildungsbegriff,der Bildung auf schulisches Lernen, auf Wissen und aufdie basalen Kulturtechniken reduziert. Insoweit ist Bil-dung in dem hier verstandenen Sinne auch mehr und an-deres als Qualifikation, als Lernen im Sinne des Erwerbsvorgegebener Inhalte.

Bildung ist, auch das wird mit dieser Skizze der Konturendes Begriffs deutlich, ein geeigneter Grundbegriff für die-sen Bericht. Möglich wäre auch, alternativ dazu andereBegriffe wie Lernen oder Kompetenzentwicklung alsGrundbegriffe zu wählen. Diese Begriffe wären insoferngeeignet, als sie leichter operationalisierbar und empi-risch fassbarer sind als Bildung. Demgegenüber be-grenzen Begriffe wie Lernen und Kompetenz die Per-spektiven auf die Entwicklung von Kindern undJugendlichen in einem Prozess des Aufwachsens, der vonkonkreten gesellschaftlichen Bedingungen, politischenEntscheidungen und lebenslagenspezifischen Vorausset-zungen je nach sozialer Lage und sozialem Status be-stimmt wird, und sie grenzen vieles aus, was mit dem Bil-dungsbegriff thematisiert werden kann. Bildung beziehtsich auf die Entwicklung von Individuen in einem umfas-senden Sinne; neben der Entwicklung und der Ausbil-dung von Kompetenzen zählen dazu auch Orientierun-gen, Einstellungen, Wahrnehmungs- und Denkmuster.Bildung bezieht sich, anders als der Lernbegriff, auf dieganze Person, eingebunden in eine konkrete soziale undkulturelle Umwelt. Hinzu kommt, dass im Bildungsbe-griff gesellschaftliche und individuelle Dimensionen mit-einander verflochten sind; der Begriff ermöglicht eineVerbindung von beiden Dimensionen. Es geht mit demBildungsbegriff um gesellschaftliche und politische Er-wartungen, Voraussetzungen und Bedingungen der Ent-wicklung von Heranwachsenden und um individuelle Bil-dungsverläufe von Kindern und Jugendlichen. Damitermöglicht der Bildungsbegriff auch, Fragen der Betreu-ung von Kindern aufzugreifen und die Erziehungsfunk-tion von Familie, Schule sowie Kinder- und Jugendhilfemit zu reflektieren. Beide Perspektiven, gesellschaftlichewie individuelle, werden in diesem Bericht thematisiert;auf dieser Basis und in diesem Sinne dient er als Grund-begriff. Damit er jedoch produktiv zu gebrauchen ist,

muss er auch als sozialwissenschaftlicher Begriff entfaltetwerden.

2.2 Bildungsdimensionen und BildungszieleBildung ist, wie im vorigen Abschnitt ausgeführt, sowohleine individuelle als auch eine gesellschaftliche Angele-genheit. Bildung markiert den Umschlagspunkt, an demgesellschaftliche Erwartungen und Potenziale in individu-elles Vermögen, in Wissen und Können transformiertwerden. Bildung ist insoweit, allgemein formuliert, in ei-nem nicht emphatischen Sinne die Befähigung zu einereigenständigen und eigenverantwortlichen Lebensfüh-rung in sozialer, politischer und kultureller Eingebunden-heit und Verantwortung. Eigenständigkeit zielt dabei aufdie individuelle Fähigkeit, auf die Kompetenz, in einergegebenen komplexen Umwelt kognitiv, physisch undpsychisch eigenständig aktiv handeln zu können, aberauch auf die Fähigkeit, sich mit anderen auseinander zusetzen, sich auf sie zu beziehen und sich mit ihnen zu ver-ständigen. Diese Fähigkeit zur Selbstregulation in einemumfassenden Sinne, in konkreten, vorfindbaren Lebensla-gen und als lebenslanger Prozess, kann als Grundgedankeeines zeitgemäßen Bildungskonzepts formuliert werden.Dazu gehören, mit Blick auf die Seite des Subjekts, alsBildungsziel die Fähigkeit zu einer eigenständigen öko-nomischen Existenzsicherung genauso wie die Fähigkeitzur Aufnahme einer Partnerschaft und zur Gründung ei-ner Familie sowie die allgemeine Fähigkeit zur alltägli-chen Lebensführung. Mit Blick auf die Seite der Gesell-schaft umfasst das Bildungsziel auch die Fähigkeit zupolitischer Mündigkeit, sozialer Verantwortung und de-mokratischer Teilhabe.

Mit diesen Zielen von Bildung, Autonomie und Solidari-tät sind hohe Ansprüche und Erwartungen verbunden. So-lange jedoch in der Diskussion um Bildung lediglichdiese normativ aufgeladenen Bildungsziele Bezugspunktebleiben und die konkreten Rahmenbedingungen von Bil-dung mit Blick auf die Lebenslagen der sich bildendenMenschen nicht thematisiert werden, bleibt das Nachden-ken über Bildung und bildungspolitische Reformen voneinem realitätsfremden, elitären Streben geprägt, undlässt alles, was diesem Anspruch nicht genügt, als defizi-tär erscheinen. Insofern kann sich ein modernes Bil-dungsverständnis nicht nur an den Ideen von Fortschrittund Vervollkommnung orientieren; angesichts bestehen-der sozialer Ungleichheiten, kaum einlösbarer Erwartun-gen an soziale Integration und damit einhergehenderExklusionsprozesse sowie riskanter und prekärer Lebens-lagen, in denen viele Kinder und Jugendliche aufwach-sen, muss Bildung auch sehr elementar verstanden wer-den, muss im Horizont dessen betrachtet und diskutiertwerden, was weithin unter Lebensbewältigung abgehan-delt wird (Böhnisch 2002; Mack 1999). Bildung in die-sem Sinne erfolgt in der praktischen, geistigen, mentalenund emotionalen Aneignung von Welt und in der aktivenAuseinandersetzung mit der Welt. Sie zielt auf die Ent-wicklung und die Entfaltung einer eigenen Persönlichkeitin der Balance von sozialer und subjektiver Identität, inder Balance von „zu sein wie jeder andere“ und „zu seinwie kein anderer“.

Page 95: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 85 – Drucksache 15/6014

Als Bezugspunkt für Aussagen über Bildungsprozessewerden dabei sozialwissenschaftlich-empirisch fundierteDimensionen wie Lebensbereiche, Entwicklungsanforde-rungen, Bewältigungsaufgaben, Gesellungsformen undHandlungsmöglichkeiten gewählt und nicht normativoder ideologisch vordefinierte Verhaltens-, Denk- undHandlungsmuster. Dadurch eröffnen sich, zumindest vomAnsatz her, empirisch fassbare Zugänge zu Bildung.Dimensionen der Aneignung von Welt werden deshalbals Weltbezüge dargestellt; auf dieser Basis wird der indi-viduelle Bildungsprozess als der Erwerb und die Ent-wicklung von Kompetenzen konkretisiert. Dieser Ansatz,allgemeine Vorstellungen von Bildung in Kompetenzenzu transformieren, eröffnet empirische Zugangsmöglich-keiten und verspricht somit Antworten auf die Frage, wiebildungstheoretische Vorstellungen und Entwürfe empi-risch fassbar und überprüfbar gemacht werden können.72

2.2.1 Dimensionen der Aneignung von Welt

In der Summe erscheinen diese Dimensionen von Bil-dung zunächst wie eine beliebige, additive Ansammlungunterschiedlich pluraler, in sich heterogener Aufgabenund Ziele, die sich kaum ordnen lassen. Dennoch lassensich dahinter dementsprechende Bildungserfordernisseidentifizieren, in denen sich die Zieldimensionen von Bil-dung als Weltbezüge in vier Dimensionen umschreibenlassen. Diese Weltbezüge konkretisieren – freilich um denPreis eingeschränkter Handlungskompetenz und ge-schmälerter Lebensgestaltung – die wesentlichen, gleichursprünglichen und für eine eigenständige Lebensführungelementaren Dimensionen der aktiven Auseinanderset-zung mit der Welt und der Aneignung von „Welt“. Sie bil-den den gedanklichen Rahmen für die konkreten Lebens-,Erfahrungs- und Wirklichkeitsbereiche des sich bilden-den Subjekts.

Wir schlagen für eine gegenstandsbezogene Umschrei-bung von Bildungszielen eine Unterscheidung in vier Be-züge zur Welt vor, einen kulturellen, einen materiell-ding-lichen, einen sozialen und einen subjektiven Weltbezug.73

– Mit der kulturellen Welt werden vor allem jene Welt-bezüge umschrieben, die sich auf das „kulturelleErbe“, auf die gattungsgeschichtlich-symbolischen Er-rungenschaften und Überlieferungen beziehen. Esgeht hierbei vorrangig um die symbol- und sprachge-

bundene Seite der anzueignenden Welt, seien es Bil-der, Zahlen und Texte in der Schriftsprache, seien eskulturelle Ausdrucksformen im alltäglichen Leben so-wie die virtuellen Welten der modernen Medien. Des-halb basiert diese Bildungsdimension elementar aufSprache und auf der Fähigkeit, sich die Welt des Wis-sens und der kulturellen Symbole anzueignen, sichdeutend und verstehend in der Welt zu bewegen (kul-turwissenschaftlicher Weltbezug).74

– Mit der materiell-dinglichen Welt werden vor allemjene Weltbezüge umschrieben, die sich auf die äußereWelt der Natur und der von Menschenhand geschaffe-nen Dinge, des gesellschaftlich Produzierten, bezie-hen. Es geht hierbei vorrangig um die stoffliche Seitedes gesellschaftlich Geschaffenen, um die gegenständ-liche Außenwelt, die es der jeweiligen Generation zurLernaufgabe macht, sich tätig mit ihr auseinander zusetzen, sich in ihr zu bewegen, sie sich anzueignenund zugleich weiter zu entwickeln (naturwissenschaft-licher Weltbezug).

– Mit der sozialen Welt werden vor allem jene Weltbe-züge umschrieben, die sich auf die soziale Ordnungder Gesellschaft, also die Regeln des kommunikativenUmgangs, der zwischenmenschlichen Verhältnisseund der politischen Gestaltung des Gemeinwesens, be-ziehen. Es geht hierbei vorrangig um die Aneignungder sozialen Außenwelt, der Befähigung zur partizipa-tiven, tätigen Auseinandersetzung mit der Umwelt, zurselbstaktivierenden Integration in bestehende Sozial-ordnungen, Sozialräume, Milieus sowie zu deren Wei-terentwicklung (sozialwissenschaftlicher Weltbezug).

– Mit der subjektiven Welt werden vor allem jene Welt-bezüge umschrieben, die sich auf die eigene Person,sowohl auf die eigene „Innenwelt“ als auch auf die ei-genen „Körperwelten“, beziehen. Es geht hierbei vor-rangig um die Fähigkeit, mit sich selber umzugehen,sich selbst als Person wahrzunehmen, zu beobachtenund in soziale Situationen einzubringen. Personwer-dung, Identitätsbildung, Persönlichkeitsentfaltung sindvon hier aus wichtige Bildungsdimensionen (human-wissenschaftlicher Weltbezug).

Bildung in diesem Sinne kann verstanden werden als einanhaltender und kumulativer Prozess des Erwerbs der Fä-higkeit zur Selbstregulierung und als subjektive Aneig-nung von Welt in der aktiven Auseinandersetzung mitund in diesen Weltbezügen.75 Damit solche Bildung mög-lich wird, brauchen Heranwachsende Bedingungen undGelegenheiten, um sich die Welt in diesen Dimensionen

72 Das entsprechende Problem besteht darin, dass die deutsche Bil-dungstheorie einerseits, insbesondere dann, wenn sie von einem nor-mativ hoch aufgeladenen Bildungsbegriff ausgeht, und die empiri-sche Bildungsforschung andererseits kaum Anschlussmöglichkeitenund Ansätze der Bezugnahme aufweisen (Ehrenspeck 2002). DiesesProblem begleitet die Erziehungswissenschaft seit ihrer „realisti-schen Wende“ (Roth 1963) und hat zu zahlreichen Anläufen geführt,den Bildungsbegriff aus dem Vokabular der Disziplin zu streichenund durch andere, empirisch leichter fassbare Begriffe zu ersetzen.Der Gewinn, den eine Abkehr vom Bildungsbegriff bringen sollte,hatte jedoch den Preis, dass der mit dem Bildungsbegriff verbundeneumfassende Anspruch reduziert wurde auf eingegrenzte lern- oderentwicklungspsychologische Aspekte.

73 Diese „Weltbezüge“ stehen in einer losen Verbindung zu den Dimen-sionen der materiellen und der symbolischen Reproduktion, wie sieHabermas in seiner Theorie des kommunikativen Handelns entfaltethat (Habermas 1981).

74 Der kulturelle Weltbezug ist nicht gleichzusetzen mit schulischemLernen, da eine große Anzahl kultureller Weltaneignungspotenzialeauch dezidiert außerhalb von Schule liegt, z. B. in der Begegnung mit„fremden Welten“, also im Reisen oder in Auslandsaufenthalten, inder kulturellen Jugendbildung mit Blick auf Kunst, Musik und Thea-ter sowie im Film und in Museen.

75 Diese „Fähigkeit zur Selbstregulierung“ ist in einem sehr umfassen-den Sinne gemeint und fungiert gewissermaßen als Metakompetenz.Es geht hierbei als Zieldimension von Bildung um das Erlernen derFähigkeit, sein Leben und dessen Gestaltung selbst in die Hand zunehmen. Dies umfasst eine Vielzahl einzelner Kompetenzen undKompetenzbereiche, was hier jedoch nicht weiter verfolgt werdenkann.

Page 96: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 86 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

erschließen und sich mit ihr auseinandersetzen zu kön-nen. Das sind konkrete Orte, an denen diese Zugängemöglich werden, die sie in strukturierter Form repräsen-tieren; das sind ferner Medien und Modalitäten, die es ih-nen ermöglichen, sich lernend mit der Welt auseinanderzu setzen; das sind schließlich zwischenmenschliche Be-gegnungen und soziale Beziehungen, durch die eine ler-nende Auseinandersetzung mit der Welt in diesen Dimen-sionen angebahnt und eingeleitet werden kann.

In ähnlicher Weise, wenn auch eingeschränkt auf Schuleund inhaltlich etwas anders akzentuiert, aber im Kern mitder gleichen Intention, formuliert Baumert Weltbezüge(2002, S. 216). „Es gibt unterschiedliche Formen dermenschlichen Rationalität, die nicht wechselseitig aus-tauschbar sind. Der instrumentelle Umgang mit der be-lebten und unbelebten Umwelt, das ästhetisch-expressiveMit- und Nacherleben von Kunst und Literatur, der prak-tische Diskurs über die Formen des guten Zusammenle-bens und die Fragen nach der menschlichen Bestimmungfolgen jeweils unterschiedlichen Logiken“. WährendBaumert dies als Aufgaben der Schule umschreibt, stehthier, ortsunabhängig, die Aneignung aus der Sicht desSubjekts im Mittelpunkt. Es geht insofern um die Qualitätder Kontextbedingungen als Voraussetzung für eine „bil-dende“ Auseinandersetzung des Subjekts ebenso wie umdie aktive Aneignung des Subjekts, in der konkrete Kom-petenzen aufgebaut werden. Betrachtet man Bildung alsErgebnis dieses Prozesses, so stellt sich die Frage nachden äußeren Bedingungen des Aufwachsens von Kindernund Jugendlichen ebenso zwangsläufig wie die nach denindividuellen Bildungsprozessen und ihren Ergebnissen.

2.2.2 Individuelle Bildungsprozesse im Spiegel von erwerbbaren und erworbenen Kompetenzen

Bildung in dem hier vorgeschlagenen Sinne ist ein Prozessdes Aufbaus und der Vertiefung von Kompetenzen in dendargestellten Dimensionen. Bildungsprozesse als Aufbauvon Kompetenzen darzustellen erscheint begründungsbe-dürftig, wird doch mit dieser Transformation der umfas-sende Anspruch, der mit dem Bildungsbegriff formuliertist, tendenziell aufgegeben. Oder ist vielleicht der Rekursauf den Bildungsbegriff nur ein rhetorisches Mittel, dasman im Alltagsgeschäft gerne preisgibt, um es gegenhandhabbare sozialwissenschaftliche Konzepte einzutau-schen? Solche Einwände übersehen, dass kompetenztheo-retische Argumentationen durchaus nicht im Widerspruchzu bildungstheoretischen stehen müssen. Im Gegenteil:Kompetenztheoretische Konzepte markieren seit langemeine wichtige Position innerhalb des bildungstheoreti-schen Diskurses (Langewand 1994). Formale Bildungs-theorien definieren Bildung als individuelles Vermögen.Unabhängig von Bildungsinhalten wird Bildung dabei„als Vermögen i.S. von Fähigkeit und Kompetenz“ begrif-fen (Lenzen 1997, S. 146). Darin liegen Attraktivität undBegrenztheit formaler Bildungstheorien begründet: Manmuss nicht nach Inhalten fragen, wenn es um formaleKompetenzentwicklung geht; man unterlässt damit aberauch Klärungen und Positionierungen und belässt dieFrage, wodurch Bildung ermöglicht wird, im Beliebigen(Langewand 1994, S. 84).

Dennoch weisen kompetenztheoretische Ansätze einehohe Plausibilität auf. In einer offenen, komplexen Ge-sellschaft mit individuell kaum noch überschaubaren Ver-änderungen und Entwicklungen in vielen Bereichen (Ar-beitswelt, Kommunikationstechnik, Geschlechterbilder,Generationenverhältnisse, Identitätskonzepte usw.) kannBildung nicht in einem abschließbaren Kanon von Bil-dungszielen definiert werden, können individuelle Bil-dungsprozesse nicht mehr an diesem Kanon gemessenwerden. Deshalb erscheint eine Klärung elementarerKompetenzen angemessener, will man sich darüber ver-ständigen, was die heranwachsende Generation lernenmuss, will man aktuell und zukünftig handlungsfähig seinund die Zukunft der Gesellschaft aktiv gestalten (Arbeits-stab Forum Bildung 2002b, S. 13ff.).76

Das Forum Bildung hat deshalb auch den Kompetenzan-satz für eine Bestimmung von Bildungszielen gewählt.„Dieser Kompetenzansatz ermöglicht die Verwirklichungeines dynamischen Konzepts der ständigen Erneuerungund Ergänzung von Kenntnissen und Fertigkeiten. Errückt zugleich die Lernerperspektive und die wachsendeEigenverantwortung des Einzelnen für seinen jeweiligenBildungs- und Qualifikationsprozess stärker in den Vor-dergrund. Der Kompetenzerwerb muss möglichst früh an-setzen und als lebensbegleitender Prozess verstandenwerden“ (Arbeitsstab Forum Bildung 2002a, S. 55).77

Soll Bildung weder auf eine instrumentelle Verwertbar-keit für Erwerbsarbeit und Beruf verkürzt noch auf kogni-tive Kompetenzen reduziert werden, ist der Bezug zu ei-nem breiten Spektrum von Kompetenzdimensionenwichtig. Dabei genügt es auch nicht, lediglich formaleKompetenzen im Sinne von allgemeinen „Schlüsselquali-fikationen“ zu bestimmen und inhaltliche Fragen völligauszublenden.78 In neueren Kompetenztheorien werden

76 In seinen Empfehlungen begründet das Forum Bildung den Kompe-tenzansatz mit der Anforderung, ein Bildungskonzept zu entwickeln,das offen und anpassungsfähig ist für neue Entwicklungen und Ver-änderungen in einer pluralen Wissensgesellschaft: „Der Kompetenzan-satz dient als Schlüssel zu einem Bildungskonzept, das sich durchgroße Offenheit und Anpassungsfähigkeit auszeichnet. Demgegen-über wäre der Versuch der Formulierung eines Wissenskanons wederder Situation des immer schnelleren Wachstums des Wissens ange-messen noch im wissenschaftlichen und politischen Konsens be-gründbar“ (Arbeitsstab Forum Bildung 2002a, S. 55).

77 Auflistungen und Systematisierungen von Kompetenzbereichen ha-ben eine Antwort auf das Problem zu finden, dass sowohl inhaltlicheals auch methodische Kompetenzen erfasst werden müssen. Kompe-tenzen werden dabei meist auf unterschiedlichen Ebenen beschrie-ben, als konkrete Kompetenzen in Bezug auf konkrete Handlungsbe-reiche und als allgemeine, abstrakt formulierte Kompetenzen aufeiner Metaebene. So nennt das Forum Bildung folgende Kompeten-zen zur Realisierung eines umfassenden Bildungsbegriffs: „Lern-kompetenz (Lernen des Lernens), die Verknüpfung von ‚intelligen-tem' inhaltlichem Wissen mit der Fähigkeit zu dessen Anwendung,methodisch-instrumentelle (Schlüssel-) Kompetenzen, insbesonderein den Bereichen Sprachen, Medien und Naturwissenschaften, sozia-le Kompetenzen sowie Wertorientierungen“ (Arbeitsstab Forum Bil-dung 2002a, S. 55).

78 So hat Oelkers kritisiert, dass Bildungsziele von Schule nicht mitdem Konzept der Schlüsselqualifikationen begründet werden kön-nen, da „dies keine Fähigkeiten (sind), die unabhängig von hochdif-ferenzierten Wissenskontexten zum Thema von Schulunterricht wer-den können“ (Oelkers 1996, S. 126).

Page 97: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 87 – Drucksache 15/6014

Kompetenzen deshalb „funktional“ bestimmt, d. h. kon-textbezogen auf bestimmte Situationen und Anforderun-gen beschrieben. Diese Definition von Kompetenzen istinsbesondere in den internationalen Leistungsvergleichs-studien maßgeblich.79

So unbestreitbar der Kompetenzansatz Perspektiven fürein offenes und weites Verständnis von Bildung eröffnet,so führt er zugleich in das Problem, Bildung in einemweiten Sinne durch den Bezug auf die Institution, die fürdie Realisierung dieser Bildung zuständig erscheint, ein-zuengen. So folgt auch das Forum Bildung trotz des An-spruchs, einen weiten und offenen Bildungsbegriff mitdem Kompetenzansatz zu stärken, der Logik schulischerBildung und dessen spezifischer Zuspitzung. Für den Be-reich der Schule eröffnen die Empfehlungen des ForumsBildung somit zwar neue Horizonte, sie können jedochnicht beanspruchen, einem Bildungsbegriff zu genügen,der Bildung von Kindern und Jugendlichen im Lebens-lauf quer zu den institutionellen Arrangements und Ange-boten fassen will. Deshalb wird im vorliegenden Berichteine andere Systematik von Kompetenzen vorgeschlagen.Sie wird abgeleitet aus den bereits eingeführten Weltbe-zügen. Dadurch kann sie zunächst unabhängig von derLogik und den Interessen einzelner Institutionen entwi-ckelt und mit anthropologischen, gesellschaftlichen, kul-turellen und sozialen Dimensionen begründet werden.Erst in einem zweiten Schritt ist dann danach zu fragen,welche Beiträge zum Erwerb von Kompetenzen durch In-stitutionen der Bildung und der Erziehung in den Lebens-welten von Kindern und Jugendlichen zu finden sind.

Im Folgenden werden allgemeine Kompetenzen im Sinnevon Leitkompetenzen in Bezug auf die bereits eingeführ-ten Weltbezüge dargestellt. Damit wird es möglich, Bil-dungsziele unter Einbeziehung formaler Kompetenzenund inhaltlicher Dimensionen zu bestimmen und Bil-dungsverläufe in diesem umfassenden Sinne zu betrach-

ten. Die vier genannten Weltbezüge beziehen sich dabeiauf jeweils unterschiedliche basale Kompetenzen:

– kulturelle Kompetenzen im Sinne der sprachlich-sym-bolischen Fähigkeit, das akkumulierte kulturelle Wis-sen, das „kulturelle Erbe“ anzueignen, die Welt mittelsSprache sinnhaft zu erschließen, zu deuten, zu verste-hen, sich in ihr zu bewegen;

– instrumentelle Kompetenzen im Sinne einer objektbe-zogenen Fähigkeit, die naturwissenschaftlich erschlos-sene Welt der Natur und der Materie sowie die tech-nisch hergestellte Welt der Waren, Produkte undWerkzeuge in ihren inneren Zusammenhängen zu er-klären, mit ihr umzugehen und sich in der äußerenWelt der Natur und der stofflichen Dinge zu bewegen;

– soziale Kompetenzen im Sinne einer intersubjektiv-kommunikativen Fähigkeit, die soziale Außenweltwahrzunehmen, sich mit anderen handelnd auseinan-der zu setzen und an der sozialen Welt teilzuhaben so-wie an der Gestaltung des Gemeinwesens mitzuwir-ken;

– personale Kompetenzen im Sinne einer ästhetisch-ex-pressiven Fähigkeit, eine eigene Persönlichkeit zu ent-wickeln, sich als Person einzubringen, mit sich undseiner mentalen und emotionalen Innenwelt umzuge-hen, sich selbst als Eigenheit wahrzunehmen und mitseiner Körperlichkeit, seiner Emotionalität und seinerGedanken- und Gefühlswelt umzugehen.80

In dieser Allgemeinheit handelt es sich bei den genanntenKompetenzen um so etwas wie basale Kompetenzen oderLeitkompetenzen, die als Rahmung der Dimensionen vonBildung in subjektiver Perspektive dienen und wiederumin zahlreichen speziellen Kompetenzen, bezogen auf ein-zelne Handlungsbereiche und -vollzüge, konkretisiertwerden können.81 Diese Leitkompetenzen müssen zudemin zweifacher Hinsicht differenziert werden: zum einen inBezug auf die jeweiligen kognitiven, ethisch-moralischenund emotionalen Dimensionen des Umgangs mit den je-weiligen Weltbezügen, zum anderen mit Blick auf die inallen Weltbezügen enthaltenen Kompetenzprofile von„Wissen“ einerseits und „Können“ andererseits. Währenddie erste Unterscheidung von der Annahme ausgeht, dassKompetenz in allen Weltbezügen die geistige, moralische

79 Diese Bestimmung hat Weinert in einem Gutachten zur Definitionund zur Auswahl von Kompetenzen in internationalen Leistungsver-gleichsstudien empfohlen (Weinert 1999). Kompetenzen sind dem-nach „funktional bestimmt, aber rein auf das Kognitive beschränkt“(so auch Klieme 2004, S. 11). In seinem Gutachten hat Weinert meh-rere Varianten der Bestimmung von Kompetenzen unterschieden:Kompetenzen als „allgemeine intellektuelle Fähigkeiten im Sinnevon Dispositionen, die eine Person befähigen, in sehr unterschiedli-chen Situationen anspruchsvolle Aufgaben zu meistern“, Kompeten-zen als „funktional bestimmte, auf bestimmte Klassen von Situatio-nen und Anforderungen bezogene kognitive Leistungsdispositionen“und Kompetenzen „im Sinne motivationaler Orientierungen, die Vor-aussetzung sind für die Bewältigung anspruchsvoller Aufgaben“(ebd.). Weitere Kompetenzbegriffe sind „Handlungskompetenzen“,die die drei erstgenannten Kompetenzen umfassen und sich auf An-forderungen in bestimmten, abgrenzbaren Handlungsfeldern bezie-hen, „Metakompetenzen als Wissen, Strategien oder auch Motivatio-nen“ und „Schlüsselkompetenzen“ als funktionale Kompetenzen, die„über eine vergleichsweise breite Spanne von Situationen und Auf-gabenstellungen hinweg einsetzbar sind“ (ebd.). Um die Einengungdes Kompetenzbegriffs auf kognitive Dispositionen zu vermeiden,hat Weinert an anderer Stelle den Kompetenzbegriff erweitert. Kom-petenzen setzen sich demnach zusammen aus kognitiven Fähigkeitenund Fertigkeiten, absichts- und willensbezogenen sowie sozialen Be-reitschaften und Fähigkeiten und sind nicht auf spezielle Situationenbeschränkt, sondern als allgemeine Dispositionen in vielfältigenKontexten verfügbar (Klieme 2004, S. 11f.; Weinert 2001).

80 In diesem Sinne lässt sich durchaus auch sportliches Können als eineGelegenheit der leibgebundenen Selbsterfahrung und des Kompetenz-erwerbs im Sinne von körperbetonter Expressivität, physischer Grenzer-fahrung und körperbewusstem Umgang (Gesundheit) den personalenKompetenzen zuordnen (da Sport häufig ausgesprochen regelhaftausgeübt wird bzw. werden muss, vermittelt er oft auch soziale Kom-petenz, teilweise sogar kulturelle Kompetenz).

81 Ob mit einem derartigen Modell tatsächlich alle Dimensionen desKompetenzerwerbs zureichend umschrieben werden können, ist eineganz andere Frage, die hier nicht geklärt werden kann. Zugleich er-hebt der vorliegende Bericht auch nicht den systematischen An-spruch, ein kompetenztheoretisches Modell zu entwerfen und in allenDetails auszubuchstabieren. Es soll mit diesen Kompetenzdimensio-nen lediglich ein Ordnungsschema vorschlagen werden, das es er-möglicht, Bildung in einem umfassenden Sinne und bezogen auf eineVielzahl von Bildungsgelegenheiten zu konkretisieren und empirischfassbar zu machen.

Page 98: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 88 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

und emotionale Aneignung umfasst, erinnert die zweiteUnterscheidung an die durchgängige Relevanz einer wis-sensbasierten und einer handlungsorientierten Aneignungin allen vier Weltbezügen.82 Im Unterschied zu der häufigunterstellten Annahme, es gehe bei den beiden erstenWeltbezügen bzw. den kulturellen und den instrumentel-len Kompetenzen vor allem um Wissensdimensionen,während bei den sozialen und den personalen Kompeten-zen die Handlungsdimension im Vordergrund stehen, wä-ren bei einem weit gefassten Bildungsbegriff in allen vierKompetenzprofilen die Wissens- und die Handlungsdi-mension zu beachten (vgl. auch als modellhaften Über-blick Abb. 2.1).

Folgt man diesen Überlegungen in systematisierenderHinsicht, so stellt sich unweigerlich die Frage, inwieweitinstitutionelle Ordnungen der Lebenswelt und gesell-

schaftliche Teilsysteme sich auf einzelne Kompetenzbe-reiche und Weltbezüge spezialisiert haben. Sosehr es hier-für Plausibilitäten gibt, sosehr muss doch zugleich imBlick behalten werden, dass es keine exklusiven Orte undZuständigkeiten gibt, keine eindimensionalen Zuordnun-gen geben kann, dass sich Aufgaben, Akzentuierungenund Leistungen einzelner Bildungsorte und Lernwelten injedem Fall ergänzen und überlagern können. So eröffnenpersonale Kompetenzen selbstverständlich auch Zugängezur kulturellen und zur sozialen Welt; kulturelle Kompe-tenzen werden wiederum in der materiell-dinglichen Weltund in der sozialen Welt benötigt; instrumentelle Kompe-tenzen können auch zum Verständnis der eigenen Personbefähigen; und kommunikative Kompetenzen wiederumkönnen zu einer wichtigen Voraussetzung für die Aneig-nung des kulturellen Erbes werden.

Infolgedessen haftet der Debatte um die Zulänglichkeitbestimmter Bildungsorte immer auch der zwar prinzipiellrichtige, im Kern aber letztlich nicht überzeugende Hin-weis an, dass dort auch die jeweils anderen, nicht im Mit-telpunkt stehenden Bildungsdimensionen eine gewisseRolle spielen, dass also beispielsweise in der Schule auch

82 Mit der handlungsbezogenen Dimension werden implizit auch me-thodische Kompetenzen, also allgemeine „Lernkompetenzen“, aufderen Bedeutung das Forum Bildung wiederholt hingewiesen hat, er-fassbar.

A b b i l d u n g 2.1

Weltbezüge und Kompetenzen

KulturelleWelt

Materiell-dingliche

Welt

SubjektiveWelt

SozialeWelt

KulturelleKompetenz

Wissen Können

InstrumentelleKompetenz

Wissen Können

SozialeKompetenz

Wissen Können

PersonaleKompetenz

Wissen Können

Page 99: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89 – Drucksache 15/6014

soziale und personale Kompetenzen oder in der Kinder-und Jugendhilfe kulturelle und instrumentelle Kompeten-zen vermittelt werden (vgl. auch Kapitel 6). Gleichwohlgibt es bislang keine systematische Forschung, die diebildungsrelevanten Potenziale der einzelnen Kompetenz-profile und der dahinter liegenden Weltbezüge mit Blickauf die unterschiedlichen Bildungsorte ins Blickfeld rü-cken und Aufschluss darüber geben, in welcher Weisediese tatsächlich – auch im Vergleich – entsprechendeLeistungen erbringen.

2.3 Bildungsorte und LernweltenBildung als Selbstkonstitution des Subjekts in Auseinan-dersetzung mit seiner Umwelt ist, so können die bisheri-gen Ausführungen zusammengefasst werden, ein Prozess,der auf die Entwicklung und die Entfaltung vielfältigerund unterschiedlicher Kompetenzen ausgerichtet ist. Mitdem Wandel der Bedingungen des Aufwachsens und dendaraus resultierenden Verschiebungen im Verhältnis vonSchule als institutionalisiertem Ort der Bildung von He-ranwachsenden und den anderen Bildungsorten vor,neben und nach der Schule auf der einen sowie den le-bensweltlichen Voraussetzungen und Bedingungen fürBildung bzw. den lebensweltlichen Lernwelten auf deranderen Seite stellt sich die Frage, wie sich Bildungspro-zesse heutzutage realisieren, sprich: wie Bildungspro-zesse in diesem umfassenden Sinne wahrscheinlich ge-macht, organisiert und ausgelöst werden können. Dieswirft die Frage nach der Funktion bzw. der Stellung vonBildungsorten auf.

Im Fahrwasser der PISA-Debatte ist – wie unten nähergezeigt wird – fast nebenher eine Diskussion über dieFrage nach wichtigen Bildungsorten und deren Relevanzentstanden. Da in der PISA-Studie die Schule nur einenTeil der gemessenen Leistungsvarianz erklären kann,müssen folgerichtig externe Faktoren, müssen nicht-schu-lische Bildungs- und Lerngelegenheiten eine nicht uner-hebliche Rolle spielen. Während die PISA-Befunde wieselbstverständlich als Aussagen über das Leistungsver-mögen schulischer Bildung gewertet worden sind und da-mit die dominante Rolle der Schule selbst in der nachfol-genden Zuständigkeit der Kultusministerkonferenz indieser Angelegenheit zum Ausdruck gekommen ist, ha-ben sich an mehreren Stellen dennoch, oder gerade des-halb, Diskussionen über die Relevanz anderer Bildungs-orte entzündet.

– So hat beispielsweise der Wissenschaftliche Beirat fürFamilienfragen des Bundesministeriums für Familien,Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2002b) aufdie zentrale, aber völlig vernachlässigte Rolle der Fa-milie hingewiesen, die er in den Debatten nach PISAnicht genügend gewürdigt sah, obgleich die Befundegerade die Relevanz der familialen Herkunft eindrück-lich aufgezeigt haben.

– Des Weiteren wurde im Anschluss an PISA eine De-batte über die ungenutzten Bildungspotenziale der ers-ten Lebensjahre begonnen und damit der Kindergartenins Blickfeld gerückt, obgleich PISA zur Relevanzund zur Leistungsfähigkeit des Kindergartens auf-grund seines Erhebungsdesigns und seiner Befundegar nicht beitragen konnte.

– Ferner haben sich in einer Debatte über die Relevanzaußerschulischer Bildungsbereiche auch Vertreterin-nen und Vertreter der Kinder- und Jugendhilfe zu Wortgemeldet, wobei sie unter der Formel „Bildung istmehr als Schule“ im Rahmen der so genannten „Leip-ziger Thesen“ ebenfalls auf die anderen Seiten der Bil-dung hingewiesen haben (Otto/Rauschenbach 2004;Bundesjugendkuratorium [BJK] u. a. 2002).

– Schließlich hat auch die neu entfachte Diskussion umdie Chancen und Potenziale der Ganztagsschule dieFrage aufgeworfen, wer denn Partner der Schulen beieiner ganztägigen Förderung der Kinder werden undwie eine dementsprechende Kooperation aussehenkönnte.83

Alle diese Debatten haben deutlich gemacht, dass dieneuere Bildungsforschung die Frage bislang nicht beant-wortet hat – bzw. einfach von einem tradierten Verständ-nis ausgegangen ist, dass es sich hierbei vor allem um dieSchule, die berufliche Bildung und die Hochschule han-delt –, wer denn nun in einer modernen Gesellschaft zuden wichtigen bzw. zu den faktischen Akteuren des Bil-dungsgeschehens in dem hier dargestellten, weit gefass-ten Sinne gehört.

In modernen Dienstleistungs- und Wissensgesellschaftenhaben sich die Bedingungen für gelingende Bildungspro-zesse verändert. Der Erwerb basaler Kulturtechnikenebenso wie der notwendigen Fertigkeiten und Fähigkeitender alltäglichen Lebensführung erfolgt zwar immer nochin einem nur wenig koordinierten Zusammenspiel vonFamilie und Schule, so dass allein schon unter diesemGesichtspunkt anzunehmen ist, dass sich die beiden Lern-orte nicht von alleine in optimaler Weise ergänzen, dassLücken, Unzulänglichkeiten, Fehlinvestitionen aufgrundfehlender Anschlussfähigkeit programmiert sind. Aberviel weitergehender stellt sich zugleich die Frage, ob inAnbetracht dieser zufälligen Mischung aus Lernen in derSchule und Lernen in der (familialen) Alltagspraxis Bil-dung in einem umfassenden Sinne für alle Kinder und Ju-gendlichen noch gewährleistet werden kann, ob, andersformuliert, mit dem Wandel von Familie und der Erosionsozio-kultureller Milieus einerseits und dem Festhaltender Schule an der überkommenen Definition ihrer Bil-dungsaufgabe andererseits Bildung in einem Sinne er-möglicht wird, der den komplexen Anforderungen mo-derner Gesellschaften gerecht wird.

Kinder werden in Familien und den Herkunftsmilieusnicht mehr in der Selbstverständlichkeit mit den Ressour-cen ausgestattet – jedenfalls im Schnitt gesprochen bzw.

83 So wird denn auch formuliert: „Deshalb ist das Ziel von Schulreform– auch, ja gerade nach der PISA-Studie – erst dann zureichend imBlick, wenn eine neue Balance von Leistungsorientierung und Le-bensorientierung, von nachprüfbarem Wissen und Identitätsbildung,von Kulturtechniken und kultureller Verwurzelung erreicht wird. Da-bei muss man sich die Balance zwischen diesen beiden Dimensionennicht im Sinn von zwei kommunizierenden Röhren vorstellen, wo-nach der Zugewinn auf der einen Seite mit einem Verlust auf der an-deren Seite erkauft wird. Vielmehr muss man es für möglich haltenund darauf hinzielen, dass eine Verstärkung auf der einen auch zu ei-ner Verstärkung auf der anderen Seite zu führen vermag“ (Huber2004, S. 9).

Page 100: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 90 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

für die große Mehrheit der Kinder und Jugendlichen –,die moderne Gesellschaften benötigen, um den Anforde-rungen an die individuelle Selbstregulierung durch-schnittlich gerecht werden zu können. Und die Schulenkönnen diesen „Verlust“ in doppelter Hinsicht nicht pro-blemlos kompensieren: Zum einen gelingt es ihnen nicht,jene Aufgaben einfach subsidiär zu übernehmen, die dieerodierenden Herkunftsmilieus in einer wachsenden Zahlvon Fällen als lebensweltlich induzierte Bildungslückenhinterlassen; zum anderen tut sich die Schule bis heuteschwer, ihre eigenen Bildungsinhalte im Zuge des Über-gangs von einer nationalstaatlichen Industrie- zu einerglobalisierten Dienstleistungs- und Wissensgesellschaftso zu modernisieren, dass sie den Anforderungen an zu-kunftsfähige Lebensführung und Lebensbewältigung im21. Jahrhundert gerecht werden.

Damit aber stellt sich die Frage nach der Relevanz undden Potenzialen heutiger Bildungsorte und Lernweltenneu und verschärft. Oder anders formuliert: Die neuereBildungsdebatte ist auch als ein gesellschaftlicher Dialogüber die notwendigen Ressourcen, die neu zu organisie-renden Vernetzungen und den verstärkten Rückgriff aufungenutzte Bildungspotenziale zu verstehen, der dazudienen soll, die Zieldimensionen von Bildungsprozessenerstens in der thematischen Breite der Weltbezüge zu si-chern, dabei zweitens möglichst alle Kinder und Jugend-lichen zu fördern, also die Wirkungen öffentlicher Bil-dung im Schnitt zu erhöhen, und drittens an den beidenEnden, also bei den „Bildungseliten“ wie den „bildungs-fernen Risikogruppen“, durch zusätzliche Anstrengun-gen die Wirksamkeit ebenfalls zu erhöhen. In diesem Ho-rizont müssen die weitergehenden Überlegungen zu denBildungsorten und Lernwelten gesehen werden.

2.3.1 Differenzierung und Spezialisierung: Bildung in der modernen Gesellschaft und die Grenzen der Schule

Moderne Gesellschaften sind alternativlos auf „gebil-dete“, handlungskompetente Menschen angewiesen, diein der Lage sind, ihr Leben eigenständig zu regeln, diegelernt haben, sich in einer dinglichen, symbolischen, so-zialen und subjektiven Welt verstehend, handelnd, kom-petent zu bewegen. Um diese Kompetenzen zu erlangen,bedarf es spezieller, darauf ausgerichteter institutionellerSettings, da die Erfahrung lehrt, dass sie nicht „irgend-wie“ von alleine zustande kommen.

Passend zu den gesellschaftlichen Rahmenbedingungender Industriegesellschaft in der „ersten Moderne“, warder Blick von Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeitlange Zeit auf die Schule als eine kognitiv ausgerichteteBildungsinstanz gerichtet.84 Diese „industriegesellschaft-liche Ordnung“ des Bildungsgeschehens – kulturelle undinstrumentelle Bildung vorzugsweise in der speziellen

Lernwelt „Schule“85, soziale und personale Bildung vorallem in der Alltagspraxis und in der alltäglichen Lebens-welt „Familie“86 – wird jedoch unter den Rahmenbedin-gungen der „zweiten Moderne“, also einer sich zu einerWissens-, Dienstleistungs- und Informationsgesellschaftweiterentwickelnden Gesellschaft, fragil.87 Neu beant-wortet und ausbuchstabiert werden muss die Frage, wieBildung in modernen Gesellschaften auf breiter Ebene,also für möglichst alle Kinder und Jugendlichen, gewähr-leistet werden kann, sei es aufgrund der Erosion und derständigen Weiterentwicklung eindeutiger Anforderungenan formale Qualifikationen („lebenslanges Lernen“), seies wegen der zunehmenden Bedeutung scheinbar unspe-zifischer, generalisierter Fähigkeiten und Fertigkeiten(„Schlüsselqualifikationen“), sei es infolge des sichtbargewordenen Bedeutungszuwachses personaler Kompe-tenzen oder sei es aufgrund der weniger selbstverständ-lich und weniger erwartbar gewordenen Bildungsimpulselebensweltlicher Zusammenhänge.88

Spätestens an diesem Punkt erlangen Bildungsorte undLernwelten jenseits der Schule sowie andere Bildungsge-legenheiten im Kindes- und Jugendalter eine neue Auf-merksamkeit. Bildung als Prozess der umfassenden Ent-wicklung eines handlungsfähigen Subjekts kann nichtmehr nur in der Schule und auch nicht mehr nur in forma-len Bildungsinstitutionen erworben werden. So unbestrit-ten die Bedeutung der Schule für die Bildung von Kin-dern und Jugendlichen auch weiterhin ist, so wird in derpolitischen, der öffentlichen und der wissenschaftlichenDiskussion doch zugleich die Möglichkeit unterschätzt,dass andere Bildungsorte und Lernwelten für die Bildungvon Kindern und Jugendlichen bedeutsam, vielleicht so-gar unerlässlich geworden sind.

Dies entwertet nicht die Bedeutung der Schule, schon garnicht in Bezug auf die von ihr erwartete Vermittlung kul-tureller und instrumenteller Kompetenzen. Schule bleibtdafür eine unabdingbare Institution; schlechte Qualität,schlechte Leistungen von Schulen sind infolgedessen ge-

84 So formuliert denn auch Baumert (2002, S. 213) mit Blick auf diehistorische Errungenschaft „Schule“: „Sie ist die Antwort des Natio-nalstaats auf gesellschaftliche Modernisierungsprozesse“. Dieser be-nötigt Kompetenzen von der nachwachsenden Generation, „und zwarauf einem Niveau, das durch Lernen im Alltag nicht mehr garantiertwird“.

85 Wobei sie in beiden Kompetenzdimensionen – dies verschärft dasDilemma moderner Bildungsanforderungen – eher die Wissensdi-mension und weniger die Könnensdimension im Blick hat.

86 Hierbei steht, gewissermaßen in umgekehrter Richtung zur Schule,vor allem die Könnensdimension, aber so gut wie nicht die Wissens-dimension im Mittelpunkt.

87 Die Unterscheidung in erste und zweite Moderne bezieht sich auf so-ziologische Deutungen gesellschaftlichen Wandels durch radikaleVeränderungen, in denen die moderne Gesellschaft gleichsam zu sichkommt, traditionelle Ordnungen und Orientierungen massiv an Be-deutung verlieren und damit bisher nur latent wirkende Grundkon-flikte moderner Gesellschaften nun an der Oberfläche sichtbar wer-den, insbesondere der Umstand, dass Ansprüche und Erwartungen anIndividualität durch Normierungen und reflexive Verarbeitung vonRisiken und gesellschaftlichen Zumutungen in Frage gestellt werden(Beck 1997; Beck u. a. 1996).

88 Dies drückt sich auf der einen Seite in der neu entstandenen Debatteum „Elternkompetenzen“ genauso aus wie in dem Bedeutungszu-wachs von Kopfnoten in der Schule oder dem vermeintlich oder tat-sächlich konstatierten „Erziehungsnotstand“ in der Familie. Auf deranderen Seite gehört hierzu aber auch die bislang überhaupt nicht ge-führte Debatte möglicher Erosion lebensweltlicher Bildungsimpulse,die von den Kirchen, den Vereinen und den lokalen Milieus erbrachtwerden.

Page 101: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 91 – Drucksache 15/6014

sellschaftlich und bildungspolitisch nicht akzeptabel. Unddennoch muss eine Bildungsreform, die die gesellschaft-lichen Rahmenbedingungen reflektiert und das Gefügevon Institutionen und Modalitäten in den Bildungsprozes-sen von Kindern und Jugendlichen berücksichtigt, aufSchule und zugleich auch auf andere für die Bildung vonKindern und Jugendlichen relevante Orte und Institutio-nen gerichtet sein und dabei das Wechselspiel zwischendiesen Orten und Institutionen beachten, will sie bei-spielsweise Friktionen und sich gegenseitig verstärkendeProzesse des Ausschlusses bzw. der Beeinträchtigung vonBildung vermeiden.

Es liegt daher nahe, den Zeiten und Räumen vor und ne-ben der Schule vermehrt Aufmerksamkeit zu schenken,damit sich deren Potenziale, Chancen und Risiken präzi-ser ausloten und beispielsweise ihre Rolle als Verstärkeroder als Gegengewicht schulbildungsbezogener Risiko-gruppen genauer einschätzen lassen. Viele dieser Orte ha-ben jedoch nach wie vor damit zu kämpfen, überhaupt alseigenständige Bildungsgelegenheiten und Lernorte wahr-genommen zu werden, da sie bestenfalls halbherzig alsergänzende, nachrangige Lerngelegenheiten gelten, zu-mindest solange sie sich nicht fraglos dem Diktat einesformalisierten, kanonisierten und curricular organisiertenBildungskonzepts unterwerfen oder sich diesem zumin-dest annähern.

Diese Tendenz zu einer bildungskonzeptionellen Mono-kultur, die aus den in der Schule immer noch dominieren-den Lehr- und Lernformen resultiert, hat vermutlich mitdem Umstand zu tun, dass der historisch unbestreitbareErfolg der Durchsetzung der Schule als allgemeinen, pri-mären Bildungsort mit den konzeptionellen Elementenetwa der Wissensvermittlung, der Fächeraufteilung, derLeistungsmessung und der Sanktion unterschiedlicherLeistungsergebnisse zugleich zu einer latenten Abwer-tung aller anderen Formen, Orte und Modalitäten des Ler-nens und der Bildung geführt hat (Elfter Kinder- und Ju-gendbericht, BMFSFJ 2002b). Was nicht gemessenwerden kann, was nicht zertifiziert wird, was nicht als in-dividuelle Einzelleistung sichtbar ist, gilt nicht als aner-kennenswerte Form des Lernens und der Bildung. Des-halb stehen diese anderen Orte des Lernens unter demstarken Druck, sich entweder ungewollt dem schulischenBildungskonzept anzunähern – völlig ungeachtet derFrage, ob das wirklich zu einer nachhaltigen Verbesse-rung führt – oder aber als Bildungsorte nicht ernst ge-nommen zu werden.

2.3.2 Bildung im Kindes- und Jugendalter – Bildungsreform als Neugewichtung des Verhältnisses von Bildungsorten und Lernwelten

Mit Blick auf potenzielle Bildungsprozesse von Kindernund Jugendlichen vor, in und neben der Schule wird somitzweierlei angesprochen: die systematische Inblicknahmeganz unterschiedlicher Bildungsorte und Lernwelten alsmögliche oder faktische Orte der Bildung einerseits sowiedas Verhältnis dieser Bildungsorte und Lernwelten zurSchule andererseits. Dass Bildungsprozesse nicht nur

– heute vermutlich weniger als früher – durch Schule aus-gelöst werden oder in ihr zustande kommen und dass dieVielfalt und das ungeklärte Nebeneinander der unter-schiedlichen Bildungsorte und -gelegenheiten eine Neu-bestimmung des Selbstverständnisses und der Aufgabenvon Schule, Kinder- und Jugendhilfe sowie anderen Lern-welten erfordern, stellt daher eine weitere Ebene dar, aufder die Frage der Bildung von Kindern und Jugendlichengeklärt werden muss. Welche spezifischen Beiträge unter-schiedliche Bildungsorte für die Bildung von Kindernund Jugendlichen leisten, wie das Verhältnis der Bil-dungsorte zueinander beschaffen ist bzw. gestaltet werdensollte, damit Bildung in dem hier skizzierten Sinne mög-lich wird, wie in dieser Mischung aus gesamtgesellschaft-lichen Bedingungen, institutionellen Arrangements undlebensweltlichen Voraussetzungen Bildung als aktiverProzess der Subjekte „gelingen“ kann, wie Kinder undJugendliche in unterschiedlichen sozialen Lagen damitumgehen und welcher Unterstützungsbedarf für die För-derung der individuellen Bildungsprozesse von Kindernund Jugendlichen dabei entsteht, sind bislang in der empi-rischen Bildungsforschung so gut wie nicht untersuchterGegenstände.

Als ein erstes Zwischenergebnis für einen konzeptionel-len Zugang zur Bildung im Kindes- und Jugendalter kannjedoch festgehalten werden: Bildungsprozesse von Kin-dern und Jugendlichen finden an unterschiedlichen Bil-dungs- und Lernorten statt, da Bildungsprozesse keine in-stitutionellen Grenzen kennen, sich zeitlich, räumlich undsozial nicht eingrenzen lassen. Und dennoch gibt es insti-tutionelle Arrangements, die sich dadurch auszeichnen,dass die Auslösung von Bildungsprozessen dezidiert zuihrer Funktion, ihren Aufgaben oder ihrem Selbstver-ständnis gehört.

2.3.3 Bildungsorte und Lernwelten: ein Überblick

Bei dem Versuch einer Sortierung und Typologisierungder an den Bildungsprozessen von Kindern und Jugendli-chen beteiligten Settings und Gelegenheiten bietet es sichan, zwischen Bildungsorten und Lernwelten zu unter-scheiden. Von Bildungsorten im engeren Sinne wäre vorallem dann zu sprechen, wenn es sich um lokalisierbare,abgrenzbare und einigermaßen stabile Angebotsstruktu-ren mit einem expliziten oder zumindest impliziten Bil-dungsauftrag handelt. Sie sind eigens als zeit-räumlicheAngebote geschaffen worden, bei denen infolgedessender Angebotscharakter überwiegt. Im Unterschied zu Bil-dungsorten sind Lernwelten weitaus fragiler, nicht an ei-nen geografischen Ort gebunden, sind zeit-räumlich nichteingrenzbar, weisen einen weitaus geringeren Grad anStandardisierung auf und haben auch keinen Bildungsauf-trag. Von ihrer Funktion her handelt es sich bei ihnen eherum institutionelle Ordnungen mit anderen Aufgaben, indenen Bildungsprozesse gewissermaßen nebenher zu-stande kommen.

Die Unterscheidung von Bildungsorten und Lernweltenerfolgt primär unter dem Gesichtspunkt ihrer unterschied-lichen Stellung und der ihnen jeweils zugrunde liegenden

Page 102: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 92 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

eigenen Rationalität. Sie ist jedoch nicht wertend gemeintin dem Sinne, dass Bildungsorte gegenüber Lernweltenals wichtiger erachtet werden oder umgekehrt. Eine typo-logische Unterscheidung erscheint jedoch sinnvoll undnotwendig, damit angesichts der Vielfalt der in Fragekommenden Orte und Gelegenheiten eine strukturierendeSystematik zum Zuge kommt, die nicht nur beliebigsämtliche Lerngelegenheiten einfach aneinander reiht undauch anschlussfähig bleibt gegenüber anderen Bildungs-diskursen. Typologisch betrachtet erscheint dabei der Be-griff „Lernwelt“ allgemeiner und diffuser zugleich, weni-ger eingrenzbar als ein spezifischer Ort, da er in der Regelweitaus mehr umfasst als Bildung. Demgegenüber be-zieht sich der Begriff „Bildungsort“ nur auf solche Orteund Institutionen, die u. a. auch eine explizite Bildungs-funktion haben und durch ein Minimum an Planung undOrganisation auf diese Funktion ausgerichtet sind. In die-sem Sinne werden Schule, Kindergarten und Jugendarbeitals „Bildungsorte“ bezeichnet, während im Unterschieddazu die Medien und Gleichaltrigen-Gruppen als typische„Lernwelten“ gelten können.

Ein Sonderfall ist die Familie. Obgleich die Familie eineeminente, weithin unterschätzte Bedeutung mit Blick aufdie Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen hat(Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen 2002), alsozweifelsohne wie ein Bildungsort wirkt, ist sie weder inzeit-räumlicher Hinsicht eingrenzbar noch mit Blick aufdie Zugehörigkeit der Beteiligten ein abgrenzbares Bil-dungssetting; und schließlich ist Bildung auch nicht diezentrale Funktion von Familie. Insofern handelt es sichformallogisch bei der Familie eher um eine Lernwelt. DaFamilie als Institution durch klare Strukturen und fest ge-fügte Ordnungen gekennzeichnet ist und als primäre So-zialisationsinstanz Bildungsprozesse von Kindern und Ju-gendlichen in hohem Maße prägt und beeinflusst, wird sienachfolgend jedoch nicht als Lernwelt bezeichnet, diesich auf einen eher eingrenzbaren Erfahrungsbereich be-zieht, sondern als Bildungswelt. Damit werden der beson-dere Charakter der Familie und ihre besonderen Leistun-gen für die Bildung von Kindern und Jugendlichen zumAusdruck gebracht. Mit Blick auf ihre Bildungsleistungsteht Familie in gewisser Weise im Spannungsverhältniszwischen „alles ist möglich“ und „nichts ist sicher“, d. h.dass Familie zwar in ganz erheblichem Umfang Bil-dungsleistungen vermitteln kann, dass diese Leistung derFamilie jedoch von der Gesellschaft weit weniger alsetwa von der Schule erwartet wird. Deshalb wird Familiezu einer Bildungswelt eigener Art.

Im Lichte der bislang angestellten Überlegungen bietet essich an, den Blick auf die wichtigsten Bildungsorte undLernwelten für Kinder und Jugendliche zu richten. AlsBildungsorte kommen die Schule sowie die Kinder- undJugendhilfe in den Blick, als Lernwelten die Gleichaltri-gen-Gruppen und die Medien, als eine umfassende Bil-dungswelt außerdem die Familie. Darüber hinaus gibt esnoch eine ganze Reihe anderer bildungsrelevanter Gele-genheiten, die – z. T. auch auf kommerzieller Basis –wichtige Bildungsanregungen und Lernimpulse für Kin-der und Jugendliche bieten.

(a) Der wichtigste Bildungsort moderner Gesellschaftenist zweifelsohne die Schule. Durch die Schulpflicht er-reicht sie alle Kinder und Jugendlichen eines Altersjahr-gangs. Sie ist für wesentliche Teile der Vermittlung syste-matisierten Wissens der heranwachsenden Generationzuständig, muss für alle ein „Bildungsminimum“ hervor-bringen, das die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben er-fordert, und weitergehende Lernfähigkeiten kultivieren(Tenorth 1994). Doch auch sie ist, um ihre Funktionen er-füllen zu können, implizit oder explizit auf andere Bil-dungsorte und Lernwelten angewiesen, sei es auf die Fa-milie als soziales Netzwerk im Hintergrund und alsVoraussetzung für erfolgreiche schulische Bildungspro-zesse, sei es auf die Schulsozialarbeit als Unterstützungbei risikobehafteten Schulkarrieren, sei es auf den Sport-verein, die Musikschule oder die Computerclique als För-derer von Fähigkeiten und Fertigkeiten, die auch im schu-lischen Kontext genutzt werden.

(b) Die Kinder- und Jugendhilfe stellt mit ihren Leistun-gen und Angeboten vielfältige öffentliche Bildungsorteund -gelegenheiten bereit.89 Im Unterschied zur Schulehandelt es sich hierbei jedoch durchgängig um freiwilligzu nutzende Angebote. Beispielhaft seien im Folgendeneinzelne Bildungsorte der Lernwelt Kinder- und Jugend-hilfe skizziert.

– Kindertageseinrichtungen: Der Bereich der Kinderta-geseinrichtungen erfüllt als ein zentrales Leistungsan-gebot der Kinder- und Jugendhilfe explizite Bildungs-aufgaben, auch wenn dies in den Diskussionen zurVerortung und zur konzeptionellen Weiterentwicklungvon Kindertageseinrichtungen immer wieder unter-schiedlich akzentuiert wird (Fthenakis u. a. 2003a).Der in Deutschland konzeptionell im Kindergarten amstärksten diskutierte „Situationsansatz“ betont zwarseine Bildungsfunktion (vor allem als „soziales Ler-nen“), setzt sich in seinem umfassenden Anspruchkonzeptionell jedoch deutlich von Formen schulischerBildung ab. Gleichzeitig erhält in der jüngeren Praxisvor allem die Sprachförderung besondere Aufmerk-samkeit als vorschulische Bildungsaufgabe im Kinder-garten (Wehrmann 2004). Als Kindertageseinrichtungfür Schulkinder erfüllt der Hort neben Betreuungs-auch explizite bildungsrelevante Aufgaben, u. a. durchsoziales Lernen in der Gruppe der Gleichaltrigen,durch die Hausaufgabenbetreuung, durch spezielleFörderangebote oder durch vielfältige Kurse und Pro-jekte.

– Jugendarbeit: Auch in der Kinder- und Jugendarbeitist mit konjunkturellen Schwankungen „Bildung“ im-mer wieder zum Thema gemacht worden, zuletzt vorallem unter dem Begriff der „Aneignung“ und der Per-sönlichkeitsbildung (Sturzenhecker 2002; Bonß

89 Da mit dem Begriff Kinder- und Jugendhilfe kein geschlossenes Sys-tem und auch kein einheitliches institutionelles Setting bezeichnetwird, sondern ein breites Spektrum von Aufgaben und Leistungen,kann die Kinder- und Jugendhilfe in ihrer Gesamtheit streng genom-men nicht als Bildungsort bezeichnet werden. Ihre einzelnen Institu-tionen mit identifizierbaren Einrichtungen und Orten stellen jedochkonkrete Bildungsorte dar.

Page 103: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 93 – Drucksache 15/6014

2003). Dabei reicht die Palette der Bildungsangebotein der Praxis vom „zur Verfügung stellen“ von Räu-men über konkrete Projekte und Aktionen bis zu Kur-sen und expliziten Bildungsangeboten in Jugendbil-dungsstätten und der Praxis der Jugendverbandsarbeit(Deinet 2004, 2001). Insbesondere Jugendkulturarbeitund die politische Jugendbildung sind seit je von einernoch deutlicheren Bildungsausrichtung geprägt undverfolgen dabei auch konkrete Bildungsziele.

– Heimerziehung/Hilfen zur Erziehung: In den stationä-ren Hilfen zur Erziehung stellt sich die Frage derBildung vor allem unter dem Gesichtspunkt der fami-lienersetzenden Bildungs-, Betreuungs- und Erzie-hungsprozesse, also der eher an die lebensweltlichenMuster der Bildung gebundenen Formen der Aneig-nung. Dabei eröffnen gerade die Hilfen zur Erziehungdie Chance, Kindern und Jugendlichen gegenüber denoft problematischen Herkunftskonstellationen vielfäl-tige andere Bildungserfahrungen und Lerngelegenhei-ten zu ermöglichen. Allerdings sind entsprechende Ef-fekte bislang kaum untersucht worden.

– Jugendsozialarbeit: Ein besonderes Verhältnis zumThema Bildung hat die Jugendsozialarbeit, sind dochsowohl die Jugendberufshilfe an der ersten und derzweiten Schwelle des Übergangs von der Schule in denBeruf als auch die Schulsozialarbeit durch ihre unmit-telbare Verwobenheit in das Schulgeschehen direkt indie Unterstützung und die Förderung der Bildung vonKindern und Jugendlichen eingebunden. Ihre Aufga-ben reichen vom Einsatz bei Schul- und Lernschwie-rigkeiten von Kindern und Jugendlichen durch indivi-duelle Beratung, Gruppenarbeit oder Projekte bis zukonkreten Bildungsangeboten in Form von Kursen fürSchulverweigerer, für Jugendliche ohne Schulab-schluss, für Jugendliche in Maßnahmen der Ausbil-dungsförderung oder in regulären Ausbildungen.

(c) Mit der Familie fängt alles an, auch die Bildung. DieFamilie ist nicht nur der erste und in der Zeit von der frü-hen Kindheit bis weit in die Schulzeit hinein auch derwichtigste Ort des Aufwachsens von Kindern, sondernauch ein lebensweltliches Setting, in dem ebenso elemen-tare wie zentrale Bildungsprozesse ablaufen (BMFSFJ2002b). Familie ist die einzige bildungsrelevante Sozial-form, in der Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungspro-zesse permanent ineinander übergehen; in diesem Sinnesind die Interaktionsbeziehungen in der Familie diffus,reziprok und universell. Zugleich ist die Familie nach wievor auch die wichtigste Hintergrundvariable zur Erklä-rung bildungsbezogener Unterschiede.

In der Familie eignen sich die Kinder sowohl die Sprachean, die ihre Weltaneignung entscheidend vorstrukturiert,als auch ihren primären Habitus, der ihr Verhalten, ihreEinstellungen, ihre Denkmuster und Handlungsweisenmaßgeblich prägt (Bourdieu 1991). Denkformen, Wert-orientierungen und das, was man auch Tugenden oder So-zialcharakter nennen könnte, wird elementar durch dieBildungs-, Betreuungs- und Erziehungsprozesse in derFamilie geformt. Dadurch werden in dem familialen Bil-dungsgeschehen entscheidende Weichen dafür gestellt,

wie und in welcher Weise Kinder und Jugendliche an-schlussfähig werden gegenüber anderen Bildungsortenund Lernwelten, vor allem auch gegenüber der Schule.Wie die Schule als zentraler öffentlicher Bildungsraumvon Kindern und Jugendlichen genutzt wird, wie Kinderund Jugendliche darin zurechtkommen, in welcher Weisesie von ihr profitieren, wird in maßgeblichem Umfangvon dem in der Familie erworbenen Habitus bestimmtund hängt entscheidend von dem dort vorhandenen undverfügbaren sozialen, kulturellen und ökonomischen Ka-pital ab (Bourdieu 1983). Die Entwicklung von Kindernund Jugendlichen wird somit direkt und indirekt durch diein der Familie ablaufenden Bildungs-, Betreuungs- undErziehungsprozesse gestaltet und beeinflusst (BMFSFJ2002b): direkt durch das, was Kinder hier beobachten,nachahmen, unbemerkt übernehmen, trainieren, lernen– Haltung, Weltverständnis, Sprache, Wissen, Denkfor-men, Wertpräferenzen, Deutungs-, Handlungs- und Kom-munikationsmuster usw. –, indirekt dadurch, dass die Fa-milie ein wesentlicher Faktor ist, der entscheidendenEinfluss auf den Umgang mit den vielfältigen Bildungs-angeboten hat, also etwa mit Blick auf Schulwahl,Schullaufbahn und Schulerfolg (Baumert u. a. 2001) oderhinsichtlich der Nutzung von Angeboten der Kinder- undJugendhilfe.90

(d) Gleichaltrigen-Gruppen, Peers und Cliquen habenfür die Entwicklung von Heranwachsenden vielfältigeFunktionen. Sie sind ein bedeutsames Erfahrungsfeld imÜbergang von der Herkunftsfamilie in ein eigenständigesNetz sozialer Beziehungen, sie sind ein Ort vielfältigerAktivitäten und Unternehmungen (z. B. Freizeit, Gesel-ligkeit, Partnerschaft, sportliche und kulturelle Aktivitä-ten, Reisen), sie sind in diesem Sinne aber auch eine la-tente Lernwelt, die wenig spezifiziert ist, da ihr als einemlebensweltlichen Zusammenhang keine dezidierte Bil-dungsaufgabe zugrunde liegt. Die Bildungsprozesse inGleichaltrigen-Gruppen beziehen sich dennoch zum ei-nen auf die vielfältigen Beziehungssituationen sowie denErwerb von sozialen Kompetenzen mit Blick auf Kom-munikation und Interaktion (Kontakt finden, Kontaktpflegen, Sich-Ausprobieren, Sich-Einbringen, Sich-Ab-grenzen, Sich-Durchsetzen, Zuhören u. Ä.), zum anderenauf den Erwerb personaler Kompetenzen, werden doch inder Konfrontation mit anderen Jugendlichen bzw. Grup-pen – unterschieden durch Geschlecht, regionale und eth-nische Herkunft, Erfahrung, Einstellung – die eigenen In-teressen, Denk- und Handlungsmuster, Perspektiven undHorizonte geprüft, in Frage gestellt, modifiziert, erweitertund stabilisiert, und Selbstbeobachtung beginnt zu einerwichtigen Quelle der eigenen Entwicklung zu werden.Dieser Prozess der Entwicklung von persönlichen Wert-einstellungen, Vorlieben und einer subjektiven Reflexivi-tät geschieht in den Gruppen meist nebenbei und implizit,

90 Eine wichtige Bildungsdimension innerhalb der Familie mit mehre-ren Kindern, die oft wenig beachtet wird, obgleich sie in spezifischenAltersphasen ausgesprochen wichtig sein kann, sind die Geschwister.Hierbei handelt es sich, wenn man so will, um eine Sonderform vonGleichaltrigen-Gruppe (Kasten 2003; Teubner 2005), die es ermög-licht, dass Kinder in ihrer Alltagspraxis vieles „mitbekommen“, ab-schauen und am Modell lernen können. In Einzelkindfamilien fälltdiese Ressource des Lernens in der Alltagspraxis aus.

Page 104: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 94 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

bewirkt aber ein hohes Maß an gleichzeitiger Verunsiche-rung und Selbstvergewisserung, an Nachdenken undÜberprüfung der eigenen Standpunkte und Vorstellungen.Dieser gesamte Prozess hat unter Umständen weitaus grö-ßere Auswirkungen auf gelingende und misslingende Bil-dungsverläufe, als dies bislang in der entsprechenden Be-trachtung von Bildung im Kindes- und Jugendalter zumAusdruck kommt. Insoweit ist diesen Gleichaltrigen-Gruppen als Verstärkern gelingender und misslingenderBildungsverläufe weit mehr Aufmerksamkeit zu widmen,als dies bisher der Fall war.

(e) Medien sind eine Lernwelt eigener Art. Sie sindweder räumlich noch zeitlich begrenzt, sind nicht von an-deren Bildungsorten und Lernwelten abgrenzbar, sindimmer auch Bestandteil anderer Bildungsorte und Lern-welten. Insofern bieten ihre Rezeption und ihre Produk-tion wichtige Bildungsgelegenheiten. Sie eröffnen Mög-lichkeiten der Aneignung, der Auseinandersetzung, derGeschmacksbildung und der Kommunikation zwischenGleichaltrigen und zwischen den Generationen.

(f) Jenseits des Bildungsorts Schule sowie der Bildungs-orte innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe, der Familieals Bildungswelt sowie der Lernwelten der Gleichaltri-gen-Gruppe und der Medien können sich auch andereOrte und Modalitäten zu bildungsrelevanten Gelegenhei-ten entwickeln91, seien es, auf kommerzieller Basis,Nachhilfeinstitute, die damit werben, Schulleistungenvon Schülerinnen und Schülern zu verbessern und so zumErfolg schulischer Bildung beizutragen92, seien es Musik-und Ballettschulen, Computerstudios für Kinder und Mal-schulen, seien es spezielle kommerzielle Sportanbieter,seien es Organisationen für schulische Auslandsaufent-halte oder spezielle Anbieter für Jugendsprachreisen.Diese Angebote bewegen sich zum Teil an der Grenzezwischen gewerblichem Anbieter und öffentlicher Förde-rung durch die Kinder- und Jugendhilfe.93

Ein weiterer Bereich, der Jugendlichen vielfältige bil-dungsrelevante Lerngelegenheiten eröffnet, sind Schüler-jobs. Sie gewähren Einblicke in die Arbeitswelt, wennauch meist in einem sehr ausschnitthaften und einge-grenzten Segment, sie vermitteln erste Erfahrungen in Ar-beitsverhältnissen, den mit der Arbeit verbundenenAnforderungen und Erwartungen, den Rollen und Kon-ventionen, dem nötigen Wissen und Können, in einerForm und einer Ernsthaftigkeit, die in schulisch insze-nierten Veranstaltungen zum Kennenlernen der Arbeits-welt oder in Praktika meist nur bedingt möglich sind. Siesind unter Umständen somit erlebte Ersterfahrungen des-sen, was der „Ernst des Lebens“ konkret bedeutet.

In der Summe – und hier kann es nur um eine exemplari-sche Skizzierung möglicher Bildungsorte und Lernweltengehen – lassen sich verschiedene Orte, Modalitäten undGelegenheiten identifizieren, die Kinder und Jugendlicheanregen, ihnen Impulse und Lernanregungen geben, diezu einem Kompetenzzuwachs auf unterschiedlichen Ni-veaus und in unterschiedlicher Intensität führen. Eine sys-tematische Auseinandersetzung innerhalb der Wissen-schaft mit derartigen Bildungsorten und Lernwelten fürKinder und Jugendliche steht ebenso noch aus wie dieempirische Überprüfung ihrer – je nach Inanspruch-nahme – jeweiligen Potenziale und Effekte (vgl.Abb. 2.2).94

2.4 Bildungsmodalitäten

Nach der begrifflichen Klärung dessen, was mit Bildungumschrieben werden soll, der Bestimmung basaler Bil-dungsziele im Horizont unterschiedlicher Weltbezüge inForm von Kompetenzen mit den beiden jeweiligen Refe-renzpunkten von Wissen und Können sowie einer typolo-gischen Unterscheidung und Skizzierung von unter-schiedlichen Bildungsorten und Lernwelten liegt imFolgenden der Fokus auf der Unterscheidung unter-schiedlicher Formen und Modalitäten von Bildung.

Dabei lassen sich Bildungsorte bzw. Lernwelten unter-scheiden von Bildungsprozessen. Während bei Bil-dungsorten und Lernwelten, den institutionalisiertenBildungsarrangements bzw. den bildungsrelevanten le-bensweltlichen Gelegenheiten die Rahmenbedingungen,die Kontexte und die Voraussetzungen für die strukturel-len Modalitäten des Zustandekommens potenzieller Bil-dungsprozesse im Mittelpunkt der Betrachtung stehen,

91 Vgl. auch Einleitung zu Teil C und Abb. 2.2. Im Unterschied zu denzuvor genannten Bildungsorten und Lernwelten handelt es sich beidiesen in aller Regel um monothematische Angebote bzw. Anbieter,in denen es nur um einen speziellen Lerngegenstand geht (eine Spra-che, ein Musikinstrument, Computerprogramme). Diese modulari-sierte, partikulare Form eines Bildungsangebots gilt in der Regel füralle kommerziellen Angebote.

92 Bei der Nachhilfe muss man zwischen den informellen Formen in dereigenen Familie (Vater, Mutter, Geschwister) oder in der Nachbar-schaft, den institutionellen Formen der Hausaufgabenhilfe im Hortoder im schulischen Förderunterricht und der kommerziellen Nach-hilfe unterscheiden. Bei kommerziellen Angeboten wiederum kannzwischen privat geregelter Nachhilfe, insbesondere durch ältereSchüler/innen, Studierende oder Lehrkräfte, und Angeboten speziali-sierter Nachhilfeinstitute, die gezielte Nachhilfe anbieten, unterschie-den werden (vgl. auch Abschnitt 6.3).

93 Andere kommerzielle Angebote für Kinder und Jugendliche habenebenfalls nebenbei und eher indirekt eine möglicherweise bildendeWirkung, z. B. Freizeit- und Erlebnisparks, Kinos, Kinder- und Ju-gendtheater; auch in die primär vergnügungsorientierten Angeboteund Dienstleistungen können didaktisch aufbereitete Informationeneingefügt sein. Bildung geschieht dann aus Anbietersicht durchausgeplant, in der Nutzerperspektive beiläufig und zufällig. Aber auchkommerzielle Angebote ohne didaktische Zutaten können für Kinderund Jugendliche Lernwelten darstellen, in denen sie bildungsrelevan-te Erfahrungen machen und reflektieren. Im Genuss, in der Unterhal-tung und im Vergnügen können so auch Prozesse der aktiven Ausei-nandersetzung mit sich und der Welt stattfinden.

94 In der Abbildung sind Bildungsorte und Lernwelten von Kindern undJugendlichen in Bezug auf ihre mögliche Bedeutung im Lebensalterund den Grad ihrer Formalisierung dargestellt. Diese Graphik ist ineinem heuristischen, nicht in einem empirischen Sinne zu verstehen.Deshalb sind auch nicht alle denkbaren und möglichen Bildungsorteund Lernwelten abgebildet, sondern nur einige wichtige. Schule,Kindertageseinrichtungen und Jugendarbeit als Bereiche der Kinder-und Jugendhilfe sowie kommerzielle Nachhilfeangebote und Jobssind als Bildungsorte gekennzeichnet, wobei der Grad der Formali-sierung in der Schule eindeutig höher ist als etwa in der Kinder- undJugendhilfe, die insgesamt weniger formalisiert ist, in Teilen jedochebenfalls formale Bildungsangebote bereithält. Familie als Bildungs-welt sowie Peers und Medien markieren den Bereich wenig bzw. garnicht formalisierter Bildungs- und Lernwelten von Kindern und Ju-gendlichen.

Page 105: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 95 – Drucksache 15/6014

A b b i l d u n g 2.2

Bildungsorte und Lernwelten

JugendarbeitKommerzielleFreizeitangeboteNachhilfe JobsAlter

10

6

0

Schule

Sekundarstufe I und II

Primarstufe

Kindertages-betreuung

Peers

Medien

Familie

Frühförderangebote

liegt bei den Bildungsprozessen der Akzent auf den sub-jektgebundenen Möglichkeiten erfolgreich zustande ge-kommener Bildung, also etwa dem Zuwachs an Wissen,Können oder Kompetenz. Anders formuliert: Mit derFrage nach den Bildungsorten und den Lernwelten wirdim Prinzip eine institutionenbezogene Perspektive einge-nommen, bei jener nach den Bildungsprozessen ehereine akteursbezogene Perspektive.95 In der Darstellungund der Unterscheidung von Bildungsmodalitäten flie-ßen beide Perspektiven ineinander, da Bildungsmodalitä-ten einerseits nach Bildungsprozessen und andererseitsnach Bildungsorten differenziert werden.

2.4.1 Formelle und informelle Bildungs-prozesse

Das Bildungsgeschehen wird traditionell als formalisier-ter Prozess gedacht, der an eigens dafür eingerichteten In-stitutionen nach vorgegebenen Regeln und vorgefertigtenPlänen arrangiert und curricular gestaltet stattfindet. Das

schulische Lernen ist ein prototypisches Beispiel für dieseForm des Lernens. Dadurch geraten aber alle anderenFormen des Lernens, die nicht dieser Formalstruktur glei-chen, aus dem Blick. Infolgedessen wurden lange Zeit in-formelle Bildungsprozesse ausgeblendet, wurde ignoriert,dass Lernen und Bildung sowohl in formalisierten alsauch in informellen Kontexten stattfinden.

Seit einigen Jahren steigt allerdings die Aufmerksamkeitfür informelle Bildungsprozesse. Einen Ausgangspunkthaben dabei in der internationalen Debatte die Diskus-sionen um „life-long-learning“, das lebenslange Lernen,gespielt (Dohmen 2001; Expertenkommission „Finanzie-rung Lebenslangen Lernens“ 2004). In diesem Zusam-menhang bildet das „informal learning“, das „informelleLernen“, einen Schlüsselbegriff mit Blick auf die Mög-lichkeiten und die Fähigkeiten, auf andere Art und Weiseals in formalisierten Kontexten, als in schulischen oder be-ruflichen Ausbildungen zu lernen, also nebenher, inEigenregie, in offenen Situationen. Anders als in Deutsch-land wird dem informellen Lernen in vielen anderenLändern seit längerem ein weitaus höherer Stellenwertbeigemessen. Nach Dohmen gelten als informelles Lernen„alle (bewussten oder unbewussten) Formen des prakti-zierten Lernens außerhalb formalisierter Bildungsinstitu-tionen und Lernveranstaltungen. Es setzt sich vom forma-len Lernen insbesondere dadurch ab, dass es in aller Regel

95 Da zu Bildungsorten und Lernwelten auch lebensweltliche Gelegen-heiten und Strukturen gezählt werden, kann man genau genommennicht von einer Institutionenperspektive sprechen. Gemeint ist, dasses um institutionell oder um lebensweltlich gegebene Voraussetzun-gen und Bedingungen geht, um institutionelle Ordnungen, jedochnicht um individuelle Bildungsprozesse.

Page 106: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 96 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

von den individuellen Interessen der Akteure aus gesteuertist. Es ist meist ungeplant, beiläufig, implizit, unbeabsich-tigt, jedenfalls nicht institutionell organisiert, d. h. ein(freiwilliges) Selbstlernen in unmittelbaren Zusammen-hängen des Lebens und des Handelns. Der Ort dieser Formder Bildung und des Lernens ist zuallererst der lebenswel-tliche Zusammenhang und die (soziale) Umwelt der Bil-dungsakteure; infolgedessen können entsprechende Lern-und Bildungsprozesse innerhalb wie außerhalb der for-malen Bildungsinstitutionen zustande kommen“(Rauschenbach u. a. 2004, S. 29).

Wesentlich bei dieser Unterscheidung ist somit aus derAkteursperspektive nicht die Frage, ob der Bildungspro-zess ausdrücklich und gut geplant ist, sondern die Frage,ob er erfolgreich ausgelöst wurde. Das heißt: Selbst wennjemand etwas ganz zufällig, nebenher und ohne AbsichtDritter gelernt hat, es sich mithin um einen informellenBildungsprozess handelt, kann dieser in manchen Fällenim Ergebnis genauso „erfolgreich“ sein wie ein geplantesSeminar, ein gut vorbereiteter Unterricht. Damit wirdaber in der Analyse und der Beobachtung der Akzent un-weigerlich nicht mehr sosehr auf den Grad der Bestrebun-gen und der Absicht gelegt, also auf die Soll-Werte, son-dern auf die tatsächlich erzielten Leistungen und Effekte,auf die Ist-Werte.

2.4.2 Formale und non-formale Bildungs-settings

Im Unterschied zu formellen und informellen Bildungs-prozessen zielt die bereits implizit verwendete Unter-scheidung von formalen und non-formalen Bildungsset-tings auf den Grad der Formalisierung der geplantenBildungsarrangements. Als formale Bildungsorte gelteninsbesondere jene Institutionen, die nicht nur ein dezi-diertes Ziel der Bildung ihrer Nutzerinnen und Nutzerverfolgen, sich also ausdrücklich mit Bildungsfragen be-schäftigen, sondern die Bildungsprozesse zugleich auchnach definierten Regeln und rechtlichen Vorgaben struk-turieren. Dies drückt sich in mehr oder weniger ausge-prägten Formen der Vorstrukturierung, der gezielten Vor-bereitung der beabsichtigten Bildungsprozesse, derÜberprüfung des Verlaufs und des Erfolgs sowie unterUmständen – wie im Fall von Schule und Hochschule –auch in der anschließenden Zertifizierung und Sanktio-nierung der erreichten bzw. nicht erreichten Bildungser-folge aus.

Formale Bildungsorte für Kinder und Jugendliche stellenin diesem Sinne in erster Linie die Schule sowie Einrich-tungen der Kinder- und Jugendhilfe dar.96 Der Grad derFormalisierung ist dabei unterschiedlich hoch. Sehr hochist er in der Schule mit der Schulpflicht, dem hierarchi-schen Aufbau, dem streng organisierten und reglemen-

tierten Tageslauf, den mehr oder weniger verbindlichvorgegebenen Curricula, den Verfahren zur Leistungs-messung und der damit verbundenen Sanktionsgewalt(Versetzung und Sitzenbleiben) sowie mit der Vergabevon Zertifikaten, die auf individuelle Lebensplanung, be-rufliche Karriere und die damit verbundene gesellschaftli-che Positionierung erheblichen Einfluss haben.

Deutlich geringer ist der Formalisierungsgrad hingegen inder Regel in den institutionellen Settings der Kinder- undJugendhilfe, wo es – zumindest im Schnitt gesprochen –keine Pflicht, keine Auslese, keine Zertifikate und keineunmittelbaren Sanktionsfolgen gibt. Allerdings gibt esauch dort große Unterschiede im Grad der Formalisie-rung, wenn etwa in der Jugendberufshilfe entsprechendeAngebote zur beruflichen Eingliederung absolviert wer-den müssen, wenn Kindergärten verstärkt darauf ver-pflichtet werden, messbare Leistungen in der sprachli-chen Förderung von Migrantenkindern zu gewährleisten.Demgegenüber sind Angebote der offenen Jugendarbeitin der Regel deutlich weniger formalisiert.

Im Unterschied zu formalen Bildungsorten stellen non-formale Settings in der Regel keine für Bildungszweckeeingerichteten Orte dar; dies trifft in jedem Fall für Lern-welten zu, wie sie in Abschnitt 2.3 eingeführt wordensind. Sie sind in lebensweltliche Strukturen eingebettet,mit Aufgaben beschäftigt und mit Funktionen konfron-tiert, die oftmals anderen Zwecken folgen als jenem derVermittlung mehr oder minder spezifischer Bildungsleis-tungen. Non-formale Bildungsgelegenheiten als Lernwel-ten stellen u. a. die Familie, die Gleichaltrigen-Gruppeund die Medien dar.

2.4.3 Bildungsmodalitäten im Zusammenspiel von Bildungsprozessen und Bildungssettings

Verknüpft man diese unterschiedlichen Dimensionen derBildungsmodalitäten, so lassen sie sich wie folgt typisie-ren: Mit Blick auf den Grad der Formalisierung von Bil-dungsprozessen ist ein fließender Übergang zwischen for-mellen und informellen Bildungsprozessen zu vermuten;auch Bildungssettings können mehr oder weniger forma-lisiert sein. In Bezug auf Bildungssettings ist eine Überla-gerung formeller und informeller Bildungsprozesse amselben Ort durchaus möglich (etwa bei der Computer-clique, die sich in der Schule „findet“ und trifft). So kön-nen an einem formalen Bildungsort sowohl formalisierteals auch informelle Bildungsprozesse ablaufen; an einemnon-formalen Ort können sich unter Umständen ebenfallsformelle Bildungsprozesse realisieren (etwa wenn in ei-ner Urlaubssituation ein Sprachkurs belegt wird).

Ausgehend von diesen Prinzipien lässt sich eine Typolo-gie von Bildungsmodalitäten entwickeln, wobei sich zwi-schen den beiden Polen „formelle vs. informelle Bil-dungsprozesse“ in der einen sowie „formale vs. non-formale Bildungsarrangements“ in der anderen RichtungMöglichkeiten der Zuordnung mit fließenden Übergän-gen eröffnen (vgl. Abb. 2.3).

96 Um diese Differenz zwischen Schule sowie Kinder- und Jugendhilfenicht zu verwischen, wird das Gesamtsetting „Kinder- und Jugend-hilfe“ im Unterschied zur Schule bisweilen auch als „non-formalerBildungsort“, d. h. als ein Setting bezeichnet, in dem der Formalisie-rungsgrad weitaus geringer ist als in der Schule (vgl. etwa Rauschen-bach u. a. 2004).

Page 107: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 97 – Drucksache 15/6014

A b b i l d u n g 2.3

Bildungsmodalitäten

FormelleBildungsprozesse

FormaleSettings

Non-FormaleSettings

InformelleBildungsprozesse

Schul-unterricht

PC-Kurs ineinem Jugend-

berufshilfe-Lehrgang

Theaterpro-jekte in der

Jugend-kunstschule

Bezahlte Nachhilfe

Gruppen-leiter/-innen-Kurs

im Jugend-verband

Haus-aufgaben-hilfe der

Eltern

Training im Fitness-

studio

Gespräch im Familien-

alltag

Aktivitätenin derClique

Aktivitätenim Jugend-

zentrum

SpielerischesErkunden

in derKita

Schul-freund-

schaften

Gruppen-stunde im

Jugend-verband

Museums-besuch mit der Familie

Mitmach-gruppe im

Kinder- und Jugendkino

2.5 Bildung im LebenslaufBei dem diesem Bericht zugrunde gelegten Bildungsver-ständnis stehen, wie eingangs in diesem Kapitel formu-liert, nicht die Bildungsinstanzen, also das Bildungssys-tem bzw. das Bildungs- und Erziehungswesen, imVordergrund. Vielmehr soll das Bildungsgeschehen ausdem Blickwinkel des Lebenslaufs von Kindern und Ju-gendlichen betrachtet werden. Diese subjektgebundeneSeite der Bildung, also die Aufeinanderfolge bzw. dasNebeneinander unterschiedlicher Bildungsprozesse sowieLernanlässe und -gelegenheiten, hat eine zeitliche Di-mension, ist mithin nicht nur in ihrer synchronen Dimen-sion, also etwa im – organisierten oder ungeregelten –Nebeneinander schulischer und außerschulischer Akteurezu beobachten, sondern hat auch eine diachrone Perspek-tive.

Mit anderen Worten: Bildungsprozesse kumulieren imfrühen Lebensverlauf, in der Biografie von Kindern undJugendlichen, nehmen andere Formen an, bauen im güns-tigen Fall aufeinander auf, verstärken sich untereinanderund führen so zu einem höheren Niveau der Verallgemei-nerung.

Mit derartigen Überlegungen ist eine dritte Ebene der Be-trachtung benannt, die in der Frage nach der Bildung von

Kindern und Jugendlichen vor und neben der Schule an-gelegt ist und eine wichtige, jedoch bislang in der Bil-dungsforschung ebenfalls kaum untersuchte Rollespielt.97 Dabei schwingen Erwartungen mit, dass Bil-dungsprozesse in der frühen Kindheit anders verlaufensowie anders anzuregen und zu unterstützen sind als inder mittleren Kindheit oder in der Adoleszenz.98 Damitführt die Frage, wie Bildung im Prozess des Aufwachsensgestaltet und verändert wird, auch zu der Frage, wie sievon den Bildungsinstitutionen altersgemäß gestaltet wer-den kann. Eine altersspezifische Gestaltung von Bil-dungsprozessen wird von den öffentlichen Institutionenin besonderer Weise erwartet, zumal dann, wenn, wie in

97 So sind beispielsweise die jüngst bekannt gewordenen Leistungsstu-dien PISA und IGLU (vgl. Glossar im Anhang) durchweg Quer-schnittsbefragungen und Tests, die nichts darüber aussagen, wie sichder Bildungsprozess der untersuchten Jugendlichen im biografischenAblauf darstellt. Lediglich die Entwicklungspsychologie hat sich aufdiese Betrachtungsweise spezialisiert, allerdings mit erheblichenEinschränkungen, was den Horizont der zu beobachtenden Dimen-sionen und den Kontext der Einflussebenen anlangt.

98 Von erheblicher fachpolitischer Relevanz ist eine derartige Betrach-tungsweise beispielsweise bei der Frage nach dem richtigen Einschu-lungsalter, also dem angemessenen Zeitpunkt des Übergangs von denBildungsmodalitäten im Bildungssetting „Kindergarten“ zu den Mo-dalitäten des Settings „Grundschule“.

Page 108: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 98 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

der Schule, Kinder und Jugendliche zu deren Besuch ver-pflichtet sind.

Von der Kinder- und Jugendhilfe wird ebenfalls eine al-tersgemäße Gestaltung erwartet. Durch das Wunsch- undWahlrecht sowie die Freiwilligkeit der Inanspruchnahmeder Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe könnten einestärkere Kontrolle und mehr Mitbestimmung der Nutze-rinnen und Nutzer gegeben sein und dazu beitragen, einealtersgemäßere Gestaltung der Angebote und Leistungenzu erreichen. Da allerdings auch bei der Nutzung vonLeistungen der Kinder- und Jugendhilfe unterschiedlicheInteressen und Motive eine Rolle spielen – im Bereichder Kindertagesbetreuung Interessen an qualifiziertenBildungsangeboten einerseits, an verlässlichen Betreu-ungsangeboten andererseits –, ist auch hier die Fragenach der altersangemessenen Gestaltung der Angebotekeineswegs überflüssig, insbesondere bei knappen öffent-lichen Ressourcen und einer weiterhin hohen Nachfragenach dem vorhandenen Angebot an Plätzen und Einrich-tungen.

Deshalb sind diesbezüglich folgende Fragen und Aspektezu beachten:

– Eine grundlegende Differenzierung für den Bericht inBezug auf Bildung im kindlichen Lebensalter beziehtsich auf den Spracherwerb und den Erwerb symboli-scher Kompetenzen. Zu beachten sind hierbei etwavorsprachliche und sprachliche Bildungsprozesse so-wie die Bedeutung des Aufbaus von Symbolsystemen.

– Bildungsprozesse können auch im Horizont entwick-lungspsychologischer Modelle des Kompetenzerwerbsdiskutiert werden. Modelle sprachlicher, kognitiverund moralischer Entwicklung bieten eine Folie an, an-hand der es möglich ist, zentrale Entwicklungsaufga-ben zu benennen und Bildungsinstitutionen danach zubefragen, inwiefern ihre Angebote und Leistungendem Entwicklungsstand von Kindern adäquat gestaltetsind.

– Im Prozess des Aufwachsens erweitern Kinder die An-zahl und die Möglichkeiten der Zugänge zu den Welt-bezügen. Im Kleinkindalter erfolgen Zugänge zur Weltvorwiegend über die Mutter und den Vater als Bezugs-personen; mit dem Gehenlernen und dem Sprechen-können erweitern sich die Zugänge nach und nach,und mit dem Besuch öffentlicher Kindertageseinrich-tungen werden wiederum neue Dimensionen des Welt-zugangs eröffnet und erste, familial nicht beobachteteKontakte aufgebaut. Deshalb sind diese in Institutio-nen möglichen Weltzugänge in ihrer Bedeutung fürdie Bildung von Kindern auch relational in Beziehungzu anderen lebensaltertypischen Weltzugängen zu er-fassen und zu bewerten; hierbei sind soziale Ungleich-heiten, kulturelle Unterschiede sowie geschlechtsspe-zifische Differenzen als gegeben anzusehen.

– Mit zunehmendem Alter vergrößert sich auch die An-zahl der Orte und der Gelegenheiten. Kinder könnensich nach und nach Räume selbst aneignen, könnenZeiten und Räume eigenständig erschließen, definie-ren, auswählen und gestalten, und sie eröffnen sich da-durch neue, erweiterte Zugänge zur Welt. In einer so-

zialökologischen Perspektive kommt es hierbei vorallem darauf an, zu fragen, wie groß Aktionsradienvon Kindern in welchem Alter sind, welche Möglich-keiten der selbstständigen Raumaneignung im Wohn-umfeld und innerhalb von institutionellen Settingssich ihnen eröffnen und welche sozialen, kulturellen,geschlechtsspezifischen und regionalen Unterschiedees dabei gibt. Dabei dürfte die Struktur des Wohnum-feldes einen maßgeblichen Einfluss auf die Möglich-keiten der Raumaneignung besitzen (Alt 2005).

– Selbstständige Aneignung von Räumen und Nutzungvon Angeboten bedeuten eine Zunahme von Selbstbe-stimmung und selbst gesteuertem Lernen. DieserAspekt ist in der Bewertung des Zusammenspiels (öf-fentlicher) formaler und non-formaler Orte und Gele-genheiten zu berücksichtigen. Mit zunehmendem Al-ter verlieren organisierte und formalisierte Angebotean Bedeutung für individuelle Bildungsprozesse; siewerden in ein kompliziertes Geflecht von formalenAngeboten und informellen Prozessen eingewoben.Deshalb werden formale Orte zwar nicht bedeutungs-los, ihre Leistungen müssen jedoch in Bezug auf dieBedeutung im individuellen Bildungsprozess bewertetwerden.

Mit Blick auf die zeitliche und die biografische Strukturdes Bildungsgeschehens aus der Akteursperspektivewird jedoch ein Thema virulent, das in seiner innerenDynamik ebenfalls noch kaum untersucht worden ist.Zugespitzt formuliert: Bildungsangebote und bildungsre-levante Gelegenheiten bedeuten nicht für alle das Glei-che, haben für die Einzelnen höchst unterschiedlicheFolgen. Spätestens hier kommt bei der Bildungsfragewieder das Thema der ungleichen Zugangschancen, derunterschiedlichen lebensweltlichen Unterstützungs- undAnregungspotenziale, der disparaten individuellen Kos-ten-Nutzen-Abwägungen bei der Wahrnehmung der vor-handenen Bildungsangebote ins Spiel. Hier gilt es, diesozialen Disparitäten, die Differenzen nach Herkunft,Migration, Geschlecht und Region im Auge zu behal-ten, nicht zuletzt um so das komplexe Zusammenspielbei der Erzeugung von Bildungsgewinnern und -verlie-rern in Risikogruppen besser verstehen und ihm poli-tisch angemessener begegnen zu können.

Unstrittig kommt es im Prozess des Aufwachsens zu einerAkkumulation gelingender, aber auch misslingender Bil-dungsprozesse, also zu einer Verstärkung bereits vorgän-gig erfolgter Bildungsprozesse. Damit radikalisieren sichdie Fragen nach den sozialen, also den nicht-genetischenoder individuellen Ursachen für die Entstehung misslin-gender Bildungsbiografien, die nicht zuletzt nach PISAwieder verstärkt ins Blickfeld gerückt werden müssen,zumal bislang im Grunde genommen jede bildungsbio-grafische Etappe bzw. jede Bildungsinstanz ihre eigeneninternen Bildungseffekte im Blick hatte, ohne die vorge-lagerten Einflüsse ausreichend empirisch zu kontrollie-ren. Sollen mithin die Bildungsbiografien, die erfolgrei-chen wie die risikoreichen Bildungsprozesse verstärkt insBlickfeld der fachpolitischen Beobachtung gerückt wer-den, sind die bildungssystemabhängigen Blickrichtungenzu überwinden und die Bildungsprozesse im Lebensver-lauf selbst in den Mittelpunkt zu stellen.

Page 109: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 99 – Drucksache 15/6014

2.6 Bildung und ÖkonomieDie voranstehenden Abschnitte in diesem Kapitel habengezeigt, dass in Deutschland mehr Bildungsanstrengun-gen notwendig sind. Diese erfordern, so behaupten wirbereits hier, zusätzliche finanzielle Mittel. Insofern ist esin diesem konzeptionellen Kapitel sinnvoll, auch die öko-nomische Sicht auf Bildung zu thematisieren. Anders alsin der zuweilen vorfindbaren Entgegensetzung von um-fassender Bildung gegenüber einem instrumentellenBildungsbegriff im Sinne eines „engen, ökonomischverwertbaren Wissens“ wird auch bei einer wirtschafts-wissenschaftlichen Betrachtungsweise ein breiter Bil-dungsbegriff vorausgesetzt. So betont der Ökonomie-Nobelpreisträger James Heckman in seinen bildungsöko-nomischen Analysen ausdrücklich, dass Bildung weitmehr sei als das, was in der Schule gelehrt werde(Carneiro/Heckman 2003; Heckman 2000). Dies bedeu-tet, dass auch moderne Bildungsökonomen von einem bio-grafisch eingebundenen, erweiterten Bildungsbegriff aus-gehen, wie er diesem Bericht zugrunde liegt.

Im Folgenden werden zunächst grundlegende Zusam-menhänge von Bildung und Ökonomie in einer Welt mitknappen Ressourcen dargestellt („Ist Bildung ökono-misch rational?“). Anschließend wird der Frage nachge-gangen, wie Bildung „produziert“ und wie sie „finan-ziert“ werden sollte, bei möglichst hoher Qualität undmöglichst niedrigen Kosten.

2.6.1 Grundsätzliche ökonomische Überlegungen

Ökonomische Überlegungen spielen deswegen in allenLebensbereichen eine unvermeidbare Rolle, weil jederMensch ständig entscheiden muss, wie er seine knappeZeit einteilt und wie er seine knappen Ressourcen sowiedie Güter und Dienste, die er für sich und seinen Haushaltsowie für den Markt produziert, verwendet. Bildung un-terliegt diesem Abwägungskalkül ebenso wie jede andereArt der Zeitverwendung. Wenn Bildung ineffizient, alsounter Verschwendung von Ressourcen, die man an ande-rer Stelle besser gebrauchen könnte, produziert wird, istdies nicht im allgemeinen Interesse der Menschen, son-dern bestenfalls im Interesse derer, die von der Ver-schwendung profitieren (z. B. indem sie im Vergleich zuanderen unangemessen hohe Einkommen erzielen).

Der Vergleich von Kosten und Nutzen sowohl bei indivi-duellen als auch bei gesellschaftlichen Handlungen istmithin unvermeidlich. Werden diese Vergleiche nicht ex-plizit gemacht, sondern implizit angestellt (oder gar ver-schleiert), sind keine besseren Ergebnisse als bei einemexpliziten Kalkül zu erwarten. Kosten-Nutzen-Rechnun-gen sind insbesondere sinnvoll, wenn der Staat Steuermit-tel ausgibt. Dann muss abgewogen werden, welche Alter-native anhand von Kosten-Nutzen-Abwägungen von derGesellschaft gewählt werden sollte. Da der Nutzenschwer messbar ist, sind Kosten-Nutzen-Rechnungen al-lerdings kein Wundermittel. Sie machen jedoch Entschei-dungen transparenter und können insbesondere dann hel-fen, wenn dasselbe Ziel mit Hilfe verschiedenerProgramme erreicht werden kann. Dann sollte die spar-

samste Alternative, also jene, die die wenigsten materiel-len und zeitlichen Ressourcen in Anspruch nimmt, ausge-wählt werden.

Bildung ist eine besondere Art der Zeitverwendung; siekann zugleich Konsum- und Investitionsgut sein. AlsKonsumgut macht Bildung Spaß; sie kann aber auch alseine Investition in das eigene Humankapital betrachtetwerden99, die für Haushaltsproduktion (einschließlichSpaß an Bildung) und Marktproduktion genutzt werdenkann. Für Bildung als Konsumgut, das Freude macht,weil man gerne etwas lernen möchte, gibt es wenigeGründe, dass dieser private Nutzen öffentlich unterstütztwird. Anders kann es sich bei Bildung als Investition indas eigene Humankapital verhalten, da damit mehr Mög-lichkeiten für gesellschaftlich und volkswirtschaftlichwichtige (spätere) Haushalts- und Marktproduktion eröff-net werden.

Ein spezielles Problem besteht darin, dass Kleinkinderund auch ältere Kinder gar nicht bzw. nicht voll übersehen,welche Bedeutung die Investition in Bildung für sie hat.Vor diesem Hintergrund versuchen Eltern und Pädagogen,stellvertretend handelnd für Kinder, diese zur Auseinan-dersetzung mit Bildungsangeboten zu bewegen. Die so er-fahrene Bildung soll ihnen später als Konsumgut Freudebringen und ihnen mehr produktiv nutzbaresHumankapital für Haushalts- und Marktproduktion zurVerfügung stellen. Ob Pädagogen wollen oder nicht: Sietreffen ökonomische Entscheidungen über die Zeitver-wendung anderer Menschen. Insofern ist ein engerZusammenhang zwischen Bildung und Ökonomie gege-ben.100 Dass dabei Ziele wie Chancengleichheit berück-sichtigt werden müssen, ist für Wirtschaftswissenschaftlerselbstverständlich. Denn ökonomische Rationalität bei der

99 Der Begriff Humankapital ist ein Terminus Technicus der Wirt-schaftswissenschaften (vgl. z. B. Sachverständigenrat zur Begutach-tung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung [SVR] 2004, Zif-fern 559 ff.). Er bezeichnet die Tatsache, dass ein Mensch seinenKörper und seine Bildung produktiv nutzen kann. Insofern stellenKörper und Bildung ein Kapital dar, das eine Rendite abwirft. Mankann über den Begriff durchaus geteilter Meinung sein, da (1) manim Gegensatz zu Sach- und Geldkapital sein Humankapital nicht „fürsich arbeiten lassen kann“, sondern es nur nutzen kann, wenn manselbst arbeitet, und (2) Humankapital im Allgemeinen nicht beliehenwerden kann, da private Banken es nicht als Sicherheit für einen Kre-dit akzeptieren. Der letzte Punkt spielt für individuelle Bildung unddas Bildungswesen ein große Rolle, auf die im Text ausführlich ein-gegangen wird. Aber man kann auch nicht bestreiten, dass der Be-griff zur Beschreibung und zur Analyse der Wirklichkeit, die vonknappen Ressourcen geprägt ist, nützlich ist.

100 Manche Erziehungswissenschaftler konstruieren fälschlicherweiseeinen Konflikt zwischen „Ökonomie“ und „Bildung“. Während Bil-dung „ganzheitlich“ angelegt sei, würden „die Wirtschaft“ und Wirt-schaftswissenschaftler nur auf die „Verwertbarkeit“ von Bildung undLernen schauen (zur Auseinandersetzungen mit diesem Thema vgl.die Beiträge in Lohmann/Rilling 2002; Neubauer u. a. 2002; Zeit-schrift für Erziehungswissenschaften 2/2002). Dieser spezielle Kon-flikt zwischen „Bildung und Wirtschaft“ ist freilich ein Irrtum: Zumeinen ist es in einer Welt, in der Ressourcen knapp sind (materiellund zeitlich) unvermeidlich, dass sich jeder einzelne und die ganzeGesellschaft in wirtschaftlicher Weise mit der Knappheit der Res-sourcen auseinandersetzt. Zum anderen machen Ökonomen Vor-schläge, wie die Ganzheitlichkeit von Bildung auch in einer Weltknapper Ressourcen verwirklicht werden kann.

Page 110: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 100 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Verwendung knapper Ressourcen muss immer an Zielengemessen werden. Ohne unabhängige Ziele – über dieÖkonomen als Fachwissenschaftler nichts sagen kön-nen – kann es keine ökonomische Rationalität geben.

Wenn eine ganzheitliche Bildung – wie in den vorherge-henden Abschnitten dieses Kapitels beschrieben – ganzverschiedene Kompetenzen umfasst und für Menschensowohl als Konsumgut wie auch als Investition nützlichist, dann gibt es vom Grundsatz her keinen Gegensatzzwischen pädagogischen Bildungsinteressen und derwirtschaftlichen Verwertung von Bildung. Selbst im Hin-blick auf das enge Kalkül der Investition in Bildung wer-den weder Wirtschaftswissenschaftler noch Personalchefsnur auf die unmittelbar im Produktionsprozess verwertba-ren Fertigkeiten schauen, weil bekannt ist, dass produkti-ves Humankapital aus einem ganzheitlichen Bündel vonKompetenzen besteht.101

Die Notwendigkeit einer breiten Bildung wird durch ei-nen Blick auf Unternehmen besonders unterstrichen: Daes offensichtlich keine eindeutig beste Unternehmens-philosophie gibt, sondern eine Vielzahl von Unterneh-menskulturen miteinander konkurrieren, die sich zudemnoch ständig verändern, darf es aus Sicht des Unterneh-menssektors einer Volkswirtschaft keine Verengung aufwenige Bildungsinhalte geben. Vielmehr sind plurale Bil-dungsziele und -inhalte ausdrücklich notwendig und er-wünscht. Pädagogische Vorstellungen von guter Bildung(im Sinne „zweckfreier“ Selbstbildung des Menschen)und „Verwertungsinteressen“ gehen also eher Hand inHand, als dass es einen scharfen Gegensatz gäbe. Diesergrundsätzliche Gleichklang schließt keineswegs aus, dasses zwischen Erziehungs- und Wirtschaftswissenschaftlernbzw. Praktikern der Wirtschaft und praktisch tätigen Pä-dagogen kontroverse Ansichten über konkrete Bildungs-inhalte und Kompetenzen im Detail gibt, insbesondereauch über „Mindestfähigkeiten“. Diese Detailauseinan-dersetzungen dürfen aber nicht als ein grundsätzlicherGegensatz zwischen Bildung und Ökonomie missverstan-den werden. Sie sind auch Gegenstand von Kontroverseninnerhalb der Erziehungswissenschaft.

2.6.2 Produktion und Finanzierung von Bildung

In einer ökonomischen Betrachtung wird auch Bildungals ein „Produktionsprozess“ verstanden. Bei der Produk-tion von Bildung im Rahmen eines Marktmodells können– wie in vielen Produktionsbereichen – Probleme durch„Marktversagen“ entstehen, wodurch ein Eingriff desStaates sinnvoll werden kann. Marktversagen ist bei derProduktion von Bildung vielfältig gegeben. Es kann zumBeispiel eintreten, wenn ein Individuum die Erträge per-sönlicher Bildung nicht richtig abschätzt oder abschätzenkann und deswegen „unterinvestiert“. Unterinvestitionen

entstehen auch, wenn Banken an sich sinnvolle Kreditefür Bildungswillige aufgrund von Informationsmängelnverweigern oder wenn die aufgrund seiner Bildung beimeinzelnen Individuum anfallenden Erträge von diesemnicht voll geerntet werden können. Dann können amEnde beim Staat sogar Kosten für Fürsorge entstehen, diebei unverzerrten Bildungsinvestitionen vermeidbar gewe-sen wären. Die Wirtschaftswissenschaft spricht in diesenFällen von „Informationsmängeln“ und „externen Effek-ten“.102

Solche Probleme spielen auch in anderen Lebensberei-chen eine Rolle. Die Wirtschaftswissenschaften habenAnalysen und Instrumente entwickelt, um die mit Infor-mationsmängeln und externen Effekten verbundenen Pro-bleme beherrschbar zu machen. So ist mit Marktversagenaufgrund von Informationsmängeln z. B. bei der Alters-vorsorge zu rechnen; daher hat der Staat die Altersvor-sorge verpflichtend gemacht. Viele Produktionsprozessein der Industrie sind mit negativen externen Effekten aufdie Umwelt verbunden; im Rahmen der Umweltpolitikwurden zahlreiche Instrumente entwickelt, die solche un-erwünschten, als Marktversagen zu wertenden externenEffekte vermindern sollten. Hinzu kommt, dass der StaatZiele setzen kann, die in Märkten im Allgemeinen nichtgarantiert werden können. Im Rahmen der Produktionvon Bildung kann „Chancengleichheit“ als ein solchesstaatliches Ziel betrachtet werden, das im Rahmen einesMarktmodells keine Rolle spielt. Auch durch solche Zielekönnen ökonomische Eingriffe des Staates gerechtfertigtwerden.

(a) Informationsmängel

Da Kinder nicht abschätzen können, welche BedeutungBildung in einer Welt knapper Ressourcen hat, müssenihre Eltern Bildungsentscheidungen für sie treffen. Sindwiederum einige oder gar viele Eltern dazu nicht in derLage, so spricht dies für eine staatlich angeordnete Schul-pflicht. Hier treffen sich offenbar Pädagogik und Ökono-mie konfliktlos.

Auch wenn die Qualität der „Humandienstleistung“ Bil-dung für Nicht-Fachleute nur schwer abschätzbar ist,kann dies einen Staatseingriff legitimieren. Es sind aberauch andere Lösungen für die Qualitätskontrolle möglich,auf die weiter unten eingegangen wird. Grundsätzlichgilt: Staatliche Eingriffe im Bildungswesen sind keines-wegs so eindeutig legitimierbar, wie dies die staatlicheTradition vieler Bildungssysteme nahe legt.

Verdeutlichen lässt sich dies am Beispiel der staatlichenFinanzierung von Bildung durch Steuern als eingespiel-tem Muster. So spricht aus ökonomischer Sicht imGrundsatz gegen eine private Kreditfinanzierung von Bil-dung nichts. Das populäre Argument, dass Bildung teuersei und Kredite für junge Menschen eine untragbare Lastdarstellen würden, ist nicht stichhaltig. Durch eine reinstaatliche Finanzierung von Bildung werden ihre Kosten

101 Wie wichtig eine breit verstandene Bildung der Wirtschaft ist, kannman besonders gut an Business Schools sehen, die gerade für Top-Manager darauf spezialisiert sind, nicht nur „harte“ Fähigkeiten, son-dern insbesondere „soft skills“ zu vermitteln.

102 Vgl. Spieß (1998, Kapitel 3), die die Probleme am Beispiel der Kin-derbetreuung ausführlich darstellt und zielbezogen diskutiert.

Page 111: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 101 – Drucksache 15/6014

nicht kleiner, und die nachwachsenden Generationenmüssen die Bildung immer finanzieren: entweder durchdie Rückzahlung von Krediten für die eigene Bildungoder durch Steuerzahlung für die Bildung der dann nach-wachsenden Generation. Welches Finanzierungssystemgewählt wird, hängt davon ab, welche (Neben-)Wirkun-gen die eine oder die andere Finanzierungsform hat undob durch eine Finanzierungsform eine andere Belastungs-verteilung erfolgt als durch eine andere. Die ökonomisch„richtige“ Antwort kann man nicht abstrakt finden, son-dern nur durch eine Analyse auf der Basis konkreter Phä-nomene sowie gesellschaftlicher Ziele und Rahmenbedin-gungen.

Informationsmängel sind ein wesentliches Hindernis da-für, dass die Möglichkeiten der Bildungsfinanzierungüber Kreditmärkte nicht perfekt funktionieren. Da privateBanken nicht wissen können, was ein Kreditnehmer spä-ter verdient (z. B. ist es denkbar, dass er seine aufgrundhoher Bildung gegebenen Verdienstmöglichkeiten nichtrealisieren kann, weil er seine Arbeitszeit stark reduziert),sind sie nicht bereit, das (zukünftige) Humankapital alsSicherheit für den Kredit zu akzeptieren. Faktisch bedeu-tet dies, dass Kinder nicht-vermögender Eltern ihre Bil-dung nicht durch Kredite finanzieren könnten, weil ihnennur ihr zukünftiges Humankapital zur Kreditsicherungzur Verfügung stünde. Dadurch würde das Ziel der Chan-cengleichheit in unvertretbarer Weise verletzt. Bildungs-kredite müssen also immer durch staatliche Bürgschaftenoder ähnliche Maßnahmen abgesichert werden. Eine di-rekte Steuerfinanzierung der Bildung stellt eine – durch-aus praktikable – Alternative zu staatlichen Bürgschaftendar. Bei der Entscheidung über die genaue Ausgestaltungkönnen die Höhe der Erträge und der Grad an Sicherheiteine besondere Bedeutung haben, mit der die Individuenpersönliche Bildungserträge auch ernten können (Sach-verständigenrat zur Begutachtung der gesellschaftlichenEntwicklung [SVR] 2004).103

Die Erträge aus Vorschul- und Schulbildung sind aus in-dividueller Sicht bzw. aus der Sicht von Eltern deutlichweniger sicher als die Erträge, die aus einem Studium er-wachsen. Auf dem Hintergrund der unterschiedlichen In-formationslage spricht viel für eine überwiegende odergar ausschließlich öffentliche Finanzierung der Vorschul-und Schulbildung und einer weit stärkeren privaten Fi-nanzierung eines Studiums mit Hilfe von Studiengebüh-ren, Krediten und Stipendien.

(b) Externe Effekte

Höhere Bildung ist individuell rentierlich, aber auch fürWirtschaftswachstum und hohes Beschäftigungsniveauinsgesamt von Bedeutung (SVR 2004, Ziffer 564). Aller-dings können die in Bildung investierenden Individuennicht alle diese gesamtwirtschaftlichen Erträge selbst ern-ten. So steigt durch höhere Bildung und Qualifikationauch die Arbeitsproduktivität der gering Qualifizierten.

Davon profitieren gut Gebildete jedoch ökonomisch nichtunmittelbar. Auch spielt eine wichtige Rolle, dass For-schungsergebnisse veröffentlicht werden müssen, wo-durch sie von allen kostenlos genutzt werden können. Da-durch sinkt die private Rendite für diejenigen, dieForschungsergebnisse hervorgebracht haben. Es kommtzu „positiven externen Effekten“. Diese stellen letztlichentgangene Erträge der Gebildeten dar. Als Folge kann es– aus gesellschaftlicher Sicht gesehen – zu einer Unterin-vestition in Bildung kommen (SVR 2004, Ziffern 600f.).Eine komplett private Finanzierung des Studiums wärealso im Kontext solcher Überlegungen ökonomisch un-sinnig. Umgekehrt ist eine nennenswerte private Finan-zierung sinnvoll, wenn dadurch der Wettbewerb zwischenHochschulen und die Qualität der Lehre gesteigert wer-den und nicht zuletzt insgesamt mehr Mittel für die Hoch-schulen mobilisiert werden können als durch eine rein öf-fentliche Finanzierung.

Spezielle externe Effekte können im Föderalstaat entste-hen, wenn die Erträge aus einer Investition (z. B. kommu-nale Kinderbetreuung) auch von anderen staatlichen Ebe-nen geerntet werden (z. B. vom Bund durch seinen Anteilan der Einkommensteuer; Vesper 2005). Ein derartiger(aus der Sicht von Kommunen) negativer externer Fiskal-effekt kann auch nur in einigen Kommunen durch posi-tive externe Effekte aufgewogen werden, wenn durchbesser gebildete Bürgerinnen und Bürger die Lebensqua-lität und z. B. der Wert von Grundstücken steigen (Mo-retti 2004).

Ein wichtiger fiskalischer externer Effekt entsteht in mo-dernen Staaten dadurch, dass es soziale Sicherungssys-teme für Bedürftige gibt. Wer nicht für sich selbst auf-kommen kann, dem wird vom Staat geholfen. InDeutschland ist die Sozialhilfe104 das „letzte Netz“. Da-durch wird der Anreiz vermindert, dass junge Menschensich bilden und weiterbilden, da sie gegebenenfalls auchohne Bildung und Erwerbsarbeit ein wenn auch beschei-denes Auskommen finden. Umgekehrt bedeutet dies, dassstaatliche Investitionen in die Bildung des Nachwuchsesdazu führen können, dass später weniger Sozialleistungengezahlt werden müssen. Auch können negative externeEffekte aufgrund von Kriminalität durch bessere Bildungund Ausbildung, die der Staat ermöglicht oder gar er-zwingt (etwa durch Schulpflicht), verkleinert werden(Schweinhart 2005; Schweinhart u. a. 2005).

(c) Bewertung

Vieles spricht somit auch aus ökonomischer Sicht fürstaatliche Eingriffe in das Bildungswesen. Allerdings istes keineswegs selbstverständlich, dass der traditionelleWeg einer steuerfinanzierten staatlichen Produktion vonBildung in Schulen und Hochschulen sowie großteilsauch vorschulischen Einrichtungen der beste Weg ist. Dietraditionelle und weltweit zu beobachtende staatlicheSteuerfinanzierung des Bildungswesens, insbesondere imSchulbereich, ist im übrigen eine Finanzierungsart, die

103 Zum Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftli-chen Entwicklung vgl. Glossar. 104 Zur Sozialhilfe vgl. Glossar.

Page 112: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 102 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

die Mittel für Bildung eher knapp hält, da niemand gerneSteuern zahlt. Eine unmittelbare Umlagefinanzierung,wie sie z. B. im Gesundheitswesen vieler Staaten gegebenist, mobilisiert im Allgemeinen mehr Mittel für einenstaatlich regulierten Bereich (Weisbrod 1991).

In den letzten Jahrzehnten wurde wissenschaftlich wie inder Wirklichkeit immer deutlicher, dass eine staatlicheFinanzierung des Bildungssystems (einschließlich derKinder- und Jugendhilfe) nicht automatisch mit einerstaatlichen Produktion von Bildung gleichgesetzt werdendarf und kann. Vielmehr muss jeweils, auch bei staatli-cher Finanzierung, für konkrete Aufgaben geprüft wer-den, ob eine nicht-staatliche Produktion, die Wettbewerbzwischen verschiedenen Anbietern nutzt, niedrigere Kos-ten und/oder eine höhere Qualität des Produkts Bildungmit sich bringt. Vor diesem Hintergrund ist beispielsweiseauch ein Wettbewerb zwischen Bildungsangeboten, diestaatlicherseits, von freien Trägern der Jugendhilfe odervon privatwirtschaftlicher Seite produziert werden, sinn-voll.

Allerdings sind staatlich garantierte Qualitätsstandards ineinem solchen Prozess ein zentrales Element, denn dieQualität von Bildung (und Betreuung) kann von Nicht-Fachleuten (z. B. Eltern) oft schwer beurteilt werden. Diestaatliche Garantie bestimmter Qualitätsstandards mussdabei nicht durch staatliche Überwachungssysteme erfol-gen. Sie kann auch durch Zertifizierung oder Qualitäts-feststellungsverfahren gesichert werden, die im Auftragdes Staates die Einhaltung gesetzter Qualitätsstandardsprüfen. So kann es z. B. sinnvoll sein, dass die öffentlicheHand die Kosten für den Besuch von Kindertageseinrich-tungen trägt und zentrale Qualitätsstandards setzt; die ein-zelne Kindertageseinrichtung kann staatlich, durch einenfreien Träger oder privatwirtschaftlich betrieben werden.Sie muss, unabhängig von ihrer Trägerschaft, einzig dengesetzten Qualitätskriterien genügen.

Freilich gilt auch: In Bereichen, wo Marktversagen einegroße Rolle spielt – also z. B. im Bildungsbereich –,spricht sogar einiges dafür, dass der Staat selbst die besteQualität preisgünstig produzieren kann. Wenn indes dieangestrebten Ziele z. B. durch die „Auslagerung“ geeig-neter Teile des Bildungswesens sowie der Kinder- und Ju-gendhilfe vom Staat zu privaten Anbietern (ob frei-ge-meinnützig oder gewerblich) besser erreicht werdenkönnen, dann hat dies nichts mit einer schädlichen „Öko-nomisierung“ oder einer kapitalistischen „Privatisierung“zu tun (SVR 2004, Ziffer 565). Vielmehr liegt eine solcheAuslagerung im Interesse der Nutznießer der Dienste unddes Steuerzahlers. Allerdings ist nochmals zu betonen:Ob eine Auslagerung sinnvoll ist, kann nur anhand kon-kreter Ziele und Rahmenbedingungen geprüft werden;

abstrakte Aussagen oder gar pauschale Privatisierungs-forderungen sind nicht zielführend, ebenso wenig einefundamentalistische Verteidigung einer staatlichen Pro-duktion. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung dergesamtwirtschaftlichen Entwicklung betont ausdrück-lich, dass als Rahmenbedingungen einer zielgerichtetenökonomischen Analyse selbstverständlich die Beiträgeder Pädagogik und der Fachdidaktiken „anerkannt undbeachtet“ werden müssen, damit eine solche sinnvolldurchgeführt werden kann (SVR 2004, Ziffer 565).

2.7 Zusammenfassung

Bildung ist ein umfassender Prozess der Entwicklung ei-ner Persönlichkeit in der Auseinandersetzung mit ihrerUmwelt sowie in Bezug auf die kulturelle, materiell-ding-liche, soziale und subjektive Welt. Das Subjekt bildet sichin einem aktiven Ko-Konstruktions- bzw. Ko-Produk-tionsprozess und ist dabei auf bildende Gelegenheiten,Anregungen und Begegnungen angewiesen, um kultu-relle, instrumentelle, soziale und personale Kompetenzenentwickeln und entfalten zu können. Bildungsprozessevon Kindern und Jugendlichen finden an vielen Ortenstatt; sie sind nicht an institutionelle Grenzen gebunden.Sie erfolgen in der Schule, der Familie, in Einrichtungenund Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe, in derGleichaltrigen-Gruppe, im Gebrauch und in der Nutzungvon Medien, aber auch beim Besuch kommerzieller Frei-zeitangebote oder beim Jobben.

Bildungsprozesse können mehr oder weniger formalisiertsein. Neben den formalisierten Prozessen gilt es den in-formellen Prozessen größere Aufmerksamkeit zu wid-men. Damit Bildung in diesem umfassenden Sinne beimAufwachsen von Kindern und Jugendlichen angemessenzu begreifen ist, muss deshalb das Zusammenspiel derunterschiedlichen Bildungsorte und Lernwelten und derdabei verlaufenden formalen und informellen Bildungs-prozesse in den Blick genommen werden.

In ökonomischer Perspektive ist Bildung ein Dienstleis-tungsprodukt, das von unterschiedlichen Produzenten,dem Staat, freien Trägern und privaten Anbietern zusam-men mit den Konsumenten hergestellt werden kann.Auch Bildung muss in einer Welt mit knappen Ressour-cen möglichst sparsam produziert werden. Aufgrund vonInformationsmängeln, externen Effekten und dem gesell-schaftlichen Ziel der Chancengleichheit kommt dem Staatbei der Finanzierung und der Sicherstellung der Qualitäts-kontrolle eine herausgehobene Bedeutung zu. Durch wenBildung produziert und auf welche Weise Qualität ambesten gesichert wird, muss im Einzelfall unter den gege-benen Randbedingungen und den gesellschaftlichen Ziel-setzungen geprüft werden.

Page 113: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 103 – Drucksache 15/6014

Teil B Bildungsprozesse im Kindes- und Jugendalter

In Teil B werden Entwicklungs- und Bildungsprozessevon Kindern und Jugendlichen aus einer subjektbezoge-nen Sicht beschrieben, wobei Bildung im individuellenLebenslauf den Bezugspunkt bildet.

Während sich Kapitel 3 auf die Lebensphase der frühenKindheit konzentriert, also auf die Zeitspanne von derGeburt bis zum Schuleintritt, werden in Kapitel 4 Bil-dungsprozesse von Kindern und Jugendlichen im Schul-alter thematisiert.

In Kapitel 3 werden Entwicklung und Bildung überwie-gend als in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander ste-hend beschrieben. Ihre Interdependenz äußert sich in die-ser frühen Lebensphase in einem besonders raschen undfolgenreichen Fortschreiten der ablaufenden Prozesse.Unter dem Einfluss vieler externer Faktoren hat das Zu-sammenwirken von Entwicklungs- und Bildungsprozes-sen in früher Kindheit entscheidende Auswirkungen aufdie Bildungsbiografie des Kindes. In Kapitel 4 wird dage-gen der Zusammenhang von Entwicklung und Bildungweniger betont; hier steht vielmehr die Verselbstständi-gung der Kinder und Jugendlichen im Kontext der Aus-differenzierung von Bildungsprozessen im Vordergrund.

Entsprechend der Subjektperspektive in den Kapiteln 3und 4 werden Bildungsorte, wie beispielsweise die Kin-dertageseinrichtung und die Schule zwar angesprochen,eine intensive Auseinandersetzung mit ihnen erfolgt je-doch erst in den Kapiteln 5 und 6, die unter einem institu-tionellen Blickwinkel verfasst sind.

Die Kapitel 3 und 4 konzentrieren sich im Wesentlichenauf folgende Gedankengänge:

– Am Anfang des Lebenslaufs liegen Bildung, Betreu-ung und Erziehung überwiegend in der Hand der Fa-milie. Ihrem Einfluss kommt daher in der frühenKindheit große Bedeutung zu. Mit zunehmendemAlter differenzieren sich die Bildungsorte und Lern-welten der Kinder aus. Neben der Familie und denprimären Bezugspersonen bieten Eltern-Kind- undMüttergruppen, Spiel- und Krabbelgruppen sowie Ta-gespflege und Kinderbetreuungseinrichtungen Erfah-rungsräume und Bildungsgelegenheiten, die mehr undmehr an Bedeutung für die Bildungsprozesse des Kin-des gewinnen. Gleichaltrige nehmen bereits in dieserfrühen Phase sehr viel stärkeren Einfluss auf die Ent-wicklungs- und Bildungsprozesse des Kindes als oft-mals angenommen. Darüber hinaus gehören Massen-medien bereits in der frühen Kindheit zu denprägenden Elementen der Lebensumwelt von Kindern(Kapitel 3).

– Formale und informelle Bildungsprozesse im Schulal-ter finden nicht nur im Bereich von Schule und Fami-lie statt, sondern auch an vielen anderen Bildungsortenund in verschiedenen Lernwelten, wie beispielsweise

der Kinder- und Jugendarbeit, in Vereinen und „Ne-benschulen“ sowie bei freizeit- und kulturbezogenenAngeboten, ebenso im Rahmen von unterschiedlichenselbst organisierten Aktivitäten: bei der familiärenHausarbeit, bei Gelegenheitsarbeiten und Schülerjobssowie im alltäglichen Umgang der Kinder und Jugend-lichen mit Medien. In dieser Lebensphase haben dieBeziehungen zu Gleichaltrigen eine besondere Bedeu-tung für Bildungsprozesse (Kapitel 4).

– In den Analysen beider Kapitel werden lebenslagenbe-zogene und gesellschaftlich bedingte wie auch indivi-duelle und soziale Einflüsse auf Bildungsprozesse vonKindern und Jugendlichen berücksichtigt. Der Blickrichtet sich insbesondere auf die Bedeutung desMilieus, der ethnischen Herkunft, des Geschlechts undder Gesundheit sowie auf den Stellenwert von Behin-derungen. Diese Aspekte werden nicht gleichermaßenin beiden Kapiteln behandelt, sondern jeweils im Kon-text der Lebensphase thematisiert, in der sie nachhal-tige Konsequenzen für die Entwicklung und Bildungder Kinder und Jugendlichen haben können.

3 Die ersten Jahre – Bildung vor der Schule

3.1 Einleitung

In keiner anderen Lebensphase wie in der frühen Kindheitsind Entwicklungs- und Bildungsprozesse so eng mitei-nander verflochten.105 Diese Lebensphase wurde langeZeit fast ausschließlich unter dem Aspekt der Entwick-lung betrachtet, seit einigen Jahren jedoch richtet sich dieAufmerksamkeit verstärkt auch auf die Bildungsprozessein der frühen Kindheit. Dazu hat die Diskussion um dieErgebnisse von PISA entscheidend beigetragen (Baumertu. a. 2001). Bei der Suche nach Ansätzen, die Kompetenz-entwicklung von Kindern und Jugendlichen besser zu för-dern, wird deshalb auch nach Möglichkeiten der gezieltenFörderung von Kindern in der frühen Kindheit gefragt. Indiesem Zusammenhang werden Bildungswirkungen vonKindertageseinrichtungen thematisiert und es wird derenWeiterentwicklung als Bildungsorte für Kinder gefor-dert.106

105 Unter früher Kindheit wird die Lebensphase von 0 bis 6 Jahren ver-standen. Unterschieden werden das Säuglingsalter, das frühe undspäte Kleinkindalter sowie das Vorschulalter (Expertise Ahnert).

106 Hier ist neben weiteren die Publikation „Auf den Anfang kommt esan!“ (BMFSFJ 2003) zu nennen, die auf Grundlage des inzwischen invielen Forschungsdisziplinen angesammelten Wissens über Entwick-lungs- und Bildungsprozesse der frühen Kindheit die Erfordernisseeiner konzeptionellen Weiterentwicklung des Tagesbetreuungssys-tems begründet, um zu einer zeitgemäßen und qualitativ anspruchs-vollen Bildung und Erziehung der Kinder bis zum Schuleintritt zu ge-langen.

Page 114: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 104 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Neben den Einrichtungen der Kindertagesbetreuung wirdauch die Bedeutung der Familie für die Bildungsprozessein der frühen Kindheit hinterfragt. Dabei stellt das kul-turelle und soziale Kapital107, das Kinder sowohl in alsauch von ihren Herkunftsfamilien vermittelt bekommenund sich aneignen, einen wichtigen Einflussfaktor dar,und zwar nicht nur auf Bildungsprozesse in der frühenKindheit, sondern auch im gesamten Lebenslauf. In derFamilie werden deshalb bereits in den ersten Jahren desKindes wichtige Grundlagen für spätere schulische Lern-prozesse gelegt (Bundesministerium für Familie, Senio-ren, Frauen und Jugend [BMFSFJ] 2002a). Deshalb wirddie stärkere Unterstützung der Bildungs- und Sozialisa-tionsleistungen der Familien als wesentliche gesellschaft-liche Aufgabe betont.

Die Diskussion um Bildung in der frühen Kindheit wirdvon wissenschaftlichen Erkenntnissen unterschiedlicherDisziplinen gestützt, die insgesamt zu einem verändertenBild des Kindes geführt haben und eine neue Aufmerk-samkeit für Fragen der Bildung in früher Kindheit sowieder Bildungsbedeutsamkeit der Familie hervorgebrachthaben. Dabei wird dem Kind ein aktiver Part in seinemBildungs- und Entwicklungsprozess zugeschrieben. Sohaben neuere Ergebnisse der Säuglings- und Kleinkind-forschung die Vorstellung von einem inkompetenten, hilf-losen, auf die Mutter zentrierten Säugling durch das Bildeines kompetenten, hochkommunikativen, anpassungsfä-higen und in gewisser Weise ‚robusten’ Säuglings abge-löst (Petzold 1993), der weltoffen ist und Kontaktvielfaltsowie die lebendige Interaktion mit anderen Menschensucht (Hüther 2004). Pädagogische, entwicklungspsycho-logische und neurobiologische Forschungsergebnisse ha-ben gezeigt, dass das Kind von Anfang an Mitgestalterseiner Entwicklungs- und Bildungsprozesse ist, wennseine Entwicklungsbedürfnisse befriedigt werden.

In diesem Kapitel werden frühkindliche Entwicklungs-und Bildungsprozesse aus einer subjektbezogenen Sichtbzw. einer Lebenslaufperspektive dargestellt. Dabei gehtes im Kern um Interaktionen von Kindern mit ihren pri-mären Bezugspersonen, professionellen Betreuerinnenund Betreuern sowie mit gleichaltrigen Kindern in der Bil-dungswelt ihrer Familie sowie in anderen Bildungsortenund Lernwelten. Darüber hinaus werden die vielfältigenFaktoren in den Blick genommen, die auf die Entwick-lungs- und Bildungsprozesse in früher Kindheit in för-dernder oder beeinträchtigender Weise Einfluss nehmen.

Betreuung, Pflege, intensive Zuwendung, sichere Bin-dung sowie der Entwicklung angemessene Erfahrungs-

und Lernangebote durch Eltern bzw. durch nahe stehendeErwachsene eröffnen dem Kind die Möglichkeit, sich dieWelt nach und nach aktiv anzueignen. Kind und Umweltbeeinflussen sich in der Interaktion wechselseitig; dieserAustauschprozess zwischen den Selbstbildungsfähigkei-ten des Kindes und der Bereitstellung von Bildungsmög-lichkeiten durch die kulturelle und soziale Umwelt lässtsich deshalb auch als ko-konstruktiver Prozess beschrei-ben (Fthenakis 2003a) (vgl. Abschnitt 3.2).

Das Zusammenspiel von genetischer Ausstattung undVerhaltensstilen einerseits und Umwelteinflüssen ande-rerseits ist auch in gesundheitlicher Hinsicht bedeutsam.Gesundheit, verstanden als eine immer wieder neu herzu-stellende Balance zwischen inneren und äußeren Anfor-derungen (Hurrelmann 2000), steht bereits in früherKindheit in einem Zusammenhang mit den sozio-kultu-rellen und psychosozialen Bedingungen des Aufwachsensund nimmt Einfluss auf den Verlauf von Entwicklungs-und Bildungsprozessen der Kinder (vgl. Abschnitt 3.3).

Frühkindliche Bildungsprozesse verlaufen nicht nach ei-nem universellen Muster, sie sind beeinflusst durch indi-viduelle Faktoren und spezifische Auswirkungen der Le-benslagen und Lebensbedingungen der Kinder. Alsdifferenzierende Bildungsvoraussetzungen und Bildungs-ressourcen üben sie nachhaltigen Einfluss auf die Bil-dungschancen von Kindern aus. Auf der Seite der Kinderwirken sich z. B. das Temperament, Geschlecht, Behinde-rung und Resilienz darauf aus, wie die Einflüsse der so-zio-kulturellen Umwelt vom Kind beantwortet werden(vgl. Abschnitt 3.4.1). Auf Seiten der sozio-kulturellenUmwelt entstehen Differenzierungen frühkindlicher Bil-dungsprozesse durch die unterschiedlichen Ressourcen(z. B. ein hohes Bildungsniveau der Eltern) und Belastun-gen (z. B. Einkommensarmut), die mit verschiedenen so-zialen Lagen (z. B. Migration oder sozialräumliche Be-dingungen) verbunden sind (vgl. Abschnitt 3.4.2).

Familie – als die primäre Lebens- und Erfahrungswelt desKindes – spielt zunächst eine herausragende Rolle beimAufwachsen der Kinder, sie wird jedoch schon frühzeitigvon weiteren Lernwelten und Bildungsorten flankiert.Schon im Säuglings- und Kleinkindalter tragen den fami-lialen Rahmen überschreitende soziale Kontakte und Er-fahrungsräume (in Eltern-Kind-Gruppen, Tagespflege-stellen, Kindertageseinrichtungen, in der Nachbarschaftund mit Gleichaltrigen) zu einer maßgeblichen Erweite-rung der Bildungsgelegenheiten des Kindes bei (vgl.Abschnitt 3.5). Hinzu treten den Alltag begleitende Me-dienerfahrungen, die auch bereits die Erfahrungswelt desKleinkindes in vielfältiger Weise tangieren (vgl. Ab-schnitt 3.6).

3.2 Frühkindliche Entwicklungs- und Bildungsprozesse

3.2.1 Bildung als Austauschprozess zwischen Kind und Umwelt

Die Idee des sich selbst bildenden Kindes ist in der Päda-gogik nicht neu. Pädagogen wie Jean Jacques Rousseau,Alexander S. Neill und Maria Montessori, um nur einige

107 Unter kulturellem Kapital sind im Sinne Bourdieus (1983) allgemeinLebensführungskompetenzen zu verstehen, wie etwa die Vermittlungund Aneignung von sprachlicher Ausdrucksfähigkeit, Aufgeschlos-senheit gegenüber gesellschaftlichen Wissensbeständen, Informa-tionsverarbeitungs- und Medienkompetenzen, soziale Gebrauchswei-sen der Kultur und die Umgangsformen mit kulturellen Gütern.Unter sozialem Kapital werden Interaktionskompetenzen verstanden,die es ermöglichen, Informationen auszutauschen, Konflikte zu be-wältigen, Verantwortung zu übernehmen, Normen zu bilden, zusam-men zu arbeiten, Vertrauen zu bilden und sozial anerkannte Ziele undEinstellungen zu übernehmen (Brake/Büchner 2003).

Page 115: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105 – Drucksache 15/6014

Beispiele zu nennen, gingen davon aus, dass Kinder vonAnfang an die Fähigkeit besitzen, sich selbstständig dieWelt zu Eigen zu machen, wenn ihnen entsprechende Er-fahrungsmöglichkeiten und Freiräume gewährt werden.Die Montessori-Pädagogik baut auf der Erkenntnis auf,dass Kinder Tätigkeiten sehr konzentriert nachgehen, diesie selbst gewählt haben, und dass sie sich in solchen Si-tuationen in ihrem Forscherdrang nicht ablenken lassen.Voraussetzung für die Selbsttätigkeit ist eine anregendeEntwicklungsumwelt, die die Kinder in jenen Bereichenanspricht, für die sie aufgrund ihres momentanen Ent-wicklungsstandes besonders sensibel sind.

Auch in der konstruktivistischen Entwicklungspsycholo-gie (Piaget, Wygotski) findet sich seit den 20er-Jahrendes 20. Jahrhunderts diese Vorstellung vom kindlichenLernen wieder. „In aktiver Auseinandersetzung mit Gege-benheiten, mit selbst geschaffenen oder vorgegebenenFragen und Problemen schafft sich der Mensch seineStrukturen des Handelns und Erkennens“ (Montada2002). Kinder erleben in Interaktionen immer wieder„kognitive Konflikte“, wenn ihre vorhandenen Denk-strukturen für eine Erklärung der Welt nicht ausreichenund insbesondere dann, wenn sie Widersprüchliches undGegensätzliches erfahren. Bildungsprozesse des Kindeswerden demzufolge ausgelöst und angeregt in einem Aus-tausch und in Auseinandersetzung mit seiner spezifischensozialen Umwelt. Vor allem die Interaktion mit gleichalt-rigen Spielpartnern ermöglicht es dem Kind, unterschied-liche Standpunkte zu erkennen, zu verstehen und mit-einander zu vergleichen und dadurch sein eigenesVerständnis von der Welt qualitativ zu verändern. In derInteraktion mit kompetenteren Partnern werden dem KindBedeutungen der gegenständlichen und der sozialen Weltverfügbar gemacht. Doch geschieht dies nicht durchbloße Übernahme, sondern im praktischen Handeln desKindes in seiner sozialen und gegenständlichen Umwelt(Oerter 2002). Eine Form der Unterstützung kindlicherEntwicklungs- und Bildungsprozesse ist die zielgerichteteErziehung. Erwachsene, die dem Kind helfen, ein Vorha-ben besser zu bewältigen, oder es anregen, ein neues Pro-jekt in Angriff zu nehmen, können das Kind in der „Zoneder nächsten Entwicklung“ ansprechen. Es bedarf der Be-reitstellung einer anregenden Umgebung, in der unter-schiedlichste Materialien zur Verfügung stehen, mit de-nen das Kind frei umgehen kann. Darüber hinaus kommtdem Spiel mit einem kompetenteren Partner die Bedeu-tung zu, die Entwicklung des Kindes zu fördern.

Auch neuere entwicklungspsychologische Erkenntnissebetonen die Eigenaktivität des Kindes. Es konnte bei-spielsweise gezeigt werden, dass bereits Neugeborene dieverschiedensten Sinneseindrücke aufnehmen und in derLage sind, differenziert mit ihnen umzugehen (Rauh2002). Das Kind verfügt offensichtlich von Geburt anüber verschiedene Wahrnehmungsmöglichkeiten und istfortschreitend in der Lage, seine Wahrnehmungen han-delnd und denkend zu verarbeiten sowie durch erste Ma-nipulationen zu erkunden und mit Bedeutung zu versehen(Sodian 2002).

Jüngste Bestätigung findet das Bild vom eigenaktivenKind durch neurobiologische Erkenntnisse (umfassendeÜbersicht bei: Sachser 2004; Hüther 2004). Die Neuro-biologie untersucht den Zusammenhang zwischen demAufbau neuronaler Verbindungen im menschlichen Ge-hirn und den durch die Außenwelt gegebenen Erfahrungs-möglichkeiten. Mit der Geburt sind im menschlichen Ge-hirn die Neuronen vollständig ausgebildet, doch es fehlennoch die Verbindungen zwischen den Neuronen, die neu-ronalen Netze. Diese entstehen im Verlauf der Kindheitdurch Lernvorgänge im Alltag. Deren Ergebnisse werdengespeichert und sind damit für die Bewältigung kommen-der Aufgaben verfügbar. Lernen ist auch nach den Er-kenntnissen der Neurobiologie ein aktiver Prozess. „WerLernen für einen passiven Vorgang hält, der sucht nachdem richtigen Trichter. Wer aber Lernen als eine Aktivitätversteht, wie beispielsweise das Laufen oder das Essen,der ... denkt über Rahmenbedingungen nach, unter denendiese Aktivität am besten stattfinden kann“ (Spitzer 2000,S. 4).

Die Neurobiologie betont darüber hinaus die Individuali-tät des Lernprozesses bezogen auf unterschiedliche Anla-gen und Geschwindigkeiten der Entwicklung. Kindergleichen Alters haben nicht zwangsläufig gleiche Bedürf-nisse und gleiche Fähigkeiten. Neurobiologische Er-kenntnisse zeigen eindrücklich, dass Kinder ihre Bil-dungspotenziale nicht nutzen können, wenn ihnen dieentsprechenden Bildungsmöglichkeiten verwehrt bleiben.Kinder brauchen dafür Anregungen, die sie aufgrund ih-rer Entwicklung auch aufgreifen können. „Es ist nutzlosund womöglich kontraproduktiv, Inhalte anzubieten, dienicht adäquat verarbeitet werden können, weil die ent-sprechenden Entwicklungsfenster noch nicht offen sind“(Singer 2001). Aufgezwungene Angebote, mit denenKinder vom Stand ihrer Entwicklung her gesehen nochnicht umgehen können, führen lediglich dazu, dass Zeitmit Abwehr verbracht wird. Diese Ergebnisse neuro-biologischer Forschung bestätigen somit die Auffassung,dass kindliche Entwicklung von Anfang an ein Bildungs-prozess ist, der durch entwicklungsgerechte, förderlicheBedingungen unterstützt werden kann.

3.2.2 Pflege, Betreuung und Bindung als Basis frühkindlicher Entwicklung und Bildung

Wesentliche Bedingung für die körperliche, intellektuelleund emotionale Entwicklung der Kinder ist die Erfüllungihrer elementaren Bedürfnisse (Brazelton/Greenspan2002). Insbesondere die Grundbedürfnisse nach Pflege,Betreuung, verlässlichen und liebevollen Beziehungenbzw. Bindung, Sicherheit, Autonomie und Regulation ha-ben von Anfang an größte Bedeutung und stehen mit denfrühen Bildungsprozessen des Kindes in unmittelbarerBeziehung.

In Pflegesituationen, wie etwa beim Wickeln oder beimFüttern, können häufige, ungestörte und intensive Inter-aktionen zwischen dem Kind und dem Erwachsenen ent-stehen, die es beiden Partnern erleichtern, eine positiveemotionale Beziehung zueinander aufzubauen. In solchenSituationen ermöglicht die sensible Zuwendung zum

Page 116: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 106 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Kind schon dem Neugeborenen kurze Phasen des auf-merksamen Schauens und Lauschens. Feinfühlige Pflegeund Betreuung können daher als Basis für frühkindlicheBildung angesehen werden (Rauh 2002).

Die frühkindlichen Bildungsprozesse sind maßgeblichdavon beeinflusst, ob und wie der Aufbau einer sicherenBindung zwischen dem Kind und seinen primären Be-zugspersonen gelingt. In der kindlichen Entwicklung tre-ten schon frühzeitig zwei im Wechselspiel zueinander ste-hende Grundbedürfnisse in Erscheinung, das Strebennach Verbundenheit und das Streben nach Autonomie.Beide sind biologisch fundiert (Grossmann u. a. 2003).Das Bedürfnis nach Verbundenheit setzt im 1. Lebensjahrein und erreicht mit 12 bis 15 Monaten seinen Höhe-punkt. In dieser Altersphase unterscheidet das Kind seineunmittelbaren Bezugspersonen von anderen, fremd er-scheinenden Personen. Dies kommt in jähem Rückzugauf die Bindungspersonen als „sichere Basis“ zum Aus-druck. Autonomiebedürfnisse zeigen sich ebenfalls be-reits im 1. Lebensjahr zum Beispiel in der Freude anselbst erzeugten Effekten, sie werden im 2. und 3. Le-bensjahr deutlicher erkennbar im „Selbermachen-Wol-len“ und später in der sich entwickelnden Leistungsmoti-vation. Neugierverhalten als Aktivierung und Zuwendungzu einem Gegenstand oder einer Situation mit starkemAnreizcharakter ist ein weiteres biologisches Grundbe-dürfnis des Menschen. Neugier ist eine entscheidendeTriebfeder für das Kleinkind, sich seinem Autonomiebe-dürfnis folgend aus der dyadischen Beziehung zu den pri-mären Bindungspersonen, zumeist der Mutter, heraus zuentwickeln sowie erweiterte Umwelterfahrungen machenund neue Bildungsgelegenheiten wahrnehmen zu wollen.Neugier und Erkundung stehen – dem Bedürfnis nachVerbundenheit entsprechend – in Wechselwirkung mitdem Bindungsverhalten, aber auch mit der Angst vorNeuem und Unbekanntem. Wenn das Kind sich in Sicher-heit und Geborgenheit vermittelnden Bindungen befindet,kann es seine Angst leichter überwinden und sich mitNeugierde auf bisher unbekannte Situationen einlassen.

„Durch die Art, wie Eltern auf ihre Kinder eingehen undwie sie mit ihnen umgehen, nehmen sie schon früh Ein-fluss auf die Qualität kindlicher Bindungserfahrungen, indenen reziproke Beziehungsmuster zwischen Elternper-son und Kind erkennbar werden“ (Schneewind 2002b,S. 117). In einer sicheren Bindung zu seinen Bezugsper-sonen macht das Kind die Erfahrung, auf die Zuwen-dungsbereitschaft der Erwachsenen vertrauen zu könnenund in seinen Interessen, Wünschen und Bedürfnissenernst genommen zu werden. Die frühen Bindungen sindzugleich die Grundlage für ein System wechselseitigerAnerkennung, dem sowohl für die sozial-emotionale Ent-wicklung des Kindes als auch für den Aufbau von Bezie-hungen und Sozialität Bedeutung zukommt (Leu 1997).

Kinder brauchen für ihre Bildung im frühen KindesalterErwachsene als Bindungspersonen (Laewen 2002). Es istalso wichtig, dass sich Erwachsene Kindern zur Verfü-gung stellen; ferner kommt es auch auf die Qualität derBeziehung an. Die wichtigsten Faktoren für eine gesunde,in kognitiver, sozialer und emotionaler Hinsicht gelin-

gende Entwicklung des Kindes sind in der Qualität derBeziehung des Säuglings und Kleinkindes zu seiner Mut-ter sowie in der qualitativ guten Betreuung durch seineMutter zu sehen (NICHD Early Child Care Research Net-work 2002b; Karsh 2000).108

Die Art und Weise, wie mit Blickkontakt, Körpergestikund stimmlicher Melodik Sicherheit vermittelt sowie dieemotionalen Zustände des Kindes durch Trost und Beru-higung moduliert werden, ist auch für die sozial-emotio-nale Entwicklung des Kindes von großer Bedeutung. Dieneuere neuropsychologisch orientierte Forschung befasstsich detailliert mit dem Zusammenhang der frühen Mut-ter-Kind-Beziehung und der Regulation von Emotionen.In Abhängigkeit davon, wie in Mutter-Kind-BeziehungenEmotionen erfahren und kommuniziert werden, entwi-ckeln sich auch die neuronalen Schaltkreise der Emo-tionsregulation des Kindes (Expertise Ahnert109). „DieEntwicklung zu einer eigenständigen Emotionsregulationerfordert (…) die prompten und adäquaten Reaktions-muster einer Betreuungsperson auf die emotionalenSignale des Kindes; die gleiche Betreuungspraxis, dieauch die Bindungssicherheit entstehen lässt“ (ebd., S. 13).Bei fehlender Bindungssicherheit dürfte die eigenstän-dige Emotionsregulation des Kindes eingeschränkt sein,und es muss im Verlauf der weiteren Entwicklung mit ei-ner extrem erhöhten bzw. verminderten Schmerzempfind-lichkeit, einer fehlgeleiteten Stressverarbeitung und einerausgeprägten Aggressionsbereitschaft gerechnet werden(Schore 2001).

Die Qualität der Beziehungs- und Interaktionsmerkmale– als Voraussetzung für sichere Bindung – ist ihrerseitsvon den Lebensbedingungen mit beeinflusst, unter denenEltern ihre Kinder aufziehen. So entwickeln beispiels-weise jugendliche Mütter aufgrund ihrer meist gravieren-den Probleme in psychischer, sozialer und finanziellerHinsicht vielfach eine weniger positive Beziehung zu ih-ren Kindern (Ziegenhain u. a. 1999). Diese kann Bin-dungsunsicherheit, sogar hoch unsichere Bindung zurFolge haben, die vielfach mit Aggressivität und verzöger-ter kognitiver Entwicklung der Kinder im Vorschulaltereinhergeht (ebd.).

Vergleichbare Auswirkungen wurden in den letzten Jah-ren auch in Bezug auf frühe Vaterentbehrung festgestellt.Durch die selektive Beachtung der Mutter-Kind-Bezie-hung in der Bindungstheorie sowie in der Säuglings- undKindheitsforschung allgemein wurde die Bedeutung desVaters als Bindungsfigur und als Partner im kindlichenEntwicklungs- und Bildungskontext bisher allerdings ins-gesamt zu wenig berücksichtigt (Baacke 1999). Frühe

108 In den Studien des NICHD Early Child Care Research Network (vgl.Glossar im Anhang) wie auch in vielen anderen Studien zur früh-kindlichen Entwicklung wird vor allem die Mutter-Kind-Beziehunguntersucht.

109 In dieser Zitierweise werden die Expertisen angegeben, die für den12. Kinder- und Jugendbericht erstellt wurden (vgl. die Auflistung imAnhang). Die Seitenzahlen beziehen sich auf die eingereichten Ma-nuskripte, d. h. dass sie nicht mit den Seitenzahlen der Expertisen inden vier für Herbst 2005 zur Veröffentlichung vorgesehenen Bändenübereinstimmen.

Page 117: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 107 – Drucksache 15/6014

Vaterentbehrung scheint sich nach neueren Erkenntnissenauf die intellektuelle Entwicklung auszuwirken, sie kanndie Geschlechtsrollenentwicklung stören und, bei Jungenstärker als bei Mädchen, Aggressionsverhalten fördern; inder Folge können auch seelische Erkrankungen (Neurosen,Depression, schwere Persönlichkeitsstörungen, Selbst-mordneigung) auftreten (Petri 2002).

3.2.3 Entwicklungsangemessene Erfahrungs- und Lernangebote der Erwachsenen

Neben der unerlässlichen Pflege, Betreuung und demAufbau von sicheren Bindungen sind von Anfang an auchErfahrungs- und Lernangebote der Erwachsenen für dieEntwicklungs- und Bildungsprozesse des Kindes unver-zichtbar. Kinder lernen hauptsächlich über den handeln-den Umgang mit Personen, Dingen und Situationen. Siebrauchen daher Möglichkeiten, ihre räumliche und mate-riale Umwelt in vielfältiger Weise zu erkunden und ihreFähigkeiten auf körperlicher, kognitiver, sozialer undemotionaler Ebene zu entwickeln. Für die kindliche Aus-einandersetzung mit der sozialen Welt und ihrem Einflussauf den einzelnen Menschen ist die Teilnahme an für Er-wachsene alltäglichen Situationen hilfreich. Sie ermög-licht Kindern insbesondere die Erfahrung von Zeit undZeitstrukturen.

In der Art und Weise, wie Erwachsene mit Kindern inter-agieren und kommunizieren, erfahren Kinder etwas überihre kulturelle, gegenständliche und soziale Welt. Im Dia-log lernen Kinder zu reden, zu verhandeln, sich mitzutei-len, ihre Wünsche und ihre Kritik zu äußern, zuzuhörenund nachzufragen. „Sich mit anderen auseinander zu set-zen“ fordert die Entwicklung der Perspektiven-Über-nahme heraus, unterstützt die Entwicklung moralischerKognition und moralischen Empfindens sowie das Ver-ständnis gesellschaftlicher und kultureller Normen bzw.Werte.

Zur Förderung moralischen Denkens und Handelns ist eswichtig, dass ein Kind in seinen Bedürfnissen und Gefüh-len von den Erwachsenen seiner Umgebung ernst genom-men und respektiert wird (Hamlyn 1974). Hierzu gehörtauch, je nach Entwicklungsstand und Verständnis desKindes argumentative Erläuterungen für Normen und Re-geln zu geben, ihren Sinn zu erklären, Konflikte zwischenNormen anzusprechen, Ausnahmen zu durchdenken undLösungsmöglichkeiten abzuwägen. Das Verhandeln vonRegeln und Normen fordert die Übernahme der Perspek-tive anderer heraus, benötigt aber auch eine klare Haltungder Bezugspersonen gegenüber Regeln. Autoritatives Er-ziehungsverhalten, das, bei einer guten Beziehung, Gren-zen setzt und zugleich Verhandlungsspielräume zulässt,hat sich als besonders förderlich für die moralische Ent-wicklung von Kindern erwiesen (Keller 2003).

3.2.4 Entwicklungsdimensionen (Weltbezüge) und Entwicklungsthemen

Von Geburt an vermittelt sich die Welt dem Kind in ihrenkulturellen, materiell-dinglichen, sozialen und subjekti-ven Bezügen (vgl. Kapitel 2). Für die frühe Kindheit las-

sen sich diese Weltbezüge jedoch nicht in gleicher Weisedifferenzieren wie für die mittlere Kindheit oder das Ju-gendalter. Je jünger das Kind ist, desto weniger trenn-scharf sind seine Bezüge zur Welt, und desto ganzheitli-cher muss sein Entwicklungs- und Bildungsprozessbetrachtet werden. Indem das junge Kind explorierend,spielend und kommunizierend mit sich und seiner Um-welt umgeht, erwirbt es sprachlich-symbolische, instru-mentelle, kommunikative und personale Kompetenzen.Mit dem zunehmenden Erwerb von Kompetenzen kann essich differenzierter und komplexer mit der Welt in ihrenjeweiligen Bezügen auseinandersetzen.

(a) Aneignung der kulturellen Welt

Die kulturelle Welt, in der Kinder in unserer Gesellschaftheranwachsen, ist geprägt von Symbolen, insbesondereder Sprache und der Schrift. Die Teilhabe am gesell-schaftlichen Leben und die aktive Mitgestaltung dessel-ben erfolgt weitgehend über Symbole. Die zur Aneignungder kulturellen Welt notwendigen sprachlich-symboli-schen Fähigkeiten werden in der frühen Kindheit durchdie alltägliche Interaktion sowie durch das Spiel mit Er-wachsenen und Gleichaltrigen erworben.

Der Säugling erwirbt sprachliche Fähigkeiten zunächstdurch den Umgang mit Erwachsenen, in der Regel sinddas die Eltern. Mit ihnen kommuniziert er lange, bevor erspricht. Schon kurz nach der Geburt unterscheidet derSäugling zwischen sprachlichen und nicht sprachlichenLauten und zeigt eine klare Präferenz für die mütterlicheSprache (Moon u. a. 1993). Seine Empfindungen äußerter durch Schreien, Weinen, Strampeln, Gurren und etwasspäter durch Lallen und gestische Zuwendung. Mit etwaeinem halbem Jahr beginnt das Kind, Laute und einfacheSilben zu produzieren sowie spielerisch zu wiederholen.Gegen Ende des 1. Lebensjahres bildet es sein erstes„Wort“ (Gopnik u. a. 2001). Konkrete Personen und Ge-genstände, mit denen das Kind umgeht, sowie spezifischeSituationen, die das Kind alltäglich erfährt, werden zuerstbenannt (Kauschke 1999), z. B. „Mama“, „Papa“,„Auto,“ „Nein“ und „Ball“. In der Mitte des 2. Lebens-jahres verfügt das durchschnittlich entwickelte Kind überetwa 50 Wörter. Von nun an lernt es neue Wörter sehr vielschneller als zuvor, weil sich die Wortbedeutungen jetztmehr an den objektiven Merkmalen von Dingen und Per-sonen orientieren (Wygotski 1991). Das Kind hat gelernt,dass jedes Ding seinen eigenen „Namen“ hat. Sein Wort-schatz umfasst am Ende des 2. Lebensjahres im Regelfallbereits um die 200 Wörter.

Im Spiel vollzieht sich die symbolische Auseinanderset-zung des Kindes mit der kulturellen Welt auf einer sehrkonkreten Ebene. Im Alter von etwa 12 Monaten beginntdas Kind zu imitieren und setzt seine Beobachtungen undErfahrungen nach und nach in „Als-ob-Spielen“ um. Mitca. 1½ Jahren „füttert“ es beispielsweise im Spiel seinePuppe oder ein anderes Kind.

Im Alter zwischen 2 und 4 Jahren beginnt das Kind desWeiteren, symbolische Spielhandlungen bewusst zu pla-nen und nicht mehr nur zufällig auszuführen, weil ihmder entsprechende Gegenstand gerade in die Hände fällt.

Page 118: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 108 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Im Symbolspiel kommentiert das Kind die Bedeutung derGegenstände oder Handlungen nun zunehmend sprach-lich, und es beginnt damit, ganze Szenen aus seinem All-tag nachzuspielen. Ab etwa 4 Jahren ist das Kind daraninteressiert, diese Szenen möglichst erfahrungsgemäß zugestalten und gemeinsam mit seinen Spielpartnern dieRollen im Spiel zu differenzieren und zu präzisieren. Da-mit erreicht das Symbolspiel seinen Höhepunkt.

Die Sprachentwicklung vollzieht sich über die Bildungvon einfachen Wortkombinationen, die Aneignung gram-matischer Konstruktionen, die Fähigkeit der begrifflichenDifferenzierung. Mit etwa 4 Jahren beherrschen Kinderdie grundlegenden Satzkonstruktionen ihrer Mutterspra-che; den Abschluss ihrer grammatischen Kompetenz er-reichen sie mit etwa 8 Jahren (umfassende Übersicht beiGrimm/Weinert 2002).

Ein wesentlicher Schritt in der sprachlichen und symboli-schen Entwicklung ist der des Schriftspracherwerbs.Schon vor dem ersten Schultag können Kinder wichtigeEinsichten in die Struktur der Sprache gewinnen, die Vo-raussetzung für den Erwerb des Lesens und Schreibenssind. Erst wenn sie erkennen, dass Sätze aus Wörtern be-stehen und Wörter aus einzelnen Lauten zusammenge-setzt sind, sind sie bereit zu lernen, dass einzelne Lautedurch Buchstaben symbolisiert werden können (Hempen-stall 1997). Nur auf dieser Basis kann das Kind verstehen,dass es möglich ist, Buchstaben zu einem bestimmtenWort zusammenzufügen. Über die Fähigkeit des Lesensund Schreibens eröffnen sich Kinder damit einen weite-ren Schritt zur Aneignung der kulturellen Welt.

Die Begegnung mit zwei oder mehr Sprachen im frühenAlter gehört heute für nicht wenige Kinder zur Normalitätihres Kinderlebens. Für diese Kinder vollzieht sich derSpracherwerb nicht grundsätzlich anders, doch spielt derZeitpunkt des Erwerbs einer weiteren Sprache eine ent-scheidende Rolle (Weissenborn/Penner 2004). Zwei- undmehrsprachig aufwachsende Kinder erlernen gleichzeitigverschiedene sprachliche Symbolsysteme. Bei der ange-eigneten Sprache handelt es sich um ein spezifisches,vom „Normalen“ abweichendes Ganzes, das sich aus denElementen der erlernten linguistischen Systeme zusam-mensetzt. Dies führte vielfach zu der Befürchtung, dassSprachentwicklung bei zweisprachig Aufwachsenden ge-fährdet sei bzw. nur defizitär gelingen könne (ExpertiseNeumann). Nach sprachwissenschaftlichen Untersuchun-gen stellt zweisprachiges Aufwachsen jedoch „eine posi-tive Voraussetzung für die Entwicklung der gesamtensprachlichen und geistigen Leistungen eines Kindes dar,wenn es nicht unter sehr ungünstigen Lebensbedingungengeschieht“ (Expertise Neumann, S. 27). Wie weit vor al-lem Kinder mit Migrationshintergrund ihre mehrsprachli-chen Fähigkeiten entfalten können oder ob diese sich fürsie als eine Kompetenz mit unsicherem Wert erweist(Jampert 2002), hängt sehr stark davon ab, wie ihre Um-welt (Eltern sowie Einrichtungen der Kindertagesbetreu-ung) diese Fähigkeiten und Potenziale fördert und unter-stützt.

(b) Aneignung der materiell-dinglichen Welt

Ab seiner Geburt ist das Kind umgeben von Gegenstän-den, die es zwar wahrnehmen kann, deren Sinn es aberzunächst noch nicht erfasst. Um die Welt der Dinge zuverstehen und sich verfügbar zu machen, ist die Entwick-lung motorischer Fähigkeiten von großer Bedeutung.Durch sie gewinnt das Kind mehr und mehr die Möglich-keit, seine gegenständliche Welt zu erkunden und sich ak-tiv zu ihr in Beziehung zu setzen (umfassende Übersichtbei Rauh 2002).

Neben der motorischen Entwicklung ist auch die kogni-tive Entwicklung bedeutsam für den Bezug des Kindeszur Welt der Dinge und der Natur. In der Zeit von 0 bis1½ Lebensjahren entwickelt das Kind zunehmend einedifferenzierte Vorstellung darüber, dass es eine Welt au-ßerhalb seiner selbst gibt, dass diese von Personen undDingen bevölkert ist, welche unabhängig von seinenHandlungen und Wahrnehmungen existieren (Entwick-lung von Personen- und Objektpermanenz; Rauh 2002).Dieses Wissen versetzt das Kind in die Lage, auch Perso-nen, Gegenstände und Situationen in sein Denken undHandeln einzubeziehen, die es nicht unmittelbar vor Au-gen hat.

Mit zunehmenden motorischen und kognitiven Fähigkei-ten wird das Interesse des Kindes an der Welt der Naturgrößer. Neugier und Entdeckerdrang des Kindes lassen abdem 3. Lebensjahr Aufmerksamkeit für naturwissen-schaftliche Zusammenhänge entstehen. Erwachsene müs-sen dem Kind nun Anregungen, Herausforderungen undUnterstützung seines forschenden Umgangs mit physika-lischen, chemischen und biologischen Phänomenen bie-ten.

Mit zunehmender sprachlicher Kompetenz versucht dasKind, naturwissenschaftliche Zusammenhänge nicht nurüber sein Handeln zu ergründen, sondern auch im Ge-spräch zu klären. Typisch für ein Kind im 3. Lebensjahrsind „Warum“-Fragen. Häufig ist das Kind dann aber we-niger an einer Antwort vom Erwachsenen auf der Basiswissenschaftlich begründeter Theorien interessiert, son-dern es stellt seine eigenen Theorien auf. Zwischen dem4. und 5. Lebensjahr bedient sich das Kind zur Erklärungvon Naturphänomenen oft eines Begriffssystems aus demBereich menschlichen Glaubens, Fühlens und Wün-schens. Das Kind erklärt beispielsweise die Entstehungvon Wolken damit, dass sie den Menschen Schatten spen-den wollen, und es fühlt sich auf einem Abendspazier-gang vom Mond verfolgt, der wissen möchte, wo dasKind zu Hause ist. Im Zusammenhang mit der Aneignungder sozialen Welt werden jetzt auch Gespräche mitgleichaltrigen Spielpartnern wichtig, die vielleicht eineandere Sicht auf die Welt der Natur haben und durch diedas Kind herausgefordert wird, über seine eigene Sicht-weise nachzudenken.

(c) Aneignung der sozialen Welt

Von seiner Geburt an zieht das Kind die sozialen Reizeden nicht sozialen vor. Etwa im Alter von 3 Monatenkommt es zur ersten wirklichen sozialen Interaktion, in-

Page 119: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 109 – Drucksache 15/6014

dem das Kind das Lächeln eines anderen Menschen miteinem Lächeln beantwortet. Man spricht hier vom erstensozialen Lächeln. Mit etwa 8 Monaten ist das Kind dazuin der Lage, auf die Bedeutung zu reagieren, die eine ver-traute erwachsene Bezugsperson zum Ausdruck bringt.Das Verhalten des Kindes kann vom Gesichtsausdruckder Mutter bzw. naher Bezugspersonen beeinflusst wer-den, beispielsweise, wenn es mit einer unbekannten Per-son oder einem neuen Spielzeug konfrontiert wird undunsicher ist, wie es sich verhalten soll. Wenn das Gegen-über ängstlich wirkt, wird sich das Kind zurückziehen,wenn es freundlich schaut, nähert sich das Kind der frem-den Person oder dem neuen Spielzeug.

Um seine kommunikativen Fähigkeiten zu erweitern, be-nötigt das Kind im 1. Lebensjahr Beziehungen zu einzel-nen Erwachsenen, die ihm zugewandt und dazu bereitsind, sich in Dialogform auf seine Ausdrucksfähigkeiteinzulassen. Indem Erwachsene mit den Handlungen undÄußerungen des Kindes so umgehen, als handle es sichum intentionale Kommunikation, erwirbt das Kind zu-nehmend die Fähigkeit, tatsächlich intentional zu kom-munizieren, und es erlernt die Konventionen des kommu-nikativen Systems. Ein Erwachsener, der sieht, wie einkleines Kind die Hand nach einem Spielzeug ausstreckt,wird ihm diesen Gegenstand geben. Mit der Zeit werdendas Ausstrecken und Öffnen der Hand zu Gesten, mit de-nen das Kind einen Gegenstand verlangt. Häufig entwi-ckeln sich solche Gesten aber auch aus Handlungen, diezunächst nicht kommunikativ gemeint sind.

Im Alter von etwa einem Jahr erhöht sich das Interessedes Kindes am Zusammensein mit anderen Kindern deut-lich. Mit 18 Monaten kann man die Anfänge des gemein-samen Symbolspiels mit Gleichaltrigen beobachten. Abdem Alter von etwa 2 Jahren gewinnen gleichaltrige Kin-der immer größere Bedeutung für den Erwerb sozialerund personaler Kompetenzen. Die gemeinsame Kon-struktion der sozialen Realität wird durch das Zusammen-sein mit gleichaltrigen Spielpartnern möglich, und eswird die Fähigkeit zur Kooperation erworben.

Auch für moralische Lernprozesse werden gleichaltrigeSpielpartner zunehmend bedeutsam. Im Alter von 4 oder5 Jahren gestalten sich Verhandlungen über moralischeRegeln und Normen mit Gleichaltrigen leichter und inten-siver als in Interaktionen zwischen Kindern und Erwach-senen. Kinder einigen sich mit Gleichaltrigen auf Regeln,verändern sie, lernen Regeln zu achten, aber auch siesinnvoll zu interpretieren und in übergeordnete Prinzipienzu gründen (Krappmann 1991, S. 371). In der Kinderge-meinschaft werden auf gleicher Augenhöhe Gemeinsam-keiten und Unterschiede entdeckt, Fragen der wechselsei-tigen Anerkennung von Rechten verhandelt und dieeigenständige Bearbeitung von Konflikten eingeübt. DasRingen miteinander um das, was fair und was gerecht ist,hilft den Kindern, Regeln zu verinnerlichen und Verant-wortung für sich und für andere zu übernehmen. Hier lie-gen die Voraussetzungen für die Entwicklung einerselbstbewussten Identität sowie der intersubjektiven Gül-tigkeit von Regeln.

(d) Aneignung der subjektiven Welt

Das Wissen um die eigene Persönlichkeit entwickelt sichbei Kindern im Rahmen sozialer Beziehungen. Das Kindentdeckt die Einzigartigkeit seiner Person, indem es ei-gene Bedürfnisse und Interessen ausdrückt, sie mit denenanderer Menschen vergleicht und dabei Gemeinsamkei-ten und Unterschiede feststellt. Identität ist sowohlGrundlage als auch Folge von Interaktionsprozessen, indenen sich die Interaktionspartner wechselseitig anerken-nen (Krappmann 1982).

Mit etwa 18 Monaten ist das Kind dazu in der Lage, sichselbst im Spiegel zu erkennen. Mit der Entdeckung deseigenen Selbst im Spiegel begreift das Kind, dass etwas,was zur gleichen Zeit zweimal existiert, identisch seinkann. Es erlebt sich nun nicht nur als Subjekt (engl.: „I“),sondern auch als Objekt (engl.: „me“). Diese Erkenntnisführt wenig später dazu, dass es sich selbst mit dem Wort„Ich“ bezeichnen, Personen miteinander vergleichen undsich selbst einer bestimmten Personengruppe zuordnenkann (z. B. Kind, Mädchen, Junge). Das Kind entwickelteine soziale Identität (Rauh 2002).

Zwischen 2 ½ und 5 Jahren stellt das Kind sein Selbstdurch Merkmale dar, die entweder körperlicher Art sind,Aktivitäten kennzeichnen oder soziale Beziehungen be-schreiben. Diese Merkmale werden erst ab dem Alter von5 Jahren allmählich miteinander verbunden. Die eigenekörperliche Erscheinung wird nun nicht mehr beispiels-weise nur an der Augenfarbe festgemacht, sondern an derWahrnehmung der eigenen Attraktivität und einer Ein-schätzung der Bewertung der eigenen Attraktivität durchandere. Weiterhin kann das Kind sich nun selbst und an-dere mit Hilfe von Gegensatzpaaren beschreiben („Ichbin groß für mein Alter, und meine Freundin ist klein“).Im ausgehenden Vorschulalter verfügt das Kind bereitsüber ein differenziertes und relativ stabiles Selbstkonzept,das mit zunehmendem Alter immer realistischer wird(Oerter 2002).

Die Entwicklung der Identität von Kindern – so GeorgHerbert Mead – ist in der kognitiven Entwicklung, spezi-ell in der Fähigkeit zur Rollenübernahme verankert(Mead 1934). Bereits das Kleinkind besitzt die Fähigkeit,unbewusst die Rolle anderer zu übernehmen, weil es dieTendenz hat, in sich selbst die gleiche Reaktion wie beianderen auszulösen. Die Entwicklung der Fähigkeit zurRollenübernahme verläuft in zwei Phasen, der Phase desSpielens („play“) und der des organisierten Wettspiels(„game“). „Play“ ist die spielerische Interaktion des Kin-des mit einem imaginären Partner. Das Kind agiert nach-einander in unterschiedlichen Rollen, erschafft sich einForum, in dem es unterschiedliche Rollen einnehmen undsich selbst in Relation zu diesen Rollen verhalten kann.Im „game“, das etwa ab dem 6. Lebensjahr auftritt,nimmt das Kind nicht mehr nur die Rolle von konkretenAnderen ein, sondern richtet sein Handeln gemäß derfestgelegten Spielabläufe und Regeln sowie der verschie-denen, zueinander in einer ganz bestimmten Beziehungstehenden Rollen aller am Wettspiel Beteiligter aus.

Page 120: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 110 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Insbesondere in Beziehungen zu Gleichaltrigen entwi-ckelt das Kind seine Identität. Gleichaltrige Kinder kon-frontieren sich gegenseitig mit entwicklungsrelevantenHerausforderungen. Hieraus entstehende Konflikte helfendem Kind zu erkennen, „ ... dass Bedürfnisse verschiedensind und Absichten und Regeln ausgehandelt werdenmüssen“ (Krappmann 1991, S. 326).

In diesem Abschnitt sind Entwicklungs- und Bildungs-prozesse in der frühen Kindheit dargestellt worden. Sieerfolgen in einem intensiven Austausch zwischen Kindund Umwelt. Von entscheidender Bedeutung ist dabei dieQualität der Beziehungen zu den erwachsenen Bezugs-personen. Darüber hinaus regen vielfältige Formen derInteraktion und Kommunikation zwischen Kind und Er-wachsenem, aber auch zwischen Kind und Gleichaltrigen,Bildungsprozesse im Sinne der Aneignung der kulturel-len, der materiell-dinglichen, der sozialen und der subjek-tiven Welt an. Nach der Darstellung dieser allgemeinenVoraussetzungen und Bedingungen für frühkindliche Bil-dung und Entwicklung werden in den folgenden Ab-schnitten spezielle Bedingungen und Einflussfaktorenthematisiert. Dabei geht es um die Frage von Gesundheit(vgl. Abschnitt 3.3) und die Bedeutung der Familie (vgl.Abschnitt 3.4) als Einflussgrößen für frühkindliche Ent-wicklung und Bildung.

3.3 Ressource Gesundheit

Entwicklungs- und Bildungsprozesse des Kindes sindmaßgeblich von den individuellen und umweltbedingtenGegebenheiten abhängig; sie können ein gesundes Auf-wachsen und sich Aneignen von Welt fördern oder beein-trächtigen. Gesundheit wird heute nicht mehr aus einemprimär medizinischen Blickwinkel als Gegenpol zuKrankheit aufgefasst. Dies geht im Wesentlichen auf eineveränderte Sichtweise zurück, die in der Umschreibungvon Gesundheit durch die WeltgesundheitsorganisationWHO (1946) als „Zustand vollständigen körperlichen,geistigen und sozialen Wohlbefindens“ – bzw. Wohlseins,wie es inzwischen vielfach übersetzt wird (Bergmannu. a. 2001) – zum Ausdruck kommt. Mit dieser idealtypi-schen Definition setzte sich ein positives Konzept vonGesundheit durch, das in gleicher Weise die Bedeutungindividueller und sozialer Ressourcen für die Gesundheitwie die körperlichen Fähigkeiten betont (Franzkowiak/Sabo 1993). Das vielfältig dimensionale Interaktionsge-füge aus genetischer Disposition, körperlicher Konstitu-tion, Temperament, sozio-ökonomischen Bedingungen,psychosozialen Stressoren, Ernährungsbedingungen undphysischen Umweltbedingungen lässt Gesundheit nurdann entstehen, wenn die Person einen Balancezustandzwischen physischen, psychischen und sozialen Anforde-rungen erreicht und immer wieder erneut herstellt (Hur-relmann 2004c):

– Gesundheit als Balancezustand besteht dann, wenndas objektive und subjektive Befinden eines Men-schen sich im physischen, psychischen und sozialenBereich seiner Entwicklung im Einklang mit den eige-nen Möglichkeiten und Zielvorstellungen sowie den

jeweils gegebenen äußeren Lebensbedingungen befin-det (Schoppa 2001; Hurrelmann 2000; Hurrelmann/Laaser 1993). Es lässt sich auch von einem „Stadiumdes Gleichgewichts zwischen Risikofaktoren undSchutzfaktoren“ sprechen (Hurrelmann 2000, S. 95).

– Gesundheit ist beeinträchtigt, wenn sich Anforderun-gen ergeben, die von der Person in einer Lebensphasenicht erfüllt und bewältigt werden können. „Die Be-einträchtigung kann sich, muss sich aber nicht in Symp-tomen der sozialen, psychischen und physisch-physio-logischen Auffälligkeit manifestieren“ (Hurrelmann2000, S. 8).

Die Möglichkeiten des Kindes zu einer positiven Lebens-bewältigung hängen maßgeblich von seinen Lebensbe-dingungen ab, auch wenn im Einzelfall salutogenetischeFaktoren wirksam werden und moderierenden Einflusshaben (vgl. Abschnitt 3.4.1). Die Lebenswelt des Kindeswird von den ökonomischen, kulturellen und sozialenRessourcen der Eltern maßgeblich bestimmt: Ein nie-driger oder höherer sozialer Status, ein niedriger oder hö-herer Bildungsstand der Eltern haben einen statistischnachweislich unterschiedlichen Einfluss auf das Gesund-heitsverhalten und die Ernährungsgewohnheiten der El-tern sowie der Kinder, und somit auf deren Gesundheit.Ferner haben Kinder der sozialen Unterschicht und Mi-grantenkinder in vielerlei Hinsicht bei weitem mehr aus-geprägte Gesundheitsprobleme als Kinder der höherenSozialschichten.

Die gesundheitliche Lage von Kindern hat sich imzurückliegenden Jahrhundert in den Industriestaaten ineinem bis dahin nicht gekannten Ausmaß verbessert.Zahlreiche unbehandelbare Krankheiten, insbesondereInfektionskrankheiten sowie der frühe Tod bestimmtenbis Anfang des 20. Jahrhunderts das Bild (Kurth u. a.2002). Doch auch der Gesundheitszustand der überle-benden Kinder dürfte damals nicht so gut wie heutegewesen sein. Dies lässt sich unter anderem auch an derKörpergröße ersehen, die mit psychosozialen Bedingungensowie mit Bedingungen der Ernährung zusammenhängt.Sie ist bei Kleinkindern und Kindern im frühen Schulalterim Vergleich zur Zeit vor 100 Jahren heute um etwa 20 cmangestiegen (ebd.). Doch trotz dieser Fortschritte gibt esauch heute bei vielen Kindern gravierende Gesund-heitsstörungen, die ihre körperliche, geistige und sozialeEntwicklung beeinträchtigen. Viele davon stehen imZusammenhang mit sozialer Benachteiligung.110

110 Die Datenlage zur Gesundheit im Kleinkind- und Vorschulalter isteingeschränkt. Der Schwerpunktbericht der Gesundheitsberichter-stattung des Bundes „Gesundheit von Kindern und Jugendlichen“(Schubert u. a. 2004) ermöglicht inzwischen einen umfassendenÜberblick über Daten aus Einzeluntersuchungen. Mit dem Kinder-und Jugendgesundheitssurvey des RKI (Kurth u. a. 2002) ist ab demJahre 2006 eine entscheidende Verbesserung der Datenlage zu erwar-ten, weil dann umfassende und vergleichbare repräsentative Datenfür Deutschland vorliegen werden. Wichtige neue Erkenntnisse sindauch von der 2003 begonnenen Erhebung der Situation von neugebo-renen Babys und deren Müttern, die auch auf Gesundheit bezogeneIndikatoren umfasst, im Rahmen des Sozio-oekonomischen Panel(SOEP) zu erwarten.

Page 121: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 111 – Drucksache 15/6014

3.3.1 Gesundheit sozial benachteiligter Kinder

Der Einfluss der Familie auf die Gesundheit von Kindernist in früher Kindheit besonders groß. Jede Familie ver-mittelt ihren Kindern entscheidende gesundheits- undkrankheitsrelevante Einstellungen und Verhaltensweisen.Kinder sind den durch ihre Familien gesetzten Rahmen-bedingungen für Entwicklung und Bildung – im positivenwie im negativen Sinne – ausgesetzt; sie übernehmenzum großen Teil die Normen, Werte, Einstellungen undVerhaltensmodelle ihres familiären Umfeldes.

Die familiären Rahmenbedingungen sind ihrerseits vongesellschaftlichen Faktoren (z. B. Umweltbedingungen)wie auch von sozio-ökonomischen Faktoren geprägt. So-ziale Ungleichheit bestimmt die Gesundheit von Men-schen mit. Auch wenn weitere Faktoren wie Lebenswan-del, Gesundheitsverhalten und genetische Dispositionberücksichtigt werden, bleibt ein eigenständiger Einflussder Lebenslage, des sozio-ökonomischen Status, der Be-rufsgruppe sowie des Wohnumfeldes auf die Gesundheitder Menschen bestehen (Klocke 2001). So geben Perso-nen aus benachteiligten sozialen Schichten doppelt sohäufig an, einen schlechten Gesundheitszustand zu habenwie Personen aus privilegierten Schichten. Die Lebenser-wartung ist in niedrigen Sozialschichten wesentlich gerin-ger und das Erkrankungs- und Sterberisiko ist in jeder Le-bensalterstufe mehr als doppelt so hoch (Schoppa 2001).Armut, verstanden als relative Armut und als kumulativeUnterversorgung in einzelnen Lebensbereichen, nimmtEinfluss auf die Gesundheit sowohl der Eltern als auchihrer Kinder (vgl. Abschnitt 3.4.2).

Kinder aus Familien mit niedrigem sozio-ökonomischemStatus schneiden bezüglich Mortalität, Morbidität und ge-sundheitsbezogener Lebensqualität statistisch gesehendeutlich schlechter ab. Säuglingssterblichkeit, Unterge-wichtigkeit bei Geburt, angeborene Fehlbildungen sowieakute und chronische Erkrankungen kommen bei Kindernaus unteren Sozialschichten überdurchschnittlich häufigvor (Schoppa 2001). Desgleichen sind diese Kinder häu-figer von Unfällen, schlechter Mundgesundheit, ungünsti-gem Ernährungsverhalten, psychischen Auffälligkeitenund eingeschränktem subjektiven Wohlbefinden betroffen(Seifert 2002). Untersuchungen aus Großbritannien, wo– anders als in Deutschland – epidemiologische Datenüber Mortalität und Morbidität grundsätzlich mit sozialenDaten verknüpft werden, belegen die gesundheitliche Be-nachteiligung von Kindern aus Familien mit ungünstigemsozio-ökonomischem Status (vgl. Tab. 3.1).

In Deutschland sind Untersuchungen, die den sozialenGradienten zwischen den Sozialschichten ermitteln, sel-ten. Den Schuleingangsuntersuchungen im Land Bran-denburg kommt daher eine besondere Bedeutung zu (Ell-säßer u. a. 2002) (vgl. Tab. 3.2).111

111 Es wurde hier allerdings eine andere Definition von sozialer Schichtals in den Studien aus Großbritannien verwendet.

Ta b e l l e 3.1

Sozialer Gradient bei Mortalität und Morbidität im Kindesalter, dargestellt durch die Vervielfachung

bei Kindern der untersten gegenüber der obersten Sozialschicht (Großbritannien)

1 Der Faktor gibt an, um wie viel sich die Mortalität und Morbidität beiKindern der untersten gegenüber der obersten Schicht erhöht.

Daten: Woodroff u. a. 1993; Quelle: Schlack 2003, S. 672

Ta b e l l e 3.2

Sozialer Gradient bei Gesundheits- und Entwick-lungsstörungen von Einschulungskindern, dargestellt durch die Vervielfachung bei Kindern der untersten

gegenüber der obersten Sozialschicht (Land Brandenburg)

1 Der Faktor gibt an, um wie viel sich Gesundheits- und Entwicklungs-störungen bei Kindern der untersten gegenüber der obersten Schichterhöhen.

2 Die Kategorie „Mentale Beeinträchtigungen“ wird in der Tabellenicht präzisiert. Im Allgemeinen werden unter diesem Begriff allepsychiatrisch diagnostizierbaren Beeinträchtigungen sowie psychia-trische Krankheitsbilder zusammengefasst.

Daten: Ellsäßer u. a. 2002; Quelle: Schlack 2003, S. 276

Eine Untersuchung zur Kinderarmut in Kindertagesein-richtungen (Arbeiterwohlfahrt [AWO]) 2000)112 ergab,dass Einkommensarmut im Kindesalter mit einem deutli-chen kumulativen Effekt auf den gesundheitlichen Status

Mortalität und Morbidität Faktor1

Säuglingssterblichkeit 2,7Kindersterblichkeit (1–14 Jahre) 2,2Todesfälle durch angeborene Fehlbildungen 2,4Todesfälle durch Unfälle 3,8Niedriges Geburtsgewicht (< 2500 g) 1,4Chronische Erkrankungen (0–19 Jahre) 1,3Pneumonien bis 5 Jahre 2,3Hyperaktivität 3,2Dissoziales Verhalten 4,0Ängste 1,7

Morbidität Faktor1

Karies 2,5Adipositas 3,3Sprech- und Sprachstörungen 4,2Emotionale und soziale Störungen 5,1Psychomotorische Störungen 6,3Mentale Beeinträchtigungen2 14,6

112 Zur Untersuchung der Armut von Kindern in Kindertageseinrichtun-gen der AWO vgl. Abschnitt 3.4.2 (a).

Page 122: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 112 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

verbunden ist. So kamen nach den Ergebnissen dieserStudie

– 16 Prozent der Kinder hungrig in die Kindertagesein-richtungen,

– 15 Prozent wurden als ungepflegt und vernachlässigtcharakterisiert,

– 15 Prozent waren häufig krank,

– 11 Prozent hatten eine chronische Erkrankung, undetwa

– 10 Prozent waren in ihrer körperlichen Entwicklungzurückgeblieben.

3.3.2 „Neue“ KinderkrankheitenViele „klassische“ Krankheiten im Kindesalter konntendurch Impfungen, Hygiene und medizinische Versorgungin ihrer Bedeutung zurückgedrängt werden. Dagegenwerden zunehmend Gesundheitsstörungen in vier Hin-sichten beobachtet:

– Fehlsteuerung des Immunsystems: Allergien breitensich stark und schnell aus.

– Störungen der Nahrungsaufnahme und des Ernäh-rungsverhaltens: Bewegungsarmut auf der einen undein Überschuss an Kalorien in der Nahrungsaufnahmeauf der anderen Seite führen zu Übergewicht, Hal-tungsschäden und Koordinierungsproblemen.

– Fehlsteuerung der Sinneskoordination: Während derHörsinn und der Sehsinn heute u. a. durch eine ausge-dehnte Nutzung elektronischer Medien in einem weit-gehend „verhäuslichten“ Kinderalltag einseitig stimu-liert werden, werden andere Sinne wie Riechen,Fühlen, Tasten vernachlässigt, ebenso das richtige At-men und Sprechen. Unausgewogene „Sinneskost“nimmt jedoch auch auf die motorische Entwicklungdes Kindes Einfluss.

– Unzureichende Bewältigung von psychischen Bean-spruchungen und sozialen Anforderungen: Viele Kin-der kommen mit sozialen Konflikten und seelischenEnttäuschungen nicht zurecht (Hurrelmann 2004c).

Gesundheitsstörungen beeinträchtigen das Wohlbefindender Kinder zum Teil erheblich und haben gravierendeFolgen für ihre kognitive, psychische und soziale Ent-wicklung (Schmid 2001). Bei chronischen Erkrankungensind die Kinder nicht nur durch Schmerzen und Missemp-findungen beeinträchtigt, sie müssen sich – wie im Fallvon Asthma und Allergien – ständig vor bestimmten Stof-fen, Lebensmitteln und Auslösesituationen hüten und mitdem erneuten Auftreten bedrohlicher Zustände rechnen.Vielfach zeigt die Umwelt abweisende Reaktionen gegen-über diesen Kindern, wenn sie sich nicht der Norm ent-sprechend verhalten oder sich nicht an allgemein ge-schätzten Aktivitäten (z. B. Bewegungsspiele) beteiligenkönnen. Dies erschwert es diesen Kindern, für ihre Ent-wicklung notwendige soziale Kontakte zu knüpfen. Kin-der mit Hauterkrankungen, die mit Schuppungen und Rö-tungen sowie ständigem Juckreiz einhergehen – wie im

Fall von Neurodermitis –, können es besonders schwerhaben, Kontakt zu bekommen und aufrechtzuerhalten,weil viele Kinder es unangenehm finden, sie zu berührenoder anzuschauen. Die Einschränkungen des sozialen Le-bens, des Wohlbefindens und der Lebensqualität ziehenoftmals psychosoziale Folgen nach sich, die das Gesund-heitsproblem noch zusätzlich verschärfen können (Schu-bert u. a. 2004). Kinder mit Gesundheitsstörungen bedür-fen daher eines besonderen Einfühlungsvermögens sowieder Informiertheit der Eltern, der Betreuungspersonenvon Kindern in Spielgruppen, der Tagespflege sowie derKinderbetreuungseinrichtungen, um ihre Entwicklungs-und Bildungsbedingungen möglichst positiv zu gestaltenund ihre soziale Integration zu gewährleisten.

Allergien und Asthma als chronische Erkrankungen imKindesalter: Präzise Angaben zur Verbreitung chroni-scher Erkrankungen im Kindesalter liegen für Deutsch-land nicht vor (ebd.). Dies liegt zum einen an der gerin-gen Forschungstätigkeit zu diesem epidemiologischenBereich, zum anderen an den zugrunde liegenden hetero-genen Definitionen. Generell geht man davon aus, dasschronische Erkrankungen überwiegend körperliche Er-krankungen sind, die ein halbes Jahr, in den meisten Fäl-len aber länger und oftmals lebenslang die Lebensbewäl-tigung, das Planen, Handeln und Empfinden einesMenschen beeinträchtigen (Schmid 2001). Der „NationalHealth Interview Survey“ (USA113) legte bislang eineweite Definition von chronischer Erkrankung zugrundeund ermittelte 31 Prozent der Kinder und Jugendlichenunter 18 Jahren, die von zumindest einer solchen Krank-heit betroffen waren. Nach neueren Daten aus den USA,die auf einer engeren und strikteren Definition beruhen,leben etwa 15 Prozent aller amerikanischen Kinder undJugendlichen über einen längeren Zeitraum mit chroni-schen Erkrankungen oder chronischen Zuständen.(Schmid 2001). Bei einer in Deutschland durchgeführtenbundesweiten Repräsentativbefragung zur Nachfrage nachPräventionsangeboten gaben fast 24 Prozent der jungen El-tern an, in ihrer Familie ein chronisch krankes Kind zu haben(Bergmann/Bergmann 1998).

Zu den chronischen Gesundheitsstörungen zählen vor al-lem allergische Erkrankungen wie z. B. Neurodermitis,Heuschnupfen und Asthma bronchiale. Die Überemp-findlichkeitsreaktionen des Immunsystems gegenüberkörperfremden, eigentlich unschädlichen Substanzen sindzum großen Teil atopisch114 bedingt (Schubert u. a. 2004).Daneben gilt der „moderne“ westliche Lebensstil als Aus-löser. Atopische Erkrankungen nehmen in allen industria-lisierten Ländern deutlich zu. Wiederholte Untersuchun-gen mit gleich bleibender Methodik konnten dies fürmehrere Länder Europas bestätigen. In Deutschland lässtdie uneinheitliche Datenlage keine eindeutige Aussage zu(ebd.). Sicher scheint, dass höhere Sozialschichten stärkerbetroffen sind als niedrige, die westdeutsche Bevölkerungstärker als die ostdeutsche. Allerdings vollzieht sich in den

113 Zum National Health Survey vgl. Glossar.114 Atopische Krankheiten beruhen auf einer genetisch bedingten Prädis-

position zur Überempfindlichkeit von Haut und Schleimhäuten.

Page 123: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 113 – Drucksache 15/6014

neuen Bundesländern ein Angleichungsprozess im Hin-blick auf Heuschnupfen und andere allergische Krank-heitsbilder – mit Ausnahme von Asthma. Darüber hinausgibt es deutliche empirische Hinweise darauf, dass atopi-sche Erkrankungen im ländlichen Raum geringer verbrei-tet sind als in städtischen Gebieten, d. h. dass Umge-bungsfaktoren der frühen Kindheit deren Entwicklungbeeinflussen (Ehrenstein u. a. 2000).

Fehlernährung und Übergewicht: Einseitige oder über-mäßige Fehlernährung geht schon im frühen Kindesaltermit Gedeihstörungen, Übergewicht, Mangel- und Aller-giesymptomen einher (Schoppa 2001). Im frühenSäuglingsalter ist eine chronische Unterernährung durcheinseitige Fehlernährung nicht selten; sie kann zu blei-benden Wachstumsdefiziten und einer verzögerten geisti-gen Entwicklung führen. Aufgrund eines Mangels an Jodsind geistige und körperliche Defekte möglich. Eisen-mangel kann mit kognitiven Entwicklungsverzögerun-gen, Fluoridmangel mit Karies, Vitamin B-12-Mangel mitneurologischen und geistigen Defekten des Kindes in Zu-sammenhang stehen (ebd.).

Es liegen keine repräsentativen Daten hinsichtlich Über-gewicht und Ernährungsverhalten im frühen Kindesaltervor (Schoppa 2001). Mehrere regionale Einzelstudienzeigen jedoch, dass Übergewicht (Prä-Adipositas) alseine bedeutende Gesundheitsstörung des Kindesaltersgelten muss, deren Prävalenz zunimmt (Wabitsch 2004).Allerdings fehlen Längsschnittstudien, die die Frage desAnstiegs zuverlässig beantworten könnten (Kolip 2004).Eine vergleichende Analyse von bayerischen Schul-eingangs-Untersuchungen der Jahre 1998/1999 ergab bei5- bis 6-Jährigen eine Prävalenz von Übergewicht bei11 Prozent, Adipositas bei 3 Prozent der Kinder. Damitwar jedes zehnte Kind im Einschulungsalter in Bayern zudick (Kalies/Kries 2002). Mädchen waren häufiger über-gewichtig als Jungen (12,8 Prozent gegenüber9,9 Prozent). Adipös waren 3,3 Prozent der Mädchen und3 Prozent der Jungen. Kinder nicht-deutscher Herkunftwaren nach den Ergebnissen der bayerischen Schulein-gangs-Untersuchungen fast doppelt so häufig überge-wichtig und adipös wie Kinder mit deutscher Nationalität(ebd.). Auch für Adipositas ergaben sich fast doppelt sohohe Werte.

Bewegungsmangel: Bewegungsaktivitäten setzen im Kin-desalter wesentliche Entwicklungsanreize und fördern einnormales Wachstum. Sie unterstützen die physiologi-schen Funktionen des Herz-Kreislauf-Systems sowie desAtmungssystems, wirken sich förderlich auf die geistigeEntwicklung, die sensomotorische Wahrnehmung und dasBefinden aus. Sie ermöglichen soziale Erfahrungen undfördern über ein positives Körperbewusstsein eine Stär-kung der Ich-Identität, der Selbstverantwortung undSelbstkompetenz (Schubert u. a. 2004).

Das Ausleben des natürlichen Bewegungsdranges, dasbesonders im Kleinkind- und Vorschulalter eine zentraleEntwicklungs- und Erfahrungsfunktion hat, scheint durchdie Lebensweise in der modernen Industriegesellschaft,die ein allgemeines Defizit an körperlicher Bewegung mitsich bringt, heute vielfach behindert zu werden (Schoppa

2001). So bieten vor allem städtische Gebiete Kindernwenig Möglichkeiten, noch unverbaute Freiräume fürFahrradfahren, Ball- und Laufspiele sowie Klettern zunutzen. Die starke Konzentration des Familienlebens aufdie häusliche Umwelt, die damit oftmals einhergehendeausgedehnte Nutzung des Medien- und Informationsan-gebots wirken auf Klein- und Vorschulkinder aktivitäts-hemmend.

Bislang gibt es keine repräsentativen Daten zur Motorikund körperlichen Leistungsfähigkeit von Kindern (Bösu. a. 2002). Nach zahlreichen vorliegenden Studien ist je-doch eine Zunahme von motorischen und koordinativenAuffälligkeiten sowie von Haltungsschwächen und Mus-kelfunktionsstörungen bei Kindern und Jugendlichen zuvermuten (Schubert u. a. 2004).

Verhaltensauffälligkeiten, Hyperaktivitätsstörungen (ADHS):Auch in psychischer und sozialer Hinsicht ist die Gesund-heit zahlreicher Kinder durch Störungen und Auffälligkei-ten belastet. Emotionale Störungen treten bereits im Kin-desalter häufig auf, darunter werden Angststörungen,Phobien, Depressionen, Zwänge, posttraumatische Belas-tungssymptome und Somatisierungsstörungen (Störungenohne organische Grundlage) verstanden (Schubert u. a.2004). Sozialer Rückzug (u. a. unglücklich/traurig sein,verschlossen/lieber allein sein) wird von ca. 5 Prozent El-tern der 4- bis 10-jährigen Kinder beobachtet. GrößereUnterschiede zwischen den Geschlechtern ergeben sichentsprechend den Aussagen der befragten Eltern hinsicht-lich Angst/Depressivität ihrer Kinder im Alter von 4 bis10 Jahren. Jungen zeigen demnach zu 12,5 Prozent, Mäd-chen zu 8,6 Prozent Verhaltensauffälligkeiten im emotio-nalen Bereich (Plück u. a. 2000).

Hyperkinetische Störungen gehören mit zu den häufigs-ten psychischen Auffälligkeiten im Kindesalter sowie zuden häufigsten Anlässen, Kinder in Erziehungsberatungs-stellen, kinderpsychotherapeutischen Praxen und sozial-pädiatrischen Zentren anzumelden (Hampel/Petermann2004). Kinder mit ADHS weisen eine Störung der Auf-merksamkeit auf, sie haben eine geringere Impulskon-trolle und eine gesteigerte motorische Aktivität, die demEntwicklungsstand, dem Alter sowie der Intelligenz desKindes nicht angemessen ist (Banaschewski u. a. 2004).Die Störungen treten vor dem 6. Lebensjahr auf und äu-ßern sich situationsübergreifend, also in mehreren (zu-mindest zwei) verschiedenen Orten des sozialen Umfel-des (Familie, Kindergarten, Schule). Im frühenKindesalter fallen vor allem die kurze Aufmerksamkeits-spanne, oppositionelles Verhalten und motorische Unruheauf.

3.4 Frühkindliche Entwicklung und Bildung im Rahmen der Familie

In der gesellschaftlichen Realität gibt es vielfältige For-men des familialen Zusammenlebens sowie des gemein-samen Wirtschaftens. Ein zentrales Kriterium für Kon-stellationen, in denen Kinder aufwachsen, ist, dass die alsFamilie bezeichneten Personengruppen in engen Bezie-hungen leben. „Familien sind somit unabhängig von ihrerPersonenzusammensetzung ein Prototyp für enge oder

Page 124: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 114 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

intime Beziehungssysteme, die sich durch die Kriterieneiner mehr oder minder stark ausgeprägten Abgrenzung,Privatheit, Nähe und Dauerhaftigkeit kennzeichnen las-sen“ (Schneewind 2002b, S. 106).

Für die meisten Kinder bietet die Familie – in welcherForm des familialen Zusammenlebens auch immer – denentscheidenden Rahmen für die kognitive, emotionaleund sprachliche Entwicklung, die Persönlichkeits- undSozialentwicklung sowie für die körperliche und psy-chische Gesundheit; damit hat die Familie einen entschei-denden Einfluss auf den Verlauf kindlicher Bildungspro-zesse. Wenn die Konstanz der familiären Beziehungenauch nicht für alle Kinder Realität ist, so sind es doch im-merhin mehr als 80 Prozent der Kinder, die in dauer-haften, von miteinander verheirateten Eltern geprägtenfamiliären Umwelten aufwachsen (DJI-Familiensur-vey115; vgl. auch Abschnitt 1.2.1).

Die Bildungswirksamkeit der Familie ist grundsätzlichcharakterisiert durch folgende Merkmale:

– Die genetische Verbindung zwischen dem Säuglingund seinen Eltern lässt bei Letzteren normalerweisePflege- und Fürsorgeverhalten, Schutz- und Zuwen-dungsbereitschaft entstehen.

– Die emotionale Bindung, die die primären Bezugsper-sonen ihrem leiblichen Nachwuchs gegenüber empfin-den bzw. den sie adoptierten oder angenommenenKindern gegenüber entwickeln, bietet günstige Vo-raussetzungen für die Entwicklung von sicherer Ge-bundenheit und Vertrauen auf Seiten des Kindes.

– Das familiäre Beziehungssystem bietet dem Kleinkinddie entscheidende Basis für die Sprachentwicklung.Sie vollzieht sich in einem komplexen Zusammenspielvon Körper, Seele und Geist und entfaltet sich in engerVernetzung mit anderen Bereichen der kindlichen Ent-wicklung wie der kognitiven und sozial-emotionalenEntwicklung (Zehnbauer/Jampert 2004).

– Zum einen ist Familie ein Lebensraum, in dessen le-bensweltlich geprägtes Interaktions- und Kommunika-tionsgefüge das Kind hineinwächst. Zum anderenbringt es durch seine individuelle Anlage, sein Tempe-rament, Geschlecht und seine Resilienz (Widerstands-fähigkeit) individuelle Elemente in das familiale Inter-aktions- und Beziehungsgefüge ein, das dadurchwiederum beeinflusst wird und sich verändert.

– Familie ist ein lebensweltlicher Zusammenhang, andem das Kind von Anfang auf eine bestimmte Weisein der Ganzheitlichkeit seiner Person angenommenwird, wie es später in keinem anderen institutionellenKontext mehr der Fall sein wird.

– Das Beziehungs- und Interaktionssystem der Familieist auf Dauer gestellt und von Reziprozität116 gekenn-zeichnet.

– Familie umfasst Personen, die sich in unterschiedli-chen Phasen des Lebenszyklus befinden und über un-terschiedliche Lebenserfahrungen verfügen, die zu-sammen einen grundlegenden, vielfältig facettiertenund anregenden Entwicklungs- und Bildungskontextin kognitiver, psychosozialer und emotionaler Hin-sicht bieten.

– Durch die aktive Teilnahme an den alltäglichen Fami-lientätigkeiten (sowohl Alltagsorganisation und All-tagsbewältigung als auch Freizeitgestaltung) sowiedurch seine frühzeitige Einbindung in den familiärenBeziehungs- und Kommunikationsaustausch erhält dasKleinkind vielfältige Gelegenheiten, seine Persönlich-keit zu entwickeln und Gemeinschaftsfähigkeit zu er-werben.

Diese Merkmale des familialen Beziehungsgefüges wer-den durch individuelle und soziale sowie durch Lebensla-gen bedingte Einflussfaktoren moderiert (vgl. Abschnitt3.4.1 und Abschnitt 3.4.2).

3.4.1 Individuell und sozial bedingte Einflussfaktoren

„Die Familie“ und „das Kind“ sind begriffliche Kon-strukte, mit denen die in der Realität bestehenden Unter-schiede in den Entwicklungsvoraussetzungen von Kin-dern nicht zum Ausdruck kommen. In der Realität ist eineVielzahl von Faktoren wirksam, die die individuellenEntwicklungs- und Bildungsmöglichkeiten des Kindesebenso wie die familiären Ressourcen, dem Kind ange-messene Entwicklungs- und Bildungsgelegenheiten zubieten, begrenzen oder erweitern.

(a) Temperaments-Eigenschaften

In seiner frühesten Lebensphase entwickelt sich das Kindin einer dichten sozialen und emotionalen Interaktion mitseinen Eltern bzw. mit anderen betreuenden Personen,und es bringt sich dabei von Anfang an als ein individuel-les Wesen mit individuellen Anlagen und Reaktionsfor-men ein. Unterschiedliche Temperaments-Eigenschaftenlassen sich häufig bereits zum Zeitpunkt der Geburt fest-stellen. „Üblicherweise werden drei Temperamentskate-gorien bei Neugeborenen unterschieden: irritierbare,schwer aufwärmbare und ‚einfache’ Temperamente“(Dornes 1999, S. 31).

Säuglinge und Kleinkinder, die Kombinationen von Tem-peraments-Eigenschaften aufweisen, die als „schwieri-ges“ oder „langsam auftauendes“ Temperament bezeich-net worden sind, haben ein erhöhtes Risiko, im Laufe derKindheit psychische Störungen wie Störungen des Sozial-verhaltens, Angst- und Anpassungsstörungen zu entwi-ckeln (Zentner 1993). Über ein „einfaches“ Temperamentzu verfügen, stellt einen unmittelbaren Entwicklungsvor-teil dar, weil die Persönlichkeitseigenschaften solcherNeugeborenen den Umgang mit ihnen einfacher, ange-nehmer und lustvoller gestalten sowie zu förderlichen po-sitiven Rückmeldungen und Interaktionsspiralen zwi-schen dem Kind und seiner Familie führen, die sich imLaufe der Entwicklung stabilisieren und später auch au-

115 Zum DJI-Familiensurvey vgl. Glossar.116 Reziprozität = wechselseitig aufeinander bezogene Kommunikation

und Interaktion

Page 125: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 115 – Drucksache 15/6014

ßerhalb des familialen Beziehungsnetzes positiv wirksamwerden (Dornes 1999).

Die Deutung, wann ein Kind ein als eher günstig oder un-günstig wahrgenommenes Temperament besitzt, ist vonden sozio-kulturellen Bedingungen abhängig, die den An-passungskontext bestimmen. Was beispielsweise in einerKultur, in der kein geregeltes und stressreiches Lebens-und Arbeitsprogramm existiert, als normale Verhaltens-äußerung des Kindes aufgefasst wird, kann in einem an-deren kulturellen Kontext als unangepasstes, problemati-sches Verhalten gedeutet werden (Vyt 1993).

(b) Geschlechterdifferenz

Die Ausformung einer Geschlechtsidentität ist der Pro-zess der biografischen Auseinandersetzung mit den Vor-gaben sowie den „Spiel“räumen in einer gesellschaftli-chen Kultur der Zweigeschlechtlichkeit. Sie ist elementarfür die Lebensphase der Kindheit und ein „je individuel-ler Prozess der Konstruktion der eigenen Geschlechtlich-keit“ (Expertise Rabe-Kleberg, S. 9).117

Neuere Ergebnisse der Hirnforschung tragen zu dieserSichtweise den Aspekt bei, dass am Anfang der Hirnent-wicklung in geschlechtlicher Hinsicht keine „Tabularasa“ besteht. Die Gehirne von Mädchen und Jungen sindvon Anfang an eher „weiblich“ oder eher „männlich“ aus-gerichtet, in der Realität tritt jedoch beides immer alsMischform auf (ebd.).

In der Interaktion mit den Eltern oder anderen nahen Be-zugspersonen bringen Jungen und Mädchen von Geburtan ihre unterschiedlichen Dispositionen zur Geltung.Mädchen signalisieren vom ersten Tag an eine höhereKontaktbereitschaft und größere Nähe, reagieren sensib-ler auf Emotionsäußerungen. Diese Reaktionen werdenspezifisch durch menschliche Stimmen hervorgerufen.Jungen im Säuglingsalter hingegen signalisieren wenigersoziales Interesse, halten weniger Augenkontakt. Sie kön-nen die affektive Regulation weniger aufrechterhalten alsMädchen, lächeln weniger, sind irritierbarer, schreienmehr und lassen sich schlechter beruhigen (Weinbergu. a. 1999). Durch ihre höhere emotionale Labilität rufensie zwar höhere Aufmerksamkeit hervor, die Interaktio-nen sind jedoch schwieriger und nehmen leichter einen„kritischen Verlauf“, wobei sie damit wahrscheinlich hö-here Anforderungen an die Bezugspersonen stellen (Bi-schof-Köhler 2002).

Die Eltern ihrerseits gehen mit Jungen und Mädchennicht nur unterschiedlich um, ihr Verhalten ist auch inAbhängigkeit von ihrem eigenen Geschlecht unterschied-lich. „Es lässt sich (...) so etwas wie ein mütterlicher undein väterlicher Verhaltensstil ausmachen, der zwar durchdas Geschlecht des Kindes dann noch weiter modifiziertwird, in dem sich die Eltern selbst aber bereits recht deut-lich voneinander abheben“ (Bischof-Köhler 2002, S. 88).Während bei den Vätern körperliche Aktivitäten, robuste

Bewegungsspiele und aufregende, das Explorationsver-halten anregende Spiele dominieren, reden Mütter vielmit ihren Kindern, belehren sie, lesen ihnen vor und set-zen Spielzeug ein, um sie anzuregen (Bischof-Köhler2002).

Ein bewusst das Geschlecht differenzierendes Erzie-hungsverhalten erscheint geradezu notwendig, um beibeiden Geschlechtern zu einer gelingenden Entwicklungbeizutragen (ebd.). In Kindertageseinrichtungen, wo sichfast ausnahmslos Frauen mit der Betreuung und Erzie-hung der Kinder befassen118, neigen die Erzieherinnendazu, Geschlechtsdifferenzen zu negieren oder zu überse-hen, und auch männliche Erzieher scheinen dazu beizu-tragen, bei beiden Geschlechtern ein eher dem femininenStereotyp entsprechendes oder geschlechtsneutrales Ver-halten zu loben und dadurch zu verstärken. Während ru-higes Spiel sowohl von männlichen als auch weiblichenErziehern bevorzugt wird, werden die als typisch jungen-haft geltenden Verhaltensweisen wie Aggressivität, wil-des Spiel und Raufen als störend empfunden und gegebe-nenfalls negativ sanktioniert.

(c) Behinderungen

Mit dem Begriff der Behinderung war bis weit in die60er-Jahre des 20. Jahrhunderts hinein überwiegend einmedizinisches Verständnis verbreitet, nach dem Behinde-rung Ausdruck eines Defektes ist, der das Individuum da-ran hindert, wesentliche Sozialisationsziele zu erreichen.Auch die Förderung der als behindert eingestuften Kinderwar dementsprechend defektorientiert (Beck 2002). Eineneuere Sichtweise von Behinderung stellt demgegenüberden Aspekt der erschwerten sozialen und gesellschaft-lichen Teilhabe in den Vordergrund und drängt auf ver-stärkte Integration. Behinderungen gelten nach diesemVerständnis „als erhebliche Partizipationserschwernisse,die mit länger andauernden, umfänglichen Beeinträchti-gungen von Aktivitäten und/oder Impairments einherge-hen und besondere Hilfen erforderlich machen“ (Beck2002, S. 187). Ob sich Impairments (Schädigungen) oderBeeinträchtigungen zu Behinderungen erweitern, hängtzum einen vom Individuum ab, ferner von seinen Erfah-rungen, Kompetenzen, physischen und psychischen Dis-positionen, von der Art und Schwere der Beeinträchtigun-gen, von den subjektiv und objektiv erlebten Belastungenund eigenen Sinnperspektiven, zum anderen von der ge-sellschaftlichen und sozialen Umwelt, die wesentlich be-einflusst, in welchem Ausmaß Unterstützung und Hilfe-stellung für den Kompetenzerwerb und die Entwicklungvon Handlungsstrategien gegeben werden und von wel-chen Einstellungen und Erwartungen die Interaktionengetragen sind (ebd.).

In Deutschland existieren keine belastbaren repräsentati-ven Daten über die Anzahl von Kindern, die mit Behinde-rungen leben. Die Schwerbehindertenstatistik, die ledig-lich Behinderungen mit einem Grad von 50 Prozent und

117 Eine Übersicht über den Forschungsstand bieten Baron-Cohen(2004); Eliot (2001); Maccoby (2000); vgl. hierzu auch Rabe-Kleberg (Expertise).

118 In Kindertageseinrichtungen sind 97,5 Prozent des pädagogischenPersonals weiblich (Expertise Rabe-Kleberg).

Page 126: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 116 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

mehr erfasst, kann nur bedingt herangezogen werden,denn Kinder sind hier generell unterrepräsentiert. So wer-den viele Schädigungen im frühen Alter noch nicht er-kannt, und selbst gravierende Phänomene werden nichtals Behinderung eingestuft. Darüber hinaus sind viele so-zialstaatlichen Leistungen für Kinder nicht in gleicherWeise wie bei Erwachsenen von der amtlichen Anerken-nung als „schwerbehindert“ abhängig, so dass kein An-reiz auf amtliche Feststellung besteht und diese Behinde-rungen auch nicht in der Statistik geführt werden(Schubert u. a. 2004). Schätzungen hinsichtlich der An-zahl von behinderten Kindern lassen sich vornehmen,wenn die amtliche Statistik über Schwerbehinderte, dieSchulstatistik (im Hinblick auf Sonderschulen), die Ein-richtungen, die behinderte Kinder betreuen, sowie dieAnzahl der Kinder, bei denen ein Förderbedarf festge-stellt wurde, zusammen herangezogen werden. In der Al-tersgruppe der 0- bis 6-jährigen Kinder ist von rund200 000 als behindert einzuschätzenden Kindern auszu-gehen (Beck 2002). Diese Schätzungen sind jedoch alsuntere Grenze anzusehen, da die psychisch behindertenKinder sowie die „von Behinderung bedrohten“ nicht miteinbezogen sind.

Fundamentale Entwicklungsfähigkeiten und Behinde-rung: Am Anfang seiner Entwicklung entfaltet das Kindfundamentale Fähigkeiten, die all seinen Denkprozessenund sozialen Interaktionen zugrunde liegen und die Basisseines Selbstwertgefühls bilden. Da diese Fähigkeiten aufden ersten emotionalen Interaktionen beruhen, sind sie alsfunktionelle emotionale Fähigkeiten zu verstehen. Jedesteht für einen neuen Schritt in der Entwicklung, und allehöheren Ebenen des Denkens und Problemlösens bauenauf diesen fundamentalen Fähigkeiten auf (Greenspan/Wieder 2001). Zu diesen Fähigkeiten gehört, Interesse ander sichtbaren, hörbaren und fühlbaren Welt zu nehmenund sich selbst beruhigen zu können (Selbstregulierungs-fähigkeit), sich auf Beziehungen zu anderen Menscheneinzulassen, eine komplexe Gestik zu entwickeln undmehrere Handlungen zu einer gezielten Problemlösungs-sequenz zu verknüpfen, Ideen und Vorstellungen zu ent-wickeln und diese in der Realität zu verankern.

Normalerweise gelingt dem Kind der Erwerb dieser Fä-higkeiten in früher Kindheit, doch hängt dieser davon ab,ob neurologische Stärken oder Schwächen des Kindessein Funktionsvermögen fördern oder hemmen, ob seineInteraktionsmuster die Beziehung zu Eltern und anderenPersonen seiner Umgebung erleichtern oder erschwerenund ob die Verhaltensmuster in der Familie förderlichenoder hinderlichen Einfluss ausüben.

Physiologische Beeinträchtigungen stellen ein Hindernisfür das Kind dar, sich die Welt in einem „normal“ fort-schreitenden Entwicklungsprozess in Interaktionen mitseiner Umwelt anzueignen. Solche physiologischen Be-einträchtigungen sind durch Störungen der sensorischenReaktivität (hohe oder niedrige Reizschwelle), Störungender Verarbeitung von Sinnesdaten und Störungen bei derHerausbildung und Abfolge oder bei der Planung von Re-aktionen (Schwierigkeiten, den Körper zielgerichtet zubewegen) gegeben. Sie erschweren es dem Kind, Bezie-

hungen zu seinen Eltern oder Betreuungspersonen aufzu-bauen und mit ihnen zu kommunizieren, wodurch seineLern-, Reaktions- und Entfaltungsmöglichkeiten behin-dert werden. Die Interaktionen von Seiten des Kindessind von seinen neurologischen, physiologischen Beein-trächtigungen geprägt, haben ihrerseits aber auch Auswir-kungen auf das Verhalten der Eltern ihrem Kind gegen-über.

Individuelle Förderung behinderter Entwicklung: DieFörderung von behinderten Kindern unterscheidet sich jenach zugrunde liegender Auffassung von Behinderungdarin, welche prinzipiellen Entwicklungsmöglichkeitenerwartet werden. Werden Kinder, die besondere Förder-bedürfnisse haben, über ihre „Defekte“ und Krankheits-syndrome definiert, so werden auch Prognosen gestellt,die Aussagen über die Begrenztheit ihrer Entwicklungs-möglichkeiten machen. Erwartungen, die mit der Pro-gnose einhergehen, wirken auf das Kind zurück und be-einflussen seinen Entwicklungsverlauf. Prozesse deskulturellen Zurückbleibens, wie sie beispielsweise beigeistiger Behinderung entstehen, sind demnach weit mehrauf eine fehlende ökologische Passung des sozialen Kon-textes zurückzuführen als auf veränderte Natureigen-schaften des behinderten Kindes. Die Entwicklung derhöheren psychischen Strukturen ist auf sozialen und emo-tionalen Austausch angewiesen. Dadurch, dass das kultu-relle Zurückbleiben häufig mit Entwicklungsproblemender Sprachproduktion verbunden ist, sind Behinderteschnell von anregenden Entwicklungskontexten abge-schnitten (Jantzen 2002). Behinderte Kinder bedürfen da-her einer Förderung, die auf die individuellen Entwick-lungsbedürfnisse des jeweiligen Kindes eingeht und esaus dem Wissen um die Entwicklungs- und Bildungspo-tenziale der frühen Kindheit heraus anregt und unter-stützt.

Familialer Kontext der Entwicklung behinderter Klein-kinder: Intimität, emotionale Bindungen sowie ein spezi-fisches Norm- und Wertgefüge sind Merkmale der Fami-lie, die auch dem behinderten Kind einen verlässlichenRahmen für seine physische, kognitive, emotionale undsoziale Entwicklung bieten können. Inwieweit dies tat-sächlich gelingt, hängt zum einen von den internen psy-chischen Dispositionen und innerfamiliären Prozessen,zum anderen von den objektiven Lebensbedingungen derFamilien ab. Behinderte Kinder stellen Stressoren für dasFamiliensystem dar, beanspruchen die emotionalen undsozialen Kapazitäten der Familie in besonderem Maße(Jantzen 2002). Da bei geringen sozio-ökonomischenRessourcen Problemlagen in der Regel kumuliert auftre-ten, sind sozial benachteiligte Familien oft in vielfältigerWeise innerfamiliär, gesundheitlich sowie von den Wohn-bedingungen her belastet.

Die Chancen behinderter Kleinkinder, im Rahmen der Fa-milie ausreichende Entwicklungsförderung zu erhalten,sind unter den vielfältigen Beeinträchtigungen, die mitsozialer Benachteiligung einhergehen, eingeschränkt. Soist die Inanspruchnahme der von der Gesetzlichen Kran-kenversicherung (GKV) getragenen Früherkennungsun-tersuchungen U 1 bis U 9 für das Säuglings-, Kleinkind-

Page 127: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 117 – Drucksache 15/6014

und Vorschulalter gerade in der unteren Sozialschicht undin ausländischen Familien unbefriedigend (Schubert u. a.2004). Während in den ersten beiden Lebensjahren desKindes (U 3 bis U 7) die Inanspruchnahme noch bei90 Prozent liegt, finden die späteren Untersuchungen(U 8 und U 9) deutlich geringeren Zuspruch. Geradediese Untersuchungen sind im Hinblick auf Entwick-lungsverzögerungen und Behinderungen jedoch beson-ders wichtig. Eine beschleunigte Früherkennung, ins-besondere bei geistiger Behinderung, erheblicherEntwicklungsverzögerung, Hör- und Sehstörungen, er-möglicht eine rechtzeitige Förderung, um auch dem be-hinderten Kind dabei zu helfen, seine fundamentalen Ent-wicklungsfähigkeiten zu entfalten (Beck 2002).

(d) Resilienz (Widerstandsfähigkeit)119

Ergebnisse der Risikoforschung haben gezeigt, dass mitGefährdungen und Belastungen in den Lebensbedingun-gen der Kinder dauerhafte Beeinträchtigungen der kindli-chen Entwicklung einhergehen (Laucht u. a. 2000). Zumeinen gelten bestimmte biologische und psychologischeMerkmale des Individuums als Entwicklungsgefährdung(z. B. genetische Belastungen, geringes Geburtsgewicht,schwieriges Temperament), zum anderen psychosozialeMerkmale der Umwelt (z. B. materielle Notlagen, Krimi-nalität, psychische Erkrankung eines Elternteils, niedrigesBildungsniveau).

Nicht alle Kinder, die in der frühen Kindheit Risiken aus-gesetzt sind, durchlaufen Entwicklungswege, die mitnachteiligen Folgen oder Störungen verbunden sind.Viele zeigen in einem höheren Alter eine ganz normale,manchmal sogar eine besonders günstige Entwicklung.Schlechte Ausgangsbedingungen zwingen also keines-wegs dazu, Risikokindern eine schlechte Prognose zustellen (Wustmann 2004). Es müssen vielmehr die indivi-duell gegebenen Möglichkeiten der Bewältigung von Sei-ten des Kindes mit berücksichtigt werden. Diese hängenmaßgeblich mit den das Risiko mildernden bzw. schüt-zenden, protektiven Bedingungen der Eigenschaften desKindes und seiner sozialen Umwelt zusammen. SolcheFaktoren sind nicht lediglich die Kehrseite von das Risikoerhöhenden Faktoren. Ein guter familiärer Zusammenhaltbeispielsweise ist nicht für sich genommen bereits einSchutzfaktor in der Entwicklung des Kindes, sondern zu-nächst „nur“ als eine entwicklungsförderliche Bedingungseines Aufwachsens zu verstehen. Familiärer Zusammen-halt wird zum Schutzfaktor dann, wenn Risikoeffektedurch ihn abgemildert oder völlig aufgehoben werden,bzw. wenn eine Gefährdung vorliegt und diese durch denschützenden Faktor abgepuffert wird.

Bei den das Risiko mildernden Bedingungen lassen sichdrei Einflussebenen unterscheiden (Scheithauer/Peter-mann 1999; zit. nach Wustmann 2004, S. 46):

– „Kindbezogene Faktoren (personale Ressourcen; Ei-genschaften, die das Kind beispielsweise von Geburtan aufweist, wie ein positives Temperament);

– Resilienzfaktoren (Eigenschaften, die das Kind in derInteraktion mit seiner Umwelt sowie durch die erfolg-reiche Bewältigung von altersspezifischen Entwick-lungsaufgaben im Verlauf erwirbt; diese Faktorenspielen bei der Bewältigung von schwierigen Le-bensumständen eine besondere Rolle, z. B. ein positi-ves Selbstwertgefühl, Selbstwirksamkeitsüberzeugun-gen, aktives Bewältigungsverhalten);

– Umgebungsbezogene Faktoren (Merkmale innerhalbder Familie und im weiteren sozialen Umfeld des Kin-des, z. B. eine stabile emotionale Beziehung zu einerBezugsperson, Modelle positiven Bewältigungsver-haltens).“

Als resilient eingestufte Kleinkinder fielen nach den Er-gebnissen der bisher größten Längsschnittstudie zur Resi-lienz (Kauai-Studie, Werner 1999) im Alter von 2 Jahrendurch ihr selbstständiges und selbstbewusstes, nach Auto-nomie strebendes Verhalten sowie durch ihre gut entwi-ckelten Kommunikations- und Bewegungsfähigkeitenauf. Darüber hinaus zeigten sie aber auch die Fähigkeit, inschwierigen Situationen Hilfe zu erbitten. Sie waren indas Spiel mit Gleichaltrigen gut integriert, zeigten Neu-gier und Explorationsverhalten. Von ihrem Temperamenther wiesen sie Merkmale des „einfachen Temperamentes“auf, die nicht nur genetisch günstigere Entwicklungsbe-dingungen bedeuten, sondern auch bei ihren Bezugsper-sonen positive Reaktionen auslösen (Wustmann 2004;Werner 1999). Die meisten resilienten Kinder entwickelnein sicheres Bindungsverhalten. Damit geht eine größereKompetenz einher, mit emotionalen Belastungen umzu-gehen, was eine gute Voraussetzung für ein erfolgreichesBewältigungsverhalten darstellt (Wustmann 2004). DieSchulbildung der Mutter erwies sich als wichtiger Schutz-faktor, denn sie beeinflusst maßgeblich den Umgang derMutter mit ihrem Baby und Kleinkind (Werner 1999).

Die große Bedeutung einer stabilen und positiven Primär-beziehung wird auch durch die Ergebnisse der Mannhei-mer Risikokinderstudie gestützt (Laucht u. a. 2000,1999). Gute Entwicklungschancen haben Säuglinge, de-ren frühe Bezugspersonen sich feinfühlig verhalten undmit einem Respons auf die kindlichen Signale eingehen.Doch auch das Interaktionsverhalten des Kindes nimmtEinfluss auf den Entwicklungsverlauf. So entwickeltensich sehr kleine, zu früh geborene Kinder bis zum Grund-schulalter deutlich günstiger, wenn sie im Kontakt mit derMutter häufiger lächelten und längeren Blickkontakt auf-nahmen als weniger positive und kontaktbereite Frühge-borene (Laucht u. a. 2000).

Schützende Bedingungen summieren sich ebenso wie Ri-sikobelastungen in ihren Effekten und verstärken sich ge-genseitig. Ein Kind, das in seiner Umwelt gute Bindungs-beziehungen zu wichtigen Bezugspersonen aufbauen

119 Von Resilienz – oder auch Widerstandsfähigkeit – wird gesprochen,wenn die kindliche Entwicklung durch signifikante Bedrohungen ge-fährdet ist und die belastenden Lebensumstände erfolgreich bewältigtwerden. Resilienz beschreibt einen dynamischen Prozess (Wustmann2004; Jantzen 2002), in dem die Erfahrungen gelungener Bewälti-gung von Belastungen ebenso wirksam werden wie positive Bin-dungsbeziehungen zu Bezugspersonen (Laucht u. a. 2000).

Page 128: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 118 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

konnte, Verlässlichkeit und Wertschätzung erfährt, wirdsich selbst als wertvoll und kompetent erleben, ein positi-ves Selbstbild und ein erhöhtes Gefühl der Selbstwirk-samkeit entwickeln. Diese Kinder sind im weiteren Ent-wicklungsverlauf auch in der Lage, zu anderen Menschenzwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen und so-ziale Unterstützung zu erlangen. Eine solche Kumulationvon risikomindernden Bedingungen kann im Fall widri-ger Lebensumstände dazu beitragen, Stressereignisse undProblemsituationen als weniger belastend zu erleben so-wie Fähigkeiten zu ihrer Bewältigung zu entwickeln(Wustmann 2004; Laucht u. a. 2000).

3.4.2 Einfluss besonderer Lebenslagen Die Lebenslagen von Kindern unterscheiden sich erheb-lich, je nach familialem Hintergrund, nach Bildungstand,sozio-ökonomischer Lage, kultureller und ethnischer Zu-gehörigkeit sowie regionalen Gegebenheiten. Eine Viel-zahl von Dimensionen bestimmen dabei die Lebenslagen,insbesondere das Bildungs- und Ausbildungsniveau, derErwerbsstatus, die Gesundheit, die Wohnsituation unddas Wohnumfeld, die Familiensituation und die sozialenNetzwerke sowie das Einkommen und Vermögen.

(a) Einkommensarmut120

Da ein zentrales Merkmal von Armut die Einkommens-armut ist und die Vergabe von Sozialhilfe an die Einkom-menssituation gebunden ist, kann die Sozialhilfequote alsein Armutskriterium gelten (Bundesministerium für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend [BMFSFJ] 1998).Die Sozialhilfequote von Kindern ist umso höher, je jün-ger diese sind (Bundesministerium für Gesundheit undSoziale Sicherung [BMGS] 2005).121 Kinder sind damitvon allen Altersgruppen in Deutschland anteilsmäßig amstärksten vom Armutsrisiko betroffen.

Sozialhilfebezug von Familien bedeutet nicht nur, dassihr eingeschränkte ökonomische Ressourcen zur Verfü-gung stehen, Sozialhilfebezug beruht oft auch auf einge-schränkten sozialen und kulturellen Ressourcen. Das Bil-dungsniveau der Sozialhilfeempfänger liegt deutlichunter dem durchschnittlichen Bildungsniveau der Bevöl-kerung (niedrigere schulische Bildungsabschlüsse, häufi-ger keine abgeschlossene Berufsausbildung). Dies kann– unabhängig von der Einkommenslage – zu einer mehr-dimensionalen Unterversorgung führen, die sich in viel-facher Hinsicht auswirkt und auf die Entwicklungs- undBildungsbedingungen von Kindern durchschlägt(BMFSFJ 1998). Es hängt zwar auch von den Persönlich-keitsmerkmalen und der Art des Bewältigungsverhaltensder Betroffenen ab, wie sich Armutsbedingungen auf die

familialen Ressourcen und die Entwicklungsbedingungender Kinder auswirken (Walper 1999), doch bedeutet Ein-kommensarmut ein erhöhtes Entwicklungsrisiko für Kin-der, denn die Auswirkungen von Armut sind „nicht vonden Einflüssen der Zugehörigkeit zu einer bestimmtenBildungsschicht oder zu einem sozialen Milieu zu tren-nen“ (Klocke 2001). Kinder aus einkommensarmen El-ternhäusern haben einen erschwerten Zugang zur kultu-rellen und sozialen Welt bzw. geringere Chancen zumAufbau von kulturellem und sozialem Kapital (Bourdieu1983) – auch dann, wenn an den Sozialhilfebezug Zusatz-leistungen geknüpft sind, die die soziale und kulturelleTeilhabe ermöglichen sollen (BMGS 2005, S. 73).

Armut als solche muss keine unmittelbare Beeinträchti-gung für das Wohlbefinden von Kindern bedeuten, dochindirekt kann sie die Bedingungen familialer Interaktionverschlechtern und somit das Wohlsein der Familienmit-glieder beeinträchtigen. Es sind vor allem das fehlendematerielle und soziale Unterstützungspotenzial sowie diehohen zeitlichen Belastungen der Mütter und Väter, diebei eingeschränkten Strategien der Bewältigung zu einernachteiligen Veränderung der Familiendynamik führen.Insbesondere kleine Kinder werden stärker vom Interak-tions- und Erziehungsklima der Familie beeinflusst alsvon Lebenslagenfaktoren wie der sozio-ökonomischenPosition der Familie (Walper 1999).

Der Frage, wie sich Einkommensarmut im Vorschulalterauf die Entwicklung der Kinder im Vergleich zu Kindernaus ökonomisch besser gestellten Familien auswirkt, bil-det das „Kernstück“ einer Untersuchung, die vom Institutfür Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) in Frankfurtdurchgeführt wurde und die den Gesamtverband der Ar-beiterwohlfahrt (AWO) mit allen relevanten Einrichtun-gen und Fachkräften in Ost- und Westdeutschland einbe-zog (AWO 2000; Hock u. a. 2000a, 2000b). Die Studiestellte in den westdeutschen Einrichtungen und Dienstender AWO ein Viertel als arm und drei Viertel als nichtarm zu bezeichnende Kinder fest. In den ostdeutschenEinrichtungen entsprach fast ein Drittel der Kinder demKriterium „arm“ und etwas über zwei Drittel dem Krite-rium „nicht arm“.122 Die Armutsbetroffenheit ist umsogrößer, je höher die Problembelastung des Umfeldes derEinrichtungen, je höher die Arbeitslosenquote, Sozialhil-fequote und je schlechter die Wohnqualität ist.123

Vorschulkinder in einkommensarmen Elternhäusern müs-sen in vier Dimensionen Einschränkungen hinnehmen(AWO 2000):

120 Zur Definition von Armut und Armutsbetroffenheit von Kindern inDeutschland vgl. Kapitel 1.

121 Die Sozialhilfestatistik bildet das tatsächliche Ausmaß der Kinderar-mut jedoch nur unzureichend ab, da ein Teil der Berechtigten seinenAnspruch auf Sozialhilfe nicht realisiert, sodass eine größere Anzahlvon Kindern in verdeckter Armut aufwächst (Hock u. a. 2000b).Durch die Zusammenführung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfeim neuen Arbeitslosengeld II (ALG II) seit dem 1. Januar 2005 ergibtsich in dieser Hinsicht eine neue Konstellation.

122 Als definitorische Abgrenzung wurde in der Studie für „arme Kin-der“ Folgendes festgelegt: „Von ‚Armut’ wird immer und nur danngesprochen, wenn ‚familiäre Armut’ vorliegt, das heißt, wenn dasEinkommen der Familie bei maximal 50 Prozent des deutschenDurchschnittseinkommens liegt. Kinder, bei denen zwar Einschrän-kungen beziehungsweise eine Unterversorgung in den genannten Le-benslagendimensionen festzustellen sind, jedoch keine familiäre Ar-mut vorliegt, sind zwar als ‚arm dran’ oder als benachteiligt zubezeichnen, nicht jedoch als ‚arm’“ (AWO 2000, S. 29).

123 Zu beachten ist, dass es sich hierbei um keine repräsentative Studiehandelt, sondern um ein Spiegelbild einer auf die Einrichtungen be-zogenen Stichprobe. Aber auch diese skizziert eine reale Lage vonKindern und ihren Familien.

Page 129: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 119 – Drucksache 15/6014

– Im Bereich der Grundversorgung lassen sich bei übereinem Drittel Mängel nachweisen (regelmäßig und un-regelmäßig anfallende Kosten für Ernährung werdennicht oder nicht regelmäßig bezahlt; Kind kommthungrig und ungepflegt in die Einrichtung, nimmt ausfinanziellen Gründen nicht an den Mahlzeiten teil, be-sitzt nicht die notwendige Bekleidung).

– Dies trifft auch auf den kulturellen Bereich zu: Eben-falls über ein Drittel der armen Kinder ist im Hinblickauf Spielverhalten, Sprachverhalten und Arbeitsver-halten auffällig. Die letztgenannten großen Unter-schiede im kulturellen Bereich machen deutlich, dassarme Vorschulkinder mit geringerer Wahrscheinlich-keit den regulären Übertritt in die Regelschule schaf-fen als Kinder aus nicht armen Verhältnissen.

– Auch im sozialen Bereich sind arme Kinder zu übereinem Drittel benachteiligt. Arme Kinder sind wenigerwissbegierig, äußern weniger ihre Wünsche, nehmenweniger am Gruppengeschehen teil und haben weni-ger Kontakt zu anderen Kindern der Gruppe.

– Die Unterschiede im gesundheitlichen Bereich sindzwischen armen und nicht armen Vorschulkindernzwar am wenigsten stark ausgeprägt, doch sind die ar-men Kinder auch in dieser Beziehung deutlich benach-teiligt (AWO 2000; Hock u. a. 2000b). So kommenEinnässen und motorische Auffälligkeiten, ein Zu-rückbleiben in der körperlichen Entwicklung, chroni-sche Erkrankungen und Kranksein überhaupt weithäufiger in der Gruppe der armen Kinder vor (Hocku. a. 2000b).

Benachteiligung oder multiple Deprivation124 sind nichtautomatisch die Folge von Einkommensarmut, auch sinddie Grundversorgung, die Förderung kultureller und so-zialer Kompetenzen sowie die gesunde Entwicklung vonKindern unter Armutsbedingungen nicht automatisch ge-fährdet. Ein gutes Familienklima und gemeinsame Akti-vitäten der Familie beeinflussen die Entwicklungs- undBildungsbedingungen armer Kinder positiv. In diesemKontext erwies sich – den Ergebnissen der ISS-Studieentsprechend – als stärkster Einflussfaktor, und damit alsbedeutsamster für die Entwicklung von Auffälligkeiten,das Ausmaß, in dem die Eltern sich kindzentriert verhiel-ten und Zeit mit ihren Kindern in Form von gemeinsamenAktivitäten verbrachten (AWO 2000).

Armut ist ein wichtiger, aber nur ein Faktor, der die Le-benslage eines Kindes bestimmt. Bei der Untergruppe derKinder, die trotz Armut im Wohlergehen leben, lassensich förderliche Voraussetzungen ausmachen, die den mitArmut einhergehenden Auswirkungen entgegenwirkenkönnen. Als „Schutzfaktoren“ wirken sich Kenntnisse derdeutschen Sprache bei zumindest einem Elternteil, keineÜberschuldung, ausreichend gute Wohnbedingungen, gu-

tes Familienklima mit geringen Streitigkeiten sowie re-gelmäßige gemeinsame Aktivitäten der Familie aus(AWO 2000). „Mit Blick auf die gesamte Lebenslage desKindes erweist sich (...) unter anderem das Ausmaß angemeinsamen familiären Aktivitäten als ein wichtigerFaktor für die Entwicklung des Kindes im Vorschulalter.Dies gilt für arme, aber auch für nicht arme Kinder“(AWO 2000, S. 56).

(b) Migration125

Die Entwicklungsbedingungen von Migrantenkindernsind in der frühen Kindheit u. a. durch folgende Charakte-ristika gekennzeichnet (BMFSFJ 2000a, S. 88ff.):

– Die mit der Migration verbundenen besonderen Be-dingungen von Ehe und Familiengründung könnensich sowohl auf die innerfamiliären Beziehungen alsauch auf die Sozialisationsbedingungen der Kinder be-lastend auswirken. Migrantinnen und Migranten so-wohl der ersten als auch der zweiten Zuwanderergene-ration, die – was häufig der Fall ist – einen Ehepartnerin der Herkunftsgesellschaft suchen, sind im Hinblickauf Partneranpassung und Familienbildungsprozessoftmals mit besonderen Problemen konfrontiert. Fami-lien, in denen die Frauen die Erstwanderer waren(13 Prozent gegenüber 76 Prozent Familien mit männ-lichen Pionierwanderern; Özel/Nauck 1987; zit. nachBMFSFJ 2000a, S. 92), erwiesen sich als besonderskonfliktanfällig. Gemeinsam zugewanderte Familienhaben sehr viel günstigere Voraussetzungen, dieSchwierigkeiten des Eingliederungsprozesses sowiedie Eigendynamik der Veränderungen inner- und au-ßerfamilialer Aufgabenverteilung und Kompetenzenauszubalancieren.

– Der Wert, der Kindern beigemessen wird, unterschei-det sich nach jeweiliger Nationalität und nimmt unter-schiedlich Einfluss auf die Erziehungsziele und Sozia-lisationspraktiken der Eltern. Obwohl grundsätzlichbei allen Nationalitäten der psychologisch-emotionaleWert stärkere Zustimmung erfährt als der ökonomisch-utilitaristische, ist letzterer in vietnamesischen und tür-kischen Familien jedoch stärker ausgeprägt als in deut-schen, italienischen und griechischen Familien. Dasbedeutet jedoch nicht, dass der psychologisch-emotio-nale Wert eine geringere Bedeutung hat. Anders als indeutschen Familien, in denen die Generationsbezie-hungen „auf die emotionale Dimension spezialisiert“sind (BMFSFJ 2000a, S. 98), haben die Generationsbe-ziehungen in vietnamesischen und türkischen Familieneher einen multifunktionalen Charakter. Der ökono-misch-utilitaristische Wert von Kindern verbindet sichzweckmäßigerweise mit Sozialisationspraktiken, dieauf lebenslange Loyalität und Engagement des Kindesfür seine Eltern abzielen. Elterliche Behütung undKontrolle sowie die Betonung des kindlichen Gehor-sams haben einen höheren Stellenwert. Auf Kinder als124 Benachteiligung liegt dann vor, wenn in einigen wenigen Lebens-

und Entwicklungsbereichen des Kindes „Auffälligkeiten“ vorliegen;von „multipler Deprivation“ ist die Rede, wenn in zentralen Lebens-und Entwicklungsbereichen Beeinträchtigungen gegeben sind (AWO2000).

125 Zur Situation von Migrantenfamilien in Deutschland vgl. auch Kapi-tel 1, insbesondere Abschnitt 1.3.2.

Page 130: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 120 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

psychologisch-emotionalen Wert richten sich hingegenErwartungen, die in Richtung Unabhängigkeit, Indivi-dualismus und Selbstständigkeit zielen, die hier zu er-wartenden Erziehungspraktiken haben somit die Auto-nomie des Kindes als normative Vorgabe.

– Die kulturell unterschiedlich geprägten Wertvorstel-lungen hinsichtlich von Kindern strukturieren auch denUmgang mit Kleinkindern sowie die frühkindlichenPflegepraktiken (Betreuungsformen) unterschiedlich.Gesellschaften mit utilitaristischer Orientierung neh-men eine eher gewährende Haltung zu ihren Kindernein und sind weniger daran interessiert, deren frühzei-tigen Erwerb von Fertigkeiten und Kenntnissen zu un-terstützen. Während Gesellschaften mit einer eher psy-chologisch-emotionalen Werthaltung hinsichtlich ihrerKinder zunehmend die kindlichen Bedürfnisse wahr-nehmen, lässt sich in Gesellschaften mit ökonomisch-utilitaristischen Erwartungen an Kinder – dies belegenStudien mit türkischen Migrantenfamilien – eine Ten-denz zur Rationalisierung in der Mutter-Kind-Bezie-hung, insbesondere der frühkindlichen Pflegepraktikenfeststellen.

Familien mit Migrationshintergrund aus Kulturen mit so-ziozentrischer Ausrichtung sind in umfassendere sozialeNetzwerke eingebunden, in denen Verwandte, aber auchBekannte und Nachbarn eine besondere Rolle spielen.Man spricht von Familismus, wenn Familienbeziehungen„sowohl durch ein tiefes Gefühl von Loyalität, Reziprozi-tät und Solidarität gegenüber den anderen Familienmit-gliedern als auch durch das Bewusstsein, dass die Familieeine Erweiterung des Selbst darstellt“, gekennzeichnetsind (Leyendecker 2003, S. 406). Familismus, insbeson-dere die Mitbetreuung der Kinder durch Verwandte, kannals ein positiver Faktor gelten, der die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung unterstützt (Leyendecker 2003), kannaber auch mit der Gefahr des Scheiterns in der Umge-bungskultur verbunden sein.

Aufgrund anderer kultureller Wurzeln der Migrantenfa-milien aus soziozentrischen Gesellschaften unterscheidensich die Vorstellungen hinsichtlich des Erziehungsverhal-tens gegenüber Säuglingen und Kleinkindern zum Teilganz erheblich von denen europäischer Kulturen. So sindZuwendung, Zärtlichkeit und Nachsichtigkeit gegenüberVerfehlungen in der Säuglings- und Kleinkindphasekennzeichnend für islamische (insbesondere türkische)Familien, die das vergleichsweise strenge Verhalten deut-scher Eltern ihren Kleinkindern gegenüber eher als Lieb-losigkeit deuten (Leyendecker 2003). Die Forderung nachstriktem Gehorsam taucht in der Erziehung türkischer Fa-milien nur sehr graduell auf und wird zumeist vom Vatererhoben. Mit dem Eintritt in die öffentlichen Betreuungs-und Bildungsinstitutionen wird diese an die Erzieherin-nen und Erzieher sowie Grundschullehrerinnen undGrundschullehrer delegiert. Diese müssen sich auf Kindereinstellen, die nicht in gleicher Weise wie deutsche Kin-der auf Autonomie hin erzogen wurden und bisher wenigGrenzsetzung erfahren haben.

Migrantenfamilien und Einkommensarmut: Vorschul-kinder ohne deutschen Pass sind überproportional vonEinkommensarmut betroffen. Die Armutsquote ist nachden Ergebnissen der Studie des ISS zur Armut im Vor-schulalter bei ihnen mit über 40 Prozent mehr als doppeltso hoch wie bei den deutschen Kindern (vgl. auch Ab-schnitt 1.3.2). Dies ist vor allem durch das häufig niedrigeBildungsniveau von Zuwanderern bedingt, und – damiteinhergehend – durch die höhere Wahrscheinlichkeit ge-ring entlohnter Beschäftigung sowie eines größeren Risi-kos, arbeitslos zu werden, ferner durch die Unsicherheitdes Aufenthaltsstatus126 sowie teilweise durch die feh-lende Arbeitsberechtigung auf Seiten der Eltern (Tucci/Wagner 2005; Hock u. a. 2000b; Bremer 2000; Haneschu. a. 2000; vg. auch Abschnitt 1.3.2). Hiervon sind nichtalle Gruppen der Migrantinnen und Migranten in glei-chem Ausmaß betroffen. So belegen z. B. Tucci undWagner (2005), dass die Armutsquote bei Personen auswestlichen Ländern im Vergleich zur Armutsquote in derMehrheitsbevölkerung unterdurchschnittlich hoch ist,während Zugewanderte aus nicht-westlichen Ländern so-wie Aussiedlerinnen und Aussiedler überdurchschnittli-che Armutsquoten aufweisen. Die ISS-Studie kommt zudavon teilweise abweichenden Ergebnissen. Hier wird he-rausgearbeitet, dass Vorschulkinder, die eine EU-Staats-bürgerschaft haben oder türkischer Herkunft sind, eineleicht über dem Durchschnitt liegende Armutsquote auf-weisen und sehr viel höhere Armutsquoten vor allem beiKindern aus dem früheren Jugoslawien sowie Kindernaus anderen Ländern auftreten, die nicht zu den klassi-schen Zuwanderungsländern gehören – hierzu zählenhäufig Kinder von Bürgerkriegsflüchtlingen bzw. Asylbe-werbern (Hock u. a. 2000b).

Wenn sich auch die Wohnsituation von Migrantenfami-lien insgesamt deutlich verbessert hat, z. B. auch der So-zialwohnungsbestand gerade ihnen offen steht (Hinrichs2003), liegt der Wohnstandard von Migrantenfamiliendeutlich hinter dem der deutschen Familien. Vor allembezüglich der Standardanforderungen, „ein Wohnraumpro Person“ sowie „Zentralheizung“, haben (insbeson-dere die türkischen) Migrantenfamilien schlechtereWohnbedingungen als Deutsche (Sachverständigenrat fürZuwanderung und Integration 2004, Abschnitt 7.4). Fürdie Kinder bedeutet dies, geringe Rückzugsmöglichkeitenund schlechte Lernbedingungen zu haben (Bremer 2000).Unter besonders beengten und belastenden Verhältnissenwohnen Asylbewerber, Flüchtlinge und Spätaussiedler inÜbergangsheimen, Billigpensionen und Notunterkünften(Hanesch u. a. 2000).

In den Großstädten der Ballungsgebiete wohnen Migran-tenfamilien überwiegend häufig in einem Wohnumfeld,das überwiegend sozialräumlich konzentriert benachteili-gende Entwicklungsbedingungen für Kinder aufweist.Migrantenfamilien wohnen überdurchschnittlich häufigin unattraktiven, verkehrsreichen und durch hohe Um-

126 Knapp jedes zehnte arme Kind in der Untersuchung des ISS hat einenunsicheren Aufenthaltsstatus, etwa 80 Prozent dieser Kinder geltenals arm.

Page 131: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 121 – Drucksache 15/6014

weltbelastungen gekennzeichneten Stadtteilen. Zumeistsind sie auf Altbaugebiete, alte Vorortkerne, Arbeiter-quartiere mit großer Nähe zu Industriestandorten,Schlichtwohnungen aus der Nachkriegszeit und Sozial-wohnungen in stark verdichteten Großsiedlungen verwie-sen (Bremer 2000; vgl. auch Abschnitt 1.3.4).

(c) Sozialräumliche Bedingungen

Welchen Einfluss der Sozialraum auf die Entwicklungs-prozesse von Kleinkindern ausübt, wurde bisher kaumuntersucht. Es ist jedoch davon auszugehen, dass dieWohnbedingungen und Bedingungen des näheren sozia-len Umfeldes von Anfang an auf die Lernprozesse undErfahrungen zur Aneignung von Welt einwirken und dassunterschiedliche Erfahrungen im räumlich-dinghaften Le-bensumfeld sich auch unterschiedlich auf die Entwick-lungs- und Bildungsprozesse der Kinder auswirken (vgl.auch Abschnitt 1.3.4).

In den ersten drei Lebensjahren sind Kinder zunächst inihrem räumlichen Aktionsradius noch deutlich einge-schränkt, weil sie von Betreuung und Aufsicht durch dieEltern oder andere Bezugspersonen unmittelbar abhängigsind. Zwischen 3 und 6 Jahren bedürfen Kinder immerstärker auch der „wohnungsnahen Spielräume“, um ihrenBedürfnissen nach sozialen Kontakten, nach Identifika-tion und Rückzug, nach selbstständigem Handeln, Lernenund Erkennen der persönlichen Grenzen, nach Bewegungund Körperbeherrschung entsprechen zu können(BMFSFJ 1998). Räumliche Gegebenheiten, die den Be-dürfnissen und Erfordernissen der Entwicklung von Kin-dern nicht gerecht werden, können von den Kindern indieser frühen Altersphase zwar vermutlich zu einem Teilkompensiert oder „abgepuffert“ werden, indem sie mitHilfe von Phantasie und Kreativität selbst Räume schaf-fen und vorhandene Raumstrukturen und Raumfunktio-nen gemäß ihren Bedürfnissen uminterpretieren. Kumu-lierte Belastungen und Risiken machen eine solcheKompensation jedoch unwahrscheinlich (Steinhübl2005). Unzureichende Gegebenheiten setzen dem kindli-chen „Erfahrungs- und Erprobungsraum“ enge Grenzen,mit der Folge von Entwicklungsrisiken sowie Risiken fürdas Wohlbefinden der Kinder. Zu hohe „Dichte“ und„Enge“ im Wohnbereich sowie mangelnde Rückzugs-möglichkeiten „können bei Kindern die volle Entfaltungder Psychomotorik, die Leistungsfähigkeit und Intelli-genz sowie die Fähigkeit, soziale Kontakte aufzunehmen,beeinträchtigen. Aggressivität und sogar psychischeKrankheit gelten als mögliche Folgen zu kleiner Wohnun-gen“ (Joos 1995, S. 172).

Wohn- und Wohnumfeldbedingungen: Die Wohnsituation(Wohnung und Wohnumfeld) kann nach ersten Ergebnis-sen des DJI-Kinderpanels bei 31 Prozent der 5- bis 6-jäh-rigen Vorschulkinder und 8- bis 9-jährigen Schulkinder127

als mehrfach risikobelastet, bei 34 Prozent als durch-schnittlich und bei 35 Prozent als positiv gelten (Alt

2005; Steinhübl 2005).128 Somit wohnt fast ein Drittel der5- bis 6-jährigen Kinder in kleinen und schlecht ausge-statteten Wohnungen in anregungsarmen, verkehrsreichenGegenden. Positive Wohnumstände, die als Ressource derKinder gelten können, sind dagegen im Osten nur etwahalb so häufig wie im Westen anzutreffen (18 Prozent zu38 Prozent) (Steinhübl 2005).

Wohnsituation und ökonomische Lage: Zwischen derökonomischen Lage der Eltern und der Wohnsituation derFamilie besteht nach Ergebnissen des Kinderpanels eindeutlicher Zusammenhang insofern, als sich diese mitsteigendem Äquivalenzeinkommen129 linear verbessert.Von denjenigen Personen, die zum „ärmsten“ Viertel derGesamtbevölkerung gehören, wohnen über die Hälfte(53 Prozent) in für Kinder mehrfach risikobelastetenWohnlagen, nur 13 Prozent wohnen in „Ressourcenla-gen“. Das „reichste“ Bevölkerungs-Viertel hat demge-genüber zu 50 Prozent eine sehr positive Wohnsituationfür Kinder (Steinhübl 2005).

Wohnsituation in städtischen und ländlichen Regionen:Ein Leben auf dem Land bietet vielen Kindern positiveLebensbedingungen. Lediglich 13 Prozent der Kinder le-ben nach Ergebnissen des Kinderpanels dort in mehrfachrisikobelasteten Wohnsituationen, 52 Prozent jedoch inpositiven. In den stark verdichteten Großstädten sieht diesanders aus: 46 Prozent der Kinder leben dort in problema-tischen, 24 Prozent in Wohnlagen, die Ressourcen bieten.Insgesamt wachsen mehr Kinder in den städtischen Gebie-ten mit hoher Verdichtung auf als in ländlichen Gegenden,was vermutlich auf die geringeren Angebote an Arbeits-plätzen sowie die geringere kulturelle und soziale Attrak-tivität ländlicher Regionen zurückzuführen ist (ebd.).

Zwischen der Wohnsituation und der sozialen und wirt-schaftlichen Lage einer Region besteht ein deutlicher Zu-sammenhang. Regionale Belastung bedeutet eine über-durchschnittlich hohe Arbeitslosen- und Sozialhilfequote,überdurchschnittlich hohe kommunale Schulden und eineim Mittel niedrige Abiturientenquote bei gleichzeitig ho-her Anzahl von Schulabgängern ohne Abschluss. Je posi-tiver eine Region in diesen Hinsichten abschneidet, destogeringer ist der Anteil der mehrfach risikobelastetenWohnlagen (er nimmt von 42 Prozent in belasteten Re-gionen auf 25 Prozent in privilegierten Regionen ab), unddesto höher steigt der Anteil der positiven Wohnlagen(von 22 Prozent in belasteten Regionen auf 37 Prozent inprivilegierten Regionen). In ostdeutschen Regionen istder Zusammenhang zwischen Wohnsituation und regio-nalen Bedingungen gravierender ausgeprägt als in west-deutschen: Es gibt im Osten mehr als doppelt so viele ri-sikobelastete Regionen wie im Westen (50 Prozent zu24 Prozent), nur 14 Prozent können im Osten als privile-gierte Region gelten gegenüber 37 Prozent im Westen.

127 Da sich die Ergebnisse für beide Kohorten nur unwesentlich unter-scheiden, werden sie übergreifend dargestellt.

128 Die Daten der ersten Erhebungswelle des DJI-Kinderpanels (vgl.Glossar) beruhen auf Befragungen von Eltern in Ost- und West-deutschland und zum Teil von deren Kindern. Unter „Wohnsituation“wird dabei das Leben in unterschiedlichen Wohntypen – Größe, Zu-stand und Ausstattung der Wohnung –, Umweltbelastung, Verkehrs-sicherheit, Bebauungsdichte zusammengefasst.

129 Zum Äquivalenzeinkommen vgl. Glossar.

Page 132: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 122 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Sozialräumliche Segregation: Mit der räumlichen Spal-tung der deutschen Großstädte nach Quartieren, in denenbevorzugt Arme oder Reiche leben, sind ökonomischeUngleichheit (Einkommen, Eigentum und Position aufdem Arbeitsmarkt), soziale Unterschiede (Bildung, ge-sundheitliche Lage, soziale Teilhabe und Position aufdem Wohnungsmarkt) sowie kulturelle Unterschiede(ethnische Zugehörigkeit, Religion, zivilisatorische Ver-haltensformen und normative Orientierungen) verbunden(Boos-Nünning 2000). In den unterprivilegierten Stadttei-len wohnen überdurchschnittlich viele deutsche sozial-hilfeabhängige und von Arbeitslosigkeit Betroffene sowieMigranten und Migrantinnen, Flüchtlinge und Aussiedlerbzw. Aussiedlerinnen mit ihren Kindern. Die Segregationist strukturell (Mietpreise) oder gesetzlich (Einweisungdurch die Kommune) bedingt.

Familien mit Migrationshintergrund leben überwiegendin den Ballungszentren (Steinhübl 2005; Boos-Nünning2000) und sind hier wiederum auf bestimmte Stadtteilekonzentriert (Hinrichs 2003; Bremer 2000). Insbesonderedas Aufwachsen von Kindern in großstädtischen „sozia-len Brennpunkten“ ist durch defizitäre Lebensbedingun-gen geprägt, die einen Mangel an Anregung, Spiel- undEntfaltungsmöglichkeiten bedeuten sowie eine facetten-reiche soziale Problematik befördern. Viele Migrantenfa-milien leben in ethnisch homogenen Milieus und suchendie Nähe ihrer Landsleute. Segregiertes Wohnen ist je-doch nicht nur Folge freiwilliger Segregation, sondernvor allem auch Folge einer deprivierten sozio-ökonomi-schen Lage. Den positiven Auswirkungen von ethnischhomogenen Milieus („Binnenintegration“; Elwert 1982;zit. nach Bremer 2000) stehen die erschwerte Einbindungin die Kommunikationsnetze der Mehrheitsgesellschaftsowie der erschwerte Zugang zu deren Normen, Wertenund Gewohnheiten gegenüber. Kinder aus Migrantenfa-milien erhalten auf diese Weise unzureichende Möglich-keiten, von Anfang an die deutsche Sprache zu erlernen,kulturelle Besonderheiten und Umgangsweisen des Zu-wanderungslandes sowie plurale Lebensformen und Le-bensorientierungen kennen zu lernen (Boos-Nünning2000; Bremer 2000).

Auch Aussiedlerfamilien leben, wenn es ihnen gelingt,die üblicherweise am Anfang ihres Aufenthaltes im Zu-wanderungsland stehenden Übergangswohnheime hintersich zu lassen, räumlich konzentriert und sind fast immerauf Sozialwohnungen in Großsiedlungen verwiesen. Aus-siedlerfamilien werden durch defizitäre Wohnbedingun-gen bzw. Bedingungen des Wohnumfeldes vor vielfältigesoziale Probleme gestellt (Boos-Nünning 2000).

Eine ungünstige Lage und Ausstattung der Wohnung so-wie des Wohnstandorts lassen räumlich konzentrierte be-nachteiligte Lebenssituationen entstehen, die die vorhan-denen sozio-kulturellen Unterschiede noch vergrößern.Das bedeutet, dass es sich bei der räumlichen Konzentra-tion von sozial benachteiligten Gruppen nicht nur „um einAbbild, eine Übertragung sozialer Ungleichheit in den(städtischen) Raum“ handelt (Dangschat 2000, S. 209).Die Verräumlichung sozialer Ungleichheit bedeutet eineVerstärkung sozialer Ungleichheiten, denn die Woh-nungsbedingungen bzw. Bedingungen des Wohnumfeldesschränken die Handlungs- und Partizipationsmöglichkei-

ten ein, und wirken zudem benachteiligend (Dangschat2000; Häußermann 2000). Die räumliche Konzentrationvon sozial benachteiligten Familien wirkt sich für dieEntwicklungs- und Bildungsprozesse der Kinder in sol-chen armen Quartieren gravierend aus. Da die Qualitätder Kindertageseinrichtungen und der Schulen zumeistgeringer ist, haben diese Kinder überwiegend vermin-derte Chancen im Hinblick auf Bildung, Schulerfolg undspätere Berufsaussichten.

3.5 Frühkindliche Entwicklung und Bildung im Rahmen erweiterter Bildungs-gelegenheiten

Neugierde und spielerisches Erkunden sind wesentlicheTriebfedern der Weltaneignung. Beides gehört zwar zur„Natur des Kindes“, stellt sich jedoch nicht naturwüchsigein. Eine wesentliche Voraussetzung ist, dass das Kindein „entspanntes Feld“ vorfindet, das sowohl durch Si-cherheit als auch durch Anregung gekennzeichnet ist(Sachser 2004). Ist diese Voraussetzung gegeben, tretenNeugier und Spiel nahezu unerschöpflich auf, bedürfendie Lernvorgänge, die in ihrem Kontext auftreten, keinerweiteren Verstärkung durch Erwachsene, weil sie durchdie positiven Emotionen, die durch das Spiel erzeugt wer-den, intrinsisch motiviert sind. Solche Lernvorgänge im„entspannten Feld“ bestehen nicht nur in der Übernahmevorhandenen Wissens und Könnens, sie schaffen auchNeues, das sich in Strategien der Problemlösung und Be-wältigung niederschlägt. Eine entscheidende Frage ist da-her, wie „entspannte Felder“ in Familie, außerfamiliärenBetreuungsinstitutionen sowie in der Schule beschaffensein müssen, um dem Kind (entsprechend dem jeweiligenAlter) sowohl Sicherheit als auch Anregung zu vermitteln(ebd.).

Die Vorstellung von der ausschließlichen und ununterbro-chenen Betreuung durch eine einzige Bezugsperson, in derRegel durch die Mutter (Ahnert 2002; Bowlby 1969),wurde von der Bindungstheorie im Zuge ihrer empiri-schen Prüfung und Weiterentwicklung aufgegeben (vgl.Abschnitt 3.2). Sowohl kulturvergleichende als auch his-torische Analysen der Lebensbedingungen von Klein-kindern zeigen, dass seit den Anfängen der Menschheits-geschichte auf vielfältige Weise versucht wird, diemütterliche Betreuung des Kindes durch Betreuungsarran-gements zu erweitern, um befriedigende Versorgungs- undEntwicklungsbedingungen zu gewährleisten und dasÜberleben der Kinder zu sichern.130

130 Anthropologische Beobachtungen in noch existierenden Jäger- undSammler-Gemeinschaften beispielsweise zeigen, dass in Abhängig-keit von Arbeitsaufgaben, Jahreszeit und Alter die Mütter ihre Kin-der mit sich tragen, aber auch in der Obhut älterer (Geschwister-)Kinder und anderer Erwachsener zurücklassen (Ahnert 2002). Derzeitliche Rahmen, in dem die Mütter ihre Kinder selbst betreuen, va-riiert in Jäger- und Sammler-Gemeinschaften beträchtlich, er reichtvon der Ausschließlichkeit der Betreuung bis hin zu einer anteiligen,innerhalb des Stammes geregelten kollektiven Betreuung der Nach-kommen. Studienergebnisse legen den Schluss nahe, dass es im We-sentlichen die kollektive Form der Betreuung gewesen ist, „die esunseren Vorfahren erlaubt hat, ihren Nachwuchs erfolgreich aufzu-ziehen und gleichzeitig bessere Lebensbedingungen zu entwickeln“(Expertise Ahnert).

Page 133: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 123 – Drucksache 15/6014

Ausgehend von kulturvergleichenden empirischen Analy-sen wird heute in der Entwicklungspsychologie davonausgegangen, dass auch das Kleinkind unserer Zeit aufdie Betreuung durch mehrere Bezugspersonen hin „ange-legt“ ist (Expertise Ahnert). Es ist nicht primär die Frage,ob sich eine einzige Bezugsperson fortgesetzt und vor al-lem ohne Unterbrechung dem Kind widmet, sondern esgeht darum, ob die frühe Betreuung durch die primäreBezugsperson bzw. die Mutter so gestaltet ist, dass sie mitden Grundbedürfnissen und Entwicklungserfordernissendes Säuglings und Kleinkindes konform geht und es demKind gelingt, eine sichere Bindung als Ausgangsbasis fürdie eigenaktive Aneignung von Welt zu seinen Bezugs-personen aufzubauen (vgl. Abschnitt 3.2.2). Sensitivität(Feinfühligkeit) im Umgang mit dem Kind ist nach denErgebnissen der Längsschnittstudie des NICHD EarlyChild Care Research Network (1997) die dominierendeEinflussgröße auf die Bindungssicherheit in der Mutter-Kind-Beziehung, unabhängig davon, ob sich das Kindausschließlich zu Hause oder in nicht-mütterlicher Be-treuung befindet, und gleichgültig, ab welchem Alter undin welcher Weise (Betreuung durch den Vater, im erwei-terten Familienkreis, durch Kindermädchen, Tagesmütteroder Kindertageseinrichtungen) es betreut wurde (Exper-tise Ahnert; Ahnert 2002). Sensitivität grenzt sich vonÜberbehütung dadurch ab, dass die Reaktionen der Be-zugspersonen für die Entwicklung fördernd sind, also„Respekt für die kindliche Autonomie bezeugt wird“(Grossmann u. a. 2003, S. 237).

Erweiterte Settings der Betreuung können unter diesenVoraussetzungen dem Kind vielfältige Anregungen bie-ten. Ihm eröffnen sich durch die Erweiterung seines bis-herigen Lebensumfeldes neuartige Erfahrungen der kultu-rellen, materiellen und sozialen Welt, die seine Identitäts-und Persönlichkeitsentwicklung sowie seine kognitive,soziale und emotionale Entwicklung befördern.

3.5.1 Müttergruppen, Spiel- und Krabbel-gruppen, Eltern-Kind-Gruppen als Bildungsgelegenheiten der Kleinkindphase

In der Kleinkindphase, also dem Zeitraum zwischen Ge-burt und dem 36. Lebensmonat, verbringen heute vieleSäuglinge und Kleinkinder bestimmte Zeiten des Tagesoder der Woche in erweiterten, über die unmittelbare fa-miliäre Umwelt hinausweisenden Erfahrungsräumen.Diese neuen Erfahrungsräume bieten dem Kleinkind viel-fältige Entwicklungs- und Bildungsanregungen. Zu-gleich bedeuten neue Erfahrungsräume auch Diskontinui-tät (Griebel 2003) und Verunsicherung des bisherigenLebenszusammenhanges des Kindes, die seine physi-schen und psychischen Kräfte herausfordern (vgl. Kapi-tel 5).

Frühe erweiterte Bildungsgelegenheiten des Kindes sindzum einen privat organisierte Gruppen von Müttern, diesich während der Schwangerschaft in Vorbereitungskur-sen bzw. vor oder nach der Entbindung kennen gelernthaben und ihre Bekanntschaft auch während der frühenKindheit ihres Kindes fortsetzen, oder die sich mit ande-

ren Müttern zusammentun, um Austauschmöglichkeitenzu haben und eine eventuelle Isolation zu überwinden. Indiesen Gruppen sind die Kleinkinder zumeist gleichaltrig,wenn nicht vereinzelt ältere Geschwister zu den Treffenmitgenommen werden. Zum anderen werden Spiel- undKrabbelgruppen sowie Eltern-Kind-Gruppen gegründet,die von Eltern mit Kleinkindern von 0 bis 3 Jahren ge-nutzt werden. So werden in Krabbelstuben zum BeispielKinder von 4 Monaten bis zu 3 Jahren aufgenommen, inselbstorganisierten Spielkreisen aber auch Kinder von ei-nem Jahr bis zu maximal 4 Jahren (BMFSFJ 2002c).Diese Gruppen sind ebenfalls teils in Privatinitiative imRahmen von Selbst- und Nachbarschaftshilfe organisiertund finanziert, oftmals jedoch auch von öffentlichen undfreien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe, den Kirchenund gemeinnützigen Vereinigungen finanziert bzw. finan-ziell unterstützt.

All diese informellen Gruppen sind sowohl für die Be-treuungs- und Erziehungsleistungen der Mütter (seltenerVäter) als auch für die Entwicklungsprozesse der Klein-kinder von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Sie er-füllen – mit Blick auf die Betreuungspersonen – denwichtigen Zweck, Kontakt zu anderen in gleicher Lebens-lage und mit Kindern in gleicher Altersphase herzustellenund dadurch ein Austauschforum für Erfahrungen und of-fene Fragen im Zusammenhang des Umgangs mit demKleinkind zu schaffen. Im Kreis von anderen Müttern er-fahren sie soziale Unterstützung sowie Wertschätzung ih-rer Tätigkeit, unter Umständen auch gegenseitige Betreu-ungsmöglichkeiten. Es konnte mehrfach nachgewiesenwerden, dass kollektive Betreuungsmodelle eher dazu ge-eignet sind, die mütterliche Betreuungsqualität aufrecht-zuerhalten. Erfahrene Unterstützung in der Betreuungund positiven Bewertung ihres Tuns stehen mit größererBetreuungsbereitschaft und Fürsorge der Mutter in einemeindeutigen Zusammenhang (Expertise Ahnert). In einemBetreuungsmodell mit wenig Hilfen in der Nachwuchsbe-treuung ist die mütterliche Feinfühligkeit im Umgang mitihrem Kind sehr viel störanfälliger.

Das Kleinkind profitiert von diesen früh in seinem Lebenauftretenden zusätzlichen Erfahrungsräumen auch unmit-telbar und in mehrfacher Hinsicht. Solche Zusammentref-fen in privaten oder institutionell zur Verfügung gestelltenRäumen ermöglichen es ihm, neuartige Eindrücke zusammeln und bisher nicht gekannte Lernerfahrungen zumachen, die seiner Entwicklungsphase entsprechen. DasKind kann sich in diesen neuen Erfahrungsräumen derNähe seiner Mutter bzw. Eltern versichern, das heißt, eskann sich altersphasengemäß im Schutze der dyadischenBeziehung entwickeln, sich beruhigen und trösten lassen,wenn Situationen zu beängstigend sind oder die in dieserEntwicklungsphase limitierte Kapazität der Informations-verarbeitung übersteigen.

In der Spätphase der Kleinkindzeit (19. bis 36. Lebens-monat) nimmt das Autonomiebestreben des Kindes zu.Die voranschreitende Entwicklung mentaler Strukturenund Gedächtnisleistungen vergrößert die Handlungsfä-higkeit des Kindes. Die neuen Tendenzen der Selbstbe-hauptung wirken sich auf die Mutter-Kind-Beziehung

Page 134: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 124 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

aus, die sich den veränderten Entwicklungsbedürfnissendes Kindes anpassen muss, indem sie zwar weiterhin sen-sitive Begleitung bietet, dem Autonomiebestreben desKindes gegenüber jedoch offen ist. Die emotionale Bin-dung zum Vater verstärkt sich in dieser Entwicklungs-phase nicht zuletzt gerade dadurch, dass er das Explora-tionsbedürfnis des Kindes ermutigt und die Bedürfnissedes Kindes nach Selbsterkundung unterstützt (ebd.).

Müttergruppen und Eltern-Kind-Gruppen bieten in dieserAltersphase jenen Kindern, die zu Hause keine Geschwis-ter haben, große Anregungsvielfalt und daher die Mög-lichkeit zu zahlreichen kognitiven, sozialen und emotio-nalen Bildungsprozessen, die sie in ihrem familiären undhäuslichen Umfeld nicht oder nicht in dieser Weise vor-finden würden. Durch den neuen Erfahrungsraum und dieBegegnung mit Gleichaltrigen erhält das Kind zusätzlicheImpulse, die Perspektive anderer einzunehmen und derenEmotionen zu verstehen. Das Kind ist zunehmend in derLage, soziale Verhaltensweisen zu entwickeln, es kannnun mit anderen Kindern, wenn diese weinen, Mitgefühlentwickeln (und beginnt nicht mehr selber zu weinen, wiedies noch in der Frühphase der Kleinkindzeit der Fallwar). Der Umgang mit anderen Kindern dient aber auchden Abgrenzungsbedürfnissen, die mit der Identitätsent-wicklung des Kindes in dieser Altersphase einhergehen.Die ausgeprägte Verteidigung von Objekten als „mein“stellen Versuche dar, das Selbst von anderen abzugren-zen. Gleichzeitig imitiert das Kind ausgeprägt andere Per-sonen seiner Umgebung, um sich so zu verhalten, so zufühlen und so auszusehen wie diese. Dies betrifft vor al-lem die Geschlechtsidentifikation (vgl. Abschnitt 3.2.1).Zwar nehmen auch hierbei die primären Bindungsperso-nen eine bedeutsame Rolle ein, doch suchen sich Klein-kinder auch in der Gesellschaft von Gleichaltrigen zuneh-mend bewusst gleichgeschlechtliche Spielpartner. In derInteraktion mit ihnen verfestigt sich ihr geschlechtstypi-sches Verhalten und bildet sich ihre Geschlechtsrolle aus.

3.5.2 Tagespflege und Kindertageseinrich-tungen als Bildungsgelegenheiten der Kleinkind- und Vorschulphase

Mit Aufnahme in die Tagespflege oder in eine Kinderta-geseinrichtung entsteht für das Kleinkind eine grundsätz-lich andere Situation als im Erfahrungsraum der Mütter-gruppen, Eltern-Kind-Gruppen etc. Es wird hierbei ausder Obhut der Mutter heraus in eine durch professionellesBetreuungspersonal oder andere Erwachsene hergestellteObhut sowie in eine neue Umgebung gegeben. Mutterund Vater entschwinden für mehrere Stunden des Tagesaus dem Blickfeld des Kindes. An ihre Stelle treten nunandere Erwachsene sowie Kinder gleichen oder unter-schiedlichen Alters. Auch diese Erfahrungsräume bietensowohl in der Früh- und Spätphase der Kleinkindzeit alsauch in der Vorschulphase (3. bis 6./7. Lebensjahr) Bil-dungsgelegenheiten, die die Entwicklungsprozesse im fa-miliären Umfeld auf vielfältige Weise ergänzen und er-weitern können, wenn das Kind sicher gebunden ist. Siemüssen jedoch auch ihrerseits qualitative Bedingungenerfüllen, damit dies der Fall ist (vgl. Kapitel 5).

Fremdbetreuung und Mutter-Kind-Bindung: Der Besucheiner Kindertageseinrichtung, vor allem in der Frühphaseder Kleinkindzeit, stand in Deutschland lange im Ver-dacht, die sichere Bindung zwischen Mutter und Kind zuzerstören und vor allem der sozialen Entwicklung desKindes abträglich zu sein (Lamb/Ahnert 2003; Rauh2002). Neuere Forschungsergebnisse, insbesondere dieumfangreichen Studien des NICHD Early Child Care Re-search Network, erbrachten keine Belege dafür, dass eineBetreuung von Kleinkindern durch andere Personen alsdie Eltern generell zu problematischen Mutter-Kind-Be-ziehungen führt (Karsh 2000; NICHD Early Child CareResearch Network 1997). Das Fürsorgeverhalten bleibtauch dann die dominierende Einflussgröße in der Mutter-Kind-Beziehung, wenn das Kind viele Stunden am Tageine zusätzliche Betreuung erfährt, vorausgesetzt, dieMutter verhält sich in der verbleibenden Zeit dem Kindemotional zugewandt. Damit dies zur Aufrechterhaltungder Mutter-Kind-Beziehung möglich ist, darf die im All-tag verbleibende familiäre Zeit für Interaktionen nicht zuknapp bemessen sein, ferner dürfen Alltagsprobleme dasFamilienleben nicht über die Maßen belasten (Ahnert/Lamb 2003).

Bindungsbeziehungen zu außerfamiliären Betreuungsper-sonen: Wenn das Kleinkind in der Tagesbetreuung auchzu bisher fremden Erwachsenen und professionellen Be-treuungspersonen Bindungsbeziehungen aufbaut, dannsind diese von einer – entwicklungspsychologisch gese-hen – anderen Qualität sowie auf den Betreuungskontextvon Tagespflege und Kindertageseinrichtung begrenzt.Erzieher-Kind-Bindungen sind weder durch die Qualitätder Mutter-Kind-Bindung festgelegt, noch können sie dieBeziehung zur Mutter ersetzen. Die unterschiedlichenBindungsbeziehungen, die das Kind in Familie und Ta-gesbetreuung aufbaut, „scheinen auf voneinander sepa-rierbaren Interaktionsgeschichten zu basieren und demzu-folge spezifische Interaktionserfahrungen des Kindes mitden jeweiligen Bindungspersonen im jeweiligen Kontextabzubilden“ (Expertise Ahnert, S. 23).

Trotz dieser Unterschiede müssen die Erzieher-Kind-Be-ziehungen, sollen sie die kognitiven, sozialen und emotio-nalen Entwicklungsprozesse des Kindes fördern, in glei-cher Weise soziale Nähe und Interaktion garantieren wiedie Beziehungen zu primären Bindungspersonen, dennsowohl Nähe als auch Kommunikation und Interaktionsind Erfordernisse der menschlichen Individualentwick-lung. Die Anwesenheit der Tagesmutter oder Erzieherinimpliziert daher nicht nur Aufsicht und Versorgung, son-dern muss „Gestaltung von sozialer Interaktion“ sein(ebd.) und dabei der aktuellen Entwicklungsphase desKindes sowie seinen lebensphasenspezifischen Bedürf-nissen Rechnung tragen. Für die gesamte Phase desKleinkind- und Vorschulalters gilt, dass Kinder einen Be-treuungsrahmen brauchen, der wiederkehrende Merkmaleenthält, d. h. Kontinuität und Stabilität gewährleistet, umdadurch Überschaubarkeit und Vorhersagbarkeit zu er-möglichen (was gegen allzu kurze und wechselnde Ar-beitszeiten und häufigen Wechsel der Bezugspersonenspricht). In der Betreuungsperson bzw. der Erzieherinmuss das Kind ein empathisches Gegenüber vorfinden,

Page 135: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 125 – Drucksache 15/6014

damit sich Vertrauen und Bindung einstellen können.Vielfältige bestätigende Zuwendung trägt dazu bei, daskindliche Selbstbild positiv zu beeinflussen. Den Ent-wicklungsphasen des Kindes entsprechend sollte sich dieBetreuungspraxis von der dyadischen zur gruppenorien-tierten Betreuungspraxis hin verändern. Dabei wird dasBeziehungsnetz des Kindes zunächst um einige neue Be-treuungspersonen erweitert und später auf die Kinder-gruppe ausgedehnt (ebd.).

3.5.3 Bedeutung früher Kontakte zu Gleichaltrigen

Forschungsergebnisse zu Gleichaltrigen-Beziehungen infrüher Kindheit legten noch in den 1950er-Jahren denSchluss nahe, dass Kleinkinder nicht wirklich aneinanderinteressiert sind und sich gegenseitig eher als Objekte undweniger als Personen behandeln. Kleinkindern wurde,selbst wenn sie Spielgefährten hatten, die Fähigkeit zurEntwicklung von Freundschaften abgesprochen (Shon-koff/Phillips 2000). Diese Sichtweise wurde aufgrundumfangreicher empirischer Untersuchungen deutlich aus-differenziert. Sowohl über die Fähigkeit, bereits sehr frühBeziehungen und Bindungen einzugehen, als auch überdie Herausforderungen, die mit dem Prozess des Eintre-tens in soziale Interaktionen mit Gleichaltrigen innerhalbvon Spielgruppen sowie Gruppen in Kinderbetreuungs-einrichtungen verbunden sind, liegen inzwischen diffe-renzierte Erkenntnisse vor. Grundsätzlich gilt jedoch,dass die Qualität der Beziehungen im frühkindlichen Al-ter sehr viel weniger erforscht ist als die im Schulalter(Ahnert 2003; Shonkoff/Phillips 2000). Während die Tat-sache, dass Peer-Kontakte für die Entwicklung vonKleinkindern eine wichtige Rolle spielen, allgemein aner-kannt ist, widmen sich bisher nur wenige Untersuchungender Frage, welche Bedeutung die Gleichaltrigen-Kontaktevon Kindern in Eltern-Kind-Gruppen, Krippen und Krab-belstuben haben (Schneider/Wüstenberg 2001).

Beziehungen zu anderen Kindern aufzubauen, ist eine dervorrangigen Entwicklungsaufgaben der frühen Kindheit.In welcher Weise dies den Kindern gelingt, ist zum einenfür die Kinder in dieser Altersphase von Bedeutung. An-dere Kinder schaffen einen sozialen Kontext, in dem dasSelbstwertgefühl, die Kompetenz und die Einstellung zurWelt einer positiven oder negativen Bewertung unterzo-gen werden. Zum anderen sind sie für spätere Entwick-lungsphasen der Kinder von Bedeutung, da die in früherKindheit erworbenen Interaktionsmuster in einemZusammenhang mit der Lösung von Entwicklungsaufga-ben der mittleren Kindheit und des Jugendalters stehen(Shonkoff/Phillips 2000). Darüber hinaus ist von Bedeu-tung, mit welchen Kindern Spiel- und Freundschaftsbe-ziehungen aufgebaut werden, da die Erfahrungen, die inGleichaltrigen-Gruppen gewonnen werden, zu einem Teilauch von der Persönlichkeit der Kinder abhängen, mit de-nen interagiert wird.

Schon sehr früh begegnen sich Kinder mit großem Inte-resse an ersten Interaktionen, körperlichen Berührungenund Verständigungen. Der vertraute Kontakt mit Gleich-altrigen ist vom frühen Kindesalter an für die Entwick-

lung fördernd und hat eine eigene Qualität, die nichtdurch Bindungsbeziehungen zu Erwachsenen zu ersetzensind (Schneider/Wüstenberg 2001). Das gegenseitige In-teresse der Gleichaltrigen lässt sich bereits im 1. Lebens-jahr beobachten (Schneider/Wüstenberg 1993). Säuglingewerden beim Anblick anderer Säuglinge aufgeregt undschauen sich mit hoher Aufmerksamkeit ausgiebig an,wenn sie die Gelegenheit dazu bekommen. Zwischendem 6. und dem 9. Lebensmonat beginnen sie, die Auf-merksamkeit des anderen Kindes auf sich zu ziehen, lä-cheln es an und vokalisieren. Zwischen dem 9. und dem12. Lebensmonat entdecken Kleinkinder, sich gegenseitigzu imitieren, und legen damit den ersten Grundstein fürdas gemeinsame Spiel. In dem Zeitraum zwischen 1. und2. Lebensjahr nimmt die Komplexität der Handlungen,die Kinder miteinander ausführen können, stark zu. Ge-genseitige Imitation macht deutlich, dass die Intentionendes anderen Kindes wahrgenommen und geistig verarbei-tet werden. Mit den ersten Erfahrungen, Bedeutungen zuteilen, Intentionen des anderen zu erfassen und reziprokeRollen zu übernehmen, werden erste Spielroutinen eta-bliert. Dabei kommt der Sprache eine herausragendeRolle zu. Kindern, die in der späten Kindheitsphase undder Vorschulphase klar sprechen sowie ihre Gedankensprachlich kommunizieren können, gelingt es leichter,das Spiel mit anderen Kindern aufrechtzuerhalten, alsKindern, die diese Fähigkeiten weniger gut entwickelt ha-ben (Shonkoff/Phillips 2000). Grundsätzlich ist dies eineschwierige Aufgabe für kleine Kinder. Spielinteraktionensind noch sehr von Störeinflüssen abhängig und zerbre-chen leicht; deshalb ist von besonderer Bedeutung, wiedie Spielumwelt von den Erwachsenen strukturiert wird.Auch scheint wichtig, dass Kinder ihre Spielpartner gutkennen bzw. oft die Gelegenheit erhalten, mit denselbenKindern zu spielen. Auf der Basis häufigen gemeinsamenSpiels kann sich am ehesten reifes Spiel mit vielfältigenFormen der Interaktion entwickeln. Die kognitive Ent-wicklung, die im zweiten und dritten Lebensjahr rapidevoranschreitet, trägt zur Ausbildung von Interaktionsfä-higkeiten maßgeblich bei. Zunehmend lernt das Kind,eigene Handlungen von denen anderer Kinder zu unter-scheiden, Handlungssequenzen zu planen undauszuführen sowie in gemeinsame Interaktionen einzufü-gen.

Als 5-Jährige sind die Kinder im Spiel nicht mehr aufsich selbst oder ein anderes mitspielendes Kind bezogen,sondern können mehrere Kinder mit einbeziehen, kom-plexere Spielinhalte verfolgen sowie mehrere Rollenübernehmen (Shunkoff/Phillips 2000). Gut miteinanderzu spielen, Freunde zu gewinnen und sich als Freund oderFreundin zu erweisen, ist für Kinder eine anspruchsvolleAufgabe, die ihre kognitiven und emotionalen Fähigkei-ten zunehmend stärker beanspruchen. Kleinkinder be-vorzugen zunächst gleichgeschlechtliche Spielpartner(Ahnert 2003). Jungengruppen entwickeln eher Domi-nanzverhalten, das die Grundlage für Hierarchien bildet.Sie sind aggressiver und emotional weniger reguliert alsMädchen. Diese haben in ihren Subgruppen eher egalitäreStrukturen; Beziehungen, Verbundenheit und Empathiesind zentrale Momente (Expertise Ahnert). Nicht allen

Page 136: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 126 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Kindern gelingt es gleichermaßen, in der Kindergruppevon anderen Kindern akzeptiert und gemocht zu werden,Freundschaften zu knüpfen und aufrechtzuerhalten. Beider Entstehung des Peer-Status in einer Kindergruppewirken viele Faktoren zusammen. Er ist nicht unverän-derlich festgeschrieben und ist auch nicht unbedingt fürandere Kontexte maßgeblich: Ein in seiner Vorschul-gruppe abgelehntes Kind kann bei Kindern in seinerNachbarschaft durchaus beliebt sein, ein mit einem ande-ren Kind befreundetes Kind braucht in der Gruppe keineBeliebtheit zu erlangen (Ahnert 2003).

Das Spiel der Kinder ist nicht konfliktfrei (Dittrich u. a.2001). Vor allem in Gruppen von unter Dreijährigen istdie Konfliktbeladenheit der Interaktionen zwischen Peersauffällig (Viernickel 2000; Shunkoff/Phillips 2000). Kon-flikte sind ein wichtiger Motor für die Sozialentwicklungund die Denkentwicklung. Erfahrungen von Dissens for-dern zum Vergleich der Sichtweisen sowie zur Verdeutli-chung und Begründung der eigenen Ansicht heraus(Schneider/Wüstenberg 2001). Bereits sehr früh bringenKleinkinder in ihren Interaktionen mit GleichaltrigenKonflikte zum Ausdruck, wenn sie Besitzansprüche aufein bestimmtes Spielzeug anmelden und dieses mit„mein“ verteidigen. Besitzansprüche dominieren dieKonfliktsituationen in den ersten 4 Lebensjahren weitge-hend geschlechts- und altersunabhängig (Ahnert 2003).

Konfliktaustragungen in Spielsituationen unterbrechendas kindliche Spiel, sie sind eine Herausforderung für dieKinder, aktiv nach Wegen zu suchen, wie zum gemeinsa-men Spiel zurückgekehrt werden kann, und sie habendeshalb auch eine positive Rolle in der Entwicklung derKinder. Während beobachtet wurde, dass einander unver-traute Kinder sich bei Spielkonflikten eher trennen oderErwachsene zum Eingreifen bewegen, gelingt es den mit-einander befreundeten Kindern mit größerer Wahrschein-lichkeit, ihr Spiel mit einem Kompromiss oder in andererWeise befriedigend fortzusetzen. Nach einem verbreitetenErklärungsmodell kann erhöhte Aggressivität jedoch ei-nen zirkulären Prozess in Gang setzen, der auch in späte-ren Entwicklungsphasen zu Verhaltensproblemen führt.„Negative Verhaltensmuster und Defizite in der inhibito-rischen Kontrolle – gegebenenfalls verstärkt durch un-günstige familiäre Sozialisationserfahrungen – könntenzu Zurückweisungen durch Peers führen; zurückgewie-sene Kinder könnten infolgedessen proaktive Aggressio-nen ausbilden und bereits feindselig im Peer-Kontaktsein, ohne sichtbaren Anlass. Dies wiederum könnte zuBestätigung und Beibehaltung von Zurückweisung undAusgrenzung führen; ausgegrenzte Peers aber habenkaum Möglichkeiten, in konstruktive Peer-Interaktioneneinbezogen zu sein und ihr Verhaltensrepertoire zu erwei-tern und zu korrigieren“ (Expertise Ahnert, S. 24).

Auch wenn Aggressionen, die die generelle Einschüchte-rung und Verletzung anderer zum Ziel haben, im Klein-kindalter seltener beobachtet werden als bei älteren Kin-dern, so verweisen doch Studien auch auf Besonderheitendes Temperaments bei Kindern, die mit ausgeprägt nega-tiven Emotionsausdrücken einhergehen und solche Kin-der fehlangepasst und störend erscheinen lassen (Ahnert

2003). Diese Kinder haben Schwierigkeiten, eine kon-struktive Interaktion mit ihren Gleichaltrigen aufrechtzu-erhalten. Wenn Aggressionen in Gleichaltrigen-Gruppenausgeprägt und häufig die Interaktionen von Klein- undVorschulkindern bestimmen, erfordert dies daher Auf-merksamkeit und überlegtes pädagogisches Handeln vonErwachsenen, damit positive Interaktionsstrategien ein-geübt werden und sich Verhaltensprobleme nicht verfesti-gen können.

3.6 Frühkindliche Entwicklung und Bildung im Kontext der Medien

Das Aufwachsen der Kinder ist inzwischen schon sehrfrüh, spätestens mit Beginn des Vorschulalters, von Be-gegnungen mit der medialen Welt begleitet (Theunert/Lenssen 1999). Fernseher, Radio, Hörkassette, Videoge-rät und Computer sind im Alltag heutiger Kinder allge-genwärtig. Die ersten Erfahrungen im Umgang mit Me-dien machen die Kinder in ihrem familiären Umfeld. Mitzunehmendem Alter wird der Umgang mit Medien jedocheigenaktiv; dabei entstehen Vorlieben, und die Kinderentwickeln Kompetenzen. Die kognitiven, emotionalen,sprachlichen und sozialen Entwicklungsprozesse der Kin-der werden schon in den ersten Jahren von den Medienbeiläufig mitgeprägt. Welchen Stellenwert die Medien fürdas Kind bei seiner Aneignung von Welt erhalten, hängtvon der Familie und den Kindertageseinrichtungen ab.

3.6.1 Entwicklungsabhängige Medienrezeption

Die Fähigkeit, Medieninhalte und Präsentationsformen zuerfassen, hängt vom jeweiligen Entwicklungsstadium desKindes ab (Gurt 2003). Werden die altersbedingten Fä-higkeiten überfordert, dringen Medieninhalte entwedernicht zum Kind durch, oder sie werden falsch interpre-tiert, woraus dem Kind auch Belastungen erwachsen kön-nen (Theunert/Lenssen 1999).

Im 2. Lebensjahr verfügt das Kleinkind über kognitiveFähigkeiten, mit denen die zunehmende Koordinationvon Wahrnehmung und Bewegung sowie die Erkundungder unmittelbaren physischen Umgebung einhergehen.Das Sprachverständnis ist in diesem Alter noch sehr ge-ring ausgeprägt. Zunehmend baut sich die Fähigkeit auf,das eigene Ich als getrennt von der Umwelt wahrzuneh-men. Hörmedien und Fernsehen sind bereits in den erstenbeiden Lebensjahren von Bedeutung, insbesondere dasWiedererkennen von Gehörtem und Gesehenem spielteine wichtige Rolle. Aufmerksamkeit kann in diesem Al-ter jedoch nur für kurze Zeit und nur für einfache kurzeSequenzen aufrechterhalten werden. Computermedienspielen in dieser Altersphase entwicklungsbedingt keineRolle; sie stellen altersbedingt sowie von der Rezeptionund dem Umgang her noch eine Überforderung des Kin-des dar (Gurt 2003).

Im Alter von 3 bis 6 Jahren haben sich die kognitiven Fä-higkeiten des Kindes weiter ausgebildet, doch ist dasDenken noch an den unmittelbaren Augenschein gebun-den. Ab dem 3. oder 4. Lebensjahr werden andere Perso-nen in das Denken und Handeln einbezogen. Das Kind

Page 137: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 127 – Drucksache 15/6014

beginnt, soziale Beziehungen in ihren Strukturen zu ver-stehen. Für die Aneignung von Medieninhalten bedeutetdies, dass erst gegen Ende der Vorschulzeit sich die Fä-higkeit zur Perspektive-Koordination anbahnt, die es er-möglicht, verschiedene Sichtweisen mehrerer Personengleichzeitig wahrzunehmen und aufeinander zu beziehen(Theunert/Lenssen 1999).

Vielfältige, auch durch das Milieu bedingte Einflüsse desnäheren und weiteren Umfeldes tragen dazu bei, dass dieFähigkeit von Kindern der gleichen Altersphase, an Inter-aktion und Kommunikation teilzuhaben, sowie das Den-ken und Handeln anderer Personen zu verstehen,beträchtlich variieren. So können manche Kinder diffe-renzierteren Sachverhalten in Fernsehsendungen kognitivund emotional folgen, weil sie in ihrem Umfeld frühzeitigmit altersgemäßen audiovisuellen Medienangeboten kon-frontiert worden sind und entsprechend früh gelernt ha-ben, die Symbolsprache von Bildern zu deuten sowiezwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden(Hohmann 2002). Auf andere Kinder gleichen Alters, diebisher wenig Gelegenheit hatten, mediale Angebotewahrzunehmen und ihre Erfahrungen in Kommunikationmit Erwachsenen und Gleichaltrigen zu verbalisieren,können die gleichen Medienangebote überfordernd wir-ken.

Medienangebote sind im Gegensatz zur interpersonalenKommunikation unter anderem von Pausenlosigkeit, ge-ringer Vorhersehbarkeit und Einseitigkeit gekennzeich-net. Die Perspektiveübernahme des Kindes erfolgt ohneFeedback, und es gibt keine Rückmeldung, ob etwas rich-tig oder falsch verstanden worden ist. Die Medien bietenden Kindern umfangreiches symbolisches Material fürFantasien, Projektionen und imaginäres Probehandeln.Das Probehandeln bleibt beim Fernsehen jedoch ohne Re-sonanz und Grenzsetzung durch andere (Parakommuni-kation nach Krotz 1996, zit. nach Luca 2004).

3.6.2 Mediale Angebote und Mediennutzung Durch ihre Medienangebote entscheiden Eltern, Erziehe-rinnen und Erzieher sowie andere Personen wesentlichdarüber, welchen Stellenwert Medien für das Kind beiseiner Aneignung von Welt haben; andererseits entwi-ckeln Kinder schon früh eigene Präferenzen der Medien-nutzung. Im Folgenden werden Bildungsmöglichkeitenvon Kindern im frühen Kindesalter am Beispiel einigerausgewählter Medien dargestellt und diskutiert.

Das Bilderbuch: In der Altersphase von 3 bis 6 Jahren hatdas Bilderbuch für Kinder eine herausragende Bedeu-tung. Rund drei Viertel von ihnen beschäftigen sich täg-lich mit dem Buch (Grüninger/Lindemann 2000). BeiMädchen ist das Interesse am Bilderbuch etwas größerund auch die Beschäftigungsdauer länger als bei den Jun-gen. Allerdings variiert die Nutzung von Bilderbüchernmit dem sozialen Status der Eltern. Während der Umgangmit Bilderbüchern für Kinder der oberen Sozialschichtselbstverständlich ist, nutzt sie nur die Hälfte der Kinderaus der unteren Sozialschicht (Grüninger/Lindemann2000). Das Bilderbuch ist nicht nur von Inhalten, Abbil-dungen und Farben her interessant, sondern bietet auch

einen Anreiz zur Auseinandersetzung mit bisher unbe-kannten Sachverhalten.

Bildbetrachtung in einer sprachintensiven Situation wiedem Dialog, in der die ungebrochene Aufmerksamkeit ei-nes Erwachsenen für eine relevante Zeitspanne gesichertist, eröffnen dem Kind durch die Verbindung von Hören,Sehen, Sprechen und Fühlen vielfältige Lernchancen(Ulich 2003). Die Entdeckung von Neuem ist dem Kindebenso wichtig wie die Entdeckung und Wiederholungvon Altbekanntem. Wiederholungen tragen dazu bei, dasGehörte und Gesehene zu verstehen und in den bisherigenErfahrungsschatz zu integrieren sowie Sprache zu erwer-ben. Den Erwachsenen kommt hier die Aufgabe zu, stell-vertretend für das Kind Deutungen vorzunehmen unddem Kind Erklärungen zu den Abbildungen und darge-stellten Handlungen zu geben (Gurt 2003).

Die Nutzung von Bilderbüchern variiert mit dem sozialenStatus der Eltern. Während der Umgang mit Bilderbü-chern für Kinder der oberen Sozialschicht selbstverständ-lich und allgemein verbreitet ist, nutzt sie nur die Hälfteder Kinder aus der unteren Sozialschicht.

Das Fernsehen: Wenn das Fernsehen die Aufmerksamkeitdes Kindes erregt, hat es bereits sprechen gelernt, kannfantasieren, sich etwas wünschen, probehandeln. DasKind verfügt über innere (eigene) Bilder, wenn die Bilderdes Fernsehens seinen Erfahrungshorizont erweitern undsein Weltbild beeinflussen (Klemm 2002). Fernsehen ver-mittelt Kindern Erfahrungen, die die bisherigen Grenzenihrer Alltagserfahrung hinausschieben, und kann dadurchentwicklungsförderliche Funktionen haben. Es kann Lie-ferant von Erfahrungen, Bildern und Geschichten sein– wie es zum Teil die Eltern und Großeltern sind –, kannferner Modellfunktion übernehmen, indem es Lernendurch Beobachtung ermöglicht. Fernsehbilder können je-doch, da sie dem Kind Bilder zu allen Lebensbereichenvermitteln – ob es seinem Alter und Entwicklungsstandentspricht oder nicht – auch traumatisieren und „die füralles Kreative notwendigen inneren Räume erdrückenund einengen“ (Klemm 2002, S. 11). Diese Eindrückekönnen sehr dominant werden, wenn ein Mangel an rea-len Erfahrungen und an Kommunikation mit Interaktions-partnern besteht.

Das Fernsehen ist bei Vorschulkindern „mit großem Vor-sprung vor den anderen Medien die Nummer eins – undwenig spricht zurzeit dafür, dass sich dies in den nächstenJahren ändern wird“ (Feierabend/Klingler 2004, S. 162).Fast ein Viertel der 2- bis 3-jährigen Kinder schaut täglichzusammen mit seiner Mutter bzw. Betreuungsperson fern,40 Prozent mehrmals pro Woche und 20 Prozent nachAngaben der Mütter gar nicht (Expertise Deutsches Insti-tut für Wirtschaftsforschung [DIW]).131 Kinder, die häufi-ger den Fernseher einschalten (täglich/mehrmals wö-chentlich), und Kinder mit eigenem Fernseher in ihrem

131 Die Daten beruhen auf einem Pretest des SOEP Mutter-Kind-Frage-bogens 2004, der 60 Fälle umfasst. Da diese bundesweit zufällig aus-gewählt wurden, kann der Pretest als repräsentativ gelten; lediglichdie statistischen Unschärfen sind groß.

Page 138: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 128 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Zimmer verweilen auch länger davor (Feierabend/Klingler 2004).

Für Vorschulkinder ist Fernsehen zwar in erster Linie einFamilienmedium, doch dürfen immerhin 20 Prozent der2- bis 3-jährigen Kinder ohne eine Bezugs- oder Betreu-ungsperson fernsehen oder Videos anschauen, 32 Prozentdürfen in Ausnahmefällen alleine fern sehen, 48 Prozentdürfen dies grundsätzlich nicht (Expertise DIW). Bezüg-lich des Fernsehkonsums bestehen auch Unterschiedezwischen deutschen Kindern und Kindern nicht-deutscherHerkunft.

Türkische Kinder – als eine zur Untersuchung ausge-wählte Gruppe von Migranten – wenden sich dem Fernse-her deutlich häufiger zu als deutsche Kinder. WährendLetztere im Alter von 3 bis 6 Jahren zu etwas mehr als derHälfte fast täglich und zu fast einem Drittel mehrmals proWoche fernsehen, sehen 82 Prozent der türkischen Kinderfast täglich und 19 Prozent mehrmals pro Woche fern. Siesitzen durchschnittlich 127 Minuten vor dem Fernsehap-parat und damit rund 50 Minuten länger als die gleichalt-rigen deutschen Kinder (78 Prozent) (Grüninger/Lindemann 2000).

Auch im Vorschulalter haben Kinder bereits eindeutigeProgrammpräferenzen. So haben etwa zwei Drittel der2- bis 3-jährigen Kinder bereits eine Lieblingssendung imFernsehen (Expertise DIW). Kindersendungen wie z. B.die „Sesamstraße“ oder die „Sendung mit der Maus“ wer-den am liebsten gesehen (80 Prozent der Vorschulkinder),gefolgt von Zeichentrickfilmen und Kinderserien. DieBeliebtheit von Kinderserien steigt mit dem Alter (Grü-ninger/Lindemann 2000).

Hörspiele und Musikkassetten: Schon früh steht den Kin-dern ein breites Angebot an Hörspielkassetten zur Verfü-gung, und oftmals besitzen sie einen eigenen Rekorder(Grüninger/Lindemann 2000). Mädchen interessierensich für Hörspielkassetten mehr als Jungen und beschäfti-gen sich auch länger mit dem Zuhören. Für Kinder aushöheren Sozialschichten ist der Gebrauch von Hör- undMusikkassetten bei weitem häufiger und selbstverständli-cher als für Kinder der unteren Sozialschicht (Grüninger/Lindemann 2000).

Der Computer und das Internet: Die Fähigkeit zur Nut-zung des Computers sowie des Internets kann heutzutageals „vierte Kulturtechnik“ bezeichnet werden (Feil u. a.2004, S. 11), wobei ihr praktisch die gleiche Bedeutungwie den Grundfertigkeiten Lesen, Schreiben und Rechnenzugesprochen wird. Jedoch hängt der Zugang von Kin-dern zum Internet von der sozio-ökonomischen Lage derjeweiligen Familie ab (Medienpädagogischer For-schungsverbund Südwest [MPFS] 2003).

Im Vorschulalter kommt der Computer dem altersgemä-ßen Spielbedürfnis und Neugierverhalten entgegen(Näger 2002). Entsprechend wird er zunächst überwie-gend als Spielgerät genutzt (Expertise Theunert). Dochauch als solches hat er bei den 3- bis 6- Jährigen nocheine geringe Bedeutung; über 80 Prozent nutzen diesesSpielmedium überhaupt noch nicht. Auch vom Internetfühlen sich 6- bis 7-Jährige noch kaum angesprochen

(Iconkids & Youth International Research 2003), erst abdem 10. bis 11. Lebensjahr erhält es eine große Aufmerk-samkeit (Anhang der Expertise Theunert).

Der Software-Markt bietet zunehmend auch Lern-Soft-ware für den Vorschulbereich an, mit dem Ziel, dass Kin-der sich mit Freude und Interesse Lernstoff schneller undleichter aneignen können (Röll 2003).

3.6.3 Medienerfahrungen in verschiedenen Bildungskontexten

Die Erweiterung der Bildungswelt der Familie durch wei-tere Bildungskontexte wirkt sich auch im Hinblick aufMöglichkeiten der Erfahrung im Umgang mit Medienaus. Im Folgenden wird der Umgang mit Medien in derFamilie und in Kindertageseinrichtungen dargestellt.

(a) Medien in der Familie

Die Familie ist der Ort, an dem sowohl die ersten Zu-gänge zu den unterschiedlichen Medien geschaffen alsauch grundlegende Einstellungen und Verhaltensweisenim Kontext der Mediennutzung vermittelt werden. DerFamilie kommt ferner die Bedeutung zu, eine Auswahlvon Medien und damit verbunden von Inhalten und Bot-schaften zu treffen, die der Entwicklung des Kindes ange-messen sind. Eltern von Kindern im Vorschulalter müssendabei entscheiden, wie viel gemeinsame Zeit der Medien-nutzung sie mit ihren Kindern verbringen (Gurt 2003).Diese familiären Voraussetzungen erlauben es dem Kind,schrittweise die notwendigen Kompetenzen des Medien-gebrauchs zu entwickeln und selbstständig Medienange-bote zu nutzen.

Auf die Gestaltung des Medienumgangs nehmen sowohldie sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Lebensbe-dingungen von Familien als auch die Familienkonstella-tionen, elterlichen Werte und Erziehungsstile Einfluss.Unter eingeschränkten sozio-ökonomischen Bedingungenbesteht oftmals eine familiäre Lebens- und Wohnsitua-tion, in der das Fernsehprogramm die gemeinsam ver-brachte Zeit dominiert. „Privilegierte“ Kinder aus den bil-dungsnahen Schichten haben eine sehr viel größereChance als Kinder aus Familien der Unterschicht, bei-spielsweise ein unter inhaltlichen und ästhetischen Ge-sichtspunkten anspruchsvolles Bilderbuchangebot zu er-halten, ein der Entwicklung entsprechend ausgewähltesAngebot an Hörspielkassetten zu nutzen sowie dem Alterentsprechend ausgewählte Fernsehsendungen zu sehen.

Die meisten Eltern legen zwar (unabhängig von Schicht-zugehörigkeit und kulturellem Milieu) Wert auf das Se-hen von Vorschulsendungen und Kindersendungen (wie„Die Sendung mit der Maus“), doch diese partielle An-gleichung bezieht sich nicht auf die Nutzung des Vor-abendprogramms insgesamt oder die Formen des Medien-umgangs, denn diese unterscheiden sich schicht- undmilieuspezifisch in starkem Maße und verweisen auf un-terschiedliche Kommunikationsstile (Barthelmes u. a.1991). Eltern mit hohem Bildungsstand sowie in ökono-misch abgesicherten Lagen stehen dem Fernsehen zu-meist kritischer gegenüber als Eltern aus benachteiligten

Page 139: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 129 – Drucksache 15/6014

Bildungsschichten; ferner tendieren sie stärker dazu, denGebrauch von Medien in ihr Erziehungskonzept zu inte-grieren sowie Alternativangebote und Gelegenheiten derKommunikation zu schaffen (Best 1999). Dagegen sinddie Lebensbedingungen in Familien mit unkritischemoder problematischem Fernsehkonsumverhalten vielfachvon Belastungen gekennzeichnet, die eine abwechslungs-und anregungsreiche Ausgestaltung des Familienlebensbehindern. Das Fernsehen übernimmt hier oftmals dieFunktion, den Kontakt zur Außenwelt aufrechtzuerhaltenund das Zusammenleben auf engem Raum zu harmonisie-ren.

Angesichts bestehender schichtspezifischer Differenzensollte jedoch nicht vergessen werden, dass häufig auchviele der so genannten „privilegierten“ Kinder aus höhe-ren Sozialschichten mit einer oftmals umfangreichenAusstattung an audiovisuellen Medien und einem von Er-wachsenen unbeachteten, ausgedehnten Mediengebrauchallein gelassen werden und somit einen problematischenMedienkonsum entwickeln (können).

(b) Medien in Kindertageseinrichtungen

In vielen Kindertageseinrichtungen wird medienpädago-gische Arbeit geleistet, um ein kompetentes Handeln derKinder im Umgang mit den Medien zu fördern (Theunert/Lenssen 1999; Deutsches Jugendinstitut 1994). Kinderta-geseinrichtungen verfügen über Möglichkeiten, Kinderndie verschiedenen Medien nahe zu bringen und ihre Ver-arbeitung von Medieninhalten zu fördern. Die handlungs-leitenden Themen oder auch Entwicklungsthemen derKinder lenken ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte Me-dieninhalte und Medienfiguren (Theunert/Lenssen 1999).In den Gesprächen der Kinder geht es deshalb häufig umErlebnisse, Erfahrungen, Gefühle und Einschätzungen,die im Kontext ihrer Mediennutzung stehen. Sie sind im-mer auch Hinweise auf die Person des Kindes und seineSituation.

In Fantasie- und Rollenspielen können die Kinder das Er-lebte und Gesehene nachspielen oder variieren (Sutter1999). Bei Kindergartenkindern kommen die Spiele mitAbenteuer- und Actioninhalt am häufigsten vor und wer-den vor allem von den Jungen bevorzugt, die insgesamtzu weit mehr medienbezogenen Spielen tendieren alsMädchen (Barthelmes u. a. 1991). Im medienbezogenenSpiel schaffen sich Kinder fiktive Welten. Medienrollenund Medieninhalte dienen der Realitätsverarbeitung. Ins-besondere die Jungen können in ihrer Geschlechtsrollen-entwicklung offenbar auf „Heldenspiele“ nicht verzich-ten. Kinder mit „problematischem“ medienbezogenemVerhalten bringen immer auch zum Ausdruck, dass siesich in einer problematischen Lebenssituation befindenund oftmals auch familiale Probleme haben. Die Medien-fixierung dieser Kinder sollte nicht negativ bewertet, son-dern entschlüsselt werden (Barthelmes u. a. 1991).

3.7 Zusammenfassung und Schluss-folgerungen

Auf der Grundlage neuerer Forschungsergebnisse zeigtKapitel 3 die wesentlichen Merkmale und Erfordernissevon Entwicklungs- und Bildungsprozessen in der Lebens-

phase von 0 bis 6 Jahren auf. Besonderer Wert wird dabeiauf die ersten 3 Lebensjahre gelegt. Es wird gezeigt, dassdie Entwicklung in früher Kindheit von zwei Gegensätz-lichkeiten geprägt ist: Zum einen ist die Entwicklung indieser Lebensphase ausgesprochen robust; Kinder gehenBeziehungen ein, sie lernen, ihre Fähigkeiten zu entwi-ckeln und sich ihre Lebenswelt anzueignen. Zum anderensind sie in dieser Lebensphase jedoch auch im höchstenMaße verletzlich; Entwicklungs- und Bildungsprozessekleiner Kinder sind in jeder Hinsicht abhängig von derLebensumwelt, die ihre primären Bezugspersonen undandere Erwachsene bereitstellen.

Frühe Entwicklungs- und Bildungsprozesse von Kindernsind insbesondere durch folgende Voraussetzungen undErfordernisse gekennzeichnet132:

– Die Entwicklung des Kindes wird heute als dynami-scher Interaktionsprozess zwischen der genetischenAusstattung des Menschen und seinen Erfahrungenverstanden. Die Art des Zusammenspiels von den bio-logischen und den lebensweltlichen Bedingungen be-einflusst die Entstehung kindlicher Bildungsprozessemaßgeblich.

– Entwicklung lässt sich als Transaktionsprozess be-schreiben. Jedes Kind bringt darin seine individuellenVerhaltensbesonderheiten (u. a. Verhaltensstile, Tem-perament) ein, nimmt seine Umwelt individuell wahrund „antwortet“ entsprechend auf seine Umwelt. Ent-wicklung unter transaktionalem Gesichtspunkt zu ver-stehen, ermöglicht ein besseres Verständnis sowohlder komplexen Erfordernisse hinsichtlich der körperli-chen, geistigen, seelischen und sozialen Entwicklungeines Kindes als auch der Einflüsse, die für seine Ent-wicklung und Bildung nachteilig sind bzw. zu Beein-trächtigungen und Störungen führen können.

– Selbstregulation muss als entwicklungsnotwendigeAufgabe des Kindes in Alltagserfahrungen in früherKindheit erworben werden. Stresssituationen, die dieRegulationsfähigkeit des Kindes übersteigen, könnenFehlanpassungen und Störungen in verschiedener Hin-sicht bewirken. Nicht alle Kinder erlernen in gleichemAusmaß, sich selbst zu regulieren, dies ist sowohl bio-logisch als auch sozial bedingt. Entwicklungs- undVerhaltensauffälligkeiten des Kleinkindes hängen im-mer auch mit Störungen der Erwachsenen-Kind-Be-ziehung zusammen.

– Der Entwicklungs- und Bildungsverlauf des Kleinkin-des ist in hohem Maße von fürsorglichen, pflegendenund betreuenden Beziehungen in verlässlichen, emo-tional sicheren und beschützenden Settings zu weni-gen erwachsenen Bezugspersonen abhängig. Die frü-hen Bindungsbeziehungen unterscheiden sich vonallen späteren Beziehungen.

– Bildung ist als ko-konstruktiver Prozess zu verstehen,an dem das Kind und die erwachsenen Bezugsperso-

132 Andere auf Forschung basierte Darstellungen nehmen bei der Be-schreibung von Bedingungen frühkindlicher Entwicklung und Bil-dung vergleichbare Akzentsetzungen vor (Shonkoff/Phillips 2000).

Page 140: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 130 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

nen beteiligt sind. Wenn das Kind und seine Bezugs-personen aufeinander bezogen sind, die Erwachsenendie Bedürfnisse des Kindes verstehen und unmittelbarbeantworten, kann es sich gesund (im Sinne von um-fassendem Wohlergehen) entwickeln sowie seine ko-gnitiven, sprachlichen, sozialen und emotionalen Fä-higkeiten aufbauen.

– Das Kind bedarf in der frühen Kindheit vielfältiger Er-fahrungsangebote von seinen Eltern, die sie zur Explo-ration und Auseinandersetzung mit der sie umgeben-den kulturellen, materiellen und sozialen Weltermutigen und anregen.

– In der Kleinkindphase, spätestens ab dem Vorschulal-ter (d. h. ab dem 3. Lebensjahr), bedürfen Kinderneuer, den familialen Rahmen erweiternder und ergän-zender Bildungsgelegenheiten. Die Familie bietetzwar den Boden für fundamentale Entwicklungs- undBildungsprozesse des Kindes, jedoch sind unter dengegebenen gesellschaftlichen Bedingungen ihre Mög-lichkeiten, Kindern die Teilhabe an der komplexen,pluralistischen und einem schnellen Wandel unterwor-fenen Gesellschaft zu ermöglichen, eingeschränkt.

– Familie kann nur das weitergeben und beim Kind initi-ieren, was innerhalb des Rahmens ihrer sozialen undkulturellen Ressourcen liegt. Der Bildungshintergrundder Eltern, die reale Lebenslage und die konkreten Le-bensbedingungen haben einen stark modifizierendenEinfluss darauf, welche Chancen der Entwicklung undBildung Kinder in ihrer familialen Umwelt zur Verfü-gung stehen. Aufgrund eines niedrigen Bildungsni-veaus, verbunden mit sozial benachteiligten und pre-kären Lebenslagen sowie unter ungünstigen sozio-ökonomischen Bedingungen, gelingt es vielen Fami-lien nicht, die Bedürfnisse ihrer Kinder zu erfüllen, ih-nen genügend Zeit und Aufmerksamkeit zu widmenund ihnen anregungsreiche Bedingungen des Auf-wachsens zu bieten. Kinder, die unter Armutsbedin-gungen aufwachsen, einen Migrationshintergrund ha-ben, mit Behinderungen leben müssen oder derenEltern psychisch beeinträchtigt sind, haben erschwerteEntwicklungs- und Bildungsbedingungen.

Hieraus lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen:Vor dem Hintergrund der Erkenntnisse und Befunde zuEntwicklungs- und Bildungsprozessen in früher Kindheitsowie den Erfordernissen, die sich aufgrund gesellschaft-licher Wandlungsprozesse ergeben, muss die Entwick-lung von Kindern mehr denn je sowohl als eine Angele-genheit der Eltern als auch der Gesellschaft insgesamtbetrachtet werden. Das angesammelte Wissen über Be-dingungen, Beeinträchtigungen und Risiken der Entwick-lung von kleinen Kindern macht einen Dialog und einegemeinsam geteilte Verantwortung für das Aufwachsender Kinder erforderlich. Die Verantwortung dafür, dassKinder sich positiv entwickeln, kann nicht einseitig dereinzelnen Familie übertragen werden, sie muss im Rah-men eines neuen Verständnisses von öffentlicher Verant-wortung gemeinsam übernommen werden. Da die Ent-wicklungs- und Bildungsprozesse der Kinder weitgehendvon den Umwelten abhängig sind, in die sie hineinwach-

sen – sei es die Familie, die Tagespflege oder die Kinder-tagesbetreuung –, ergibt sich als große gesellschaftlicheHerausforderung, die Qualität der Bildungswelt der Fa-milie ebenso wie die der Bildungsorte Tagespflege undKindertageseinrichtungen sowie sonstiger bildungsrele-vanter Erfahrungsräume und Lernwelten zu schaffen. Esliegt im öffentlichen Interesse, dass die Kinder sich ge-sund und ihre Möglichkeiten ausschöpfend entwickelnkönnen, damit sie an der Gesellschaft umfassend teilha-ben können, die ihrer bedarf.Im Einzelnen ergibt sich Folgendes:

– Die Lebensphase der frühen Kindheit darf nicht nurals Vorbereitungszeit für die Schule gesehen werden,sondern muss als Phase außerordentlicher Entwick-lungs- und Bildungsmöglichkeiten wahrgenommenwerden. Entwicklungs- und Bildungsprozesse derKinder verlaufen individuell verschieden. Erwachsenekönnen diesem Faktum nur durch die Anerkennung in-dividueller Geschwindigkeiten und Verläufe der Ent-wicklung sowie durch eine individuell abgestimmteFörderung gerecht werden.

– Die Familie muss als grundlegender und bedeutsamerOrt der Vermittlung von Bildung anerkannt werden.Sie ist der wichtigste Ort, die Bereitschaft und Fähig-keit zu lebenslangem Lernen bei den Kindern anzule-gen, aber auch ein Ort, an dem die lebenslang wirksa-men Bildungsdifferenzen entstehen. Damit mehrChancengleichheit durch individuelle Förderung derKinder möglich wird, muss die Familie in ihrer Leis-tungsfähigkeit unterstützt werden. Damit sich die Be-dingungen, unter denen Kinder aufwachsen, verbes-sern können, bedarf es verstärkter Aufmerksamkeit fürUnterstützungsbedarfe sowie optimierter Bildungs-und Informationsangebote für werdende Mütter undVäter bzw. für Eltern von kleinen Kindern. Dazu ist eserforderlich, das Netz von Multiplikatoren/innen, zudenen auch Frauen- und Kinderärzte, Hebammen so-wie Mitarbeiter von Familienbildungsstätten gehören,weiter auszubauen.

– Kinder brauchen für ihre Entwicklung neben der Bil-dungswelt der Familie schon frühzeitig weitere Bil-dungsgelegenheiten. Ihr eigenständiger Wert für diefrühen Entwicklungs- und Bildungsprozesse des Kin-des muss in der Öffentlichkeit stärker vermittelt wer-den. Durch zielgruppenadäquate Angebote sollte eineInanspruchnahme möglichst vielen Familien attraktivgemacht werden. Hierzu gehört die Förderung undUnterstützung der Akzeptanz von Mutter-Kind-Grup-pen und Elterngruppen ebenso wie die Förderung derInanspruchnahme von Angeboten der Kinderbetreu-ung insbesondere bei bildungsmäßig und sozial be-nachteiligten Familien mit eingeschränkten sozialen,kulturellen und ökonomischen Ressourcen.

– Kinderbetreuungseinrichtungen müssen vor dem Hin-tergrund der umfangreichen Erkenntnisse zu den Be-dürfnissen und Erfordernissen der Entwicklung vonkleinen Kindern größtmögliche Qualität bieten, umsowohl stabile Beziehungen als auch eine anregungs-

Page 141: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 131 – Drucksache 15/6014

reiche Umwelt sicherzustellen. In erster Linie muss esdabei um die Verbesserung der Ausbildung des Perso-nals in Tagespflege sowie in Einrichtungen der Kin-dertagesbetreuung gehen. Das Wissen von Erzieherin-nen und Erziehern über Grundbedürfnisse undEntwicklungserfordernisse in früher Kindheit mussebenso vergrößert werden wie das Wissen über alters-phasentypische Entwicklungsschritte und Entwick-lungsmerkmale, um auf Verzögerungen und Störungender Entwicklung rechtzeitig und effektiv eingehen zukönnen. Erzieherinnen und Erzieher müssen insbeson-dere auch durch ihre Basisqualifikation in die Lageversetzt werden, sich ständig weiterbilden zu können,um sich unter anderem auch mit neuen Forschungser-kenntnissen, die für die nächsten Jahre zu erwartensind, auseinandersetzen können.

4 Bildungsprozesse im Schulalter4.1 Ausgangslage Während im vorigen Kapitel die Bildungsprozesse vonKindern im Alter zwischen 0 und 6 Jahren thematisiertwurden, beschäftigt sich dieses Kapitel mit den Bildungs-prozessen von Heranwachsenden im Schulalter. Mit demEintritt in die Grundschule ändern sich auch der gesell-schaftliche Status sowie die Rollenzuschreibung des Kin-des: Das Kind wird zur Schülerin, zum Schüler. Nebender nach wie vor wichtigen Bildungswelt der Familie undnach dem Besuch einer öffentlichen Kindertageseinrich-tung kommt die Schule als neuer Bildungsort hinzu. Fer-ner werden für die meisten Kinder und Jugendlichen auchdie Gleichaltrigen-Gruppen, für einen Teil von ihnen zu-dem die außerschulischen Bildungsorte der Jugendarbeit,Vereine und Verbände sowie die Kulturarbeit nach undnach bedeutsam. Bildungsprozesse finden darüber hinausim Rahmen selbst organisierter Freizeitaktivitäten stattund im Kontext von Gelegenheitsarbeiten in Gestalt vonSchülerjobs, denen bis zum Alter von 15 Jahren bereitsüber ein Drittel aller Heranwachsenden nachgeht. Hinzukommen die Medien als vielfältige Lernwelten sowie alselementare Bestandteile des Aufwachsens.

Durch die in den vergangenen Jahrzehnten zunehmendeAusdehnung der Schulzeit auf die Lebens- und Alltags-zeit von Kindern und Jugendlichen ist es zu einer „Ver-schulung“ der Lebensphasen Kindheit und Jugend ge-kommen, mit der zugleich eine Scholarisierung bzw.„Verschulung“ der außerschulischen Lebensbereiche ein-hergeht (Fölling-Albers 2000; Krüger 1996). Angesichtsder Verallgemeinerung und der Inflation von schulischenBildungstiteln wird der Erwerb von Bildungsressourcenund Bildungskompetenzen in außerschulischen Bereichenzunehmend wichtiger. Das heißt, dass den Angeboten deraußerschulischen Bildungsorte, etwa in Gestalt der Insti-tutionen der Kinder- und Jugendhilfe, der so genannten„Nebenschulen“ (z. B. Nachhilfe, Sprachschulen, Musik-schulen) oder anderer Lernwelten (z. B. Schülerjobs, Me-dien) eine veränderte und gestiegene Bedeutung zu-kommt. Auch aktuelle Zeitbudgetstudien machendeutlich, dass Kinder und Jugendliche im Alter zwischen10 und 15 Jahren nicht nur rund 27 Stunden pro Wochemit dem Lernen in und für die Schule verbringen, sondern

daneben durchschnittlich noch weitere 5 Stunden pro Wo-che in informellen Kontexten lernen, z. B. mit Medien, inNebenschulen oder in selbst organisierten Gruppen (Wil-helm/Wingerter 2004).Kennzeichnend für die Bildungsbiografien von Kindernund Jugendlichen im Schulalter ist nicht nur die Tatsache,dass sie sich ein ständig breiter werdendes Spektrum anBildungsorten und Lernwelten erschließen müssen. Viel-mehr müssen sie in dieser Altersspanne, die man noch ein-mal in die Phase der mittleren und späten Kindheit (6 bis12 Jahre) sowie in die Phase der Adoleszenz (12 bis16 Jahre) unterteilen kann, jeweils spezifische Entwick-lungsaufgaben bewältigen. Dabei bedingen sich die Be-wältigung von Entwicklungsaufgaben sowie der Erwerbvon entsprechenden Kompetenzen gegenseitig (Fend2001; Dreher/Dreher 1985). Für die mittlere Kindheit (6 bis 12 Jahre) ergeben sichfolgende Entwicklungsaufgaben (Dreher/Dreher 1985,S. 59):– Erlernen körperlicher Geschicklichkeit,– Aufbau einer positiven Einstellung zu sich als einem

wachsenden Organismus,– Erreichen persönlicher Unabhängigkeit,– Entwicklung grundlegender Fertigkeiten im Lesen,

Schreiben und Rechnen,– Entwicklung von für das Alltagsleben notwendigen

Konzepten und Denkschemata,– lernen, mit Gleichaltrigen zurechtzukommen,– Entwicklung von Einstellungen gegenüber sozialen

Gruppen und Institutionen,– Entwicklung von Gewissen, Moral und einer Werte-

skala,– Erlernen eines angemessenen männlichen oder weibli-

chen Rollenverhaltens.In der Adoleszenz (12 bis 16 Jahre) beziehen sich dieEntwicklungsaufgaben auf die Bereiche intrapersonalerArt (biologische bzw. psychische Veränderungen), inter-personaler Art (das gesamte Beziehungsgefüge einer Per-son) sowie kulturell-sachlicher Art (die Gesamtheit derkulturellen Ansprüche). Daraus ergeben sich für die Ado-leszenz folgende bedeutsamen Entwicklungsaufgaben(Fend 2001, S. 211):– Verarbeitung der biologischen Entwicklung (Körper-

bewusstheit, Sexualität),– Entwicklung einer neuen Beziehung zu sich selbst so-

wie Entwicklung einer neuen Identität,– Reorganisation der sozialen Beziehungen zu Eltern,

Gleichaltrigen und Liebespartnern (Umbau bzw. Auf-bau neuer Beziehungsformen),

– Umgang mit schulischen Leistungsanforderungen so-wie die Erarbeitung einer Berufsperspektive (Ausbauund Umbau der Leistungsbereitschaft),

– Auseinandersetzung mit Welt und Aufbau von kultu-rellen Orientierungen.

Page 142: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 132 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Die Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben kann alseine Bildungsleistung der Kinder und Jugendlichen eige-ner Art angesehen werden. Im Verlauf ihrer Bildungsbio-grafien erarbeiten sie sich jeweils ein neues und bewuss-tes Verhältnis zu ihrer subjektiven Welt, zu sich selbstsowie zu ihrem Körper, ferner zur kulturellen, materiell-dinglichen und sozialen Welt (vgl. Abschnitt 2.2). Dieseauf den ersten Blick universell erscheinenden Entwick-lungs- und Bildungsaufgaben sind jedoch historisch-ge-sellschaftlich überformt und von den unterschiedlichensozialen Lebenslagen, in denen Kinder und Jugendlicheaufwachsen, beeinflusst. Eine Reihe von Entwicklungs-schritten von der Kindheit in die Jugendphase hat sich imVerlauf der letzten Jahrzehnte biografisch nach vorne ver-lagert, beispielsweise die zunehmende selbstständigeAuswahl von Freunden oder der selbst erworbene und ge-staltete Umgang mit Medien (Krüger/Grunert 2000; Köt-ters u. a. 1996).

Mit dem Konzept der Entwicklungs- und Bildungsaufga-ben, das die aktive Auseinandersetzung von Kindern undJugendlichen mit den Anforderungen der kulturellen, ma-teriell-dinglichen, sozialen und subjektiven Welt be-schreibt, ist jedoch noch wenig darüber ausgesagt, wel-chen Stellenwert die formellen und informellenBildungsprozesse in der Bildungswelt der Familie, imBildungsort der Schule sowie in außerschulischen Bil-dungsorten und Lernwelten einnehmen, welche Kompe-tenzen Heranwachsende hierbei erwerben und wie ihre je-weiligen Bildungserträge dabei aussehen. Genau dieswird im Folgenden im Mittelpunkt der Betrachtung ste-hen.

4.2 Bildungsprozesse in der Familie Die Besonderheit der familialen Bildungswelt für Aneig-nungsprozesse ergibt sich auch im Schulalter aus ihreralltäglichen Präsenz, ihrer lebenslangen Bedeutung sowieihrer kanalisierenden Funktion im Hinblick auf die Eröff-nung von Zugängen zu weiteren Lebenswelten. Im fami-liären Aufwachsen – gerahmt durch die milieuspezifischeEinbettung der Familie und abhängig von familialen An-regungspotenzialen – eröffnen sich Kindern und Jugend-lichen Erfahrungsmöglichkeiten sowie umfassende, dieganze Person betreffende und in sämtliche Weltbezügeeingebettete Lernprozesse. Familiäre Aneignungspro-zesse tragen zur Ausbildung eines persönlichen Habitusbei, in dem sich umfassende individuelle und kollektivgebundene, d. h. dem sozialen sowie kulturellen Milieuder Lebensführung entsprechende Handlungs-, Wahrneh-mungs- und Denkmuster ausdrücken. Er formt die Art desHerangehens an die dingliche, soziale und kulturelle Le-benswelt sowie den Umgang damit und erhält so Einflussauf die kindliche Lebensführung und die Fähigkeit, sichRessourcen für den eigenen Entwicklungs- und Bildungs-prozess zu erschließen. Der in der familiären Praxis er-worbene Habitus ist jedoch nicht statisch und unveränder-bar, sondern wird durch den Zugang von Kindern undJugendlichen zu sich im Altersverlauf ausweitenden Sozi-alräumen modifiziert – sie erfahren die familiäre Alltags-welt nicht mehr als einzige, sondern als eine von vielenAlltagswelten (Stecher 2000). Im Zuge der wachsenden

„Konkurrenz“ mit außerfamilialen Deutungsmustern wer-den Aneignungsprozesse in enger Wechselwirkung mit fa-miliären Erziehungs- und Bildungsprozessen im Verlaufvon Kindheit und Jugend ergänzt, modifiziert und überla-gert (Grundmann u. a. 2003a; Lauterbach 2000; Lettke2000).

Von institutionellen Bildungs-, Betreuungs- und Erzie-hungsarrangements unterscheidet sich die Familie we-sentlich durch ihre geringe funktionale Spezialisierung.Dadurch haftet familiären Aneignungsprozessen eine ge-wisse Diffusität an, die einerseits einer Funktionalisie-rung familiärer Aneignungsprozesse für Erziehungs- undBildungsprozesse einen Riegel vorschiebt, andererseitsSpielräume eröffnet, die sowohl Chancen als auch Risi-ken für die Entwicklung und das Lernen von Kindern undJugendlichen mit sich bringen können. Wird im Folgen-den der Fokus darauf gerichtet, welche entwicklungs- undbildungsrelevanten Kompetenzen Kinder und Jugendlicheim familiären Alltag (a) sowie mit Blick auf schulbezo-gene Unterstützungsleistungen der Familie (b) erwerben,so dürfen deswegen sozial differenzierende Rahmenbe-dingungen des familialen Aufwachsens (c) nicht aus demBlick verloren werden. Aus ihnen erschließen sichGefährdungspotenziale und Benachteiligungsmuster fa-miliärer Aneignungsprozesse, die Herausforderungen fürdas Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung und fürdie Gestaltung des Bildungs-, Betreuungs- und Erzie-hungssystems mit sich bringen.

(a) Informelle Bildungsprozesse in der Familie

Informelle Bildungsprozesse in der Familie erfolgen imRahmen alltäglicher raum-zeitlicher Ordnungsmuster undHandlungsroutinen, gemeinsamer Aktivitäten, der Gestal-tung familiärer Ereignisse und der Bewältigung vonKrisen sowie in Interaktionsprozessen zwischen den Fa-milienangehörigen. In der alltäglichen familiären Lebens-führung eignen sich Kinder und Jugendliche – mit zuneh-mender Selbstständigkeit in Wechselwirkung undKonfrontation mit außerfamilialen Erfahrungen – grund-legende zukunftsgestaltende Handlungs- und Deutungs-muster an. Zu ihnen gehören lebenspraktische Kenntnisseund Fähigkeiten, Leistungshaltungen und Bildungsaspira-tionen ebenso wie reproduktive, regenerative und genera-tive Orientierungen. Zentrale Voraussetzungen für Bil-dungsprozesse in der Herkunftsfamilie sind Reziprozität,Verlässlichkeit und Solidarität, die in Anerkennungsver-hältnissen die Basis für den Erwerb von Beziehungskom-petenz bilden (Grundmann u. a. 2003a, S. 28ff.). Chancenbzw. fehlende Möglichkeiten zu ihrer Aneignung korres-pondieren mit der Entwicklung bildungsrelevanter kogni-tiver, sozialer und personaler Kompetenzen.

Grundlegende lebenspraktische Fertigkeiten und Fähig-keiten erwerben Kinder und Jugendliche – dem spezifi-schen Lebensstil der Familie entsprechend – vor allem inder alltäglichen familiären Lebensführung. Hier eignensie sich beispielsweise Kenntnisse in Haushaltsführung– aufgrund der geschlechterspezifischen Arbeitsteilungvor allem ein Kompetenzbereich von Mädchen (Corneli-ßen/Blanke 2004b) – und ökonomische Verhaltensweisen

Page 143: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 133 – Drucksache 15/6014

ebenso an wie die Benutzung von Verkehrsmitteln. AmBeispiel des Umgangs mit Geld lässt sich verdeutlichen,dass sie dabei teilweise auf in anderen Bildungsorten er-worbenem Wissen aufbauen, hier auf grundlegende schu-lisch vermittelte mathematische Operationen, und dassdie praktische Anwendung und die handelnde Vertiefungdieser Kenntnisse wesentlich auf der Basis familialer Bil-dungsprozesse und unter dem zunehmenden Einfluss derGleichaltrigen-Gruppe erfolgt (Walper 2004).

Die Mechanismen, die ökonomischen Lernprozessen inder Familie zugrunde liegen, und deren Effekte lassensich anhand von Ergebnissen aus der Armutsforschungillustrieren. Danach eignen sich Grundschulkinder denUmgang mit Geld über elterliche Modelle zum Konsum-und Ausgabeverhalten sowie durch die Einbeziehung indie ökonomische Haushaltsführung an, beispielsweise imRahmen gesamtfamilialer Sparstrategien oder der Kom-munikation über Geldprobleme (Chassé u. a. 2003). Kin-der werden auch direkt durch die Eltern angeleitet, z. B.durch Empfehlungen zur Einteilung oder zum Sparen desTaschengelds, damit sie sich auch größere Konsumwün-sche erfüllen können. Dass derartige Muster und Erzie-hungspraktiken wirksam sind, zeigt sich in „eine(r) ge-wisse(n) Gleichgerichtetheit im Denken und Handeln vonEltern und Kindern“ bei der Bewältigung der Armuts-situation (Chassé u. a. 2003, S. 242). Neben Fähigkeitenzur Gestaltung ökonomischer Handlungsspielräume bzw.-beschränkungen erhalten Kinder und Jugendliche imRahmen der „Gelderziehung“ in der Familie, ergänztdurch Vergleiche zwischen Konsum- und Partizipations-möglichkeiten in Schule und Gleichaltrigen-Netzen, Ein-blick in gesellschaftliche Disparitäten, die sich auch aufStrategien zur eigenen sozialen Platzierung auswirken(Butterwegge u. a. 2004).

Zentrale Bedeutung erhalten Lern- und Bildungsprozesseim familiären Interaktions- und Handlungskontext für dieEntwicklung kultureller Orientierungen und Bewertungs-muster, symbolischer Praxen sowie für soziale Verortun-gen, die sich in der Ausbildung eines einzigartigen unddennoch kollektiv bzw. milieuspezifisch eingebundenenHabitus niederschlagen (Tomanović 2004; Betz 2004;Grundmann u. a. 2003a). Ausdruck der sozialen und kul-turellen Gestaltung des Familienlebens sind z. B. Formender Medienaneignung, vom Fernsehen über das Radiohö-ren bis hin zum Gebrauch von Printmedien (Hurrelmann2004a; vgl. Abschnitt 4.6.3). Eine familiale Lesekultur,die von den Heranwachsenden aktiv mitgestaltet wird,trägt beispielsweise wesentlich dazu bei, dass Kinder Le-sefreude sowie – damit einhergehend – Lesekompetenzentwickeln, die förderlich für den Erwerb personaler,kognitiver, sozialer und kultureller Kompetenzen sindund sich auch in schulischen Leseleistungen niederschla-gen (ebd.; Baumert u. a. 2003c).133 Den Ergebnissen derPISA-Studie folgend, erhöhen die Zugehörigkeit zu einer

höheren Sozialschicht und zu einer Familie ohne Migra-tionshintergrund sowie ein hohes Bildungsniveau dieChance, gute Leseleistungen zu erzielen. Gleichzeitig fin-den sich Jugendliche mit hohen Lesekompetenzen jedochin allen Sozialschichten (Baumert/Schümer 2001), wasauf zusätzliche Faktoren der informellen familiären So-zialisationsprozesse hinweist (Hurrelmann 2004a; vgl. indiesem Abschnitt (c)). Insbesondere Mädchen profitierenvon einer familialen Lesekultur, da sie im Rahmen ge-schlechterstereotyper Zuschreibungen und aufgrund müt-terlichen Vorbildverhaltens mehr und häufiger lesen alsJungen (ebd.), ein Zusammenhang, der sich auch bei derAneignung musikalischer Kompetenzen in der Familiefindet (Zinnecker 1996).

Zumindest im Grundschulalter werden kulturelle und so-ziale Bildungsprozesse im Rahmen der Freizeitgestaltungund der Nachmittagsbetreuung – u. a. in Abhängigkeitvon Erwerbszeiten und Möglichkeiten der Kinderbetreu-ung – weitgehend durch die Eltern organisiert (Janke2002). Damit eröffnen oder verschließen sich Kindernund Jugendlichen Lernprozesse und Möglichkeiten zurAusweitung von Kenntnissen und Fähigkeiten im Kon-text institutioneller Bildungsorte und kultureller sowie so-zialer Angebote, z. B. bei der Teilnahme an Kursen sowieVereins- oder Verbandsangeboten im sportlichen, musi-schen und handwerklichen Bereich. Dass eine Beteili-gung von Kindern und Jugendlichen an derartigen Ange-boten selbst noch im Übergang von der Kindheit zurJugend durch die familiäre Alltagsgestaltung beeinflusstist, zeigen Analysen zu gemeinsam von Eltern und Kin-dern ausgeübten musikalischen und sportlichen Aktivitä-ten (Wahler 2004, S. 124; Georg 1996; Georg u. a. 1996)sowie zur Nutzung neuer Kommunikationstechniken(Tully 2004a, S. 176) und zum Medienkonsum (Fuhs2000; Bertram/Hennig 1995, S. 115; vgl. Abschnitt4.6.3). Auch die elterliche Förderung von Gleichaltrigen-Kontakten insbesondere für jüngere Kinder (z. B. Besu-che zu Hause oder Gestaltungsfreiräume am Nachmittag)ermöglicht soziale Erfahrungen und Lernprozesse, die be-deutsam für personale und soziale Bildungsprozesse sind(Vorheyer 2004; Stecher 2000; Krappmann/Oswald 1990;vgl. Abschnitt 4.4).

Mit dem Eintritt in die Schule tragen Kinder ihre sozialenund leistungsbezogenen Erfahrungen aus dem schuli-schen Alltag in die familiäre Interaktion hinein (Humm-rich 2003, 2002; Wild 2001; Kramer u. a. 2001). So lässtsich aus den Übereinstimmungen zwischen Müttern undihren 8- bis 9-jährigen Kindern zur Schulfreude, zur Inte-gration in die Klasse und zur Beziehung zur Lehrerinbzw. zum Lehrer schließen, dass Kinder von vielen schu-lischen Erlebnissen zu Hause erzählen (Stecher 2004).Die Aussagen der Mütter weisen gleichzeitig darauf hin,dass schulische Leistungsanforderungen bereits in dieserAltersstufe zu Konflikten im familiären Alltag führen(Betz 2004). Die hohe Inanspruchnahme von Erziehungs-beratungsstellen aufgrund von Schul- und Leistungspro-blemen bei Kindern, insbesondere bei Jungen (40 Prozentgegenüber 27 Prozent bei Mädchen; Bundeskonferenz fürErziehungsberatung 2004, S. 6), weist ebenfalls darauf

133 Nach Rupp u. a. (2004) trägt Lesekompetenz zur Förderung der Vor-stellungsbildung, der ästhetischen Sensibilität, der sprachlichenDifferenziertheit, des Moralbewusstseins und der kognitiven Orien-tierung sowie zur Wissensvertiefung und zur sozialen Reflexionsfä-higkeit bei.

Page 144: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 134 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

hin, dass mit dem Schulbesuch erhebliche familiäre Be-lastungen einhergehen können.

Auch mit zunehmendem Alter sind schulische Angele-genheiten noch relevante Gegenstände des Familienall-tags (Furtner-Kallmünzer u. a. 2002, S. 136f.; Fend 2001),aus denen die weitgehenden Parallelen in elterlichen undkindlichen Bildungsaspirationen resultieren dürften(Busse/Helsper 2004). Sind elterliche Bildungsaspira-tionen überhöht und erleben Kinder die elterliche Zunei-gung als noten- und leistungsabhängig, so kann dies zueiner Belastung des Familienklimas führen. Zusammenmit mangelnder Unterstützung und fehlender emotionalerZuwendung der Eltern können Auseinandersetzungen umSchulleistungen dazu beitragen, dass sich schulischeZiele trotz günstiger äußerer Rahmenbedingungen nichtrealisieren lassen (Expertise Helsper/Hummrich, S. 29134).

Mit dem Übergang von der Kindheits- in die Jugendphasesind informelle Bildungsprozesse in der Familie zuneh-mend durch die Autonomieansprüche der Heranwach-senden und die Infragestellung des intergenerationellenMachtgefälles geprägt (Gerris/Grundmann 2002). Diesäußert sich beispielsweise in einer deutlich kritischerenHaltung von 13- bis 15-Jährigen als von 10- bis 12- oder16- bis 18-Jährigen gegenüber dem Erziehungsstil derEltern (Zinnecker u. a. 2002, S. 37) sowie in der zuneh-menden Abwehr elterlicher Kontrollansprüche, dieFreiräume von Mädchen stärker eingrenzen als die vonJungen. Die Auseinandersetzung mit den Entwicklungs-und Lebensaufgaben der mit der körperlichen Reifungeinhergehenden Neuverortung im System der Zweige-schlechtlichkeit, der Ablösung aus dem Elternhaus undder beruflichen Orientierung erfolgt oftmals in Abgren-zung von der Familie und deren Lebensführungsmusternsowie in Opposition zu den gesellschaftlichen, durch dieFamilie präsentierten Werten und Normen. Dabei werdenmit zunehmendem Alter Orientierungsmuster wichtiger,die in Gleichaltrigen-Gruppen erworben werden. Pro-blematisch kann dies werden, wenn sie als „Gegenwelt“konstruiert werden und subkulturelle deviante Normenentwickeln (Eckert u. a. 2000). Ob sich Kinder und Ju-gendliche im Wechselspiel familiärer und gleichaltrigerAneignungsfelder sozial-integrative oder abweichendeVerhaltens- und Einstellungsmuster aneignen, ergibt sichu. a. im Zusammenhang mit dem Familienklima und denErziehungskompetenzen der Eltern.135

Auch wenn in der späten Kindheit und im JugendalterAneignungsprozesse außerhalb des familiären Alltags im-mer wichtiger werden, bezeugen sowohl – oftmals kon-fliktreiche – familiäre Auseinandersetzungen als auch dienach wie vor wichtige Unterstützung durch die Eltern die

bedeutende Rolle der Familie für Entwicklungs- undBildungsprozesse. So suchen mehr als zwei Drittel der13- bis 15-Jährigen und nahezu drei Viertel der 16- bis18-Jährigen bei Fragen zu ihren Lebenszielen Rat bei derMutter (Zinnecker u. a. 2002, S. 140), und die Eltern ste-hen an erster Stelle der Instanzen, die die Entscheidungzu Ausbildungsberufen und Studienrichtungen beeinflus-sen sowie den Weg in Beruf und Studium unterstützen(Arbeitskreis Einstieg 2004; Rademacker 2003).

Die Rolle von Geschwistern für Lern- und Bildungspro-zesse innerhalb der Familie wird insbesondere im Grund-schulalter wichtig (Zinnecker 1996). Ähnlich wie inGleichaltrigen-Gruppen eröffnen sich Kindern und Ju-gendlichen in Geschwisterbeziehungen Handlungsspiel-räume und Aneignungsmöglichkeiten im Kontext egalitä-rer sozialer Beziehungen (Teubner 2005; Liegle/Lüscher2004; Liegle 2002). Dadurch werden soziale und emotio-nale Kompetenzen erworben (Gerris/Grundmann 2002),Fähigkeiten der sozialen Teilhabe eingeübt, Strategien zurSelbstbehauptung sowie des Widerstandes im innerfami-lialen Beziehungssystem ausgebildet und Selbstbilder un-ter Reflexion der sozio-emotionalen Erfahrungen in denFamilienbeziehungen entworfen (Schneewind u. a. 1999).Übernehmen Geschwister Erziehungs- und Betreuungs-aufgaben, so können sie für Jüngere Vorbildfunktionübernehmen und Lernprozesse beeinflussen. Inwieweitdie Einbindung von Kindern bzw. Jugendlichen in die Be-treuung und die Erziehung ihrer Geschwister zu bildungs-förderlichen Effekten führt, ist vor dem Hintergrund derderzeitigen Forschungslage jedoch nicht eindeutig zu be-antworten (Teubner 2005; Liegle 2000). Positive Kompe-tenzentwicklungen können sich insbesondere aus der Tat-sache ergeben, dass Geschwisterbeziehungen vielfachdurch Ambivalenzen geprägt sind, die aus Rivalitäten umdie Zuwendung der Eltern und die Anerkennung in außer-familialen Sozialwelten erwachsen können: „In keiner an-deren Beziehung (kann) der Umgang mit Ambivalenz(…) und auch mit Andersartigkeit so ‚leicht’ gelernt wer-den“ (Liegle 2000, S. 127). Der Erwerb von sozialen, kul-turellen, emotionalen und instrumentellen Kompetenzenin der Geschwisterbeziehung differiert entsprechend derQualität der Geschwisterbeziehungen, der Anzahl unddem Altersabstand der Geschwister, der Stellung inner-halb der Geschwisterfolge und der Geschlechterkonstella-tion (Teubner 2005).

(b) Innerfamiliale Unterstützungsleistungen für schulische Bildung

Als alltägliche Realität von Kindern und Jugendlichenwirkt Schule nicht nur in die familialen Kommunikations-prozesse und in die Organisation des Alltags hinein,sondern Familie wird für die Kinder auch zum Ort schu-lischer Vorbereitung und schulischen Lernens. Im fa-milialen Rahmen erledigen die Heranwachsenden ihreHausaufgaben, vertiefen das in der Schule erworbeneWissen und bereiten sich lernintensiv auf schulische Testsund Prüfungen sowie auf den Übergang in weiterführendeSchulen vor. Hierbei werden sie durch die Familienmit-glieder – überwiegend durch die Mütter, zu einem ge-ringeren Anteil und in zeitlich geringerem Umfang aber

134 In dieser Zitierweise werden die Expertisen angegeben, die für den12. Kinder- und Jugendbericht erstellt wurden (vgl. die Auflistung imAnhang). Die Seitenzahlen beziehen sich auf die eingereichten Ma-nuskripte, d. h. dass sie nicht mit den Seitenzahlen der Expertisen inden vier für Herbst 2005 zur Veröffentlichung vorgesehenen Bändenübereinstimmen.

135 Vgl. z. B. die Forschung zur Jugend(gruppen)gewalt Lösel/Bliesener2003; Popp 2002; Bruhns/Wittmann 2002; Oberwittler u. a. 2001;Melzer 2000.

Page 145: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 135 – Drucksache 15/6014

auch durch Väter und Geschwister – unterstützt.136 Wieviel Zeit der Eltern Kinder hierfür in Anspruch nehmenkönnen, differiert mit dem Alter bzw. steht in Zusammen-hang mit den von ihnen besuchten Schulstufen137 sowiemit dem Bildungsniveau der Eltern und der Inanspruch-nahme der Mutter oder des Vaters durch Erwerb-stätigkeit.138

Selbst wenn davon ausgegangen werden kann, dass dieMehrheit der Kinder und Jugendlichen sich im Rahmender Erledigung schulischer Aufgaben (auch) an die Elternwendet, so ist eine intensivere bzw. regelmäßige elterli-che Hausaufgabenbetreuung doch nur bei etwa einemDrittel der Schüler/innen üblich (Hollenbach/Meier 2004;Schlemmer 2000). Mädchen sowie – im Vergleich mitSchüler/innen anderer Schulformen – Kinder und Jugend-liche, die Hauptschulen, Integrierte Gesamtschulen undSchulen mit mehreren Bildungsgängen besuchen, erhal-ten am häufigsten elterliche Unterstützung. Die elterlicheHausaufgabenhilfe bei Jugendlichen in niedrigerenSchulstufen wird als Anhaltspunkt dafür interpretiert,dass insbesondere diejenigen gefördert werden, die denBildungserwartungen der Eltern nicht entsprechen (Hol-lenbach/Meier 2004, S. 8). Zur elterlichen Unterstützungtragen aber auch – unabhängig von schulischen Leistun-gen – Persönlichkeits- und Verhaltensmerkmale der Kin-der bei, wie niedriges Selbstvertrauen, geringe Lernmoti-vation oder Konzentrationsfähigkeit (Helmke/Weinert1997).

Rückschlüsse auf die Wirkung der häuslichen Unterstüt-zung lassen sich auf der Grundlage einer Untersuchungzur elterlichen Hausaufgabenhilfe im Fach Mathematikziehen: Da sich im Vergleich von Mathematiktests in der5. und der 6. Jahrgangsstufe keine generell positiven Ef-fekte zeigen, kann von einer „Null-Wirkung“ der elterli-chen Hilfestellungen gesprochen werden (Helmke u. a.2004). Kontraproduktiv sind insbesondere mangelnde Fä-higkeiten der Eltern zur Instruktion sowie rein direktiveund kontrollierende Verhaltensweisen (Helmke u. a.2004). Damit stellt sich die Frage, ob Unterstützungsfor-men schulischer Bildung an anderen Orten – zuallererstim Rahmen einer individuellen schulischen Förderung,aber auch im Rahmen weiterer professionell angeleiteterAngebote – nicht geeigneter für die Verbesserung schuli-scher Leistungen von Kindern und Jugendlichen sind(vgl. Abschnitt 6.3). Dadurch könnten auch Überlastun-gen von Eltern durch Hausaufgabenbetreuung abgebautwerden, wie sie sich – den Begründungen für einen Hort-besuch von Kindern folgend (Blanke 2005, S. 183;Schlemmer 2000, S. 87f.) – insbesondere in bildungsfer-nen Schichten oder bei hoher zeitlicher Inanspruchnahmedurch Erwerbstätigkeit finden.

Die Teilnahme an schulisch organisierten Auslandsauf-enthalten kann ebenfalls als elterliche Unterstützung

schulbezogener Bildungs- und Lernprozesse betrachtetwerden. Auslandsaufenthalte, die sich an Schüler/innenab der 10. Jahrgangsstufe bzw. zwischen dem 15. unddem 18. Lebensjahr richten, tragen zum einen zur Erwei-terung sprachlicher und interkultureller Kompetenzenbei. Zum anderen führen längere Auslandsaufenthalte zupositiven und nachhaltigen Einstellungs-, Verhaltens- undWissensveränderungen, steigern das Selbstbewusstseinund die Eigeninitiative (YFU-Forschungsprojekt 2004).Hiervon profitieren vor allem Gymnasiastinnen undGymnasiasten; sie verfügen nach dem Auslandsaufenthaltüber bessere Noten in der ersten Fremdsprache, üben ak-tiver Freizeitbeschäftigungen wie Sport oder Jobben ausals ihre Altersgenossen und nehmen am Schüleraustauschhäufiger teil (Büchner 2004).

(c) Rahmenbedingungen familiärer Bildungspro-zesse: Soziale Differenzierung von Bildungs-chancen

Entwicklungs- und bildungsrelevante familiale Aneig-nungsprozesse von Kindern und Jugendlichen sind vonvielfältigen Bedingungen beeinflusst. Dabei kommt demBildungsniveau der Eltern neben der – hiermit zusam-menhängenden – ökonomischen Lebenslage der Familie,ihrer ethnischen Herkunft und dem beruflichen Status derEltern eine zentrale Bedeutung zu, die sich u. a. imZusammenhang mit den schulischen Bildungsleistungenvon Kindern und Jugendlichen zeigt.139 Erfahrungen derBenachteiligung von Heranwachsenden aus bildungs-fernen Milieus, niedrigen sozialen Schichten und ausFamilien mit Migrationshintergrund in der Schule werdenzusätzlich verstärkt durch einen geringeren Zugang zulernförderlichen außerfamilialen Lernwelten im Rahmenvon Freizeitaktivitäten und institutionellen schulbezo-genen Unterstützungsangeboten. Demgegenüber ist derEinfluss von Familienstrukturen auf schulische Bildungs-erfolge weitgehend vernachlässigbar140; soweit sich Zu-sammenhänge zeigen, sind sie auf der sozialstrukturellenEbene wesentlich über das Bildungsniveau der Eltern ver-mittelt (Schlemmer 2004b, S. 181f.).

Inwieweit informelle familiale Lernprozesse die Chancenvon Kindern und Jugendlichen aus bildungsfernen, sozialniedrig positionierten Familien oder Migrantenfamilienfür bildungsrelevante Erfahrungen verringern, kann aufGrundlage des derzeitigen Forschungsstandes allenfallspunktuell beantwortet werden. Für derartige Zusammen-hänge spricht Folgendes:

– Kindern aus bildungsfernen, oft auch ökonomischschlechter gestellten bzw. armen Familien stehen auf-grund engerer familienzentrierter Netzwerke wenigerMöglichkeiten zu kognitiven und sozialen Aneig-nungsprozessen in außerfamilialen Lebenswelten of-fen (Spegel 2004; Marbach 2004; Butterwegge u. a.2004; Chassé u. a. 2003), wobei sich derartige Effekte

136 Vgl. Enders-Dragässer u. a. 2004; Hollenbach/Meier 2004; Abele/Liebau 1998; Kramer/Werner 1998.

137 Vgl. Furtner-Kallmünzer u. a. 2002; Schlemmer 2000; Abele-Brehm/Liebau 1996, S. 52; Roßbach 1995, S. 105.

138 Vgl. Enders-Dragässer u. a. 2004, S. 157; Schneider 2004.

139 Vgl. die Beiträge in Schneider 2004; Prenzel u. a. 2004a; Baumertu. a. 2001; vgl. auch Abschnitt 4.2 und Abschnitt 6.2.

140 Vgl. Ehmke u. a. 2004; Tillmann/Meier 2001, S. 478-481; Lehmannu. a. 1995.

Page 146: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 136 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

mit zunehmendem Alter und wachsender Selbststän-digkeit der Kinder abschwächen (Tomanović 2004).

– Das Bildungsniveau der Eltern hat einen zentralenEinfluss auf die Unterstützung schulischer Lernpro-zesse im Rahmen von Nachhilfeunterricht, der in Ost-deutschland weniger häufig als in Westdeutschland ist(Schneider 2004). Die Unterstützung 15-Jähriger beider Hausaufgabenhilfe steigt mit der Höhe des mütter-lichen Bildungsabschlusses und ist bei Schülerinnenund Schülern der Haupt- und Realschulen in diesemAlter in zugewanderten Familien im Verhältnis zu alt-eingesessenen deutschen Familien deutlich geringer(Hollenbach/Meier 2004).

– Acht- und neunjährige Kinder, die in bildungsfernenund ökonomisch schlechter gestellten Familien sowiein Migrantenfamilien aufwachsen, haben weniger Be-ziehungen zu Gleichaltrigen als Kinder aus privile-gierten Familien. Die benachteiligenden Effekte derar-tiger Konstellationen zeigen sich in einem relativgeringen positiven Selbstbild und in einer niedrigensozialen und kognitiven Aufgeschlossenheit der Kin-der (Goia 2005; Traub 2005).

– Geringe Bildungsressourcen, eine niedrige Berufspo-sition der Eltern und Einkommensarmut behindern dieSprach- und Intelligenzentwicklung sowie die kogni-tive Leistungsfähigkeit (Walper 2004, S. 9ff.).

– Ökonomisch deprivierte Kinder und Jugendliche sindweniger in Gleichaltrigen-Gruppen eingebunden(Walper 2004, S. 8).

– Kinder in einkommensarmen Familien sind gegenüberKindern in nicht armen Familien sowohl beim (schuli-schen) Kompetenzerwerb als auch hinsichtlich ihressozialen Verhaltens, ihrer Kontakte und Kontaktmög-lichkeiten eingeschränkt, insbesondere wenn anhal-tende und/oder multiple Problemlagen die Familie be-lasten (Holz/Skoluda 2003).

– Hohe Bildungsaspirationen von Kindern und Elternsind in bildungsnahen und statushöheren Familien,aber auch in Migrantenfamilien insbesondere türki-scher Herkunft zu beobachten (Volkhardt 2004).141

Dies dürfte wesentlich darauf zurückzuführen sein,dass Migranteneltern weniger mit dem deutschen Bil-dungssystem vertraut sind, bildungsrelevante Kapita-lien in der Migrationssituation nicht ohne weiteresübertragen werden können und dass die Eltern sprach-lich oftmals nicht in der Lage sind, ihren Kindern alsVorbild zu dienen und deren Lernprozesse den schuli-schen Erwartungen entsprechend zu unterstützen (Ex-pertise Gogolin).

– Kinder erörtern seltener mit ihren Eltern Unterrichts-themen, wenn diese einen niedrigeren Bildungsab-schluss haben (Furtner-Kallmünzer u. a. 2002, S. 136 f.).

– Jugendliche mit längeren Auslandsaufenthalten kom-men überwiegend aus Familien mit höherem Einkom-men und einem höheren Haushaltsstatus, wobei sichinsbesondere ein höherer Bildungsabschluss der Mut-ter positiv auf die Teilnahme des Kindes an einemAuslandsaufenthalt auswirkt (Büchner 2004; Bayeri-scher Jugendring 2001).

Häufigkeit und Art der Aktivitäten, die Kinder und Ju-gendliche gemeinsam mit der Familie ausüben, differie-ren ebenfalls nach Schicht- und Bildungslage, so z. B. beiGrundschulkindern hinsichtlich der Pflege einer familia-len Lesekultur (Hurrelmann 2004a). Hinweise gibt esauch dafür, dass Kinder aus Migrantenfamilien selteneretwas mit den Eltern unternehmen, als dies in Familienohne Migrationshintergrund der Fall ist (Vorheyer 2004;Holz/Skoluda 2003). Insgesamt kann davon ausgegangenwerden, dass sich gemeinsame Aktivitäten von Kindernund Eltern mit der Abnahme von kulturellen, sozialenund ökonomischen Ressourcen der Familie verringern.Dies gilt z. B. für Computerspiele, Fernsehen, Sport-aktivitäten, Kinobesuche, Musizieren und Ausflüge(Vorheyer 2004, S. 46; Holz/Skoluda 2003, S. 144;Hasenberg/Zinnecker 1996; Georg 1996).

Auf der interaktiven Ebene erweisen sich auch familiäreStrukturen sowie – teilweise damit verknüpft – die Inan-spruchnahme der Eltern durch Erwerbstätigkeit als rele-vant für Lern- und Bildungsprozesse von Kindern in derFamilie. Inwieweit der Schülernachmittag von Grund-schulkindern ausgehandelt oder (institutionell) festgelegt,behütet oder selbstständig organisiert ist, hängt beispiels-weise von der täglichen Erwerbsarbeitszeit der Mutter abund – hiervon meist nicht losgelöst – von der Familien-form (Alleinerziehendenhaushalt, Stiefelternfamilie, nichteheliche Paarfamilie, traditionelle Familie), der sozio-ökonomischen Lage der Familie und dem Bildungsniveauder Mutter. So bieten sich Kindern von Alleinerziehendenund von erwerbstätigen Müttern häufiger Lernerfahrun-gen in institutionellen Kontexten; in alternativen Famili-enformen und durch Mütter mit einem höheren Schulab-schluss wird die Selbstständigkeit von Kindern stärkergefördert; Kinder aus traditionellen Familien haben mehrChancen für Lernmöglichkeiten im Kontext von Aushand-lungsprozessen; und Töchter nicht erwerbstätiger Mütterwerden öfter zur Mithilfe im Haushalt herangezogen(Schlemmer 2000).

Unabhängig vom zentralen Einfluss des Bildungsniveausder Eltern und der sozio-ökonomischen Lage der Familiehaben Kinder und Jugendliche weniger Chancen, von fa-miliären Lern- und Bildungsprozessen zu profitieren,wenn sie keinen sozialen und emotionalen Rückhalt inder Familie finden, häufig Konflikte mit den Eltern habensowie autoritär erzogen oder vernachlässigt werden(Hurrelmann 2004a, S. 181; Stecher 2000; Grundmann1999b, 2000; Zinnecker/Georg 1996).

Unter dem Einfluss einer mangelnden sozio-emotionalenQualität der Eltern-Kind-Beziehung können sich Heran-wachsende sowohl schullaufbahnrelevante als auch fürdie Lebensbewältigung und die Lebensführung bedeut-

141 Hierzu ist anzumerken, dass hohe Bildungsaspirationen zwar weitge-hend in Familien ohne Migrationshintergrund, nicht aber in Migran-tenfamilien zu entsprechenden Einmündungen in das Bildungssys-tem beitragen (Nauck 2000).

Page 147: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 137 – Drucksache 15/6014

same Kompetenzen nur unzureichend aneignen.142 Zwi-schen diesen beiden Kompetenztypen ergibt sich jedochein Spannungsverhältnis, das dazu beitragen dürfte, dasssozial ungleich verteilte schulische Bildungschancen vonKindern und Jugendlichen ein hohes Beharrungsvermö-gen aufweisen. Die Aneignung lebensführungsrelevanterFähigkeiten ist den jeweiligen sozialen, kulturellen undökonomischen Milieus der Familien verhaftet, so dassauch der „Erfolg“ derartiger Bildungsprozesse milieuspe-zifisch differenziert zu betrachten ist. Von „Fähigkeiten“zur Beeinflussung und zur Gestaltung von sozialen Bezie-hungen kann beispielsweise nur dann gesprochen werden,wenn sie den Interaktionsstilen der sozialen Umgebungangepasst sind. So verlieren in einem autoritären Erzie-hungsmilieu Verhandlungskompetenzen an Bedeutungfür die Durchsetzung eigener Interessen. Auch die Mög-lichkeiten, sich selbst als handlungsfähig zu erfahren undsomit Zuversicht in die eigenen Fähigkeiten zu entwi-ckeln, erhalten in unterschiedlichen Milieus eine jeweilsspezifische Ausprägung und Anerkennung. Die Reparatureines Fahrrads kann hierzu ebenso beitragen wie das Le-sen eines Buches. Schließlich erfordern die Organisationund die Bewältigung des Lebensalltags in armen Familienandere Kompetenzen und Strategien als in wohlhabendenFamilien (Grundmann u. a. 2003a). In diesem Kontextlassen sich auch Ergebnisse zur Sozialisation in Migran-tenfamilien interpretieren. Das hohe Maß intergeneratio-naler Bindung und der Übereinstimmung von Kindernund Eltern in zugewanderten Familien im Hinblick aufdie wechselseitigen Erwartungen an das Zusammenlebenund die Solidarleistungen bilden den „wichtigste(n)Schutzfaktor gegen eine mögliche Marginalisierung vonJugendlichen der zweiten Generation“ (Nauck 2004,S. 99). Die dadurch erfolgende Stabilisierung „mitge-brachter“ kultureller Orientierung ist demnach im Fami-lienverband und als Anpassung an die Minoritätensitua-tion bzw. zur Sicherung des Erfolgs des gesamtengenerationenübergreifenden Migrationsprojekts durch-aus sinnvoll und förderlich für kindliche und jugendlicheLern- und Bildungsprozesse. Im Hinblick auf die Integra-tionsanforderungen des Aufnahmelandes kann sie jedochhinderlich sein und Bildungschancen von Kindern undJugendlichen mindern.143

Zwischenfazit: Die familiale Lebenswelt stellt eine basaleBildungswelt von Kindern und Jugendlichen auch imSchulalter dar, die sowohl deren Lebensführung als auchweitere bildungsrelevante Aneignungsprozesse umfas-send beeinflusst. In den alltäglichen familialen Interaktio-nen und über die Zugänge, die Familie zu anderen Erfah-

rungswelten eröffnet, erwerben die Heranwachsendengrundlegende Einstellungen und Haltungen sowie Fähig-keiten und Kenntnisse, die nicht nur maßgeblich zu ihrerpersonalen, sozialen und kognitiven Entwicklung beitra-gen, sondern sich auch in ihrem Blick auf die Welt, ihrerArt des Herangehens an die Bewältigung von Lebensauf-gaben und die Lösung von Problemen sowie in der Wahr-nehmung von Optionen und in Handlungsperspektivenniederschlagen. Auch wenn sich Kindern und Jugendli-chen im biografischen Verlauf weitere Sozialwelten undBildungsorte erschließen, erfolgt die Auseinanderset-zung mit den hier angebotenen Orientierungs- und Deu-tungsmustern im Prozess des Aufwachsens in engerWechselwirkung mit familialen Aneignungsprozessen.Die Chancen für entwicklungsförderliche und bildungsre-levante familiale Aneignungsprozesse von Kindern undJugendlichen differieren zum einen je nach sozio-emotio-naler Qualität der familiären Beziehungen, zum anderenentsprechend den ökonomischen, sozialen und kulturellenRessourcen der Familie, die deren Lebenslage innerhalbder Gesellschaft definieren und einen bestimmten milieu-spezifischen Ausschnitt der Familienpraxis präsentieren.

Enge Zusammenhänge zwischen den Bildungschancenvon Kindern und dem Bildungsniveau der Eltern deutenauf die zentrale Bedeutung bildungsnaher familiärerMilieus hin. Bei der Bewertung kindlicher und jugendli-cher familiärer Aneignungsprozesse ist zu bedenken, dasssich grundlegende bildungs- und lebensführungsrelevanteKompetenzen in niedrigeren sozialen Schichten und inMigrantenfamilien über Zwecke und Inhalte vermitteln,die weniger den standardisierten mittelschichtorientiertenschulischen Anforderungen, wohl aber den Anforderun-gen an Lebenstüchtigkeit bzw. an die Lebensführung imsozialen Milieu genügen. Die Verknüpfung von alltags-weltlichen und bildungssystemspezifischen Strategien,die gleichermaßen für die individuelle und die gesell-schaftliche Integration, Reproduktion und Entwicklungerforderlich sind, erscheint deswegen als die eigentlicheHerausforderung beim Abbau von ungleichen Bil-dungschancen. Dazu könnten außerschulische Bildungs-angebote beitragen, die sowohl familiäre als auch schul-bildungsrelevante Interaktionsprozesse sowie Lern- undBildungsprozesse ergänzen und aufeinander beziehen.Dabei geht es weniger um die Kompensation von Schwä-chen in den familiären und schulischen Leistungen alsvielmehr darum, Anschlussfähigkeit herzustellen(Grundmann u. a. 2003a).

4.3 Bildungsprozesse in der Schule

Mit dem Schuleintritt verändert sich der Alltag von Kin-dern und deren Familien. Die Schulpflicht mit ihrer Kon-sequenz der Anwesenheit erfordert eine neue Organisa-tion des familiären Alltagslebens. Die Kinder mit ihrenErfahrungen aus der Vorschulzeit stehen nun vor der Ent-wicklungsaufgabe, sich im schulischen Unterricht grund-legende Fähigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnensystematisch anzueignen. Sie kommen in der Regel mithohen Erwartungen in die Schule, mit Neugier auf dieLehrer/innen und die anderen Kinder sowie mit einer

142 Grundmann u. a. (2003, S. 30f.) betonen die Schlüsselposition perso-naler innerfamilialer Anerkennungsverhältnisse für die Entwicklungvon Selbstvertrauen, die Fähigkeit, Sozialbeziehungen einzugehenund aufrecht zu erhalten, für Reflexions- und Abstraktionsvermögen,für Konfliktlösungskompetenzen und die realistische Einschätzungvon Handlungsmöglichkeiten.

143 Vgl. hierzu sowie zu Differenzen von Familien unterschiedlicher eth-nischer Herkunft Nauck 2004, Steinbach/Nauck 2004 sowie die ver-gleichende Studie von Heitmeyer u.a 1997 zu Jugendlichen türki-scher und deutscher Herkunft.

Page 148: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 138 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Motivation, sich den neuen schulischen Leistungsanfor-derungen zu stellen. Diese Aufgabe kann jedoch manchenKindern und Jugendlichen erhebliche Schwierigkeitenmachen, wenn sie Probleme mit der Schule haben.Schlechte Noten zu bekommen wird für diese Kinder undJugendlichen zu einem Potenzial für Angst und Enttäu-schung. Die Kinder und Jugendlichen entwickeln dabeiunterschiedliche individuelle Strategien für die Bewälti-gung solcher auf schulische Leistungserbringung bezoge-nen Situationen.144

Gleichzeitig stehen die Heranwachsenden mit zunehmen-dem Alter vor der Herausforderung, in der Schule ihrWissen sowie den Horizont ihrer Erkenntnisse zu erwei-tern. Die Schüler/innen werden in der Schule mit der Er-wartung konfrontiert, sich sukzessive systematischesWissen und grundlegende Kompetenzen in den Bereichender mathematisch-naturwissenschaftlichen Bildung, dersprachlichen Bildung, der historisch-politischen Bildungsowie der ästhetisch-expressiven Bildung anzueignen(Baumert u. a. 2002, S. 101).

Die Schule ist für die Heranwachsenden jedoch nicht nurein Bildungsort, an dem im Unterricht systematisches undkumulatives Lernen realisiert werden soll, sondern stetsauch ein Ort des informellen Bildungsgeschehens. Nebendem systematischen Lernen im Unterricht finden auch in-formelle Bildungsprozesse im Klassenzimmer, in denPausen, auf dem Schulhof sowie auf den Schulwegen undauf den Klassenfahrten statt. Insbesondere die im Gefolgeder Bildungsexpansion seit den 1970er-Jahren einset-zende lebens- und alltagszeitliche Ausdehnung des Schul-besuchs hat dazu geführt, dass die Kinder und Jugendli-chen die Schule als zentralen Treffpunkt nutzen. Dieinformellen Randzonen der Schule (z. B. Kennenlernenvon Gleichaltrigen oder außerunterrichtliche Freizeitan-gebote) werden von den Schülern/innen sehr positiv beur-teilt, während umgekehrt der subjektive Sinn schulischenLernens, die Freude am Schulbesuch sowie die institutio-nellen Kernzonen der Schule (z. B. Prüfungen, schuli-scher Leistungsdruck) immer skeptischer bewertet wer-den (Krüger/Grunert 2002, S. 499). So ist etwa der Anteilder Jugendlichen, die in repräsentativen Befragungen an-geben, gerne zur Schule zu gehen, in den Jahren zwischen1962 und 1993 von 75 Prozent auf 32 Prozent zurückge-gangen (Helsper/Böhme 2002, S. 580).

Im Folgenden werden vier Fragen ausführlicher verfolgt:

– In welchem Tempo und mit welchem Erfolg durchlau-fen Kinder und Jugendliche die schulbiografischenStationen im Verlauf der Grundschule und der Sekun-darstufe I?

– Welche mathematisch-naturwissenschaftlichen, sprach-lichen und sozio-politischen Kompetenzen erwerbenKinder und Jugendliche im deutschen Schulsystem?

– Welche psychosozialen Auswirkungen haben schei-ternde bzw. gelingende schulische Bildungsverläufe?

– Welchen Stellenwert und welche Bildungseffekte ha-ben schulische Angebote jenseits des Unterrichts(schulische Freizeitangebote, Schulsozialarbeit, Ganz-tagsangebote) für Kinder und Jugendliche?

(a) Schulbiografische Zäsuren und Abschlüsse in Grundschule bzw. Sekundarstufe I

Bildungslaufbahnen bzw. Schülerbiografien werdendurch die Organisationsstruktur der Schule vorgezeich-net. Besonders relevant für Schüler/innen sind die großeninstitutionellen Zäsuren: Eintritt in die Grundschule undAustritt für viele am Ende der Sekundarstufe I, Zeug-nisse, Versetzungen, Auf- und Zurückstufungen, Schul-formwechsel und schließlich Abschlusszertifikate mit un-terschiedlichen Anschlussoptionen.

Eine erste zentrale Entscheidung betrifft den Zeitpunktder Einschulung in die vier Jahre dauernde Grundschule(nur in Berlin und Brandenburg gibt es eine sechsjährigeGrundschule). International gesehen liegt die Einschu-lung mit Vollendung des sechsten Lebensjahres (Stichtag30. September) in Deutschland relativ spät, so dass deut-sche Schüler/innen entsprechender Klassenstufen zumeistälter sind als die Schüler/innen anderer Nationen. Nur4 Prozent der Kinder in den alten und 2 Prozent in denneuen Bundesländern (nur Flächenländer, ohne Berlin)wurden im Jahr 2000 vorzeitig eingeschult. Umgekehrtwurden im Jahr 2000 rund 6 Prozent der Kinder in den al-ten und 10 Prozent in den neuen Bundesländern zurück-gestellt, d. h. erst ein Jahr später eingeschult, um für denSchuleintritt noch ‚nachreifen‘ zu können (Einsiedler2003, S. 290145).

Die verspätete Einschulung bzw. Zurückstellung wirdinsbesondere als ein Instrument eingeschätzt, um bereitsfrüh erfolgende schulische Erfahrungen der Über-forderung für Kinder zu vermeiden. Stattdessen zeigt sichjedoch: Spät eingeschulte Schüler/innen sind eher anniedrig qualifizierenden Schulformen (Hauptschule) zufinden, und in der Tendenz geht die Späteinschulung mitniedrigen Schulabschlüssen einher (Bellenberg 1999,S. 45ff.).146 Zudem erfolgt meist schon in der Grund-schulzeit die Überweisung einer Minderheit der Schüler/Schülerinnen auf Sonderschulen. Die Quote der Überwei-sung auf Sonderschulen ist mit gut 4 Prozent in den letz-ten zwei Jahrzehnten stabil geblieben und betrug4,2 Prozent im Jahr 2002 (Avenarius u. a. 2003). Dabei istdie Zuweisung zur Sonderschule in der Regel ein Schul-weg ohne Rückkehr. Lediglich jede/r zwanzigste Sonder-schüler/in schafft es wieder zurück auf die Regelschule(Expertise Helsper/Hummrich).

144 Diese Themenaspekte werden insbesondere in folgenden Arbeitenbehandelt: Furtner-Kallmünzer/Hössl 2004; Hössl/Vossler 2004.

145 Datengrundlage: Statistisches Bundesamt 2001 und frühere Jahre.146 Fertig und Kluve vermuten auf der Grundlage einer Analyse zum

Schuleintritt und zum Schulerfolg (ein geringer Schulerfolg wird anKlassenwiederholungen und fehlenden bzw. niedrigen Schulab-schlüssen gemessen) von Kindern in Ost- und Westdeutschland, dasshinter derartigen Effekten Unterschiede in den Fähigkeiten der Schü-lerinnen und Schüler liegen, die evtl. dazu führen, dass Eltern Kin-der, von denen sie annehmen, dass diese den schulischen Leistungennicht gemessen sind, diese später einschulen (Fertig/Kluve 2005).

Page 149: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 139 – Drucksache 15/6014

Einen weiteren für die gesamte Bildungslaufbahn derSchüler/innen entscheidenden Übergang stellt die in denverschiedenen Bundesländern unterschiedlich geregelteSchulformwahl nach der Grundschule bzw. der Orientie-rungs- oder Förderstufe dar. Denn mit der Wahl der je-weiligen Schulform ist auch der jeweilige Schulabschlussin den Blick genommen. Im Vergleich zu den 1950er-Jah-ren ist es in Deutschland zu einer enormen Expansion desBesuches weiterführender Schulformen gekommen (inder DDR der 10-jährigen POS; Lenhardt/Stock 1997) unddamit zu einer lebensgeschichtlichen Ausdehnung derSchulzeit. In Westdeutschland hatte sich 1990 gegenüber1952 der Anteil der Siebtklässlerinnen und -klässler anHauptschulen bzw. Volksschulen um mehr als die Hälfteverringert, der Anteil der Schülerinnen und Schüler in7. Klassen an Gymnasien mehr als verdoppelt, und derAnteil der Schülerinnen und Schüler an der Realschulehatte sich in dieser Klassenstufe verdreifacht (vgl.Abb. 4.1).

Die Daten aus dem Jahr 2002 zeigen, dass der Trend zumBesuch höherer Schulstufen seit 1990 angehalten hat(vgl. Abb. 4.2). Ein Drittel aller Schüler/innen besuchtdas Gymnasium. Anzumerken ist allerdings, dass der An-teil der Schulbesuchsquoten in Abhängigkeit von der so-

zialen Herkunft der Jugendlichen variiert. Besonders Kin-der und Jugendliche aus Arbeiterfamilien und Familienmit Migrationshintergrund sind hinsichtlich des Besuchshöherer Schulformen stark benachteiligt (Schneider 2004;vgl. auch Abschnitt 6.2.). Besonders gravierend wirktsich dies bei den Abschlussquoten aus. Etwa 33 Prozentder Jugendlichen mit Migrationshintergrund verlassen dieSchule ohne einen qualifizierenden Abschluss (Bundes-ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend[BMFSFJ] 2000a; vgl. auch Abschnitt 1.3.2).

Von besonderer Bedeutung im internationalen Vergleichist, dass die Verteilung der Schüler/innen auf die unter-schiedlich ‚wertvollen’ Schulformen in Deutschland beiHeranwachsenden sehr früh, d. h. im Alter zwischen10 und 12 Jahren erfolgt. Dies muss aus zwei Gründen ir-ritieren: Zum einen gibt es zwischen den Schulformenund hier wiederum zwischen einzelnen Schulen unter-schiedlicher Schulformen große Überschneidungsberei-che in der Kompetenzentfaltung der Schüler/innen (Bau-mert u. a. 2003b); zum anderen sind dieGrundschulempfehlungen für die Zuweisungen auf dieunterschiedlichen Schulformen der Sekundarstufe I kei-neswegs valide (Expertise Helsper/Hummrich; Cortina/Trommer 2003; Roeder/Schmitz 1995).

A b b i l d u n g 4.1

Verteilung der Schülerinnen und Schüler im 7. Schuljahrgang im früheren Bundesgebiet 1952 und 1990 auf ausgewählte Schulformen1

(in Prozent)

1 Ohne Sonderschulen.Quelle: Hansen/Rolff 1990; Datenbasis: Statistisches Bundesamt mit Daten zu 1952 aus Bevölkerung und Kultur, Reihe 10, Bildungswesen, I. All-

gemeinbildende Schulen; Daten zu 1990 aus Fachserie 11, Bildung und Kultur, Reihe 1, Allgemeinbildende Schulen

79

6

13

31

25

31

9

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

Hauptschule/Volksschule Realschule Gymnasium Integrierte Gesamtschule

1952 1990

Page 150: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 140 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

A b b i l d u n g 4.2

Verteilung der Schülerinnen und Schüler in Klassenstufe 8 auf ausgewählte Schulformen im Schuljahr 2001/2002

(Deutschland; in Prozent)

1 Ohne Freie Waldorfschulen.Quelle: Statistisches Bundesamt 2003d

0

5

10

15

20

25

30

35

23

25

30

109

4

Hauptschule Realschule

Gymnasium Integrierte Gesamtschulen, Freie Waldorfschulen

Schularten mit mehreren Bildungsgängen Sonderschulen

Ferner ist das Phänomen der Fehlallokationen zu be-obachten. In einer Längsschnittstudie bei Jugendlichenbzw. Erwachsenen im Alter von 12 bis 35 Jahren gab es25 Prozent Fehlallokationen: Ein Teil der Befragten, diemit 15 Jahren in der Hauptschule waren, hat später danndoch noch einen höheren Schulabschluss gemacht;umgekehrt hat ein Teil der ehemaligen Schülerinnen undSchüler von Gymnasien letztlich nur einen Hauptschul-oder Realschulabschluss erworben.147

Im internationalen Vergleich gehört Deutschland fernerzu den Staaten, die am meisten „Sitzenbleiber/innen“vorweisen: Etwa ein Viertel aller 15-jährigen Schüler/innenmusste im Verlauf der Schullaufbahn mindestens einmaleine Klasse wiederholen (Krohne u. a. 2004). Die Folge-wirkungen von Klassenwiederholungen lassen Zweifelam pädagogischen Sinn, insbesondere im Hinblick aufdie weitere Schullaufbahn, aufkommen. Zum einen tritt inder Tendenz keine Konsolidierung ein, denn „Sitzenblei-ber/innen“ befinden sich zwei bis drei Jahre danach häu-fig in einer ähnlich problematischen schulischen Situa-

tion. Zum anderen zeigen sich auch eher negative Effektehinsichtlich der Leistungs- und Kompetenzentwicklungim Vergleich zu den Gleichaltrigen (Tillmann/Meier2003, 2001; Kemmler 1976).

Eine weitere gravierende schulbiografische Zäsur stelltder Wechsel zwischen verschiedenen Schulformen dar.Hier zeigen verschiedene Untersuchungen, dass im Ver-lauf der Sekundarstufe I die Abstiege aus höheren Schul-formen eindeutig dominieren, während Aufstiege aus derHauptschule oder der Realschule auf das Gymnasium äu-ßerst selten sind. Auf elf Absteiger kommt in NRW nurein Aufsteiger (Bellenberg 1999). Im bundesweiten Län-dervergleich sind 77 Prozent der Schulformwechsler Ab-steiger und 23 Prozent Aufsteiger – mit allerdings gravie-renden Unterschieden zwischen den einzelnenBundesländern (Baumert u. a. 2003b, S. 309ff.). DieDurchlässigkeit des deutschen Schulsystems ist vor allemeine Durchlässigkeit nach unten, die den Schülern/Schü-lerinnen insbesondere die Möglichkeit bietet, aus einerhöheren in eine niedrige Schulform abzusteigen (Exper-tise Helsper/Hummrich).

Einen dramatischen Einschnitt in eine schulische Bil-dungskarriere stellt auch das Phänomen der Schulverwei-gerung dar, das als ein länger andauerndes und sich ver-

147 Vgl. dazu die Ergebnisse der LIFE-Studie (Lebensverläufe von derspäten Kindheit ins frühe Erwachsenenalter) in: Fend u. a. (2005);Fend u. a. 2004; Fend 2002.

Page 151: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 141 – Drucksache 15/6014

festigendes Fernbleiben von der Schule verstanden wird.Angaben über die Anzahl der Schüler/innen, die sich überlange Phasen oder dauerhaft der Teilnahme am Unterrichtentziehen, liegen nur in Schätzungen vor. So wird von ei-nigen zehntausend Totalverweigerern ausgegangen sowievon etwa 5 Prozent aller Schüler/innen (überwiegendmännliche Jugendliche), die mehr als fünf Tage im Schul-jahr unentschuldigt fehlen (Schreiber-Kittl/Schröpfer2002, S. 31ff.). Die Konsequenzen der längerfristigenSchulverweigerung für die Bildungskarriere sind in derRegel gravierend. Wenn bereits schulische Problemauf-schichtungen und Erfahrungen des Versagens einerSchulverweigerung vorausgehen, dann wird dies durchden Schulabsentismus noch gesteigert (Expertise Helsper/Hummrich).

Am Ende der allgemein bildenden Schulzeit verließen diemeisten Schüler/innen die Schule 2001/2002 mit einemmittleren Bildungsabschluss, einen (Fach-)Hochschulab-schluss erreichte ein gutes Viertel, etwas weniger als dieJugendlichen, die die Schule mit einem Hauptschulab-schluss verließen. Jede zehnte Schülerin bzw. jederzehnte Schüler hatte keinen Schulabschluss (vgl.Abb. 4.3). Teilweise wurden allerdings anschließend anden Besuch allgemeiner Schulen noch berufliche Voll-zeitschulen besucht, in denen eine Reihe höherer Schul-abschlüsse erworben wurden.

A b b i l d u n g 4.3

Abgänger/innen und Absolventen/Absolventinnen des Schuljahres 2001/2002 nach Abschlussarten

(Deutschland; in Prozent)

Quelle: Statistisches Bundesamt 2003e, eigene Berechnungen

Die dargestellten Zahlen dokumentieren, dass

– der mittlere Bildungsabschluss zum neuen sozialen„Standard“ geworden ist;

– der Anteil von Jugendlichen mit Hochschulreife im in-ternationalen Vergleich mit anderen europäischenLändern oder den USA sehr bescheiden ist;148

– fast jeder/jede zehnte Jugendliche immer noch dieSchule ohne einen Mindestabschluss verlässt (Exper-tise Helsper/Hummrich).

Der Anteil der Schulabgänger/innen ohne Schulabschlussan allen Schulabgänger/innen ist im früheren Bundesge-biet von ca. 19 Prozent im Jahr 1970 auf rund 8 Prozentim Jahr 1990 gefallen und seitdem bis 1998 nur leicht an-gestiegen (8,4 Prozent) (in den neuen Bundesländern– ohne Berlin Ost – allerdings zwischen 1992 und 1998von 7 Prozent auf knapp 12 Prozent; Rauschenbach/Züchner 2001, S. 78). Für diese Jugendlichen, die über-proportional aus Arbeiterfamilien sowie aus Familien mitMigrationshintergrund stammen, ist der fehlende Ab-schluss angesichts des veränderten Bildungsverhaltenssowie der starken Entwertung der Hauptschulabschlüsseweit gravierender als in den 1970er-Jahren, was durch dieerhebliche Reduzierung der Chancen auf Ausbildungs-plätze und die damit verbundene beruflich erfolgreicheEinmündung verstärkt wird. Weibliche Jugendliche mitMigrationshintergrund sind dabei besonders benachtei-ligt. Von ihnen erwerben 56 Prozent keinen berufsqualifi-zierenden Abschluss (Expertise Helsper/Hummrich).

(b) Psychosoziale Auswirkungen von gelingenden bzw. scheiternden Bildungsverläufen

Kinder beginnen ihre Schullaufbahn verhältnismäßig(hoch) motiviert. Sie sind in bestimmten Bereichen„kleine Expert/innen“ geworden, denn jedes Kind hat be-reits im Vorschulalter bestimmte Fertigkeiten und Fähig-keiten entwickelt, die es auszeichnen und von anderenKindern unterscheiden. Mit 14 Jahren und danach sinddie Kinder, mittlerweile zu Jugendlichen geworden, je-doch nur noch relativ wenig an Schule interessiert. Eskommt bei ihnen zu einer massiven Abnahme von Inte-resse und Motivation (Fend 2001). Dieses Phänomen(beispielsweise der schwierigen „achten Klasse“) hat abernicht nur mit den Entwicklungsthemen zu tun, sondern istauch durch die Einflüsse der Institution Schule selbst mitbedingt.

Fragt man nach den psychischen und sozialen Auswir-kungen, die erfolgreiche sowie schwierige schulische Bil-dungsverläufe bei Schülern/innen bedingen, so zeigensich im Hinblick auf das Selbstkonzept, die psychosoma-tische Belastung und die emotionale Befindlichkeit derSchüler/Schülerinnen folgende Trends:

23,8

1,3

40,3

25,5

9,1

0

5

10

15

20

25

30

35

40

45

Hochschulreife FachhochschulreifeRealschulabschluss Hauptschulabschlussohne Abschluss

148 In diesem Zusammenhang muss jedoch darauf hingewiesen werden,dass fast alle anderen Länder dieser Welt kein berufliches Bildungs-system haben bzw. diesen Bereich den Hochschulen zurechnen. InDeutschland ist demgegenüber der Bereich der Beruflichen Bildungein eigener expliziter Bildungssektor mit entsprechenden Kennzah-len.

Page 152: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 142 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

– Die Einschätzung der schulischen Fähigkeiten hängteng mit dem erreichten Leistungsstatus sowie mit Er-folg und Misserfolg zusammen. Dabei gewinnt dieEinschätzung der eigenen Fähigkeiten im Verlauf derSchulzeit während der Sekundarstufe I einen bedeut-samen Einfluss auf die Schulleistungen selbst.

– Bei schlechten schulischen Leistungen kommt es zueinem tendenziell negativen schulischen Fähigkeits-konzept, das wiederum schulisches Versagen mit be-fördert (Köller u. a. 1999; Helmke 1998).

– Schulische Versagensereignisse können lange Zeit inForm von Verletzlichkeitsdispositionen hinsichtlicheines negativen Selbstkonzepts nachwirken, was dieJugendlichen auch in lebensgeschichtlich späterenBewährungssituationen anfällig macht (ExpertiseHelsper/Hummrich).

– Stressbelastung, psychosomatische Phänomene wieKopfschmerzen, Nervosität u. a. sowie die Nutzungvon Medikamenten hängen insbesondere mit Erfah-rungen des schulischen Misserfolgs zusammen (Bilzu. a. 2003; Hurrelmann/Mansel 1998).

– Psycho-physiologische oder emotionale Stresssymp-tome treten bei jenen Jugendlichen häufiger auf, derenSchullaufbahn durch schulische Versagensereignissegekennzeichnet ist (Nordlohne 1992, S. 192ff.).

– Besonders belastend wirkt die Antizipation drohendenkünftigen Scheiterns, also die Unsicherheit, die ange-strebten schulischen Ziele erreichen zu können. WennSchüler/innen sitzen geblieben sind, aufgrund man-gelnder Leistungen die Schule verlassen müssen odervon Versagen bedroht sind, dann steigt bei ihnen derKonsum von Medikamenten, Alkohol und Tabak deut-lich an, wobei der Medikamentenkonsum eher einweibliches, der häufigere Konsum harter Alkoholikaeher ein männliches Muster ist (Bilz u. a. 2003; Nord-lohne 1992).

Schulisches Versagen und gravierende Leistungspro-bleme in der Schule bringen ferner erhebliche Problemefür die Lebenszufriedenheit sowie für die emotionale Be-findlichkeit von Kindern und Jugendlichen mit sich. Dieskann am Beispiel der schulischen Leistungsangst verdeut-licht werden. Ist die schulische Leistungsangst am Beginnder Grundschule noch gering, so steigt sie in der drittenKlassenstufe an, danach bleibt sie stabil oder sinkt leicht(Hössl/Vossler 2004; Furtner-Kallmünzer/Hössl 2004).149

Während die Leistungsangst bei Gymnasiast/innen vonder fünften Klasse an noch einmal deutlich ansteigt undauf hohem Niveau bis zur neunten Klasse bleibt, warenHauptschüler/innen ab der fünften Klasse deutlich weni-ger leistungsängstlich, weil sie nun, als die ehemals durchMisserfolge gekennzeichneten Grundschüler/innen, ver-mehrt Erfolge in der Schule erfahren (Schnabel 1998).

Erhöhte schulische Leistungsangst geht auch mit ver-stärkter Schulunlust einher. Die Schulfreude und die Leis-

tungsbereitschaft sinken im Verlauf der Schulzeit deutlichab (Hössl/Vossler 2004; Fend 2001, S. 352ff.). Dabeizeigt sich, dass der positive Bezug zur Schule auch mitder jeweiligen Schulkultur und den Lehrer-Schüler-Be-ziehungen variiert und dann besonders deutlich zurück-geht, wenn Schüler/innen Versagenserlebnisse aufweisen(Expertise Helsper/Hummrich; Hofmann-Lun/Michel2004). Erfolgreiche bzw. weniger erfolgreiche schulischeBildungsprozesse haben somit insgesamt gesehen erheb-liche Auswirkungen auf das Selbstkonzept und die psy-chosoziale Integrität von Kindern und Jugendlichen, vorallem dann, wenn sie nicht durch Familie oder Gleichalt-rigen-Gruppen abgefedert und kompensiert werden.

(c) Der schulische Erwerb von naturwissenschaftlich-mathematischen, sprachlichen und politischen Kompetenzen

Zu der Frage, welche Kompetenzen Heranwachsende inder Grundschule bzw. der Sekundarstufe I erwerben, sindin den letzten Jahren eine Reihe bundesweit angelegterund in internationale Vergleiche eingebundener Studiendurchgeführt worden, die sich mit den mathematisch-naturwissenschaftlichen, sprachlichen (IGLU, TIMSS,PISA) und sozio-politischen Kompetenzen (Civic-Educa-tion-Studie, vgl. Oesterreich 2002) beschäftigen.150 Be-trachtet man diese Studien selbst vor dem Hintergrund ei-nes Konzepts von schulischer Allgemeinbildung, zu derdie mathematisch-naturwissenschaftliche, die sprachli-che, die historisch-politische sowie die ästhetisch-expres-sive Bildung gehören, so werden in diesen Untersuchun-gen nur thematische Ausschnitte des schulischenKompetenzerwerbs in Grundschule und Sekundarstufe Iempirisch erfasst.

Über welche Fähigkeiten verfügen Schüler/innen inDeutschland am Ende der Grundschulzeit? Die Leistun-gen bezüglich des Lesens sowie die Leistungen in Mathe-matik liegen bei den deutschen Viertklässlern im interna-tionalen Vergleich weit über dem Durchschnitt, und dieStreuung der Leistungswerte am Ende der vierten Jahr-gangsstufe ist bei den Leseleistungen in Deutschland ins-gesamt noch relativ gering (Bos u. a. 2004a, 2004b).10 Prozent der Kinder werden dennoch als „Risiko-gruppe“ klassifiziert. Zu den Schülern/innen, die in ihrenLeseleistungen am Ende der Grundschulzeit weit zurück-liegen, gehören Kinder aus einkommensschwachen Fami-lien sowie Schüler/innen aus Familien mit Migrationshin-tergrund. Bezüglich der Perspektive des Geschlechtszeigen Mädchen im Lesen und Jungen in Mathematik undden Naturwissenschaften jeweils bessere Leistungen (Bosu. a. 2004; Stürzer u. a. 2003).

Während die Schulleistungen deutscher Grundschulkin-der noch weit über dem Durchschnitt liegen, sind dieSchulleistungen deutscher Sekundarschüler/innen im un-teren Mittelfeld anzusiedeln (Baumert u. a. 2001; Bau-mert u.a 2000; Baumert u. a. 1997). Dies gilt insbeson-

149 Vgl. dazu auch Fend 2001, 1997; Lange u. a. 1993. 150 Zu IGLU, PISA TIMSS und zur Civic-Education-Studie vgl. Glossar

im Anhang.

Page 153: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 143 – Drucksache 15/6014

dere für die Lesekompetenzen sowie die mathematischenFähigkeiten, abgeschwächt jedoch auch für die naturwis-senschaftlichen Kompetenzen. Bei den deutschen Schü-lern/innen zeigen sich in der Lesekompetenz die größtenAbstände zwischen den leistungsstärksten und den leis-tungsschwächsten Schülern/innen in allen beteiligtenLändern, wobei insbesondere die leistungsschwächstenSchüler/innen im Vergleich mit denen anderer Staaten be-sonders schlecht abschneiden. Gehören am Ende derGrundschulzeit rund 10 Prozent der Heranwachsenden zurGruppe der schwachen Leser, so sind es am Ende der Se-kundarschulzeit rund 23 Prozent der untersuchten 15-Jäh-rigen in Deutschland, die im Lesen die unterste Kompe-tenzstufe nicht überschreiten. Als Risikofaktoren, die dieWahrscheinlichkeit der Zugehörigkeit zu dieser Gruppeerhöhen, erwiesen sich niedrige Sozialschicht, niedrigesBildungsniveau und Migrationshintergrund sowie männ-liches Geschlecht der Schüler (Prenzel u. a. 2004 a,2004b; Baumert/Schümer 2001).

Im Hinblick auf das Erreichen sozio-politischer Kompe-tenzen nehmen deutsche Sekundarschüler/innen im Altervon 14 bis 15 Jahren im internationalen Vergleich einenMittelplatz ein (Oesterreich 2002, S. 37). Inhaltlich sinddie deutschen Jugendlichen vergleichsweise gut im for-malen Wissen zur Demokratie und zu ihren Institutionen,vergleichsweise schlecht sind sie jedoch in ihrem Wissenbezüglich der Interessenvertretung der Arbeitnehmer(Oesterreich 2002, S. 58). Überdurchschnittlich gutschneiden die deutschen Jugendlichen im internationalenVergleich im Hinblick auf ihre Bereitschaft ab, Frauengleiche Rechte einzuräumen. Bei der Bereitschaft, Mi-granten in der Gesellschaft zu akzeptieren, nehmen sievon allen an der Untersuchung beteiligten Nationen hin-gegen den letzten Platz ein (Oesterreich 2003, S. 824;Krüger u. a. 2003). Etwas unter dem internationalenDurchschnitt liegen auch die Werte der deutschen Schü-ler/innen bei der politischen Handlungsbereitschaft, zuder eine aktive Mitarbeit in konventioneller Politik, sozia-les Engagement und illegale Protestformen gehören. Be-sonders ungünstig sieht es im internationalen Vergleichbezüglich der Partizipationsbereitschaft deutscher Ju-gendlicher in der Schule aus. So arbeiten im internationa-len Durchschnitt knapp 30 Prozent der Jugendlichen inder Schülervertretung und in anderen schulischen Partizi-pationsgremien mit, in Deutschland sind es hingegen nur13 Prozent (Böhm-Kasper 2004; Grundmann u. a. 2003b;Oesterreich 2002, S. 78).

Die Gründe für die geringe demokratische Beteiligung andeutschen Schulen könnten auch damit zusammenhän-gen, dass das deutsche Schulsystem mit seinem Halbtags-unterricht den Schülern/innen nur wenig zeitlichen Spiel-raum für soziales Lernen in der Schule lässt (Oesterreich2002, S. 73). Schülerinnen und Schüler der Gymnasiensind denen anderer Schulformen bezüglich des politi-schen Wissens überlegen. Mädchen haben deutlich grö-ßere demokratische Kompetenzen als Jungen; ferner sindMädchen sowohl gesellschaftlich als auch in der Schulesozial engagierter (Oesterreich 2003, S. 832).

Die Jugendlichen beziehen ihre politischen Informationenvor allem aus den Medien oder aus Gesprächen mit denEltern, während der Politikunterricht erst an dritter Stellegenannt wird, gefolgt von Gesprächen mit anderen Er-wachsenen und Gesprächen mit dem besten Freund bzw.der besten Freundin (Oesterreich 2002, S. 88).

Insgesamt gesehen hat somit die Schule gegenwärtig beider Vermittlung sozio-politischer Kompetenzen nur einenrelativ geringen Stellenwert. Durch den verstärkten Aus-bau von Ganztagsschulen sowie durch eine intensivereKooperation zwischen Schule und den Institutionen deraußerschulischen politischen Bildung könnten sicherlichdie Voraussetzungen und die Handlungsspielräume fürdie Erweiterung politischen und sozialen Lernens und da-mit zugleich für die Förderung der gesellschaftlichen Par-tizipationskompetenzen der Heranwachsenden verbessertwerden.

(d) Schule jenseits von Unterricht aus der Perspektive der Heranwachsenden

In den letzten Jahrzehnten ist immer wieder der Versuchgemacht worden, Schule gegenüber der außerschulischenLebenswelt zu öffnen und von Seiten der Schule Ange-bote zu machen, die über den Unterricht hinausgehen.Dabei lassen sich typologisch drei Formen unterscheiden:schulische Freizeitangebote, Schulsozialarbeit, Ganztags-schulen. Zu diesen Bereichen, d. h. zu deren Nutzung undBildungseffekten im Hinblick auf die Schüler/innen, lie-gen bislang nur wenige empirische Ergebnisse vor.

Ein großer Teil der Schulen bietet – das zeigt eine Studieaus Sachsen-Anhalt – ein breites Spektrum von Freizeit-möglichkeiten an. Dies reicht von Klassenfahrten undSchulfesten über bewegungsorientierte, bildungsorien-tierte, kulturelle und kreative Angebote bis hin zu Ent-spannung und Kommunikation fördernden Angeboten.Dabei zeigt es sich, dass die Gymnasien in ihrer Ange-botsvielfalt sich deutlich von den Sekundarschulen abhe-ben (Krüger u. a. 2000). Durch die Institutionalisierungsolcher außerunterrichtlichen Angebote werden somit dieohnehin schon bestehenden Ungleichheiten im Bildungs-system noch verstärkt (Mack u. a. 2003). Gleichzeitigwerden jedoch aus der Perspektive der Schüler/innen zu-sätzliche außerunterrichtliche Bildungschancen eröffnet,da beispielsweise die Schüler/innen aus Sekundarschulenmit rund 31 Prozent die schulischen Freizeitangebotestärker wahrnehmen als Schüler/innen aus Gymnasienmit etwa 26 Prozent. Die jüngeren Schüler/innen im Alterzwischen 10 und 12 Jahren nutzen die Freizeitangeboteder Schulen viel mehr als die älteren Schüler/innen imAlter zwischen 13 und 15 Jahren (40 Prozent gegenüberknapp 20 Prozent). Die Nutzung der schulischen Freizeit-angebote und die Zufriedenheit damit hängen dabei nichtnur von der Vielfalt der offerierten Freizeitmöglichkeitenab, sondern auch von einem insgesamt positiven Schul-klima (Krüger/Kötters 2000, S. 144f.).

Im Hinblick auf die Angebote und die Nachfrage von Sei-ten der Schüler/innen nach einem breiten Spektrum vonunterrichtlichen Lerngelegenheiten zeigt eine Untersu-

Page 154: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 144 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

chung des Deutschen Jugendinstituts an Schulen in dreiGroßstädten folgende Trends:

– Angebote zur Berufsvorbereitung sind zu 57 Prozentvorhanden und werden von 59 Prozent der Jugendli-chen für wichtig gehalten.

– Angebote für Freizeit und Versorgung sind zu56 Prozent vorhanden und werden von 59 Prozent derJugendlichen für wichtig gehalten.

– Förderangebote sind zu 55 Prozent vorhanden undwerden von 61 Prozent der Jugendlichen für wichtiggehalten.

– Sozialpädagogische und psychosoziale Angebote sindnur zu 37 Prozent vorhanden, werden aber von63 Prozent der Jugendlichen für wichtig gehalten(Mack u. a. 2003, S. 130).

Angebot und Nachfrage bzw. Bedeutungseinschätzung lie-gen insbesondere bei den sozialpädagogischen und denpsychosozialen Angeboten weit auseinander. Dabei fallendie Diskrepanzen zwischen Angebot und Nachfrage anGesamtschulen und Gymnasien relativ gering aus, wäh-rend die befragten Hauptschüler/innen in ihrer Bewertungam stärksten die zu geringen Angebote beklagten (ebd.,S. 173).

Aus den vorliegenden Begleitforschungsprojekten zur Si-tuation der Schulsozialarbeit in den neuen Bundesländernlassen sich einige quantitative Umrisse des Nutzungspro-fils der Schulsozialarbeit durch die Schüler/innen nach-zeichnen: 30 Prozent der Schüler/innen der dritten bissechsten Klasse sowie 14 Prozent der Schüler/innen dersiebten bis zehnten Klasse fragen Freizeit-, Förder- undHilfsangebote der Schulsozialarbeit in den Schulen nach(Olk u. a. 2000, S. 51; Seithe 1998). Dabei hängt die Häu-figkeit der Kontakte zur Schulsozialarbeit offensichtlichauch vom Klassenklima ab. In Klassen, in denen sich we-niger Gewalt- und Disziplinprobleme zeigen, kontaktie-ren die Schüler/innen die Schulsozialarbeit häufiger (Olku. a. 2000, S. 71ff.). Umgekehrt erreicht Schulsozialarbeitnicht unbedingt jene Schüler/innen, die sich zur Schuledistanziert verhalten (Oelerich 2002). Es ist demnach eine„doppelte Randständigkeit“ jener Gruppen von Schülern/Schülerinnen festzustellen, die sowohl randständig in derSchule als auch randständig hinsichtlich der Angebote derSchulsozialarbeit sind (Expertise Olk).

Zur Wirkung von Ganztagsschulen auf die Bildungspro-zesse von Schülern/innen wurden mit Blick auf ältereGanztagsschulen bislang drei zentrale Befunde herausge-arbeitet (Klieme/Radisch 2003):

– Es zeigten sich bei diesen keine wesentlichen Unter-schiede zwischen Ganztags- und Halbtagsschulen imHinblick auf Schulleistung und Schulerfolg.

– Es gab keine wesentlichen Unterschiede zwischenGanztags- und Halbtagsschulen im Hinblick auf Diszi-plinprobleme und Schulangst der Schüler/innen.

– Im Hinblick auf Unterricht, Leistungsbereitschaft,Lernerfolg, Lernorganisation, individuelle Förderungder Schüler/innen sowie Wahrnehmung außerunter-

richtlicher Aktivitäten von Seiten der Schüler/innenkonnten jedoch positive Effekte konstatiert werden.

Insgesamt wird eine Verbesserung des Sozialklimas, desGemeinschaftslebens sowie des sozialen Verhaltens derSchüler/innen festgestellt (Expertise Beutel). Die positi-ven Effekte von Ganztagsschulen werden bisher vor al-lem in der besseren Förderung der sozialen Kompetenzender Heranwachsenden gesehen.

Zwischenfazit: Fasst man die Vielzahl der vorgestelltenErgebnisse zu den Bildungsprozessen von Kindern undJugendlichen im Kontext von Schule zusammen, so las-sen sich vier zentrale Ergebnistrends festhalten:

– Das stark stratifizierte deutsche Schulsystem sortierteinen Teil der Schüler/innen zu früh aus, produziert re-lativ hohe, pädagogisch wenig sinnvolle Sitzenblei-berquoten, ist in den verschiedenen Bildungsgängender Sekundarstufe I wenig durchlässig und produziertzu viele Schüler/innen, die unter Leistungsgesichts-punkten als „Risikogruppe“ charakterisiert werdenmüssen bzw. die Schule ohne einen Abschluss amEnde der Sekundarstufe I verlassen.

– Das deutsche Schulsystem wirkt sozial hoch selektiv,da Kinder aus bildungsfernen und sozial schwachenFamilien und aus Familien mit Migrationshintergrundnicht nur geringe Chancen auf den Besuch weiterfüh-render Bildungsgänge haben, sondern auch umgekehrtunter den Risikoschülern/innen überproportional ver-treten sind.

– Der deutschen Schule gelingt es nicht hinreichend,allen Schülern/innen eine Grundbildung im Bereichder mathematisch-naturwissenschaftlichen Kompeten-zen sowie der Lesekompetenzen zu vermitteln, ge-schweige denn im Bereich der politischen Kompeten-zen zur Teilhabe an der demokratischen Gesellschafts-ordnung sowie der ästhetisch-expressiven bzw. derpersonalen Kompetenzen zur Lebensbewältigung.

– Das deutsche Schulsystem hat sich bislang nur sehrpunktuell gegenüber den kindlichen und jugendlichenLebenswelten geöffnet und mit den insgesamt noch zuwenig durchgeführten außerunterrichtlichen Bildungs-bzw. Betreuungsangeboten teilweise noch nicht jeneSchüler/innen erreicht, die auf außerunterrichtlicheFörderangebote besonders angewiesen wären.

4.4 Bildungsprozesse in den Gleichaltrigen-Gruppen

Mit zunehmendem Alter wird bei älteren Kindern und Ju-gendlichen die Reflexion von persönlicher, familiärer, se-xueller, politischer sowie beruflicher Identität und Orien-tierung bedeutsam. Die Heranwachsenden suchen nachGelegenheiten, in denen Prozesse der Reflexion und derKlärung sowie der Kommunikation und des Austauschesmöglich und gegeben sind. Dafür werden die Gleichaltri-gen-Gruppen zu einem wichtigen und notwendigen Fo-rum, da Kinder und Jugendliche auch Interaktionspartnerbenötigen, die nicht den Erfahrungs- und Kompetenzvor-sprung von Erwachsenen haben (Krappmann 2001;Oswald 1992).

Page 155: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 145 – Drucksache 15/6014

Bei der Formierung von Gleichaltrigen-Gruppen lassensich unterschiedliche Zugänge festhalten: Zum einen gibtes die engen Freundschaftsbeziehungen von zwei bis dreiKindern bzw. Jugendlichen, bei denen der persönlicheBezug eine bedeutsame Rolle spielt. Zum anderen bildensich Cliquen-Beziehungen von mehreren Kindern bzw.Jugendlichen, deren Gesellungsform sich dadurch aus-zeichnet, dass sie sich meist aus den vielfältigen Bezügendes außerfamilialen sowie außerschulischen Alltagsle-bens ergeben und von den Kindern und Jugendlichen un-abhängig vom Einfluss der Familie selbstständig gewähltwerden („informelle Cliquen“) (Fend 2001, S. 312;Schröder 1995, S. 111).

Die Bildung von Gleichaltrigen-Gruppen aufgrund vonnachbarschaftlichen Bezügen kann als klassische Formangesehen werden, doch diese Gesellungsform hat in denletzten Jahrzehnten eher abgenommen, denn Kindergar-ten und Schule bieten eine Fülle von Gelegenheitsstruktu-ren für Gleichaltrigen-Gruppen und sind somit zu zentra-len Foren sowohl für die Bildung von persönlichenFreundschaftsbeziehungen als auch von Cliquen-Bezie-hungen geworden. Dabei formiert sich ein Teil derGleichaltrigen-Gruppen über den Gruppen- bzw. Klas-senverband, wobei in der Schule die Relevanz der Klasseabnehmen und die Relevanz der Schule insgesamt be-deutsamer werden kann. Mit zunehmendem Alter orien-tieren sich die Jugendlichen dann von der Schule weg.,d. h. die Bildung von Gleichaltrigen-Gruppen und Cli-quen erfährt ihre entscheidenden Impulse im außerschuli-schen Bereich. Diese gemeinsam gestaltete Zeit stellt ei-nen wichtigen Lern- und Erfahrungsraum für dieHeranwachsenden dar, in dem eine Bandbreite von Kom-petenzen erworben wird (Rauschenbach u. a. 2004,S. 217; Expertise Grunert).

Die Freundschaftsbeziehungen der Gleichaltrigen-Grup-pen sind von spezifischen Bindungserfahrungen geprägtund bieten ein besonderes Maß an wechselseitiger Unter-stützung an (Reinders 2004; Krüger/Pfaff 2004; Fend2001; Schröder 1995). Insofern haben Freundschaftsbe-ziehungen für Kinder und Jugendliche eine hohe und viel-fältige Bedeutung für die Verselbständigung, für die Iden-titätsbildung, für die Aneignung sozialer und kulturellerOrientierungen und Kompetenzen, für die Geschlechts-rollensozialisation, für die Freizeitgestaltung, ferner alsRessource der Lebensgestaltung und Lebensbewältigung.

Die Motive, warum Kinder und Jugendliche in Gruppenund Cliquen mitmachen, sind geschlechtsspezifisch un-terschiedlich akzentuiert: Mädchen betonen die Suchenach freundschaftlichen Beziehungen in der Gruppe, Jun-gen dagegen eher gemeinsame Interessen. BevorzugteThemen der Kommunikation in dieser Altersgruppe sindKleidungs- und Geschmacksfragen, Beziehungspro-bleme, Konflikte mit Freund/innen, ferner Schulpro-bleme, die mit zunehmendem Alter sowohl mit den Elternals auch mit den Freund/innen besprochen werden, sowieGespräche über Medien.151

(a) Die Bedeutung von Gleichaltrigen für Kinder und Jugendliche

Die Bildung von Gleichaltrigen-Gruppen beginnt bereitsim Kindesalter. Eine Vielzahl von Studien belegt jedoch,dass mit zunehmendem Alter der Kinder und Jugendli-chen die Bedeutung von Gruppen und Cliquen stetigwächst:

– Bei 6- bis 10-jährigen Grundschulkindern ist dieZweiergruppe (dyadische Beziehung) die wichtigsteForm der Gleichaltrigen-Beziehung. Dies gilt für dieHälfte der Mädchen („beste Freundin“) und gut für einDrittel der Jungen („bester Freund“), während einViertel der Jungen und ein knappes Fünftel der Mäd-chen am liebsten mit mehreren in einer Gruppe spielt(Fölling-Albers/Hopf 1995).

– Die meisten der 8- bis 9-Jährigen sind mit ihren Kon-takten in den Gleichaltrigen-Gruppen zufrieden. Siebenennen sechs Gleichaltrige, mit denen sie sich re-gelmäßig treffen, sowie vier Gleichaltrige, mit denensie eine gute Freundschaft verbindet. Jedes zehnteKind benennt keinen einzigen „guten Freund“ bzw.keine einzige „gute Freundin“, obgleich sie es sichwünschen. Mädchen aus einkommensschwachenHaushalten sind besonders häufig ohne gute Freundin-nen und Freunde, jedes vierte Mädchen hat keine engeBeziehung zu Gleichaltrigen (Alt 2005).

– Der Großteil (90 Prozent) der 10- bis 13-Jährigen hatjeweils gleichgeschlechtlich einen „besten Freund“bzw. eine „beste Freundin“ (Zinnecker/Silbereisen1996).

– Die Beteiligung an Cliquen nimmt zwischen 12 und16 Jahren insgesamt stark zu. Gegengeschlechtlichebeste Freunde/Freundinnen sind viel seltener, bei denMädchen bis zu 16 Jahren jedoch etwas häufiger alsbei den gleichaltrigen Jungen. Die Mädchen habeninsgesamt die größeren Freundeskreise; keinen Freundzu haben ist für Mädchen aber keine Seltenheit, dennbei den 12- bis 13-Jährigen ist dies immerhin fast einFünftel. Andererseits haben 90 Prozent der Mädchenim Alter von 12 bis 13 Jahren eine beste Freundin(DJI-Jugendsurvey 2003).152

Die subjektive Bedeutung der Freundschaftsbeziehungenwird insbesondere dadurch deutlich, dass für die Mäd-chen die beste Freundin genauso wichtig ist wie die Mut-ter und wichtiger als der Vater; ebenso ist für die Jungender beste Freund in etwa genauso wichtig wie Vater undMutter. Der Großteil der Jugendlichen (70 Prozent) zwi-schen 12 und 20 Jahren unternimmt viel in den Gruppenund Cliquen. Dennoch fühlen sich 10 Prozent der Jugend-lichen oft einsam. Dabei sind es insbesondere die Mäd-chen, die sich häufiger einsam fühlen als die Jungen (DJI-Jugendsurvey 2003; Gaiser u. a. 2005).

151 Vgl. dazu folgende Studien: Zinnecker u. a. 2002; Barthelmes/San-der 2001, 1997; Schröder 1995; Youniss 1994; Behnken u. a.1991.

152 Die Ergebnisse der 3. Welle des DJI-Jugendsurveys (s. Glossar) sindAnfang des Jahres 2006 im VS Verlag für Sozialwissenschaften zurVeröffentlichung vorgesehen (Gille u. a. 2006).

Page 156: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 146 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Die Art der Teilnahme in Gruppen und Cliquen unter-scheidet sich bei Jugendlichen ohne und mit Migrations-hintergrund nicht gravierend voneinander, für die Jugend-lichen mit Migrationserfahrungen lassen sich jedocheinige Besonderheiten festhalten (Reinders 2004):

– Je stärker die Sozialraumorientierung der Jugendli-chen ist, desto häufiger haben sie interethnische Kon-takte beispielsweise mit ihren deutschen Mitschülern/Mitschülerinnen in der Hauptschule. Je weniger sieaber ihre Freizeit eigenständig gestalten können, destoweniger halten sie sich in den Sozialräumen auf.

– Eine zu starke Einschränkung der Kinder im Freizeit-bereich durch die Eltern mindert die Selbstwirksam-keitserwartung sowie die Überzeugung der Haupt-schüler/innen, mit neuen Situationen selbstständigumgehen zu können. Je mehr die Eltern auf die Her-kunft der Freunde ihrer Kinder achten, desto geringersind die Jugendlichen anderen gegenüber offen und zuinterethnischen Freundschaften bereit.

– Je mehr Entscheidungsfreiheit türkische Eltern ihrenKindern zubilligen, desto höher fällt deren Sozialraum-orientierung aus. Türkische Mädchen zeigen eine beiweitem geringere Sozialraumorientierung als türki-sche Jungen, und somit kommen bei ihnen auch weni-ger interethnische Kontakte vor. Ferner korrespondiertdie „kulturelle Offenheit“ mit der Häufigkeit inter-ethnischer Kontakte, was wiederum dem Einfluss derEltern zuzuschreiben ist. Denn je mehr die türkischenVäter und Mütter auf die Herkunft der Freunde achten,desto weniger offen sind die Kinder für interethnischeFreizeitaktivitäten und Kontakte.

Für die Mitgliedschaft in den Gleichaltrigen-Gruppen istdie Freiwilligkeit ein entscheidendes Merkmal. Die Ju-gendlichen können ihre Gruppe(n) selbst wählen. Ande-rerseits ist die Bildung von Gleichaltrigen-Gruppen ab-hängig vom Wohnort, von der Nachbarschaft, vonKindergarten, Schule und Hort, ferner von den außer-schulischen Orten und Gelegenheiten. Die Zugehörigkeitder Jugendlichen zur jeweiligen Gruppe kann demnachauch strukturell bedingt bzw. institutionell erzwungensein. Gruppen und Cliquen sind jedoch nicht immer posi-tiv besetzt, denn negativ besetzte Zusammenschlüsse ber-gen in sich auch den Beginn von destruktiven Karrierenund können demnach zu Isolierung oder Stigmatisierungführen, wenn Jugendliche aufgrund von Zwangssituatio-nen die entsprechende Gruppe oder Clique verlassenmöchten.

Die sozialen Lebenslagen und Milieus haben Einfluss aufdie Auswahl von Freundschafts- und Cliquenbeziehun-gen:

– Die Zusammensetzung der Cliquen ist bereits imGrundschulalter weitgehend schichthomogen geprägt(Krappmann/Oswald 1999; Rubin u. a. 1998; Hallinan1980).

– Insgesamt besteht für außerschulische Cliquenaktivi-täten ein enger Bezug zwischen sozialer Herkunft undAuswahl von Freunden/Freundinnen. Dies gilt im Be-

sonderen für Cliquen mit aggressiver Orientierung, diesich eher aus den unteren sozialen Schichten rekrutie-ren, während Cliquen mit kultureller Freizeitorientie-rung eher aus den sozialen Mittelschichten stammen.Die Hauptschule als „Restschule“ ist in ihrer Strukturgleichsam dazu prädestiniert, die bestehenden Milieuszu fixieren. Die Chancen, andere Gruppen und Cli-quen kennen zu lernen, sind (vom Milieu her bedingt)für einen Teil der Kinder und Jugendlichen gering(Schümer u. a. 2001; Eckert u. a. 2000; Bietau 1989;Helsper 1989).

In diesem Zusammenhang stellt sich sozialpolitisch dieFrage, ob nicht für Kinder und Jugendliche Gelegenhei-ten ermöglicht und geschaffen werden müssen, damit siemehr und leichter Heranwachsende aus anderen sozialenMilieus kennen lernen können.

Sozial-kulturelle Homogenität spielt auch eine bedeu-tende Rolle bei der Formierung und der Zugehörigkeitvon jugendkulturellen Szenen und Gruppierungen. DiePluralisierung der Lebensstile sowie die gesellschaftlicheIndividualisierung scheinen sich in der zunehmendenVielzahl und Vielfältigkeit jugendkultureller Stile wider-zuspiegeln. Das Wissen um den jeweiligen Szene-Codesowie dessen Beherrschung entscheiden über den Zugangzur Szene und die Anerkennung innerhalb der jugendkul-turellen Gruppe. Die (zum Teil auch selbst organisierten)Jugend-Szenen stehen allen offen, die sich für das jewei-lige Szene-Thema (als sinnstiftende Kultur) interessieren.Durch das Prinzip des „Learning by doing“ arbeiten sichdie Jugendlichen in eine Szene ein und innerhalb derSzene hoch.

Die jugendkulturellen Szenen sind insgesamt zu einemwichtigen Erfahrungsraum für Jugendliche aus allen So-zial- und Bildungsschichten geworden. Jugendliche aushöheren Bildungsmilieus beispielsweise werden tenden-ziell eher von der Snowboarder-Szene oder der Compu-ter-Szene angesprochen, während Jugendliche aus unte-ren Sozial- und Bildungsmilieus eher auf die Techno-Szene „abfahren“. Was Jugendliche an den jeweiligen ju-gendkulturellen Szenen im besonderen Maße interessiertund fasziniert, ist der vielfältige inhaltliche sowie prakti-sche Bezug zu Bildungsbereichen wie Musik, Sport, Be-wegung, Medien, ferner die Auseinandersetzung mit Ge-sellschaft und Politik (z. B. jugendliche Subkulturen wieAlternativszene, Skinhead-Szene, Punk-Szene, Gothic-Szene) (Großegger/Heinzlmaier 2002; Barthelmes 1999a;SPoKK 1997).

(b) Gleichaltrigen-Beziehungen und Bildungsprozesse

Die Gleichaltrigen-Gruppen als Lern- und Erfahrungs-räume ermöglichen den Kindern und Jugendlichen denErwerb einer Bandbreite von Kompetenzen, die sich ins-besondere auf den sozial-kommunikativen sowie densprachlich-kulturellen Bereich beziehen, ferner auf perso-nale Kompetenzen in Zusammenhang mit der Identitäts-findung (Selbstvergewisserung, Selbstkonzepte). DieGleichaltrigen-Beziehungen stellen für die Mehrheit derHeranwachsenden einen wichtigen und positiven Erfah-rungsraum bereit, in dem sie lernen können, wie soziale

Page 157: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 147 – Drucksache 15/6014

Netzwerke aufgebaut, gefördert und aufrechterhaltenwerden (Grundmann u. a. 2003a). Die Gestaltung vonGleichaltrigen-Beziehungen erfordert aufgrund der Frei-willigkeit und der Gleichberechtigung ein hohes Maß anKooperations- und Kritikfähigkeit, denn die Dauer dieserGruppen ist fragil, da sie jederzeit auseinander fallen bzw.beendet werden können – ganz im Gegensatz zur Einbin-dung in die Familie, auch wenn diese mitunter als belas-tend empfunden wird. Eine soziale Kompetenz zur Ent-wicklung und Gestaltung eines Netzwerkes kann nurinnerhalb der Gleichaltrigen-Beziehungen und nicht inder Beziehung zu Eltern oder Lehrer/innen erlernt werden(Expertise Grunert).

Die Kontakte in den Gleichaltrigen-Gruppen sind geprägtvon den sozialen Beziehungen der Anerkennung, die Ein-fluss auf die Entwicklung des Selbstbildes, des Selbst-wertgefühls sowie auf die Selbstwirksamkeit haben. DieSorge, bei den anderen Gleichaltrigen wenig beliebt zusein, geht mit Unsicherheiten im Hinblick auf die eigeneSelbstbewertung einher. Heranwachsende, die nicht inCliquen eingebunden sind, neigen deshalb eher zu de-pressiven Stimmungen und geringeren schulischen Er-wartungen der Selbstwirksamkeit (Roppelt 2003; Stecher2001; Valtin/Fatke 1997; Rinker/Schwarz 1996;Zinnecker/Silbereisen 1996).

Beim Erwerb sprachlich-kommunikativer Kompetenzenerhalten Kinder und Jugendliche mit Migrationshinter-grund in den Gruppen und Cliquen bessere Möglichkei-ten als in der Familie, ihre deutschen Sprachkenntnisse zuerproben und zu vertiefen, denn oft wird in der Familienur die Sprache des Herkunftslandes gesprochen (Roppelt2003). Von den 12- bis 15-Jährigen sprechen zwischen80 Prozent und 90 Prozent im Freundeskreis nur oderüberwiegend Deutsch (erste und zweite Generation). Derdeutsche Sprachgebrauch in Gleichaltrigen-Gruppennimmt mit der Aufenthaltsdauer deutlich zu, und dement-sprechend nimmt der Anteil derjenigen, die nur oderüberwiegend eine andere Sprache sprechen, stark ab. Indiesem Zusammenhang ist ferner wichtig, dass unter denheutigen Jugendlichen Fremdsprachenkenntnisse weitverbreitet sind. Bei den Jugendlichen im Alter von 12 bis15 Jahren sprechen nur noch 14 Prozent keine Fremd-sprache. Die Mädchen haben dabei mehr Sprachkennt-nisse als die Jungen, und Jugendliche mit Migrationshin-tergrund haben sehr viel mehr Sprachkenntnisse alsinländische Jugendliche (DJI-Jugendsurvey 2003). DieseKommunikationskompetenz ist nicht gleichzusetzen mitden erforderlichen Sprachkompetenzen, die in der Schuleerwartet werden. Jugendliche mit Migrationshintergrundmachen in Gleichaltrigen-Gruppen jedoch durch ihr Ver-halten erfahrungsgemäß insgesamt deutlich, dass im ge-meinsamen Umgang mit ihresgleichen nicht allein die„ethnisch-kulturelle Karte“ sticht, sondern dass es ihnenin den Gruppen und Cliquen vorrangig um gemeinsameThemen, Inhalte und Ziele geht (Dannenbeck u. a. 1999).

Die Gleichaltrigen-Gruppen bieten ferner Voraussetzun-gen für den Erwerb von personalen Kompetenzen. DieHerstellung von Kontakten erfordert Selbstorganisation,für deren Umsetzung z. B. das Arrangieren von Termi-

nen, das Koordinieren von Aktivitäten sowie das Setzenvon Prioritäten erforderlich sind (Furtner-Kallmünzeru. a. 2002). Gleichaltrigen-Beziehungen sind darüber hi-naus ein zentrales Übungs- und Experimentierfeld für dieGeschlechtersozialisation, insbesondere wenn Ge-schlechtsrollen zugeschrieben, konstruiert und transzen-diert werden (Breidenstein/Kelle 1998; Krappmann/Oswald 1995; Bois-Reymond u. a. 1994).

Der Blick auf die Bildungs- und Lernpotenziale innerhalbder Gruppen und Cliquen wäre jedoch verkürzt, wenn ernur die positiven Möglichkeiten des Erwerbs von Kompe-tenzen innerhalb der Gleichaltrigen-Gruppen betonte. DieGruppen und Cliquen enthalten auch Risiken sowie nega-tive Einflüsse und sind nicht nur Lernfelder des Kompe-tenzerwerbs oder der sozialen Anerkennung. Ein Fünftelder 8- bis 10-Jährigen beispielsweise fühlt sich sozial iso-liert und hat Probleme mit der sozialen Kontaktaufnahme(Roppelt 2003, S. 411). Die erfahrene Ablehnung durchandere erhöht zwar die Enttäuschungsfestigkeit in zwi-schenmenschlichen Interaktionen, doch kann dies auch zuproblematischen Situationen führen. Ein Zehntel aller Ju-gendlichen wird Opfer von Aggressionen und Stigmati-sierungen innerhalb ihrer Gruppen. Von kontinuierlichenDiskriminierungen durch Gleichaltrige betroffene Kinderund Jugendliche definieren sich häufig als Außenseiterund neigen zu Resignation, die ihnen auf Dauer wichtigesoziale Kompetenzen in Bezug auf den Aufbau und dieAufrechterhaltung sozialer Netzwerke verwehren kann(Roppelt 2003, S. 303).153 Ferner kann die Mitgliedschaftin Cliquen mit aggressiver Orientierung negative Lese-leistungen verstärken, während die Mitgliedschaft in ei-ner Clique mit kultureller Orientierung eher den umge-kehrten Effekt zeigt (Schümer u. a. 2001).

In gewaltbereiten Gruppen sind Gewaltbereitschaft sowieErfahrungen mit gewalttätigen Auseinandersetzungen beiden weiblichen Jugendlichen eng mit dem eigenen Grup-penstatus verbunden. In gewaltbereiten Mädchengrup-pen/Mädchencliquen „bekleiden weibliche Jugendlicheherausragende Statuspositionen allein aufgrund ihrer aus-geprägten Gewaltbereitschaft; die statushohen Mädchenin den untersuchten gemischtgeschlechtlichen Gruppenverfügen demgegenüber sowohl über Erfahrungen in ge-walttätigen Auseinandersetzungen als auch über großekommunikative und organisatorische Kompetenzen“(Bruhns/Wittmann 2002, S. 260).

Verwehrte Zugänge zu den informellen Netzwerken derGleichaltrigen-Gruppen haben nicht nur soziale Isolationzur Folge, sondern verhindern auch die Ausbildung derdamit verbundenen (sozialen, sprachlich-kulturellen so-wie personalen) Kompetenzen. Vor allem Kinder und Ju-gendliche aus Familien, die von Armut betroffen sindoder aus Flüchtlingsfamilien stammen, haben es oftschwer, Kontakte mit Gleichaltrigen aufzubauen, zumales aufgrund häufig beengter Wohnverhältnisse für siekaum möglich ist, andere nach Hause einzuladen. Als

153 Vgl. dazu ferner folgende Studien: Hurrelmann 2004b; Fend 2001;siehe auch Expertise Grunert..

Page 158: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 148 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Ursache für defizitäre Kontakte mit Gleichaltrigen geltenbei Heranwachsenden aus ökonomisch deprivierten Fa-milien auch deren eingeschränkte Zugänge zu den Objek-ten und Markenartikeln der Kinder- und Jugendkultur(Chassé u. a. 2003; Holzapfel 1999; Büchner 1998; Klo-cke 1996).

Zwischenfazit: Die Bedeutung der Gleichaltrigen-Grup-pen im Hinblick auf Bildungsprozesse bezieht sich aufzwei Ebenen: Zum einen können Kinder und Jugendlichedurch den kontinuierlichen Dialog in der Gruppe sowiedurch den Diskurs unterschiedlicher Einschätzungen, Be-wertungen und Vorstellungen ihre familialen und schuli-schen Erfahrungen (auch des Lernens und der Bildung)austauschen, überprüfen, erweitern und in Frage stellen.Dieser Prozess einer mitunter radikalen Selbstvergewis-serung kann nur dann optimal verlaufen, wenn die Konti-nuität der Gruppe sowie eine Basis des Vertrauens sicher-gestellt sind. Zum anderen generieren die Gleichaltrigen-Gruppen an sich eine Vielzahl von Bildungsprozessen,die sich auf ein breites Band von Themen und Inhaltenbeziehen – von der Einschätzung des Elternhauses unddes Milieus über Fragen der Gestaltung von Partnerbezie-hungen bis hin zu Formen des Umgangs mit dem eigenenKörper sowie mit Natur, Technik und Medien – und denErwerb von sprachlichen, sozialen und personalen Kom-petenzen ermöglichen. Die meist vorherrschende sozial-kulturelle Homogenität der Gleichaltrigen-Gruppen kannjedoch auch zu sozialer Fixierung bzw. Isolierung führen,indem eine Erweiterung des Erfahrungshorizonts durchKinder und Jugendliche aus jeweils anderen Bildungsmi-lieus eher verhindert und somit ein Austausch unter-schiedlicher Bildungserfahrungen und -voraussetzungenausgeschlossen wird. Bildungspolitik und Bildungspla-nung hätten hierbei die Aufgabe, Anreize und Möglich-keiten einer Begegnung von Kindern und Jugendlichenaus unterschiedlichen bzw. bildungsfernen sowie bil-dungsnahen Milieus zu schaffen.

4.5 Bildungsprozesse an anderen Bildungsorten

Zeiten jenseits von Schule und Familie sind für Kinderund Jugendliche meist freie Zeiten im Sinne disponiblerZeit, die sie entsprechend ihren eigenen Wünschen, Inte-ressen und Notwendigkeiten für Aktivitäten an Bildungs-orten und in Lernwelten außerhalb von Familie undSchule verwenden (können). Dieser Zeitraum in Formvon „Freizeit“ unterscheidet sich nach zwei grundlegen-den Mustern der Zeitbindung:

– Institutionelle Einbindung: Die Kinder und Jugendli-chen nutzen entsprechende Einrichtungen und deren(institutionelle, kommerzielle oder nicht-kommer-zielle) Angebote in Form von terminlich gebundenerund fest organisierter freier Zeit.

– Selbst organisierte Zeitbindung: Die Kinder und Ju-gendlichen haben selbst die Entscheidung darüber,was sie machen, wann sie wohin gehen und mit wemsie sich treffen möchten, im Rahmen einer terminlichnicht gebundenen freien Zeit.

Kindern und Jugendlichen heute bleibt gerade im Ver-gleich zu den Erwachsenen viel Zeit zur freien Verfü-gung. „Neben Schule oder Ausbildung, den Zeiten fürRegeneration (Schlafen, Körperpflege und Essen) undHausarbeit verfügen die 14- bis 18-Jährigen unter derWoche über etwa 6 ½ Stunden freie Zeit pro Tag (Jungen6 ¾ Std., Mädchen 6 ¼ Std.). Am Wochenende erhöhtsich dieses Freizeitbudget für Jungen auf gut 9 ¼, fürMädchen auf knapp 8 ¼ Stunden. Dagegen nimmt sichdie Zeit für den Schulbesuch sowie die Vor- und Nachbe-reitung von Unterricht bzw. für die betriebliche Ausbil-dung mit durchschnittlich 5 Stunden an Wochentagen undeiner guten halben Stunde an Wochenenden knapper aus.Zeit zum selbst organisierten informellen Lernen ist alsoreichlich vorhanden“ (Cornelißen/Blanke 2004a, S. 2).

In ihrer disponiblen und außerschulischen Zeit gehenKinder und Jugendliche u. a. folgenden Aktivitäten nach(vgl. auch Kapitel 6):

– Aktivitäten in Vereinen und Organisationen (u. a. beiAngeboten der Jugendarbeit),

– Aktivitäten in (kommerziell) organisierten „Neben-schulen“ (z. B. Nachhilfe, Musikschulen, Sprachschu-len),

– Aktivitäten an Bildungs- und Erlebnisorten, die insbe-sondere kulturellen Charakter besitzen (z. B. Biblio-theken, Kinder- und Jugendkinos, Kinder- undJugendtheater, Museen, Ausstellungen, Chöre, Or-chester, Musikkapellen, Bands).

Das Gemeinsame dieser Aktivitäten besteht darin, dasssie sich auf institutionell organisierte Angebote außerhalbder Schule und unabhängig von ihr beziehen sowie denindividuellen Interessenschwerpunkten und Vorliebenvon Kindern und Jugendlichen entgegenkommen. Dieseaußerschulischen Bildungsangebote können vielfältigeBildungsprozesse befördern und vermitteln; ferner er-möglichen sie Schlüsselerfahrungen für den weiteren Le-benslauf (Fend u. a. 2004).

4.5.1 Vereine/OrganisationenHeutige Kindheit und Jugend enthält zwei Formen vonAktivitäten, zum einen die selbst organisierten Aktivitä-ten der Kinder und Jugendlichen, zum anderen die unter-schiedlichen Aktivitäten in einer pädagogisch betreutenbzw. in einer von Vereinen institutionalisierten Kinder-und Jugendfreizeit (z. B. durch Sportvereine, politischeJugendorganisationen, Kirchengemeinden und kirchlicheJugendgruppen, Hilfsorganisationen und Rettungsdienstesowie Heimat- und Bürgervereine in Form von Schützen-vereinen, Trachtenvereinen u. a.). Das Muster der Ter-min- und Vereinskindheit hat sich insbesondere in West-deutschland weitgehend etabliert (Fuhs 1996; Zeiher/Zeiher 1994). Dabei nehmen die Kinder und Jugendli-chen Aktivitäten der organisierten Freizeit entweder alsKonsumenten bzw. Nutzer und Teilnehmer/innen oderaber als Aktive und Engagierte bzw. als Ehrenamtlichemit Übernahme von Verantwortung wahr. Exemplarischkann anhand des DJI-Kinderpanels die mit dem Alterwachsende Bedeutung von organisierten Freizeitformenveranschaulicht werden (vgl. Abb. 4.4).

Page 159: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 149 – Drucksache 15/6014

A b b i l d u n g 4.4

Entwicklung des Besuchs eines Vereins oder einer festen Gruppe nach Altersgruppen im Längsschnitt

(2002 und 2004; in Prozent)

Quelle: DJI-Kinderpanel 2002, 2004

Im Alter von 5 bis 6 Jahren sind über 50 Prozent der Kin-der in irgendeiner Weise in organisierter Form aktiv;diese Einbindung steigt bis zum Alter von 9 bis 11 Jahrenauf über 70 Prozent. Dabei zeigt sich, dass im Vorschul-und Grundschulalter auch neben dem Sport bereits rundjedes fünfte Kind vor der Schulpflicht bzw. in den erstenGrundschuljahren und bis zu 30 Prozent zwischen 8 und11 Jahren in einer Gruppe oder einem Verein aktiv sind,und dies gerade in diesen Altersphasen mit durchgängigsteigenden Anteilen (vgl. Tab. 4.1).

Bei den 12- bis 15-Jährigen sind laut DJI-Jugendsurvey75 Prozent in den alten und 59 Prozent in den neuen Bun-desländern Mitglied mindestens in einem Verein. Die jün-geren Altersgruppen sind in Sportvereinen sowie in kirch-lichen Vereinen stärker zu finden, die Mädchen beteiligensich außer im kirchlichen Bereich insgesamt weniger inVereinen als die Jungen.

Sportvereine sind die weitaus erfolgreichsten Kinder- undJugendorganisationen und ziehen die größten Potenzialeder Ehrenamtlichkeit auf sich (Rittner 2004) (vgl. auchAbschnitt 6.1.1). Die Attraktivität des Mediums Sportzeigt sich in den hohen Partizipationsquoten sowie in derspeziellen Dynamik der Sportsymbolik innerhalb der All-tagskultur bzw. Kinder- und Jugendkultur. Zudem istdurch die kommunale Präsenz des Sports eine großeReichweite in den unterschiedlichen sozialräumlichenStrukturen und Milieus gegeben. Der erweiterte Sport-begriff ermöglicht für Kinder und Jugendliche zuneh-mend Leistungen der „variablen Körperthematisierung“.„Offenkundig benötigen komplexe Gesellschaften einen

51,956,2

68,272,7

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

5-6 Jahre(2002)

6-8 Jahre(2004)

8-9 Jahre(2002)

9-11Jahre(2004)

jüngere Kinder ältere Kinder

Ta b e l l e 4.1

Anteil der Kinder, die Mitglied in einem Verein oder einer festen Gruppe sind, nach Alter und Art des Vereins oder der Gruppe

(Deutschland; 2002 und 2004; in Prozent)

1 Dabei handelt es sich in der jeweiligen Gruppe um dieselben Kinder, die rund 1,5 Jahre später erneut befragt wurden.Quelle: DJI-Kinderpanel 2002, 2004

Jüngere Kinder1 Ältere Kinder1

Befragung 2002

Befragung 2004

Befragung 2002

Befragung 2004

5 bis 6 Jahre

6 bis 8 Jahre

8 bis 9 Jahre

9 bis 11 Jahre

Tennisclub/Reitverein 2 2 8 9

Anderer Sportverein 42 46 54 58

Musik-/Tanz-/Karnevals-/Faschingsverein u. Ä. 15 17 18 20

Theater-/Kinogruppe/Kulturverein < 1 < 1 3 3

Mediengruppe o. Ä. < 1 < 1 <1 1

Sonstiger Verein oder sonstige Gruppe 7 8 13 14

Insgesamt (mindestens in einem Verein, ohne Sport) 20 22 27 30

Insgesamt (mindestens in einem Verein, mit Sport) 52 56 68 73

Page 160: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 150 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

anderen Umgang mit dem Körper bzw. erfordern eineEntdeckung des Körperkapitals für die Selbstbehauptungin den vielfältigen Individualisierungs- und Pluralisie-rungsprozessen“ (Rittner 2004, S. 559; ferner: Schmidtu. a. 2003; Büchner/Fuhs 1998).

Sport und Bewegung sind insgesamt bedeutsam für dieIdentitätsbildung und die Selbstbehauptung von Kindernund Jugendlichen, die jedoch den Bereich des Sportsnicht mehr vordergründig unter dem Blickwinkel des anVereine gebundenen Wettkampfsports sehen. Der Sportwar lange Zeit ein abgegrenzter Eigenweltbereich. Heutejedoch gehen Sportkultur, Jugendkultur und Popkulturneue Synthesen ein, die für Sportvereine und Sportver-bände eine Herausforderung darstellen. Die Individuali-sierung berührt auch den Bereich des Sports und zwingtVereine und Verbände zu anderen Strukturen der Organi-sation, Kommunikation und inhaltlich-thematischen Ver-mittlung, gerade auch im Hinblick auf informelle Lern-prozesse (Rittner 2004).

Neben den (Sport-)Vereinen und der Jugendarbeit spielenfür einen Teil der Heranwachsenden aber auch die infor-mellen Gruppierungen der Neuen Sozialen Bewegungeneine Rolle. Diese bieten insbesondere Gelegenheiten zurEntwicklung politischer Orientierung und politischen En-gagements. 12- bis 15-Jährige sind laut DJI-Jugendsur-vey 2003 mit 10 Prozent in diesen Gruppierungen aktiv(Umweltschutzgruppen, Friedensgruppen, Autonome,Neonazis, Dritte-Welt-Gruppen, Menschenrechtsgruppen,Tierschutzgruppen und Globalisierungskritiker). Hin-sichtlich ihrer politisch orientierten Aktivitäten bzw. ihrerpolitischen Partizipation zeigen die 12- bis 15-Jährigenfolgendes Profil der Bereitschaft: Spenden für einen gu-ten Zweck (45 Prozent), Unterschriftensammlung (44 Pro-zent), Teilnahme an einer Demonstration (19 Prozent),Arbeit in einem Mitbestimmungsgremium einer Schule(17 Prozent), Schreiben von Leserbriefen/Mails (7 Pro-zent), Briefe/Mails an Politiker (4 Prozent), Mitarbeit inder Jugendorganisation einer Partei (2 Prozent) (DJI-Ju-gendsurvey).

Insgesamt kann für die Jugendlichen von 12 bis 15 Jahrenfestgehalten werden, dass die aktive Betätigung in tradi-tionellen gesellschaftlichen Organisationen (Gewerk-schaften, Parteien) abnimmt, in Bezug auf Sportvereinesowie lokale Vereine jedoch zunimmt. Eine grundsätzli-che Beteiligungsverweigerung junger Menschen lässtsich weder bei den jüngeren noch bei den älteren Jugend-lichen zeigen, wobei jedoch die Politik nach wie vor nichtals zentrales Betätigungsfeld gesehen wird. Das konstanteNiveau von Aktivitäten in den informellen Gruppierun-gen zeigt die Sympathie für unkonventionelle, flexibleund stärker dezentrale sowie selbst bestimmte Aktions-formen auf (DJI-Jugendsurvey 2003).

Bei der Einbindung in die Vereine zeigen sich ge-schlechtsspezifische Differenzen: In den Sportvereinendominieren die Jungen, während in den kulturellen sowiekirchlichen Vereinen mehr Mädchen aktiv sind (Fischer2000; Strozda/Zinnecker 1996). Bei den Vereinsmitglied-schaften lassen sich ferner Differenzen hinsichtlich dessozialen Status der Eltern feststellen. So sind es in erster

Linie die Heranwachsenden aus Familien mit niedrigemsozialem Status, die zu mehr als 50 Prozent überhauptkeinem Verein angehören. Die Heranwachsenden aus Fa-milien mit einem hohen sozialen Status sind demgegen-über lediglich zu rund 22 Prozent nicht in einem Vereinorganisiert, und rund ein Fünftel von ihnen ist in drei undmehr Vereinen (Fuhs 1996). Es zeigt sich zudem bei derVereinseinbindung ein deutliches Moment sozialer Un-gleichheit, denn die Mitgliedschaft in einem Verein dientzwar häufig dazu, Gleichaltrige zu treffen; gleichzeitigwerden jedoch hierbei in besonderem Maße auch Bil-dungsprozesse initiiert.

Die Jugendarbeit schließlich, die sowohl von Vereinenund Initiativen sowie eigenen Jugendverbänden als auchvon öffentlichen Trägern angeboten und organisiert wird,ist ein Ort der Teilnahme und ein Ort des eigenen Enga-gements, beispielsweise in Form eines Ehrenamtes.Gerade die Jugendverbandsarbeit betont neben ihren Bil-dungsangeboten auch die zentrale Bedeutung vonVerantwortungsübernahme und Engagement im Verband.Einblicke in die Bildungswirksamkeit liefern Untersu-chungen zu biografischen Motiven im Hinblick auf dieAktivität bzw. das Engagement in einem Jugendverband.Diese zeigen vier unterschiedliche Motivlagen auf:

– Suche nach sozialer Einbindung, Geborgenheit undAkzeptanz (Bruner/Dannenbeck 2002; Reichwein/Freund 1992),

– Interesse, über eine Verbandsaktivität die beruflichenKarriere- und Einflussmöglichkeiten zu verbessern(Schulze-Krüdener 1999; Reichwein/Freund 1992),

– Engagement als Pflichterfüllung, als Dienst am Ver-band oder als solidarischen Einsatz für das Gemein-wohl (Schulze-Krüdener 1999),

– Aktivität im Verband als ein Hobby unter vielen, dasjedoch nicht zwangsläufig eine herausragende Stel-lung in der jugendlichen Biografie einnehmen muss(Reichwein/Freund 1992).

Aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen gibtes zu den Bildungsprozessen in der Jugendarbeit wenigempirische Ergebnisse (Rauschenbach u. a. 2004, S. 252).Grundsätzlich bieten die Jugendverbände insgesamt einErfahrungsfeld für das Anstoßen von Bildungsprozessen.

Für die ehrenamtliche Tätigkeit in einem Jugendverbandist ein spezielles Fachwissen erforderlich, das auch fürdie spätere berufliche Tätigkeit von Nutzen sein kann(Picot 2001). Zudem eröffnet die Tätigkeit in einemJugendverband auch ein Experimentierfeld für den Zuge-winn an Selbstständigkeit sowie das sukzessive Erlernender Übernahme sozialer Verantwortung (Bruner/Dannenbeck 2002). Einen ersten empirischen Einblick indie Welt der Jugendverbände als Bildungsorte sowie ersteHinweise auf die Vielfältigkeit des Kompetenzerwerbsinnerhalb der verbandlichen Jugendarbeit liefert eine qua-litative Studie mit älteren ostdeutschen Jugendlichen inder BUND-Jugend, die retrospektiv auf ihr Engagementin diesem Umweltverband zurückblicken (Fischer 2001).Insgesamt beschreiben die in dieser Studie befragten Ju-

Page 161: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 151 – Drucksache 15/6014

gendlichen ein weites Tableau von Kompetenzen, das imVerlauf des Engagements erworben werden konnte. Ver-bandsspezifisch ist dabei zunächst der Ausbau des natur-und sozialwissenschaftlichen Fachwissens über den Be-reich Umwelt, Umweltzerstörung, Umweltschutz. Fernererwähnen die Jugendlichen die sukzessive Entwicklungder Fähigkeit zur konstruktiven Zusammenarbeit in Grup-pen sowie zum Respekt und zur Toleranz im Umgang mitanderen Lebensformen, d. h. den Erwerb eines breitenSpektrums von sozialen Kompetenzen. Wichtig erscheintzudem die allmähliche Herausbildung von Selbstkompe-tenzen wie Selbstwirksamkeitsüberzeugungen sowie dieStärkung des Selbstbewusstseins auch im Umgang mitneuen Situationen und Anforderungen (ebd.).

Empirisch wurde in punkto Verbreitung des Engagementsvon Jugendlichen im Rahmen des Freiwilligensurveys154

2004 ein Anteil von 38 Prozent der 14- bis 21-Jährigenermittelt, die in irgendeiner Weise freiwillig/ehrenamtlichengagiert sind (vgl. Abschnitt 6.1.1). Von diesen sind im-merhin fast 30 Prozent 6 Stunden und mehr in der Wochefreiwillig tätig; weitere 37 Prozent wenden wöchentlichdurchschnittlich 3 bis 5 Stunden auf, womit das freiwil-lige Engagement auch einen quantitativ bedeutsamen An-teil in der (Frei-)Zeitverwendung dieser Jugendlichendarstellt. Insgesamt bedarf es jedoch weiterer Untersu-chungen, die quantitativ umfassender die Bildungseffektevon Jugendverbandsarbeit, insbesondere aber auch vonoffener Jugendarbeit systematisch erfassen (ExpertiseGrunert).

4.5.2 Nebenschulen

Die bisher analysierten außerschulischen Lebensbereicheder Heranwachsenden lassen sich aufgrund der momenta-nen Forschungslage nur eher hypothetisch als Felderkindlichen und jugendlichen Kompetenzerwerbs be-schreiben. Die institutionellen, zumeist kommerziellorganisierten Lernangebote (wie Nachhilfeunterricht, kul-turelle Fachkurse, Musikschulen, Computerschulen,Fremdsprachenkurse oder Science Centers in Erleb-nisparks) dagegen versprechen schon allein aufgrund ih-res jeweiligen Selbstverständnisses einen Zuwachs anKompetenzen. Aufgrund ihrer explosionsartigen Zu-nahme werden solche Lernangebote auch als „Nebenschu-len“ bezeichnet (Hagstedt 1998). Als weitere Form von Ne-benschulen können sozialpädagogische Angebote fürschulverweigernde, aber schulpflichtige Kinder und Jugend-liche gesehen werden.

(a) Nachhilfeunterricht

In den letzten Jahren hat sich ein breiter Markt von Ange-boten entwickelt, der sich an Schülern/innen aller Alters-stufen richtet und von der privaten Nachhilfe durch ältereSchüler/innen oder Studenten/innen bis hin zu professio-nell betreuten Kursen kommerzieller Anbieter reicht (vgl.Abschnitt 6.3). Der Sektor Nachhilfeunterricht bezieht

sich dabei explizit auf die in der Schule vermittelten Wis-sensbereiche sowie deren Verständlichkeit und zeigt fol-gendes Nutzungsprofil:

– Bereits 1994 gaben 20 Prozent der 11- bis 17-jährigenSchüler/innen aus Nordrhein-Westfalen an, Nachhilfein Anspruch zu nehmen (Hurrelmann/Klocke 1995).

– Einige Jahre später stieg in einer Untersuchung an all-gemein bildenden Schulen im selben Bundesland derAnteil auf 30 Prozent aller Schüler/innen (Kramer/Werner 1998).

– Bundesweit nehmen 33 Prozent der Schüler/innen derneunten Klassen Nachhilfe außerhalb der Schule inAnspruch, fasst man private Nachhilfestunden undkommerziellen Nachhilfeunterricht zusammen (Bau-mert u. a. 2001).

– Bei der Nutzung von Nachhilfe greifen 13 Prozent derSchüler/innen ausschließlich auf kommerzielle Ange-bote zurück; die private Nachhilfe stellt dem gegen-über den größeren Bereich dar (Rauschenbach u. a.2004).

Die Nutzung der Nachhilfe, differenziert nach Schulfor-men und Schulstufen, zeigt anhand der bislang vorliegen-den Studien folgende Trends:

– Rund ein Fünftel der Gymnasiasten/Gymnasiastinnennimmt kontinuierlich über die Schullaufbahn Nach-hilfe in Anspruch (Schneider 2004).

– Die Nachfrage nach Nachhilfeangeboten bei denHaupt- und Realschülern/innen konzentriert sich dage-gen vor allem auf die Knotenpunkte im schulischenSelektions- und Übergangssystem (d. h. fünfte undsechste Klasse) (Rudolph 2002; Kramer/Werner 1998;Hurrelmann/Klocke 1995).

– In der Grundschule nehmen insbesondere die Viert-klässler aufgrund der Übergangs- bzw. Übertrittssitua-tion derartige Angebote im Umfang von 5 bis10 Prozent in Anspruch (Hagstedt 1998).

Die starke Nachfrage nach außerunterrichtlichem Zusatz-unterricht gerade an den Knotenpunkten der Schullauf-bahnentscheidungen zeigt, dass Bildungsbeteiligung im-mer mehr zu einer Sache der elterlichen Möglichkeiten anInvestition und Bereitschaft geworden ist. Somit hängendie Chancen im Wettbewerb um Bildungstitel wieder ein-mal vom ökonomischen Kapital des Elternhauses ab. El-tern finanzieren zunehmend eine Zusatz- und Nebenaus-bildung, die ihren Kindern über das Erreichenhochwertiger Schulabschlüsse Startvorteile im Kampf umAusbildungsplätze und Arbeitsmarktchancen bescherensoll (Expertise Grunert; Fölling-Albers 2000).

Ob sich diese Investitionen allerdings auch lohnen, isteine empirisch offene Frage, da die Datenlage zur Nach-hilfe bislang insgesamt noch fragmentarisch ist und vorallem komplexe quantitative Längsschnittstudien zu denpositiven bzw. negativen Effekten der Nachhilfenutzungfür die schulische Bildungsbiografie fehlen.154 Zum Freiwilligensurvey vgl. Glossar.

Page 162: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 152 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

(b) Institutionelle nebenschulische Lernangebote

Institutionell organisierte Lernangebote beziehen sichnicht nur ausschließlich auf den in der Schule behandel-ten Unterrichtsstoff. Vielmehr haben sich im letzten Jahr-zehnt auch Angebote entwickelt, die Wissen vermittelnmöchten, das zwar nicht unmittelbar der schulischenQualifizierung dient, jedoch einen zusätzlichen Vor-sprung beim Wettbewerb um schulische Bildungskarrie-ren verspricht. So stellen die in Deutschland etwa1 000 Musikschulen sowie die vielfältigen Fremdspra-chenkurse und Computerschulen Lernangebote dar, diesich nicht nur durch schulnahe Lerninhalte auszeichnen,sondern ähnlich wie die Schule auch zeitlich und räum-lich verbindlichen Charakter haben (Expertise Grunert).Dieses Spektrum von außerschulischen Angeboten wirdsowohl von kommunalen Trägern und eingetragenen Ver-einen als auch von privaten Initiativen und überregiona-len kommerziellen Anbietern bis hin zu Medienkonzer-nen angeboten.

Die Mädchen nutzen diese Angebote bzw. außerschuli-schen Kurse fast um das Doppelte häufiger als die Jun-gen. Zudem gibt es hierbei ein eindeutiges Stadt-Land-Gefälle sowie eine milieuspezifische Präferenz der Her-anwachsenden aus Elternhäusern der oberen Mittel-schicht, die solche Lernangebote deutlich mehr nutzen(DJI 1992; Strozda/Zinnecker 1996). Auch im Feld der sogenannten Nebenschulen erwerben vermutlich vor allemdie Mädchen sowie generell die Heranwachsenden aushöheren sozialen Milieus zusätzliche sprachlich-kultu-relle Kompetenzen sowie ästhetische Kompetenzen, diesich für ihre weitere Bildungsbiografie als förderlich er-weisen können. Empirische Untersuchungen, die diesenZusammenhang genauer analysieren, liegen jedoch bis-lang nicht vor.

(c) Kommerzielle Lernorte und Erlebniswelten

Neue Lernwelten bzw. neue pädagogische Denk- undHandlungsformen haben sich inzwischen auch in anderenSphären des öffentlichen Lebens durchgesetzt und sindnicht mehr nur eine Domäne pädagogischer Institutionen(Lüders u. a. 2004; Grunert/Krüger 2004). Im letztenJahrzehnt etablierten sich erlebnisorientierte Lernorte, dieneben der Freizeitunterhaltung auch Möglichkeiten desWissenserwerbs anbieten und auf selbst gesteuerte Bil-dungsprozesse setzen. In Deutschland gibt es mittlerweile220 Freizeit- und Erlebnisparks, von denen 53 mehr als100 000 Besucher pro Jahr haben. Allein diese Parks ka-men im Jahr 1999 auf 22,4 Mio. Besucher, meist Jugend-liche sowie Familien mit Kindern (Nahrstedt u. a. 2002;Opaschowski 2000). Solche Einrichtungen (wie bei-spielsweise das Universum Science Center in Bremen,der Zoo in Hannover, der Filmpark in Babelsberg und derEuropapark in Rust) lassen sich in drei Grundtypen ein-teilen, in denen unterschiedliche Stufen der Intensität an-gestrebter Wissensvermittlung aufscheinen (Nahrstedtu. a. 2002):

– wissensorientierte Freizeitparks (Tierparks, Museen,Science Center),

– unterhaltungsorientierte Freizeitparks (Vergnügungs-parks, Safariparks),

– marktorientierte Einrichtungen (Shopping Centers,VW-Autostadt).

Diese Einrichtungen werden als lernintensive, erlebnisin-tensive und konsumintensive Lernorte charakterisiert.Neben Erwachsenen und Senioren bilden Heranwach-sende eine zentrale Zielgruppe dieser Erlebnis- und Lern-arrangements. Dabei zeigt sich, dass Familien mit jünge-ren Kindern (von 0 bis 6 Jahren) vor allem im Zoo,Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 7 und 16 Jah-ren eher im Science Center, im Filmpark oder im Europa-park anzutreffen sind. In diesen Einrichtungen werden inunterschiedlicher Intensität natur- und kulturwissen-schaftliche Wissensbereiche präsentiert. Das Ziel dabeiist weniger ein umfassender Kompetenzerwerb, sonderneher die Herstellung eines Interesses für das jeweiligeThema. Neben der Freizeitgestaltung ist laut Aussagender Besucher/innen das Bildungsinteresse Hauptmotiv fürden Besuch solcher Erlebnisparks, in denen neue Eindrü-cke und erste Anregungen zum Nachdenken gewonnenwerden (Nahrstedt u. a. 2002). Somit können diese Erleb-niswelten als Orte informeller Bildung gesehen werden,die evtl. motivierende Anfänge für einen vertiefendenBildungserwerb in den Bereichen naturwissenschaftlich-technischen, historisch-kulturwissenschaftlichen sowiesozialwissenschaftlichen Wissens bieten. Inwieweit dieseDiagnose auch für Heranwachsende zutrifft, lässt sichaufgrund der momentanen Forschungslage nicht beant-worten, da Untersuchungen, die sich differenziert mit denLernpotenzialen dieser inszenierten Mikrowelten für Kin-der und Jugendliche befassen, noch fehlen.

(d) Außerschulische Angebote für schulferne Kinder und Jugendliche

Das Problem der Verweigerung des Schulbesuchs vonKindern und Jugendlichen hat in den letzten Jahren einezunehmende Aufmerksamkeit erregt (Ehmann/Rademacker2003; Warzecha 2000). Genaue Zahlen darüber, wie vieleschulpflichtige Kinder und Jugendliche tageweise, wo-chenweise bzw. vollständig den Schulbesuch verweigern,liegen jedoch nicht vor, zumal auch die Schulen darüberkeine verlässlichen Angaben machen. Dennoch hatSchulverweigerung zugenommen und basiert auf einerVielfalt von Gründen. Ein grundsätzliches Dilemma liegtdarin, „dass Kinder und Jugendliche mit heterogenenAusgangsbedingungen hinsichtlich ihres Leistungsvermö-gens von Anfang an mit den homogenen Leistungsanfor-derungen eines einheitlichen Lehrplanes konfrontiertwerden“ (Hössl/Vossler 2004, S. 18). Dabei machen man-che Schüler/innen die Erfahrung, dass sie den gestelltenAnforderungen nicht nachkommen bzw. nicht entspre-chen können. Dies kann Gefühle der Überforderungauslösen, die sich negativ auf die Schulfreude und dieLernmotivation auswirken bzw. Schulmüdigkeit, Schul-verweigerung und Schulausstieg nach sich ziehen. Nebenden schulischen Belastungen kommen dann häufig nochBelastungen im familiären Bereich hinzu, was eine pro-blematische Schulkarriere verstärken kann.

Page 163: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 153 – Drucksache 15/6014

Aufgrund der wachsenden Anzahl von Kindern und Ju-gendlichen mit Schulabsentismus hat sich eine breite Pa-lette von Angeboten entwickelt, mit denen versucht wird,Prozessen der Abkehr von Schule präventiv zu begegnen.Dabei gibt es vielfältige Ansätze und Initiativen sowohlin den Schulen selbst als auch in der Jugendhilfe sowie inder Kooperation von Jugendhilfe und Schule. Als sozial-pädagogisches Angebot für diese Zielgruppen hat sicheine neue Form von Projekten im Sinne von „Ersatzschu-len“ herausgebildet. Dies können zum einen innovativeSchulkonzepte sein, zum anderen Projekte in Koopera-tion von Jugendhilfe und Schule, ferner Initiativen vonEltern und Jugendlichen selbst. Außerschulische Ange-bote werden in der Regel von freien Trägern der Jugend-hilfe offeriert. Kennzeichen dieser Angebote sind Freiwil-ligkeit, Einverständnis sowie Mitwirkungsbereitschaftvon Eltern und Jugendlichen (Michel 2005).

Formal bleiben die schulfernen Kinder und Jugendlichenwährend der Teilnahme an solchen außerschulischen Pro-jekten Schüler/innen der abgebenden Schule. Sie kehrenin deren Zuständigkeit auch dann zurück, wenn sie dasProjekt vor Vollendung der Schulpflicht verlassen. Ziel-setzungen dieser außerschulischen Angebote sind die Ge-wöhnung der Jugendlichen an einen geregelten, struktu-rierten Alltag, die Erhöhung der Ausdauer bei derErfüllung von Aufgaben, die Reintegration in die Schulebzw. die Vorbereitung auf die Anforderungen der Er-werbsarbeit an die Berufsausbildung sowie die Schaffungvon schulischen Voraussetzungen für den Erwerb desHauptschulabschlusses, was für die Teilnehmer/innen ei-nen großen Motivationsfaktor darstellt. Elemente dieserProjekte sind zum einen die Kombination von herkömm-lichem Unterricht mit Werkstattarbeit, zum anderen sozi-alpädagogische Betreuung und Förderung. Dabei erweistsich die Zusammenarbeit außerschulischer Projekte mitder Schule bzw. die Kooperation von Jugendsozialarbeitund Schule als eine geeignete und erfolgreiche Form füreine gemeinsam gestaltete Arbeit mit schulmüden undschulverweigernden Kindern und Jugendlichen (Hofmann-Lun/Michel 2004).

4.5.3 Kulturbezogene BildungsorteDie musischen Fächer gelten an Schulen eher als „dispo-nible und zu vernachlässigende Masse“. „Musik, Zeich-nen, Literatur, Lyrik, Theater: Das sind im Stundenplanmarginalisierte Bereiche mit wenigen, noch dazu gefähr-deten Wochenstunden oder Arbeitsgemeinschaften amNachmittag“ (Edelstein 2004, S. 30). Zu einer solchenEntwicklung gibt es jedoch eine Vielzahl warnenderStimmen. Es werden das enorme Defizit im Bereich dermusischen Fächer sowie die einseitige Ausrichtung aufdie Vermittlung rationaler Fähigkeiten beklagt (Singer2004, 2003). Pädagogik und Neurobiologie weisen uni-sono darauf hin, dass sowohl bei Aktivitäten wie Tanzen,Gestalten, Zeichnen und Musizieren als auch bei der Re-zeption kultureller Angebote wie Buch, Film, Theater-stück und Bild die kommunikativen Fähigkeiten geschultwürden, ferner die kulturelle und soziale Kreativität so-wie insgesamt die Konzentrationsfähigkeit. Die „Kunst-förmigkeit“ der Produktion sowie die ästhetischen Erfah-

rungen (Mimesis, Interaktion, Stil, Gestalt, Ausdruck)müssen demnach mehr gefördert und unterstützt werden(Mollenhauer 1996).

Kinder nehmen insbesondere im Grundschulalter eineVielfalt kultureller Angebote wahr, wie Kinderkinos,Kindertheater, Kindermuseen, Kinderkonzerte, Kinder-bibliotheken, Kinderzirkus, Musik- und Ballettschulen,Malschulen und vieles anderes mehr. Für Jugendlichevervielfältigen sich solche Angebote

– durch den freien (kommerziellen oder nicht-kommer-ziellen) Markt mit speziellen Kinder- und Jugendpro-grammen in Museen, Kunstvereinen, Bibliotheken,

– durch Opernarbeit, Konzertveranstaltungen, Lesebus,Kinomobil, Filmclubs, lokale Mediengruppen, Werk-statt für junge Filmemacher, Mädchenkulturwochen,Schreibwerkstatt (vgl. dazu die Vorstellung von bei-spielhaften Projekten in Welck/Schweizer 2004),

– durch die Angebote der organisierten sowie institu-tionalisierten Kinder- und Jugendkulturarbeit (vgl.Abschnitt 6.1.1),

– durch die Angebote (meist von Vereinen) im Hinblickauf eine aktive Beteiligung an Chören, Blaskapellen,Orchestern, Folkloregruppen sowie anderen auf Kul-tur bezogenen Vereinigungen.

Diese (mobilen oder stationären) Einrichtungen bzw. An-gebote nicht-kommerzieller und kulturorientierter Lern-und Erlebnisorte decken zwar ein breites Feld kulturellerArbeit ab und schaffen Gelegenheiten für kulturelle Er-fahrungen von Kindern und Jugendlichen. Doch die em-pirischen Befunde zeigen insgesamt, dass es nur einekleine Gruppe junger Menschen ist, die kulturelle Ange-bote wahrnimmt und nutzt: Etwas mehr als die Hälfte derjungen Leute interessiert sich nach eigenen Angaben imweitesten Sinne für das kulturelle Geschehen in der Re-gion (wobei sich dies nicht nur auf die Angebote der sogenannten „Hochkultur“ bezieht). 85 Prozent geben an,mindestens schon einen Besuch von sich aus in einemTheater, einem Museum oder einem Konzert unternom-men zu haben (Zentrum für Kulturforschung 2004a). DieJugendlichen nennen auf die Frage, was für sie persönlichKultur und Kunst bedeute, jedoch an erster Stelle die ver-schiedenen Kulturen der Länder und Völker (37 Prozent);dann erst folgen die klassischen Kultursparten Theater(32 Prozent), Musik (31 Prozent) und Kunst (27 Prozent).Die bei den Jugendlichen beliebte Kultursparte Film(14 Prozent) wird mit dem Begriff Kultur weniger assozi-iert; ebenso ist die Literatur mit nur noch 10 Prozent eherabgeschlagen. Dagegen interessieren sich die Jugendli-chen verstärkt für Kunstausstellungen und Design (Zen-trum für Kulturforschung 2004a; Bundesministerium fürBildung und Forschung [BMBF] 2004b).

Die kulturelle Partizipation heutiger Jugendlicher zeigtfolgendes Profil: Die Jugendlichen möchten vorrangigwieder mit Kultur unterhalten werden. Andererseits be-vorzugen sie insbesondere das Live-Erlebnis in Form vonMusikkonzerten entsprechend ihren jugendkulturellenMusik- und Szenevorlieben; dabei nimmt für sie der

Page 164: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 154 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

(Szene-)“Club“ an Bedeutung zu. Einzelne Kulturspartensind bei den heutigen jungen Generationen jedoch ehervom „Aussterben“ bedroht, insbesondere das klassischeMusiktheater sowie die klassische Musik (Zentrum fürKulturforschung 2004b).

Beim Heranführen von Kindern und Jugendlichen an dasKulturleben spielt das Elternhaus (durch Anregung bzw.Beispiel oder Vorbild) die entscheidende Rolle. Das Inte-resse für kulturelle Angebote korreliert ferner mit demangestrebten bzw. vollendeten Schulabschluss: Der An-teil der wenig bzw. gar nicht Kulturinteressierten ist unterden Schülerinnen und Schülern der Hauptschule wesent-lich höher als unter den Schülerinnen und Schülern derGymnasien, bei denen eine kulturelle Einflussnahmedurch Elternhaus, Umfeld sowie Schule positiv erreichtwird (Zentrum für Kulturforschung 2004a, 2004b). DieGründe für ein Desinteresse am Kulturgeschehen liegenjedoch nicht nur am mangelnden Interesse der Eltern oderdes Freundeskreises, sondern auch im Fehlen künstleri-scher Veranlagung (beispielsweise für Musik, bildneri-sches Gestalten, Tanz und Bewegung) sowie in der Nicht-kenntnis des Kulturbereiches. Kinder und Jugendlichebrauchen demnach Information und Anregung von außen(Elternhaus, Schule, Medien, Öffentlichkeitsarbeit derKulturträger).

Kulturelle Partizipation befördert die Bereiche der Rezep-tion, der Kommunikation und der Produktion. Die kultu-rell bezogenen Lern- und Erlebnisorte vermitteln einenvielfältigen Erwerb entsprechender Kompetenzen (instru-mentell, kulturell, sozial, personal). Die jeweiligen kultu-rellen Inhalte und Angebote stellen für Kinder und Ju-gendliche eine Bandbreite von Handlungsmöglichkeiten,Lebenskonzepten und Lebensmodellen sowie Antwortenauf Fragen nach Welterklärung und Lebenssinn zur Ver-fügung. Kinder und Jugendliche interessieren an diesenOrten jedoch nicht nur die kulturellen Angebote, sondernauch und im Besonderem die Begegnung mit anderenKindern und Jugendlichen. Dabei werden kommunikativeProzesse in Gang gesetzt (z. B. der Austausch von Ein-drücken, Meinungen und Kritiken). Die gemeinsamen Er-fahrungen fördern das Gemeinschafts- und Zugehörig-keitsgefühl. Kinder und Jugendliche haben ferner einehohe Bereitschaft zum emotionalen Miterleben sowie zurIdentifikation (aufgrund der Nachvollziehbarkeit von Si-tuationen oder des Auftretens entsprechender Identifikati-onsfiguren). Die kulturellen Orte des Lernens und (Mit-)Erlebens repräsentieren schließlich Öffentlichkeit, dennein erheblicher Anteil der kulturellen Arbeit basiert aufehrenamtlichem Engagement von Kindern und Jugendli-chen sowie Erwachsenen (Bielenberg 2003a; Hohmann2002; Barthelmes 1999).

Zwischenfazit: Der Bereich kultureller Partizipation undkünstlerischer Eigenaktivität hat für Kinder und Jugendli-che den Effekt einer „positiven Wechselwirkung zwi-schen kultureller und schulischer Bildung“, denn kulturellinteressierte Kinder und Jugendliche

– lesen in ihrer Freizeit mehr,

– haben anteilig eher Lieblingsfächer in der Schule alssolche ohne derartige Interessen,

– wissen tendenziell eher, was sie später beruflich ma-chen,

– interessieren sich eher für Politik und Zeitgeschichte(Zentrum für Kulturforschung 2004c).

Diese Ergebnisse verweisen auf die Frage, wie möglichstviele Kinder und Jugendliche insbesondere aus bildungs-fernen Familien für kulturelle Partizipation sowie künst-lerische Eigenaktivitäten erreicht werden können. Einemögliche Antwort wäre, das soziale Umfeld der jungenLeute (Familie und Gleichaltrigen-Gruppen) zu gewin-nen. Schule und Jugendhilfe haben hier im Besonderendie Aufgabe der Anregung, Unterstützung und Umset-zung. Andererseits wird deutlich, dass Schule in ihrer tra-ditionellen Form die vorhandenen Defizite bei der Kultur-vermittlung allein nicht ausgleichen kann, d. h. es bedarfzusätzlicher Multiplikatoren wie beispielsweise der mitt-lerweile in der Bildungslandschaft etablierten und erfolg-reichen Kinder- und Jugendkulturarbeit (vgl. Ab-schnitt 6.1.1).

4.6 Bildungsprozesse in anderen LernweltenBildungsprozesse manifestieren sich ferner in selbst orga-nisierten und institutionell ungebundenen Aktivitäten derKinder und Jugendlichen, ausgehend von der eigenenWohnung und der Nachbarschaft bis hin zur Aneignungder näheren und ferneren Umwelt. Aber auch durch dieAktivitäten der familiären Hausarbeit und durch die Aus-übung von Schülerjobs machen die Heranwachsendenwichtige Erfahrungen, mit denen der Erwerb von vielfäl-tigen Kompetenzen verbunden ist. Schließlich ergänzendie Medien die realen Welten um virtuelle Welten, mit de-ren Kenntnis insbesondere eine Erweiterung des Wissensund des eigenen Horizonts verbunden ist.

4.6.1 Selbst organisierte und institutionell ungebundene Aktivitäten

Der Bereich der selbst organisierten (außerschulischen)Zeit ist durch vielfältige informelle Aktivitäten der He-ranwachsenden gekennzeichnet, die sowohl in der elterli-chen Wohnung als auch in öffentlichen Räumen stattfin-den, wobei der Aktionsradius bezüglich Spiel, Bewegungund Begegnung sich bei Kindern überwiegend auf die el-terliche Wohnung und auf das Nahumfeld erstreckt. „Inihrem Wohnumfeld erfahren die Kinder Anregungen undEinschränkungen. Die Möglichkeiten ihrer Kommunika-tion und Interaktion sind vorgegeben: der jeweils be-grenzte Platz zum Tollen in der Wohnung, auf Freiflächenoder Spielplätzen in nächster Nähe; die Gefahren durchstark befahrene Straßen. Knapp ein Drittel der Kinder lebtin mehrfach risikobelasteten Wohnverhältnissen: Die el-terliche Wohnung ist klein und schlecht ausgestattet, dienähere Umgebung bietet wenig Spielmöglichkeiten, dasUmfeld enthält eine hohe Verkehrsbelastung. Ein weite-res Drittel wächst dagegen in ausgesprochen günstigenVerhältnissen auf“ (Projektgruppe Kinderpanel 2004,S. 5; Alt 2005).

Page 165: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 155 – Drucksache 15/6014

Die selbst organisierten und institutionell ungebundenenAktivitäten finden insbesondere zu Hause sowie im nähe-ren und weiteren Wohnumfeld statt. Das Kinderzimmerist der beliebteste Aufenthaltsort im Grundschulalter. Beiden Aktivitäten zu Hause stehen Fernsehen, Musikhörenund Quatschen ganz oben auf der Prioritätenliste. Überdie Hälfte der Schüler/innen beschäftigt sich in rezeptiverund/oder aktiver Form mit Musik. Die Mädchen verfügendabei über weniger freie Zeit als die Jungen (etwa einehalbe Stunde), da sie auch mehr Hausarbeit als die Jungenleisten, ferner nehmen sie sich mehr Zeit für ihre Regene-ration als Jungen, insbesondere für Körperpflege, Kosme-tik und Kleiderwahl (Cornelißen/Blanke 2004b; Preiß2004; Fuhs 1996; Zinnecker/Silbereisen 1996).

Mit dem Schuleintritt steigt die Vorliebe der Kinder fürBeschäftigungen im näheren und weiteren Wohnumfeld:

– Sowohl die ostdeutschen als auch die westdeutschen10- bis 12-Jährigen spielen gerne draußen, obgleichdie Gruppe der Draußen-Spieler mit zunehmendemAlter zurückgeht. Die Aktivitäten außerhalb des Hau-ses zeichnen sich vor allem durch sportliche Aktivitä-ten, Spielen im Gelände, Treffen mit Freunden oderals Stadtbummel aus. Die Jungen nutzen dabei den öf-fentlichen Raum weit mehr als die Mädchen (Exper-tise Grunert; Fuhs 2002; Wilk/Bacher 1995; Fölling-Albers 1995; Fuhs 1996; Deutsches Jugendinstitut1992).

– Über die Hälfte der 10- bis 15-Jährigen geht einmaloder mehrmals die Woche sportlichen Aktivitätennach, während kulturelle Aktivitäten, wie Musik selbermachen oder im Chor singen, jeweils nur von Minder-heiten zwischen 10 Prozent und 20 Prozent als Hobbysangegeben wurden. Das Interesse der Kinder und Ju-gendlichen ist für den Bereich Kunst und Kultur insge-samt nur wenig ausgeprägt. Die traditionellen bil-dungsorientierten Freizeitbeschäftigungen, wie selbstMusik machen, ein Instrument spielen, Lesen oder derBesuch von Theatern und Museen, besitzen bei denSchülern/innen nur wenig Attraktivität (Preiß 2004;Quendt u. a. 2002; Krüger/Kötters 1998; Fuhs 1996;Strozda/Zinnecker 1996).

Sozio-ökonomisch gesehen haben Kinder und jüngere Ju-gendliche aus Familien mit höherem Haushaltseinkom-men und Bildungsstatus der Eltern einen deutlichen Vor-sprung bei der Ausübung künstlerisch-ästhetischerAktivitäten sowie beim Lesen (Strozda/Zinnecker 1996;Büchner 1996; Bonfadelli 1996). Fünfzehnjährige Schü-lerinnen und Schüler aus Gymnasien sind in ihrer außer-schulischen Zeit aktiver als jene der anderen Schulfor-men. Die Heranwachsenden aus höheren sozialenSchichten erwerben durch ihre außerschulischen Aktivi-täten zusätzliche ästhetische und sprachlich-kulturelleKompetenzen, d. h. zusätzliches kulturelles Kapital. So-mit bestimmt die Sozialschicht nicht nur die Wahl derSchulform, sondern auch die kulturelle Praxis (Baumertu. a. 2001; Schümer u. a. 2001). Die Begegnung mit Mu-sik beispielsweise muss frühzeitig im Elternhaus erfol-gen, soll sie im weiteren Sozialisationsverlauf stabil ver-ankert bleiben. Das Erlernen eines Instruments und

insbesondere das „Klassik-Musizieren“ resultieren aus ei-ner frühzeitigen Vertrautheit im praktischen Umgang mitMusikinstrumenten innerhalb der Familie (Preiß 2004;Müller 1990).

Geschlechtsspezifisch fällt auf, dass die Aktivitäten derJungen stärker technik- und sportorientiert sind, die Mäd-chen dagegen mehr Zeit und Wert auf soziale Kontaktelegen. Ferner bevorzugen die Mädchen vor allem Gesprä-che, Besuche, Feiern und Telefonate. Zudem hat bei ih-nen das Lesen einen höheren Stellenwert, und sie nehmendie Angebote des Unterhaltungs- und Kultursektors stär-ker in Anspruch. Trotz ihrer umfangreichen Beteiligungan der Hausarbeit äußern sich die Mädchen insgesamt zu-friedener mit ihrer Zeitverwendung (Cornelißen/Blanke2004b; Krüger/Kötters 1998; Fuhs 1996; Strozda/Zinnecker 1996).

Die sozio-ökonomischen Bedingungen der Familien sindinsgesamt Voraussetzung dafür, welche Erfahrungen undKenntnisse Kinder jeweils in ihrer disponiblen freien Zeitmachen (können). „Bei knappen ökonomischen Möglich-keiten erfahren Kinder spürbare Einschränkungen: Jedesvierte Kind aus Familien der untersten Einkommens-gruppe hat keine Erfahrungen mit Ausflügen, Reisen oderRadtouren – das sind etwa doppelt so viele wie bei denKindern der höheren Einkommensgruppen. Aufgrund desMangels an Freizeitalternativen sind Kinder aus der Un-terschicht stärker als andere auf öffentliche Spielplätzeangewiesen. Über die Hälfte der Unterschichtkinder nutztdie Spielplätze oft, jedoch nur die Hälfte der Oberschicht-kinder“ (Projektgruppe Kinderpanel 2004, S. 5; Alt2005). Durch diese Tatsache wird jedoch die milieuspezi-fische Homogenität weiter fixiert.

Zwischenfazit: Bei den mit Spiel, Bewegung und kultu-reller Praxis verbundenen Bildungsprozessen bevorzugtdie Mehrheit der Kinder und Jugendlichen sportliche Ak-tivitäten, eine Minderheit dagegen kulturelle Aktivitäten,wobei der Zusammenhang mit den sozio-kulturellen Be-dingungen der Familien offenbar wird. Unabhängig da-von verbinden die Kinder und Jugendlichen mit ihren Ak-tivitäten zu Hause sowie im näheren und weiterenWohnumfeld insgesamt unterschiedliche Interessen.Doch bei allen Aktivitäten herrscht das „Prinzip Begeg-nung“ vor, d. h. das Bedürfnis, mit Freunden und Freun-dinnen zusammen zu sein und sich auszutauschen. Eineanregende und unterstützende soziale Umwelt (Eltern-haus, Schule) sowie die Einbindung in soziale Gruppen-bezüge ermöglichen es den Kindern und Jugendlichen,sich sukzessive neue Lernwelten mit jeweils eigenen Nor-men, Leistungsstandards und Anforderungsprofilen zu er-schließen (Preiß 2004, S. 151).

4.6.2 Familiäre Hausarbeit und SchülerjobsEntsprechend den Entwicklungsaufgaben möchten Kin-der und Jugendliche insgesamt ihre Leistungsbereitschaftzur Geltung bringen und vermehrt Verantwortung über-nehmen. Dies bezieht sich nicht nur auf ihre schulischenLeistungen, denn für einen Teil der Schüler/innen enthältdie (schul)freie bzw. disponible Zeit sowohl die Einbin-dung in die Verpflichtungen der familiären Hausarbeit als

Page 166: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 156 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

auch die Ausübung bezahlter Gelegenheitsarbeiten, beidenen sie auf eigene Initiative Kontakte zur Arbeitsweltherstellen. Insbesondere mit der Übernahme von Schüler-jobs ist für Kinder und Jugendliche die Bedeutung der Ar-beit und deren Funktionen eng verbunden (Wiehstutz2002):

– Übernahme von Verantwortung,

– Zunahme der Selbstwahrnehmung sowie der Wahr-nehmung durch Eltern und Geschwister,

– gleichberechtigte Einbeziehung in Entscheidungs- undVerhandlungsprozesse,

– Ernstcharakter der Tätigkeit (anders als im Spiel),

– (bedingte) Teilnahme an der Welt der Erwachsenen,

– Anerkennung für ihre Tätigkeiten (durch Erwachseneund Gleichaltrige),

– Initiierung neuer Lernprozesse,

– Erweiterung ihrer Handlungsmöglichkeiten,

– vorbereitende Funktion dieser Arbeiten für zukünftigeErwerbsarbeit,

– Nennung von Arbeitserfahrungen im Lebenslauf alsBewerbungsvorteil.

(a) Mithilfe bei der familiären Hausarbeit

Das Thema der Mithilfe im Haushalt lässt sich anhandverschiedener Studien in folgendem Profil zusammenfas-sen:

– Rund 87 Prozent aller Kinder (von 10 bis 13 Jahren)helfen durchschnittlich 40 Minuten täglich im Haus-halt mit (Zinnecker/Silbereisen 1996).

– Die ostdeutschen Mädchen sind dabei deutlich stärkerin häusliche Verpflichtungen eingebunden als diewestdeutschen Jungen (Strozda 1996).

– Der Grad der Mithilfe im Haushalt nimmt jedoch ab,je höher die soziale Position der Eltern ist (Büchner/Fuhs 1996).

– Die frühe Beteiligung von Mädchen an der Hausarbeithat sich über die letzten Jahre erhalten. So leistenschon die 10- bis 14-jährigen Mädchen täglich 20 Mi-nuten mehr Familien- und Hausarbeit als die Jungen.Die 14- bis 18-jährigen männlichen Jugendlichen be-lassen ihren Einsatz bei einer knappen Stunde pro Tag,die weiblichen Jugendlichen steigern ihren Einsatz inHaushalt und Familie mit zunehmendem Alter auf1 ½ Stunden (Cornelißen/Blanke 2004b).155

Ein Vergleich mit dem Zeitaufwand vor zehn Jahren zeigtjedoch auf, dass bei der Familien- und Hausarbeit beideGeschlechter ihren Einsatz reduziert haben, die Jungen

allerdings viel deutlicher als die Mädchen (Cornelißen/Blanke 2004b).

(b) Gelegenheitsarbeiten und Schülerjobs

Für die Mehrheit der Jugendlichen hatte früher die Schul-zeit meist mit 15 oder 16 Jahren ihr Ende gefunden sowiedie Phase der beruflichen Sozialisation begonnen. Durchdie Ausdehnung der schulischen Phase innerhalb der Bio-grafie beginnt heute für viele Jugendliche die berufsbezo-gene Sozialisation erst sehr viel später. Neuere empiri-sche Beobachtungen zeigen jedoch einen deutlichenAnstieg des Anteils von Schülern/innen, die neben derSchule einem Job nachgehen. Trotz der häufig anspruchs-losen Gelegenheitsarbeiten und Schülerjobs verbinden sie(auch im Unterschied zur Familien- und Hausarbeit) mitsolchen Tätigkeiten positive Funktionen wie den „Stolzauf die eigene Leistung“, ferner die Überzeugungen, „et-was zu lernen, was sie später brauchen“, „etwas Sinnvol-les zu tun“, „sich auf das zukünftige Leben vorzuberei-ten“, „die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln“, sowie dieTatsache, „eigenes Geld zu verdienen“. Die Arbeits- undJobaktivitäten bieten den Schülern/innen gleichsam einePlattform gesellschaftlichen Probehandelns an (Tully2004c).

Auch wenn das unmittelbare Motiv für Schülerjobs dasGeldverdienen ist, um sich beispielsweise Statussymboleder Jugendkultur, Kleidung sowie Kino- und Konzertbe-suche leisten zu können, bleibt im Hintergrund die Bereit-schaft zur Übernahme von Verantwortung für sich selbstund für die Gesellschaft bestehen. Dies zeigt sich bei-spielsweise bei jenen Hauptschülern/innen, die einen Teildes selbst verdienten Geldes zu Hause abgeben und somitzur Aufbesserung des familialen Haushaltsaufkommensbeitragen (Ingenhorst 2000).

Für die Schülerjobs lässt sich folgendes Profil aufzeigen:

– Bereits im Alter von 10 bis 13 Jahren gehen 6 Prozentder Schüler/innen einer bezahlten Arbeit bzw. Be-schäftigung nach, und zwar mit einem durchschnittli-chen Zeitaufwand von über fünf Stunden pro Woche(Zinnecker/Silbereisen 1996). 12 Prozent der Jugend-lichen im Alter von 17 Jahren gaben retrospektiv an,erstmals mit 14 bzw. 15 Jahren gejobbt zu haben(Schneider/Wagner 2003).

– Schülerjobs waren in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre vor allem ein westdeutsches Phänomen und be-trafen in erster Linie die westdeutschen Jungen, wäh-rend die ostdeutschen Mädchen in diesem Alter nochnicht jobbten (Strozda 1996).

– Schüler/innen im Alter von 14 bis 16 Jahren (in Nord-rhein-Westfalen und Hessen) gaben zur Hälfte an, ei-ner bezahlten Gelegenheitsarbeit nachzugehen, und80 Prozent von ihnen hatten bereits Erfahrungen mitGeldverdienen (Ingenhorst 2000).

– Rund ein Drittel der 15- bis 18-jährigen Schüler/innenjobbt regelmäßig. Fast jede(r) zehnte Schüler/in wen-det für eine solche Tätigkeit 15 Stunden oder mehr proWoche auf (Deutsche Shell 2002).

155 Diese auf der Grundlage der Zeitbudgeterhebung 2001/2002 (vgl.Glossar) stammenden Berechnungen beruhen auf Tagebuchauswer-tungen und beinhalten Zeitaufwendung an Werk- und Wochentagen.

Page 167: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 157 – Drucksache 15/6014

– 45 000 Schüler/innen sind im Einzelhandel tätig(Bibouch/Held 2002).

– Wer regelmäßig jobbt, wendet dafür im Schnitt achtStunden pro Woche auf. Die Jungen arbeiten etwaslänger als die Mädchen und die älteren Jugendlichenmehr als die jüngeren. Jobber in den Schulferien arbei-ten durchschnittlich 26 Arbeitsstunden pro Woche,wobei auch hier die Jungen länger arbeiten als dieMädchen (Tully 2004a).

– In der PISA-Befragung gaben über 37 Prozent der15-jährigen Schüler/innen an, dass sie einen Nebenjobausüben und/oder Nachhilfe geben. Dabei arbeiten15 Prozent aller Schüler/innen fünf oder mehr Stundenin der Woche (Rauschenbach 2003, S. 57).

Insgesamt werden mit steigendem Alter die Jobs häufigerwahrgenommen, wobei in Westdeutschland mehr gejobbtwird als im Osten, die Gymnasiasten und Gymnasiastin-nen regelmäßiger jobben, Mädchen nicht seltener als Jun-gen, jedoch weniger Stunden pro Woche jobben (Tully2004c; Deutsche Shell 2002).

Die Art der angegebenen Jobs ist vielfältig und reicht vonArbeiten im Betrieb/Unternehmen (insbesondere Liefer-dienste, Einzelhandel sowie Mitarbeit in elterlichen Be-trieben) und dem Austragen von Prospekten und Zeit-schriften über Hilfstätigkeiten in Haus und Garten, inKneipen, Cafés und Restaurants sowie bei der Autopflege(Waschen, Reparieren) bis zum Babysitten, Ausführenvon Hunden sowie Nachhilfeunterricht. Diese Tätigkeitenwerden sowohl als regelmäßige Jobs als auch als Ferien-jobs (bei denen noch bezahlte Praktika hinzukommen)ausgeführt (Tully 2004a, 2004b; Ingenhorst 2000).

Die Tätigkeitsfelder werden aufgrund von geschlechts-spezifischen Vorlieben gewählt. Die Jungen konzentrie-ren sich auf Arbeiten in Betrieben, ferner auf das Austra-gen von Prospekten bzw. Zeitungen sowie aufHilfstätigkeiten in Haus und Garten. Sie betonen den Er-werb handwerklicher bzw. technischer Kenntnisse. DieMädchen bevorzugen ebenfalls die Arbeit in Betrieben,ferner das Babysitten und das Austragen von Zeitungen.Bei der Auswahl der Tätigkeiten sind sie insgesamt viel-seitiger, da sie geschlechtsuntypische und geschlechtsty-pische Beschäftigungen kombinieren. Sie interessierensich ferner mehr für den Umgang mit und die Pflege vonKranken, Alten und Behinderten (Tully 2004a).

(c) Lerneffekte und Kompetenzerwerb durch Schülerjobs

Die Ausübung von Schülerjobs kann ein breites Spektrumvon Lerneffekten bzw. den Erwerb praktisch-technischer,sozialer und personaler Kompetenzen fördern und unter-stützen:

– Verbesserung der kommunikativen Fähigkeiten (In-genhorst 2000),

– Sammeln von Erfahrungen in der Arbeitswelt,

– Erlernen des Umgangs mit Menschen in der Teamar-beit,

– Erfahrungen im Umgang mit Geld (Tully 2004b),

– Strukturierung der Zeit,

– Einschätzung der eigenen Fähigkeiten,

– Identifizierung eigener Bedürfnisse in Auseinander-setzung mit Fremdbedürfnissen,

– Übernahme verschiedener Perspektiven in Verhand-lungen,

– Einordnung eigener Arbeiten in einen größeren Kon-text,

– Auseinandersetzung mit den Folgen des eigenen Han-delns (Wiehstutz 2002).

Die Ausübung von Schülerjobs bzw. Gelegenheitsarbei-ten provoziert die Frage nach dem Zusammenhang zwi-schen diesen Tätigkeiten und den schulischen Leistungen:

– Jobbende Schüler/innen sind „insgesamt überdurch-schnittlich aktive Jugendliche. Allerdings kann manbei denjenigen Jugendlichen, die bereits als Kinder ge-jobbt haben, leicht unterdurchschnittliche Schulnotenbeobachten“ (Schneider/Wagner 2003, S. 574).

– Insgesamt haben die Schülerjobs jedoch keinen nega-tiven Einfluss auf die schulischen Leistungen. Ein po-sitiver Zusammenhang zwischen Nebenjob und Schul-leistung zeigt sich dagegen direkt bei Nachhilfe-Jobs(Tully 2004a).

Jobbende bzw. arbeitende Kinder und Jugendliche stre-ben unabhängig von ihrem Alter die Anerkennung ihrerArbeitstätigkeit an und, damit verbunden, die Beteiligungan der Gesellschaft. Als vollzeitschulpflichtige Minder-jährige unterstehen sie jedoch der Obhut von Gesetzen,die sie selbst vor der Ausübung von Erwerbsarbeit schüt-zen sollen (Kinder- und Jugendhilfegesetz; Jugendar-beitsschutzgesetz; Kinderarbeitsschutzverordnung). Dochdie Motive der Schüler/innen zeigen, dass ihnen die Lern-und Bildungsangebote der Schule nicht genügen: Arbei-ten bedeutet für sie vor allem, Anerkennung zu erfahrenund in der Übernahme einer Aufgabe etwas Nützliches zutun. Eine wichtige Erfahrung dabei ist auch der „Produ-zentenstolz“, d. h. „stolz auf die eigene Arbeitsleistung zusein“ (Tully 2004a, 2004c).

Zwischenfazit: Gelegenheitsarbeiten und Jobs sind keinRandphänomen und stehen neben der Schule für eine ge-wandelte Schülerexistenz. Andererseits sind diese Tätig-keiten keine berufliche Sozialisation, sondern stellen le-diglich Erfahrungen aus der Arbeitswelt dar. Dennoch istes für die Schüler/innen von Bedeutung, solche Erfahrun-gen zu machen. Die Verlängerung der Schulzeit und dasHinauszögern des Eintritts in die Arbeits- und Berufsweltfördern bzw. provozieren das Motiv und den Wunsch derSchüler/innen, mit der Arbeitswelt in Kontakt zu kom-men. Das Nacheinander der schulischen und der berufli-chen Sozialisation wird aufgelöst in ein Nebeneinandervon Erfahrungswelten bzw. von gleichzeitiger ökonomi-scher Unselbstständigkeit und kultureller Verselbstständi-gung. Durch die Schülerjobs konkurrieren Schulbiografieund eine Probesozialisation der Arbeits- und Berufswelt

Page 168: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 158 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

miteinander. Dabei wird den Schülern/innen bewusst,„dass diese unterschiedlichen Welten, zwischen denen siependeln, unterschiedlichen Prinzipien gehorchen. So er-fahren sie konkret die Pluralisierung von Lernorten: Wäh-rend sie in der Schule einen Status der Unselbstständig-keit haben, wird ihnen im Rahmen von Jobs nicht nurzusätzliches Lernen abverlangt, sondern auch Verantwor-tung übertragen und Selbstständigkeit abgefordert“ (Tully2004c, S. 62).

Die synchron zum Schulunterricht erworbenen Erfahrun-gen der Schüler/innen mit der Arbeitswelt stellen für dieSchule eine (neue) Herausforderung dar, denn als bedeut-sames Bildungssystem muss sie sich fragen, ob und in-wieweit sie an diese außerschulischen Lernerfahrungen inden schulinternen Bildungsprozessen anknüpfen kannbzw. inwieweit sie Orientierung und Einschätzung zurEinordnung dieser Erfahrungen bereitstellen kann. Zu-gleich ist bislang völlig ungeklärt, inwieweit diese alter-nativen Lernerfahrungen Auswirkungen auf den Umgangder Jugendlichen mit den schulischen Bildungsprozessenhaben.

4.6.3 Bildungsprozesse im Kontext der Medien

Die Medien(-Welten) sind kein eigener „Bildungs-Ort“,doch für Kinder und Jugendliche eine bedeutsame Lern-welt mit Chancen und Risiken. Der Umgang mit Medienist vom Alltag nicht abgehoben und vollzieht sich vordem Hintergrund der jeweiligen Lebenswelten, Lebenssi-tuationen, Entwicklungsthemen und Aufgaben. Die Me-dienwelten bieten insgesamt eine Fülle von beiläufigemund absichtsvollem Selbstlernen. Bildungsprozesse imKontext der Medien finden vor allem in der Familie so-wie in den Gleichaltrigen-Gruppen statt. Dabei erwerbendie Kinder und Jugendlichen unterschiedliche Kompeten-zen (Expertise Theunert; Wahler u. a. 2004b; Wetzsteinu. a. 2003).

(a) Die Vervielfältigung von Lern- und Bildungs-prozessen durch die Medien

Ab dem 6. Lebensjahr erfahren Kinder zunehmend eineVervielfältigung der Medienwelten, denn mit dem Erwerbvon wachsender Lese- und Sprachfähigkeit durch denSchulbesuch erweitern sich die Möglichkeiten der Nut-zung von unterschiedlichen Medien (z. B. Buch, Compu-ter, Internet, Videotext). Zentrales Medium im Alltagsle-ben bleibt nach wie vor das Fernsehen. Ab demGrundschulalter werden jedoch neben dem Fernsehen dieMusikmedien sowie der Computer (vorerst vor allem alsSpielmedium) bedeutsam. Ferner wird das Internet zu-nehmend zu einer „interessanten Beschäftigung“ (Feier-abend/Klingler 2004; Medienpädagogischer Forschungs-verbund Südwest [MPFS] 2003).

Die 10- bis 16-Jährigen verfügen bereits über ein deutlichdifferenziertes Repertoire an Heimelektronik. Bei Fern-sehgeräten, Radioapparaten, Videorekordern, DVD- undCD-Playern, PCs und Handys kann von einer Vollausstat-tung ausgegangen werden (Gerhards/Klingler 2003). Dereigene Besitz von Medien vermehrt den Umfang der Me-

dienzuwendung. Das Fernsehen bleibt zwar weiterhin dasmeistgenutzte Medium, verliert aber an Stellenwert. Da-für bekommt das Musikhören eine zentrale, jeweils per-sönliche Bedeutung und steht meist in Zusammenhangmit der Zugehörigkeit zu jugendkulturellen Szenen. Hierwird das Radio zu einem klassischen Nebenbei-Medium,das insbesondere als Musiklieferant und Informant dient.Im Jugendalter nehmen dann auch Nutzung und Bedeu-tung des Computers zu. Neben dem Interesse an spieleri-schen, unterhaltsamen Elementen auf Internetseiten (vorallem bei Kindern bis zu 12 Jahren zu beobachten) sinddie zentralen Funktionen des Internets bei den Jugendli-chen zwischen 14 und 16 Jahren vor allem die Suchenach Informationen zu Schulthemen, zu persönlichen In-teressen für bestimmte Wissensgebiete sowie grundsätz-lich Kommunikation und Kontakt mit anderen (Feil u. a.2004; Decker/Feil 2003; Wagner 2002; Feil 2001). DieKinder und Jugendlichen heute treffen zudem auf einenkonvergierenden Medienmarkt, der zunehmend auf dieMehrfachvermarktung von Inhalten und Produkten sowieauf deren technische Verzahnung setzt, wobei das Internetals multifunktionales Medium diesen Effekt verstärkt(Expertise Theunert).

(b) Der Stellenwert der Medien für Lern- und Bildungsprozesse

Der Umgang mit Medien kann insgesamt als ein aktivessoziales Handeln gesehen werden, denn das Individuumnutzt die Medien, um seine eigenen Erfahrungen, Wert-vorstellungen und Meinungen zu überprüfen, zu bestäti-gen oder sich von ihnen abzusetzen. Für einen Teil derKinder und Jugendlichen beanspruchen die Medien reinquantitativ gesehen jedoch oft mehr Lebenszeit als dieKommunikation in Familie oder Gleichaltrigen-Gruppe.Andererseits können Kinder und Jugendliche anhand derMedien viel „für sich“ persönlich lernen.

Familie: Innerhalb der elterlichen Wohnung verbringenJungen wie Mädchen gut ein Viertel ihrer freien Zeit mitFernsehen und Video, d. h. durchschnittlich 116 Minutenpro Tag. Dazu kommen 36 Minuten für Computerspiele,24 Minuten für das Lesen sowie 12 Minuten für Radio,d. h. ohne Hören von CDs oder Tonkassetten (Cornelißen/Blanke 2004b). Der gemeinsame Medienumgang vonKindern und Eltern als ein Erfahrungsmuster aus derKindheit verliert sich mit zunehmendem Alter. Durch denEntwicklungsprozess des Selbstständigwerdens unddurch die wachsende Anzahl eigener Geräte im „Kinder-zimmer“ wird der Medienumgang zu einer „eigenen Sa-che“ der Töchter und Söhne. Insgesamt aber eröffnen dieMedien für die Familienmitglieder permanent Alternati-ven des Verhaltens und erweiterte Horizonte des Wissens,denn Medien bieten symbolische Inhalte an und sind ins-gesamt „bildungswirksam“, wobei die Familienmitglie-der sich mit den Medien gleichsam in Form einer „perfor-mativen Gemeinschaft“ auseinandersetzen, denn derUmgang mit Medien muss mit den anderen Familienmit-gliedern bezüglich Raum, Zeit und Verhalten abgestimmtund koordiniert werden, ferner werden Medieninhaltepermanent zu Anlässen für Gespräche und Auseinander-

Page 169: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 159 – Drucksache 15/6014

setzungen (Lange 2004b; Barthelmes/Sander 2001;Audehm/Zirfas 2000).

Bei der häuslichen Nutzung von Medien spielen jedochnicht nur die Settings (ob alleine oder gemeinsam mit El-tern oder Geschwistern) sowie die Zeitverwendung eineRolle, sondern auch die jeweils individuellen Vorlieben,Interessen und Motive der Kinder und Jugendlichen. Beider Nutzung von Medien ist ferner die Auswahl entspre-chender Inhalte bedeutsam. Familienbezogene Themenwie Partnerschaft, Beziehungsprobleme, Ehe, Familien-gründung, Geburt von Kindern sowie das Aufwachsen er-wecken mit zunehmendem Alter das Interesse der älterenKinder und Jugendlichen, und nicht umsonst stehen beiihnen Sitkoms, Reality TV, Daily Soaps sowie Talkshowshoch im Kurs, in denen diese Themen präsentiert werden.Anhand dieser Sendungen können Kinder und Jugendli-che die vorgeführten Meinungen und Lebensstile über-prüfen und auf sich beziehen. Insofern besteht zwischenden Entwicklungs- und Lebensthemen der Jugendlichensowie ihrer Auswahl von entsprechenden Medienthemenein unmittelbarer Zusammenhang (Barthelmes 2001;Paus-Haase u. a. 1999). Für jeden fünften Jugendlichenim Alter zwischen 12 und 17 Jahren sind ferner Politma-gazine sowie Boulevardmagazine eine relevante Informa-tionsquelle. Neben den elterlichen Meinungen und An-schauungen bekommen die Jugendlichen dadurch einenerweiterten Wissenshorizont, was den Konfliktstoff derGespräche über politische und gesellschaftliche Themeninnerhalb der Familie anreichern kann (Hajok 2004).

Die Korrespondenz zwischen Lebens- bzw. Entwick-lungsthemen und Medienthemen zeigt sich auch bei derAuswahl der Computerspiele, wobei hier geschlechtsspe-zifische Vorlieben zum Tragen kommen: Mädchen undweibliche Jugendliche interessieren sich in besonderemMaße für das Computerspiel „Die Sims“, bei dem es umdie Simulation und die Gestaltung von Alltagssituationenin Familie und Partnerschaft geht (Schmidt 2004; Wiem-ken 2004; Fritz/Fehr 2003, 1997). Die Auswahl für diesesComputerspiel knüpft unmittelbar an ihre häusliche Le-benswelt an, d. h., innerhalb der realen Familie wird Fa-milie nochmals virtuell erprobt. Andererseits ersetzenComputerspiele für männliche Jugendliche gleichsam ge-sellschaftliche Bereiche, die ihnen nicht mehr zur Verfü-gung stehen (z. B. das Einführen in die „Welt“; das Vorle-ben potenzieller Bilder von Männlichkeit, das Erlernenvon strategischen Gedankengängen, Auseinandersetzun-gen, Geschicklichkeit und kämpferischen Fähigkeiten;das Leben in Männerbünden) (Ströter-Bender 1999). DasThema der Suche nach dem „abwesenden Vater“ ist beiJungen auch ein starkes Motiv dafür, in Spielfilmen nachMänner- und Väterbildern zu suchen (Barthelmes/Sander2001).

Gleichaltrigen-Gruppen: Mit zunehmenden Alter er-schließen sich die Kinder und Jugendlichen ihr räumli-ches und soziales Umfeld durch „aushäusige“ Aktivitä-ten, in Form von gemeinsamem Aufsuchen verschiedener„Medien-Orte“ (Kinos, Discos, Konzerte, Plattenläden,Büchereien, Computerabteilungen in Kaufhäusern, Inter-net-Cafés). An diesen Orten sowie auf den Schulwegen

oder in den Schulpausen spielt der Austausch von Medien-erfahrungen und Medienerlebnissen eine wichtige Rolle.Beim Reden über Medien innerhalb der Gleichaltrigen-Gruppen werden Vorlieben, Interessen, Inhalte und Ge-schmacksvorlieben thematisiert. Die Kinder und Jugend-lichen können sich dabei als Experten beweisen; fernerkönnen sie über das Ansprechen bestimmter Medien-inhalte probehalber austesten, ob dieses Thema in derGruppe ankommt, bevor man von sich selbst bzw. vonseiner eigenen Person spricht (Prinzip der „Tarnung überMedieninhalte“), denn das sich Bekennen zu bestimmtenInhalten und Geschmacksvorlieben trifft nicht immer aufden Konsens der Gruppe (Barthelmes/Sander 2001, 1997;Valtin/Fatke 1997; Rinker/Schwarz 1996).

Insbesondere der Umgang mit neuen Informationstechno-logien (Handy, Computer, Internet) findet vornehmlich inden Gleichaltrigen-Gruppen statt. Der Austausch vonWissen über Hard- und Software der Medien sowie dasSich-gegenseitig-Helfen beim Computer-Umgang ist zumKommunikationsstandard homogener Gruppen geworden(Expertise Theunert). Im Umfeld jugendkultureller(Medien-)Szenen sind neben den Musikmedien auch diedigitalen Medien bedeutsam. Durch die zunehmende Ver-netzung von Computern entstehen neue Computerspielty-pen, die auch andere Formen der Interaktion in Gleichalt-rigen-Gruppen zulassen, beispielsweise durch denMehrspieler-Modus (LAN-Spiele) oder Spiele über dasInternet (z. B. MUDs). So genannte LAN-Parties (LocalArea Network Parties), an denen zahlreiche Jugendlicheregelmäßig teilnehmen, dienen mittlerweile als „Forum,sich miteinander spielerisch zu messen, aber auch, umBeziehungen aufzubauen und zu gestalten, Toleranz undVerantwortung im Umgang mit anderen Mitspielern zuentwickeln sowie eigene Kompetenzen zu erweitern undletztendlich Gemeinschaft zu erleben“ (Kraam 2004,S. 16; Kraam 2003).

(c) Lerneffekte und Kompetenzerwerb durch den Umgang mit Medien

Die Präsenz und die Nutzung von Medien innerhalb derFamilie sowie die diskursive Verarbeitung von Mediener-fahrungen in den Gleichaltrigen-Gruppen stellen für Kin-der und Jugendliche ein breites Potenzial an Lernerfah-rungen dar, die sowohl einen positiven als auch einenweniger wünschenswerten Ertrag aufzeigen. Das infor-melle Lernen mit Medien sowie die damit verbundenenLerneffekte und Kompetenzen weisen folgende Dimen-sionen auf (Expertise Theunert):

– Medien als Fundus für Orientierung im Hinblick aufdie Persönlichkeits- und Lebenskonzepte (eher beiläu-figes Lernen)

Die Orientierungssuche in den Medien erstreckt sich ins-besondere auf die sozialen Beziehungen, das Konfliktver-halten, die Konzepte von Weiblichkeit und Männlichkeit,den Umgang mit Entwicklungsthemen wie Liebe und Se-xualität, die Ratsuche für persönliche Problemlagen so-wie die Versicherung der Zugehörigkeit von Gleichaltri-gen-Gruppen und (jugendkulturellen) Szenen. DasDurchschauen der inszenierten Medienrealität stellt sich

Page 170: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 160 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

dabei als kognitiver Nebeneffekt heraus. Die reflexiv ori-entierte Verarbeitung der Medieninhalte hängt von den je-weiligen Bildungsvoraussetzungen ab, was jedoch zuProblemen führen kann, denn ein Teil der Heranwachsen-den versucht, das eigene Leben an den Medienvorgabenzu messen bzw. diese als Modelle zu nehmen. Diese Ju-gendlichen stammen meist aus bildungsfernen Milieus(Expertise Theunert).

– Medien als Wissens- und Informationsquellen (interes-sengeleitete Medienzuwendung und selbst gesteuertesLernen)

Die Wissens- und Informationssuche in den Medien istgeleitet von einem breiten Spektrum von Interessen derKinder und Jugendlichen. Sich neues Wissen (insbeson-dere über soziale Umwelt, Natur, Krieg und Frieden,Freundschaft, Zukunft, Geschichte, Dritte Welt) anzueig-nen, ist ein wichtiges Motiv dafür, bereits im Kindesaltergerne Informationssendungen anzuschauen. Das Interessefür politische Information nimmt mit dem Alter zu, undselbst das Thema Ausländer bzw. Ausländerfeindlichkeitist ein Bereich von Interesse (insbesondere bei Mädchen).Das politische Geschehen ist für sie vor allem dann vonInteresse, wenn es ihnen möglich ist, sich selbst dazu inBeziehung zu setzen (Expertise Theunert; Theunert/Eg-gert 2001; Schorb/Theunert 2000).

Die Medienwelten tragen ferner zur Ausformung der ei-genen Weltbilder und Menschenbilder bei. Boulevardma-gazine und Reality TV präsentieren das Bild einer außer-gewöhnlichen (d. h. über den eigenen Horizonthinausreichenden) Welt. Es zeigt sich aber auch die Aus-formung differenzierter Weltbilder. Bereits ältere Kinderzeigen ein Interesse für das aktuelle Tagesgeschehen imIn- und Ausland. Sie begreifen sich zunehmend als Teildieser Welt und haben profunde Fragen zu politischenund gesellschaftlichen Themen, nach deren Antworten siein den Medien suchen, was wiederum optimal von denJugendlichen aus bildungsnahen Familien genutzt und ge-winnbringend ausgeschöpft wird (Expertise Theunert;Theunert/Schorb 1995).

– Medien als Plattform für den Erwerb von Kompeten-zen bzw. medientranszendierenden sozialen Fähigkei-ten

Der gemeinsame Umgang mit Medien in den Gleichaltri-gen-Gruppen fördert eine Reihe von Kompetenzen, diesich auch auf andere Alltagsbereiche übertragen lassen,d. h. es werden Fähigkeiten erworben, die eine kompe-tente alltägliche Lebensführung befördern können (Ex-pertise Theunert). Beim gemeinsamen Computerspielenbeispielsweise wird den Kindern und Jugendlichen dieEntwicklung von kombinatorischen Denkleistungen, stra-tegischem Denken, induktiven Fähigkeiten, räumlicherVorstellungskraft und Koordination abverlangt. Dabeiwerden „heimliche Lehrpläne“ umgesetzt, die sich aufden Erwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten beziehen,die sich auf den gesamten Alltag übertragen lassen (wieAufmerksamkeit, Reaktionsschnelligkeit, Stressresis-tenz, Problemlösungsstrategien, Planungs- und Abstrak-tionsfähigkeit) (Kraam 2004, 2003).

(d) Die Medien als Verstärker von sozialer Ungleichheit

Der jeweils „persönliche Gewinn“, den Kinder und Ju-gendliche aus dem Umgang mit Medien ziehen können,hängt mit den sozio-kulturellen Voraussetzungen der Fa-milien zusammen. Kinder und Jugendliche, die einem an-regungsreichen und kulturell offenen Familienmilieu ent-stammen, sind nicht nur im Hinblick auf die Medienvielseitig interessiert, sondern haben trotz eines intensi-ven Medienumgangs ein großes Interesse an Kommuni-kation und Interaktion mit anderen sowie an „aushäusi-gen“ und außerfamiliären Aktivitäten. Das Buch alstraditionelles Medium bzw. das Lesen in der Freizeit hatbei den heutigen Kindern und Jugendlichen keinen hohenStellenwert mehr. Die nach wie vor (viel) lesenden Kin-der und Jugendlichen sind jedoch nicht nur in sprachli-chen Schulfächern besser als die eher leseabstinenten,sondern auch in Mathematik. Mädchen lesen in ihrerfreien bzw. außerschulischen Zeit häufiger und lieber alsJungen (Stürzer u. a. 2003; Stanat/Kunter 2003, 2001;Bofinger 2001; Barthelmes/Sander 2001).

Die sozio-kulturellen (Bildungs-)Voraussetzungen der je-weiligen Familien sind unterschiedlich und verstärkendementsprechend vorhandene Strukturen der Ungleich-heit:

– Nicht alle Kinder und Jugendlichen haben gleiche Zu-gänge zu dem breit gefächerten Ensemble der Medien.

– Eltern mit höherer Bildung gehen mit Medien kompe-tenter um.

– Die gesellschaftliche Wissenskluft („knowledge gap“)wird durch die neuen Informations- und Kommunika-tionstechnologien verstärkt.

– Ungleiche Voraussetzungen in den Familien haben fürKinder und Jugendliche Folgen für ihren Umgang mitGleichaltrigen-Gruppen.

Zwischenfazit: Kinder und Jugendliche erleben heute ge-teilte Welten, zum einen reale Lebenswelten, zum ande-ren virtualisierte/mediale Welten. Beide ermöglichen eineVielzahl von spezifischen Bildungsprozessen, die die He-ranwachsenden durch Aneignung selbstständig gestalten;dabei müssen sie für sich unterschiedliche Erfahrungenmiteinander verknüpfen. Kinder, die von früh an die Weltinsbesondere am Bildschirm erleben, bzw. Jugendliche,die vornehmlich Informationen über die Welt aus denMedien beziehen, erfahren die Realität über die Weltmehr als eine „wahrgenommene“ bzw. eine „Als-ob“-Welt und weniger als eine „eigen-gelebte und angeeig-nete“ Welt und somit als eine „selbst gestaltbare“ Welt.Medienbezogene Bildungsprozesse bewegen sich dem-nach in einer Balance zwischen Realerfahrungen und Me-dienerfahrungen, die die Heranwachsenden für sich aus-tarieren müssen.

Die Ergebnisse der Forschung zeigen deutlich auf, dassdie Jugendlichen, die aus dem alltäglichen Umgang mitMedien jeweils für sich einen optimalen persönlichen Ge-winn ziehen, meist auch sozial engagiert sind und überein großes Netzwerk an Kontakten außer Haus verfügen

Page 171: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 161 – Drucksache 15/6014

(Expertise Theunert; Fritzsche 2000). Auch wenn derUmgang mit Medien als Bildungsprozess mit zunehmen-dem Alter zu einer selbstständigen Angelegenheit der Ju-gendlichen wird, so basiert die Verarbeitung der Medien-erlebnisse und Medieninformationen auf den sozio-kulturellen Voraussetzungen der jeweiligen Familie.

Es geht demnach nicht nur um die Frage der Zugänge zuMedien, sondern verstärkt auch um die Frage danach, wersich welche Medienangebote auf welche Weise und auswelcher Motivlage heraus aneignet bzw. welche Folgendies für die individuelle Entwicklung und für die gesell-schaftliche Partizipation hat. Ist der Medienumgang einerselbst bestimmten und souveränen Lebensführung zuträg-lich, dann vermehrt die Nutzung von (konvergenten) Me-dienangeboten die wünschenswerten Effekte informellenLernens mit Medien, was jedoch mehr für bildungsbevor-zugte als für bildungsbenachteiligte Jugendliche zutrifft.Andererseits kann ein konvergierendes Medienensemblebei einem problematischen Medienumgang die negativenEffekte verstärken (Expertise Theunert; Wagner u. a.2004). Die (informellen und zum großen Teil von Selbst-ständigkeit geprägten) Prozesse des medienbezogenenLernens erfahren ihre Korrektur durch eine kritische Re-flexion von Medien und eine reflektierte Positionierunggegenüber Medien. Solche Prozesse der Reflexion be-kommen ihren Anstoß u. a. durch Angebote der Schule,der Jugendarbeit, der Kinder- und Jugendkulturarbeitoder des Jugend(medien)schutzes.

4.7 Bildungsprozesse im Zusammenspiel von Bildungsorten und Lernwelten – eine Bilanz

Fasst man die Vielzahl der vorab dargestellten Befundezu den Bildungsprozessen und zum Kompetenzerwerbvon Kindern und Jugendlichen zunächst im Hinblick aufdie zentralen Bildungs- und Lernwelten noch einmal zu-gespitzt zusammen, so lassen sich folgende Trends bilan-zierend festhalten.

(1) Die Familie stellt auch für Kinder und Jugendlicheim Schulalter die basale Bildungswelt dar, in der diegrundlegenden Kompetenzen für den Umgang mit demSelbst und der kulturellen, materiell-dinglichen und so-zialen Welt erworben werden. Auch wenn sich Kinderund Jugendliche im biografischen Verlauf weitere Sozial-welten und Bildungsorte erschließen, erfolgt die Aus-einandersetzung mit den hier angebotenen Orientie-rungsmustern im Prozess des Aufwachsens in engerWechselwirkung mit familialen Aneignungsprozessen.Zumeist eröffnet Familie auch Zugänge zu anderen Er-fahrungswelten. Neben den ökonomischen und den sozia-len Ressourcen der Familie hat insbesondere das Bil-dungsniveau der Eltern einen entscheidenden Einflussdarauf, wie sich die schulischen Bildungschancen derKinder und deren Teilhabe an außerschulischen Bildungs-und Lerngelegenheiten gestalten.

(2) Im deutschen Schulsystem gelingt es gegenwärtignicht hinreichend, allen Heranwachsenden eine Grundbil-dung im Bereich der mathematisch-naturwissenschaftli-chen Kompetenzen sowie der Lesekompetenzen zu ver-

mitteln. Dies gilt erst recht für den Bereich derpolitischen Kompetenzen zur Teilhabe an der demokrati-schen Gesellschaftsordnung sowie der ästhetisch-expres-siven bzw. der personalen Kompetenzen zur Lebensbe-wältigung. Die Schule sortiert zudem einen Teil derSchüler/Schülerinnen zu früh aus, produziert pädagogischwenig sinnvolle relativ hohe Sitzenbleiberquoten, er-möglicht den Schülern/innen zu wenig Durchlässigkeitzwischen den Bildungsgängen der Sekundarstufe I undproduziert zu viele Schüler/innen mit risikoreichen Bil-dungsbiografien, unter denen Arbeiterkinder und Kinderaus Familien mit Migrationshintergrund überproportionalvertreten sind. Zudem hat sich die Schule bislang nur sehrpunktuell gegenüber den kindlichen und jugendlichen Le-benswelten geöffnet und mit den insgesamt noch zu we-nig durchgeführten außerunterrichtlichen Bildungs- undBetreuungsangeboten teilweise noch nicht jene Schüler/innen erreicht, die auf außerunterrichtliche Förderange-bote besonders angewiesen wären.

(3) Während die Grundschule und die verschiedenenSchulformen der Sekundarstufe I von allen Heranwach-senden mehr oder weniger erfolgreich besucht werden,nimmt darüber hinaus zwischen einem Fünftel und derHälfte der Kinder und Jugendlichen Lerngelegenheiten anaußerschulischen Bildungsorten wahr. Dabei kann mantypologisch zwischen Bildungsorten unterscheiden, diesich zum einen direkt auf die Kompensation und die Er-gänzung schulischer Leistungen beziehen (z. B. Nach-hilfe, Musikschulen, Sprachkurse). Zum anderen sind esdie Bildungsangebote von Jugendarbeit, Vereinen, Ver-bänden und kulturellen Einrichtungen, die im Gegensatzzum Bildungsangebot der Schule ihre Stärken in der För-derung der sozialen, politischen und ästhetisch-expressi-ven bzw. personalen Kompetenzen der Heranwachsendenhaben. Weitere wichtige Lernwelten, die über die gesamteSchulzeit eine zentrale Rolle im Alltagsleben der meistenKinder und Jugendlichen einnehmen, sind die Gleichaltri-gen-Gruppen und die Medien. Die Gleichaltrigen-Grup-pen stellen einen spezifischen Lern- und Erfahrungsraumfür Heranwachsende dar, deren Potenziale vor allem imBereich der Förderung der sprachlich-kommunikativen,der sozialen und der Selbstkompetenzen liegen. Im rezep-tiven, vor allem aber im aktiven Umgang mit Medien er-werben Heranwachsende beiläufig bzw. absichtsvoll ge-zielt technische Fertigkeiten, kulturelles Wissen sowieOrientierungen zur Entwicklung von Persönlichkeits- undLebenskonzepten. Beide Lernwelten haben aber auch ihreproblematischen Schattenseiten (z. B. Mitgliedschaft inaggressiven Straßencliquen, exzessiver Medienkonsum),die sich auf gelingende Bildungsprozesse eher negativauswirken können.

Wenn sich die empirische Forschungslage zum Bildungs-und Kompetenzerwerb von Kindern und Jugendlichen inden jeweiligen außerschulischen Bildungsorten und Lern-welten bereits als sehr bescheiden darstellt, so gilt dieserst recht für Untersuchungen, die diese Prozesse des Bil-dungs- und Kompetenzerwerbs vor dem Hintergrund desZusammenspiels mehrerer Bildungsorte und Lernweltenanalysieren.

Page 172: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 162 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

(4) Relativ gut untersucht ist nur ein Teilausschnitt ausdiesem Interdependenzzusammenhang: der Einfluss fa-milialer Lebenslagen auf den schulischen und außerschu-lischen Bildungserwerb. Dabei zeigt sich, dass Kinderund Jugendliche aus Familien mit geringen ökonomi-schen, kulturellen und sozialen Ressourcen (z. B. Arbei-terfamilien, Familien mit Migrationshintergrund, von Ar-mut betroffenen Familien) in doppelter Weisebenachteiligt sind: Sie haben nicht nur die schlechterenschulischen Bildungschancen, sondern auch weniger Zu-gänge und Möglichkeiten zum außerschulischen Bil-dungserwerb in der Welt der Vereine, der Jugendverbändeund der Kulturarbeit, der kulturellen Freizeitpraxen sowieder Medien.

(5) Die bislang wenigen Studien, die den Erwerb vonmathematischen Kompetenzen, Lesekompetenzen undpolitischen Partizipationskompetenzen vor dem Hinter-grund des Zusammenspiels von schulischen, familialen

und außerschulischen Bedingungsfaktoren untersucht ha-ben, machen deutlich, dass der Prozess des Bildungs- undKompetenzerwerbs bei Kindern und Jugendlichen nichtnur von dem formalen Bildungsort Schule, sondern ganzwesentlich auch von den außerschulischen Bildungsortenund Lernwelten beeinflusst wird.

Für die aktuellen Debatten um den Ausbau ganztägigerBildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebote sowieum die Neubestimmung des Verhältnisses von Schule undJugendhilfe hätten diese Erkenntnisse die Konsequenz,dass neben der schulischen Bildung auch den Orten deraußerschulischen Bildung und anderen Lernwelten einviel größerer Stellenwert zukommt, als er ihnen in derbisherigen bildungspolitischen Diskussion eingeräumtwird, und dass sich im Rahmen neuer vernetzter ganztägi-ger Bildungslandschaften vor allem die Herausforderungstellt, kumulative Benachteiligungseffekte in Bildungs-prozessen zu überwinden.

Page 173: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 163 – Drucksache 15/6014

Teil C Bildungsangebote und Bildungsleistungen im Kindes- und Jugendalter

In Teil C wird der Blick auf die institutionelle Seite derBildung im Kindes- und Jugendalter gerichtet. Anknüp-fend an die subjektorientierte Perspektive auf Lern- undBildungsprozesse in den Kapiteln 3 und 4 und ent-sprechend der am Alter von Kindern und Jugendlichenorientierten Struktur des Bildungs-, Betreuungs- und Er-ziehungssystems bezieht sich Kapitel 5 auf Bildungsange-bote im frühkindlichen Alter, während Kapitel 6 Bildungs-angebote im Schulalter thematisiert. Zielführend sindentsprechend des Anspruchs, die Bildungschancen allerKinder und Jugendlichen zu verbessern, in beiden Kapi-teln Fragen nach den Stärken, Potenzialen und Schwächendes Systems der öffentlich verantworteten Bildung, Be-treuung und Erziehung sowie nach organisatorischen undstrukturellen Entwicklungs- und Veränderungsperspekti-ven.

Im Mittelpunkt von Teil C stehen die Leistungen von öf-fentlichen Einrichtungen und Angeboten zu Bildung, Be-treuung und Erziehung, aber auch sonstige Lernweltenwerden ausdrücklich betont. In erster Linie geht es in denKapiteln 5 und 6 um Institutionen der Kinder- und Ju-gendhilfe, zu denen in der frühen Kindheit im Wesentli-chen die Tagespflege und die Kindertageseinrichtungenzählen; ins Blickfeld gerückt wird auch die Familie alserste und primäre Bildungswelt von Kindern. Mit derAusweitung der Handlungsräume und Lebenswelten vonKindern ab dem Schulalter kommen weitere Angeboteder Kinder- und Jugendhilfe hinzu, von denen die Ju-gendarbeit, der Hort und die schulbezogene Jugendsozial-arbeit detailliert dargestellt werden. Damit wird die breitePalette von Jugendhilfeangeboten lediglich selektiv be-rücksichtigt, wobei für die Auswahl die größere Nähezum Bildungsauftrag der Kinder- und Jugendhilfe sowieausgeprägtere bildungsbezogene Zielsetzungen, konzep-tionelle Ansätze und Handlungsorientierungen ausschlag-gebend waren. Unvermeidlich geht mit einer solchenAuswahl einher, dass Arbeitsfelder ausgeblendet werden,die sich weniger stark an Bildungszielen orientieren, indenen indes ebenfalls – unter Umständen nebenher –wichtige Voraussetzungen für die Gestaltung von Bil-dungsprozessen geschaffen bzw. Lern- und Bildungspro-zesse von Kindern und Jugendlichen unterstützt und ge-fördert werden.

Die öffentliche Verantwortung für Lern- und Bildungs-prozesse von Kindern und Jugendlichen bezieht sich je-doch nicht allein auf die Kinder- und Jugendhilfe. Des-halb werden neben der Familie auch die Schule sowieLernwelten außerhalb von Schule und Jugendhilfe als In-stitutionen verstanden, die Leistungen für die Bildungvon Kindern und Jugendlichen erbringen bzw. Lern- undBildungsprozesse beeinflussen und insofern öffentlicheAufmerksamkeit verdienen.

Die Fokussierung des Berichts auf außerschulische Bil-dung hat zur Folge, dass der Bildungsort Schule nicht indas Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt wird. Er kannallerdings auch nicht gänzlich außer Acht gelassen wer-den, da die Schule erstens eine zentrale Lebenswelt vonKindern und Jugendlichen ist, die außerschulische Ak-tivitäten beeinflusst, sich zweitens unter dem Aspekt derBildung Überschneidungsbereiche der Bildungsfunktio-nen von Schule sowie Kinder- und Jugendhilfe ergebenund drittens die Beziehungen zwischen den unterschiedli-chen Bildungs- und Lernorten bzw. Bildungswelten, zudenen auch die Schule gehört, unmittelbar bildungsrele-vant werden.

Die Bildungswelt Familie als ein Leistungssystem vonBildung, Betreuung und Erziehung zu betrachten mag zu-nächst befremden. Eine solche Sichtweise ermöglicht esjedoch, systematisch herauszuarbeiten, wie sie in ihrergrundlegenden Bedeutung für Lern- und Bildungspro-zesse von Kindern und Jugendlichen und im Verhältnis zuden sonstigen Bildungs- und Lernorten unterstützt undgefördert werden kann. Dass die Familie als „Bildungsin-stitution“ ausschließlich im Kontext der frühkindlichenBildung, Betreuung und Erziehung betrachtet wird, be-deutet nicht, dass deren Bildungsrelevanz im weiteren bio-grafischen Verlauf in Frage gestellt würde. Gleichwohl istanzunehmen, dass der Einfluss der Familie in der frühenKindheit eine grundlegend kanalisierende Bedeutung füraktuelle und zukünftige Lern- und Bildungsprozesse derHeranwachsenden hat und damit eine unvergleichlichwichtigere Rolle als in späteren Altersphasen spielt, indenen sich das Spektrum der bildungsrelevanten Orte undGelegenheiten erweitert, die von Kindern und Jugendli-chen zunehmend selbst gewählt und mitgestaltet werden.

Die unter dem Überbegriff „sonstige Lern- und Bildungs-orte“ zusammengefassten Angebote und Gelegenheits-strukturen, die im Wesentlichen – wenn auch nicht aus-schließlich – kommerziell organisiert sind, bleiben imDiskurs um öffentlich verantwortete Bildung, Betreuungund Erziehung bislang meist unberücksichtigt. Hierzuträgt zum einen bei, dass viele Anbieter keine explizitenBildungsziele formulieren und deren Funktionen stärkerim Kontext der Freizeitgestaltung als in jenem der Bil-dung gesehen werden (z. B. kommerzielle Sportangebote,Jugendreisen). Zum anderen wird meist ebenfalls nichtrealisiert, dass auch an kommerzielle Angebote Bildungs-maßstäbe angelegt und sie staatlicherseits reguliert wer-den können. Selbst wenn über derartige „spezialisierteLernorte“ empirisch nur wenig bekannt ist – die hier ge-troffene Auswahl orientiert sich u. a. an der Verfügbarkeitempirischer Informationen –, lohnt sich gleichwohl dasakribische Aufspüren dieser Orte, da sich hier und dortBildungseffekte zeigen (können), die, nicht zuletzt wegen

Page 174: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 164 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

der teilweise starken Nachfrage seitens der Heranwach-senden, öffentlich stärker beachtet werden sollten. Ihregenauere Analyse könnte Hinweise auf die Notwendig-keit künftiger Regulierungen geben.

Die Leistungen und Bestrebungen der verschiedenen In-stitutionen werden in den Kapiteln 5 und 6 hinsichtlichihrer Schwerpunkte und ihrer Reichweite unter dem Ge-sichtspunkt ihrer bildungsbiografischen Relevanz darge-stellt. Im Einzelnen beschäftigen sich die Ausführungenmit folgenden Fragen:

– Wie sind die Institutionen organisiert und strukturiert?

– Wie ist ihr Bildungsauftrag definiert?

– Welche Bildungsansprüche formulieren sie?

– Was tragen sie zur Bildung von Kindern und Jugendli-chen bei?

– Welche Kinder und Jugendlichen werden wie und inwelchem Umfang erreicht?

– Wo liegen die spezifischen Stärken und Schwächender jeweiligen Institutionen, gemessen an dem Ziel,mehr und bessere Bildung für alle zu ermöglichen?

– Welches sind die Entwicklungs- und Veränderungs-perspektiven für institutionell organisierte und öffent-lich verantwortete Bildung, Betreuung und Erzie-hung?

Die Detailgliederung der einzelnen Abschnitte ist aller-dings nicht streng an diesen Leitfragen orientiert, da inden verschiedenen Bereichen wechselnde Schwerpunktegesetzt werden und zudem die Datenlage so unterschied-lich ist, dass eine schematische Gliederung nicht leser-freundlich wäre. Bei allen Institutionen und Angebotsfor-men wird darüber hinaus, unabhängig von ihrenfeldspezifischen Aufgabenstellungen und Rahmenbedin-gungen, danach gefragt, inwieweit sie die Vielfalt kindli-cher und jugendlicher Lern- und Bildungsorte sowiederen je spezifische Bedeutung für Lern- und Bildungs-prozesse konzeptionell einbinden und – in Überwindunginstitutioneller Begrenzungen – organisatorisch und han-delnd verwirklichen.

Im Kontext der frühkindlichen Bildungsangebote wirddieses Thema vor allem im Zusammenhang mit der Ge-staltung von Übergängen zwischen den unterschiedlichenBildungsinstanzen – von der familialen Bildungswelt inaußerfamiliale Bildungseinrichtungen sowie vom Kinder-garten in die Schule – erörtert. Bezogen auf Bildungsan-gebote im Schulalter werden Entwicklungen und Mög-lichkeiten der Kooperation zwischen Jugendhilfe undSchule diskutiert sowie Fragen nach einer Neustrukturie-rung und -gestaltung der bisherigen Aufgabenverteilun-gen und Zuständigkeitsregelungen im Zusammenhangmit dem „Projekt Ganztagsschule“ aufgegriffen.

Entwicklungs- und Veränderungsperspektiven ergebensich sowohl unter dem Blickwinkel der einzelnen Institu-tionen, ihrer Angebote und Leistungen sowie ihrer Inan-spruchnahme als auch unter dem Gesichtspunkt vernetz-ter Angebote und Leistungsspektren. Ihr Maßstab ist die

Prämisse, dass sich die Gestaltung eines zukunftsgerech-ten Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungssystems nichtan Institutions- und Organisationslogiken oder an struktu-rellen Eigenheiten und Grenzen orientieren darf, sondernin erster Linie der Aufgabe verpflichtet ist, Bildungsge-rechtigkeit für alle Kinder und Jugendlichen herzustellenund Bildungsprozesse individuell zu fördern.

Die unten stehende Übersicht zu den Bildungswelten,Bildungsorten und Lernwelten von Kindern und Jugend-lichen liefert – beispielhaft und ohne Anspruch aufVollständigkeit – einen Eindruck von der Vielfalt der An-gebote und der Gelegenheiten für Lern- und Bildungspro-zesse im biografischen Verlauf junger Menschen. DieKursivschrift kennzeichnet jene Lebenswelten, die in denKapiteln 5 und 6 nicht behandelt werden.

5 Bildungsangebote und Bildungs-leistungen im frühen Kindesalter

5.1 Einleitung

Deutschland hat eine gut 200-jährige Tradition in der in-stitutionellen Bildung, Betreuung und Erziehung vonKindern im frühen Kindesalter (Tietze 2002). Auch dieBetreuung von Kindern in einem anderen Haushalt, wiein der Tagespflege, hat ihre historischen Vorläufer in Ge-stalt der „Zieh-, Halte- und Kostkinder“ (Reyer 1982,S. 723).

Die Einheit von Bildung, Betreuung und Erziehung, dieheute als Charakteristikum eines modernen Früherzie-hungskonzepts in Deutschland gilt (Organisation for Eco-nomic Cooperation and Development [OECD] 2004a),war hingegen im 19. Jahrhundert noch nicht gegeben. InBewahranstalten, Warteschulen und christlichen Klein-kinderschulen standen damals die Funktionen der Betreu-ung und Erziehung im Vordergrund, mussten doch dieKinder des rasch wachsenden Proletariats, die währenddes langen Arbeitstags ihrer Eltern unbeaufsichtigt warenund zu verwahrlosen drohten, versorgt und erzogen wer-den. Betreuung und Erziehung der Kinder erfolgten zu-meist ganztags und oft in sehr großen Gruppen mit demZiel, Kindern elementare Kenntnisse und handwerklicheFertigkeiten, ferner durch christliche Werte legitimierteOrdnungs- und Verhaltensregeln sowie Leitvorstellungenzu vermitteln.

Diesem Typus standen andere Einrichtungen wie bei-spielsweise der Fröbelsche Kindergarten gegenüber, wodie Kinder aus eher bürgerlichen Schichten sich spielendund lernend mit ihrer Welt auseinandersetzen konnten.Das Früherziehungskonzept des Fröbelschen Kindergar-tens breitete sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-derts nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europasowie in den USA aus, so dass der Name „Kindergarten“in vielen europäischen Sprachen als Lehnwort oder in di-rekter Übersetzung vorhanden ist (z. B. spanisch „jardinde infancia“, französisch „jardin d’enfants“, russisch„detskij sad“). Betreuung und (auch moralischer) Schutzwaren für Kinder bürgerlicher Herkunft weniger erforder-lich als für die Kinder der Arbeiterschaft. Dementspre-chend waren diese „Bildungseinrichtungen“ meist nur

Page 175: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 165 – Drucksache 15/6014

A b b i l d u n g C.1

Angebote, Orte und Welten der Bildung, Betreuung und Erziehung1

1 In Kapitel 5 werden die Familie, das Prager Eltern-Kind-Programm (PEKiP), Frühschwimmen (5.1), die Tagespflege und die institutionelle Kin-dertagesbetreuung (5.2), in Kapitel 6 Jugendarbeit, Hort und schulbezogene Jugendsozialarbeit (6.1), Schule (6.2), Nachhilfe, Auslandsaufenthal-te, Kinder- und Jugendreisen, kommerzielle Sportanbieter und Schülerjobs (6.3) behandelt. Kursiv sind Angebote und Gelegenheiten gekenn-zeichnet, die in Teil C nicht dargestellt werden, teilweise jedoch unter der Perspektive der Bildungsprozesse in den Kapiteln 3 und 4 aufgegriffenworden sind.

2 Vereinsangebote erfolgen auch im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe.

Bildung, Betreuung,Erziehung

Frühe Kindheit Schulalter

Bildungswelt Familie FamilieBildungsorte Kinder- und Jugendhilfe

Tagespflege

Kindertageseinrichtungen

SchuleKinder- und Jugendhilfe– Hort– Jugendarbeit (Sport, Politik, Kultur usw.)– schulbezogene Jugendsozialarbeit– erzieherische Hilfen– Kinder- und Jugendberatung/Kinder- und

Jugendinformation – Jugendberufshilfe/berufsbezogene Jugend-

sozialarbeitLernwelten Kursangebote

– Prager Eltern-Kind-Programm– Frühschwimmen– musikalische Früherziehung– Bewegung und Sport – Mal-/Bastelangebote

Vereine (z. B. Sport/Bewegung, Kultur, Kreativität)2

religiöse und weltanschauliche AngeboteMuseen, AusstellungenKino, Theater, KonzerteZirkusSpielplätzeFlohmärkte

Gleichaltrigen-Gruppen/-Kontakte

Medien

Lernangebote– Nachhilfe– Sprachschulen/-reisen– Computerschulen– medienpädagogische Werkstätten

Schülerjobs

Engagement (u. a. soziale, politische, ökologi-sche, kulturelle Organisationen und Initiativen)

freizeitorientierte Angebote– Auslandsaufenthalte– Jugendreisen– kommerzielle Sportanbieter – Erlebnisparks – Kino, Theater, Konzerte– szeneorientierte Angebote (Streetball, Mit-

ternachtsbasketball)– Vereine (z. B. Sport, Kultur, Kreativität)2

religiöse und weltanschauliche Angebote

Treffpunkte– Internetcafés, Kneipen/Clubs– Kaufhäuser („Shopping”)– Straßen, Plätze, Parks

Gleichaltrigen-Gruppen/-KontakteMedien

Page 176: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 166 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

wenige Stunden am Tag geöffnet; ferner waren die Grup-pen klein und das pädagogische Personal war vergleichs-weise gut qualifiziert (Tietze 1993; Erning/Neumann u. a.1987).

Schon früh fehlte es nicht an Versuchen, Bewahr- undBildungsfunktion in einem einheitlichen Konzept zusam-menzuführen. Das bekannteste ist sicherlich das in den1870er-Jahren entwickelte Konzept des Volkskindergar-tens (Tietze 1993; Erning/Neumann u. a. 1987). Aller-dings konnten sich solche integrierten Konzepte mitBildungsanspruch und entsprechend längeren Betreu-ungszeiten für die Kinder nur bedingt durchsetzen. Diesist nicht zuletzt einem bürgerlichen Familien- und Mutter-ideal geschuldet, das die Mutterrolle mit der Hausfrauen-rolle assoziiert und die Aufzucht der Kleinkinder im fa-milialen Rahmen vorsieht (Paterak 1999).

Die gesellschaftlichen Nachwirkungen dieses Familien-ideals, das der sozialen Wirklichkeit vieler Familien nichtentsprach, sind in Westdeutschland bis heute spürbar unddokumentieren sich in einem ausgesprochen knappenPlatzangebot für Kinder unter 3 Jahren sowie einem ge-ringen Ganztagsangebot für Kinder im Kindergartenalter.

Anders als im Westdeutschland der Nachkriegszeit kames in der DDR zu einem systematischen Ausbau von Kin-dergärten und Kinderkrippen. Dies geschah auch vor demHintergrund, Frauen und Mütter gezielt als Vollzeitbe-schäftigte in die Produktion einzubeziehen (Boeckmann1993). Die DDR war 1989 weltweit das Land mit demquantitativ am weitesten ausgebauten Früherziehungssys-tem. Trotz des zwischenzeitlich (vor allem demografie-bedingt) erfolgten Rückbaus unterscheidet sich der Aus-baugrad des Früherziehungssystems in den neuenBundesländern immer noch maßgeblich von dem der al-ten Bundesländer, so dass von außen betrachtet nach wievor von zwei unterschiedlichen Teilsystemen der Kinder-tagesbetreuung gesprochen werden muss.

Jenseits der quantitativen Differenzierungen haben beideTeilsysteme gemeinsam, dass die durchschnittlich gege-bene pädagogische Qualität in den Einrichtungen unbe-friedigend ist (Tietze u. a. 2005c). Mit dem Rechtsan-spruch auf einen Kindergartenplatz und der sich darausergebenden Vergrößerung der Anzahl der Kindergarten-plätze ging in den 1990er-Jahren eine Lockerung kosten-trächtiger Qualitätsstandards einher (Reidenbach 1996).Erst in den letzten Jahren sind Initiativen zu beobachten,über qualitäts- und bildungsrelevante Faktoren wie Aus-bildungsniveau des pädagogischen Personals und Curri-cula verbesserte Rahmenbedingungen für die bildungsori-entierte pädagogische Arbeit im Kindergarten zuschaffen.

Das öffentlich verantwortete System der Kindertagesbe-treuung steht heute in Deutschland vor einer doppeltenHerausforderung. Zum einen geht es um eine quantitativeErweiterung, dies gilt besonders für die alten Bundeslän-der, zum anderen um eine qualitative Verbesserung, wasfür Ost und West gleichermaßen gilt. Die qualitative He-rausforderung ist vor dem Hintergrund zu sehen, dassfrühe Förderung nachhaltige Auswirkungen auf die aktu-elle und zukünftige Entwicklung der Kinder hat, teils bis

weit in das Erwachsenenalter hinein, wie US-amerikani-sche Studien zeigen. Kinder aus sozial benachteiligtenFamilien, die im Alter von 3 und 4 Jahren an einem quali-tativ hochwertigen Vorschulprogramm teilgenommenhatten, waren im Alter von 40 Jahren eher berufstätig,weniger in kriminelle Aktivitäten verstrickt und hatteneher einen höheren Schulabschluss als Erwachsene, dieals Kinder kein solches Vorschulprogramm durchlaufenhatten (Schweinhart 2005).

Im folgenden Abschnitt werden die Bildungs-, Betreu-ungs- und Erziehungsumwelten von Kindern im frühenKindesalter in Familien, Tagespflegestellen und Kinder-tageseinrichtungen dargestellt und auf ihre Möglichkeitenund Notwendigkeiten der Veränderung hin untersucht.Zugleich werden Vorschläge für ein von der Geburt biszur Einschulung reichendes Früherziehungssystem unter-breitet, das die Möglichkeiten in den Familien mit denMöglichkeiten in den Kindertageseinrichtungen und denTagespflegestellen im Sinne einer „neuen Kultur des Auf-wachsens“ (Krappmann 1996) miteinander verbindet. Diedemografisch bedingte Abnahme der Kinderzahl sowiedie sich abzeichnende veränderte gesellschaftliche Wahr-nehmung der Bedeutung früher Bildung sollten dazu füh-ren, die quantitativen und qualitativen Versäumnisse derVergangenheit auszugleichen und ein auf die aktuellenAnforderungen abgestimmtes, leistungsfähiges Systemzu entwickeln.

5.2 Familie als Leistungssystem – Leistungen und Angebote für Familien

Bildungsprozesse laufen in der Familie fast nebenbei abund sind von den Eltern überwiegend nicht geplant. Sieereignen sich, wenn die Familienmitglieder ihre Freizeitmiteinander verbringen, miteinander Spaß haben oder all-tägliche Gewohnheiten und Rituale vollziehen (Brake/Büchner 2003). In der familialen Interaktion und Kom-munikation werden die Grundlagen für den Erwerb vonKompetenzen gelegt. „Ihren Eltern stellen Kinder die ers-ten Fragen, von ihnen erhalten sie die ersten Antworten.An die Eltern wenden sie sich mit ihrer kindlichen Neu-gier, in der Familie erproben und entdecken sie die zu-nächst rätselhafte Welt mit ihren Formen, Farben und Tö-nen, mit ihren Überraschungen und Wiederholungen, mitRegelmäßigkeiten und Sinn. Von den Eltern hören sie dieersten Worte und aus der Sprache in der Familie überneh-men sie, worüber man sprechen, wie genau man Dinge,Sachverhalte und Gefühle unterscheiden und mit wel-chem Ausdrucksrepertoire man sich verständlich machenkann. An den Reaktionen der Eltern nehmen sie wahr,welches Handeln willkommen ist und welches nicht. Vonihnen werden ihre Bemühungen, die Welt zu begreifenund zu verstehen, anerkannt oder ignoriert, ermutigt oderbestraft. Hier formen sich Dispositionen, schnell aufzuge-ben oder weiterzumachen, wenn eine Sache schwierigwird oder längere Anstrengungen erfordert“ (Bundesmi-nisterium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend[BMFSFJ] 2002a, S. 18).

Neben den Anregungen, die die Familie selbst dem Kindbereitstellt, sorgen Eltern auch dafür, dass ihr Kind wei-tere, den familialen Erfahrungsraum erweiternde Bil-dungsangebote wahrnehmen kann. Die Lebenswelt des

Page 177: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 167 – Drucksache 15/6014

Kleinkindes wird dadurch bereits frühzeitig durch neueUmweltbezüge und Bezüge zu anderen Menschen er-gänzt. Familie kann durch den Besuch von Eltern-Kind-Gruppen verschiedenster Art, z. B. PEKiP-Gruppen oderGruppen zum so genannten „Babyschwimmen“, sowiedurch die Nutzung weiterer kommerzieller (Ballettschu-len, Judoclubs) oder staatlich subventionierter Angebote(Turnvereine, Musikschulen) zusätzliche Bildungserfah-rungen in die Lebenswelt des Kindes hineintragen. BeimBesuch dieser Lernwelten werden insbesondere jüngereKinder in der Regel von ihren Eltern begleitet, oder dieAngebote sind nur von sehr eingeschränkter zeitlicherDauer.

Weitere Erfahrungsmöglichkeiten für das Kind bietet dasfamiliale Netzwerk. Dazu gehören Kontakte zu Großel-tern, Geschwistern sowie anderen Verwandten und Freun-den der Familie. Wie die DJI-Kinderbetreuungsstudie2005156 zeigt, werden 43 Prozent der Kinder unter 3 Jah-ren regelmäßig von anderen (privaten) Personen als denEltern betreut (z. B. den Großeltern), und auch bei den3- bis unter 6-Jährigen findet eine solche Betreuung bei40 Prozent der Kinder statt. Damit scheint sich die Situa-tion von Vorschulkindern, was die Betreuung in der durchVerwandte erweiterten Familie angeht, gegenüber derSituation, wie sie sich Ende der 1980er-Jahre darstellte,kaum verändert zu haben (Tietze/Roßbach 1991).

Die im Rahmen der Familie erbrachten Leistungen für dieBildung der Kinder sind ein unabdingbarer Beitrag so-wohl für deren Entwicklung als auch für den Bestand unddie Weiterentwicklung der Gesellschaft. Eltern haben da-her Anspruch auf Unterstützung ihrer Erziehungstätig-keit. Gesellschaftliche Unterstützung der Familie wirdzum einen in Form monetärer Leistungen wie Eltern- undKindergeld, zum anderen in Form von Infrastrukturleis-tungen wie Angeboten der Familienbildung oder inte-grierten Bildungs- und Betreuungsangeboten gewährt.

5.2.1 Leistungen der Familie für die frühkindliche Bildung

Die Leistung, die Familie im Rahmen alltäglichen Han-delns für kindliche Bildungsprozesse erbringt, besteht vorallem in der Weitergabe und der Aneignung dessen, wasBourdieu (1983) als kulturelles und soziales Kapital be-zeichnet (Brake/Büchner 2003). Mit Vermittlung und An-eignung kulturellen Kapitals schafft die Familie die Vo-raussetzung für die kulturelle Teilhabefähigkeit desKindes, durch Vermittlung und Aneignung sozialen Kapi-tals wird dem Kind soziale Anschlussfähigkeit ermöglicht(ebd.).

Die im Verlauf der frühen Kindheit hinzutretenden Bil-dungsorte weiten den sozialen Kontakt auf andere Er-wachsene und gleichaltrige Spielpartner aus, konfrontie-ren jedoch auch mit neuartigen Strukturen und Regeln.Zu den am häufigsten genutzten außerfamilialen Bil-dungsorten der frühen Kindheit gehören die Tagespflegeund die institutionelle Kindertagesbetreuung (Kinder-krippe und Kindergarten).

Insgesamt bleibt die große Bedeutung der Familie aberauch dann erhalten, wenn die Kinder andere Bildungsortebesuchen. Merkmale der Familie und die Qualität deshäuslichen Anregungsniveaus haben in der Regel einendeutlich größeren Einfluss auf die Entwicklungs- und Bil-dungsprozesse von Kindern als außerfamiliale Bildungs-orte (Expertise Roßbach157). In den 1960er-Jahren wurdeauf familiale Mängel in der Erziehung und der Bereitstel-lung von Bildungsmöglichkeiten mit der Bewegung derkompensatorischen Vorschulerziehung reagiert. Durchqualitativ hochwertige institutionelle Programme und ge-zielte Förderung sollten familienbedingte Entwicklungs-defizite des Kindes ausgeglichen werden. Wesentliche Er-kenntnis dieser Bewegung war, dass durch eine gutgeführte, qualitativ hochwertige Kindertagesbetreuungzwar einige Entwicklungsdefizite ausgeglichen werdenkönnen, Erziehung und Bildung in der Familie jedoch dengrößten Einfluss auf die kindliche Entwicklung behalten.Daraus ergibt sich, „... dass eine am Wohl des Kindes undseiner Entwicklungsförderung orientierte Kinderpolitiksich nicht nur auf die Kinderwelten konzentrieren darf,die unter öffentlicher Verantwortung stehen, sonderngrundsätzlich auch die Qualität familialer Umwelten alsBestandteil ihres Verantwortungsbereichs anerkennenmuss“ (Tietze 2002, S. 390).

Die NICHD Studie158 (NICHD Early Child Care Re-search Network 2002b) ergab, dass die Effektgröße derProzessqualität159 außerfamilialer Bildungsorte etwa einViertel der Effektgröße der Qualität des elterlichen Erzie-hungsverhaltens und etwa ein Fünftel bis ein Sechstel derEffektgröße des Familieneinkommens beträgt. In einer inDeutschland durchgeführten Analyse (Tietze u. a. 2005c)der Auswirkungen des Kindergartenbesuchs auf die so-zialen Kompetenzen im Alter von acht Jahren zeigte sich,dass der Effekt der frühen Qualität in der Kindergarten-gruppe annähernd die Hälfte des Effekts der Familie aus-macht. Im Hinblick auf die sprachliche Entwicklung unddie Schulleistungen im Alter von 8 Jahren war der Effektder Qualität der frühen Kindergartenbetreuung etwa einDrittel so groß wie der Effekt der Familie. Hinsichtlichdes späteren Bildungserfolgs von Kindern zeigt die PISA-Studie (Baumert u. a. 2001) einen systematischen Zusam-menhang zwischen familialen Lebensverhältnissen (u. a.Berufs- und Bildungsstatus der Eltern) und der Lesekom-petenz deutscher Jugendlicher. Familie hat von daher eine– positiv wie negativ – überragende Bedeutung für dieBildungsbiografie von Kindern.

Während die Familienform auf die Entwicklungs- undLernprozesse von Kindern keinen direkten Einfluss hat(Mahler/Winkelmann 2004; Diefenbach 2000; vgl. auchAbschnitt 4.1), erweisen sich die Anzahl bzw. das Vor-handensein von Geschwistern sowie der Rang in der Ge-

156 Zur Kinderbetreuungstudie vgl. Glossar.

157 In dieser Zitierweise werden die Expertisen angegeben, die für den12. Kinder- und Jugendbericht erstellt wurden (vgl. die Auflistung imAnhang). Die Seitenzahlen beziehen sich auf die eingereichten Ma-nuskripte, d. h. dass sie nicht mit den Seitenzahlen der Expertisen inden vier für Herbst 2005 zur Veröffentlichung vorgesehenen Bändenübereinstimmen.

158 Zur NICHD-Studie vgl. Glossar im Anhang.159 Prozessqualität betrifft die realisierte Pädagogik in einer Kindertages-

einrichtung (vgl. Abschnitt 5.3.3.4).

Page 178: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 168 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

schwisterfolge als entwicklungs- und bildungsrelevant.So bieten Interaktionen zwischen Geschwistern positiveAnregungen für den Erwerb sprachlicher und sozialerKompetenzen; ferner erzielen Erstgeborene und Einzel-kinder in der Schule bessere Leistungen als Kinder, diespäter in die Familie hineingeboren werden (Teubner2005, S. 111; Black u. a. 2004). Dass sich soziale Schicht,mangelnde Zuwendung und Belastungen in der Eltern-Kind-Beziehung mindernd auf die Lern- und Bil-dungschancen von Kindern auswirken, ist in Teil B desBerichts bereits ausgeführt worden (vgl. Kapitel 3 und 4).

Resümierend bleibt festzuhalten, dass die ökonomische Si-tuation der Familie in Abhängigkeit vom Bildungsniveauund von den hiermit verknüpften Beschäftigungschancen,ferner die sozialen und kulturellen Ressourcen der Eltern,ihre zeitliche Verfügbarkeit sowie die sozio-emotionaleQualität der Eltern-Kind-Beziehung von entscheidenderBedeutung für die Möglichkeiten und die Fähigkeiten derFamilie sind, den Kindern ein bildungsförderliches Um-feld zu bieten. Durch ihre Funktion als „Arrangeure vonEntwicklungsgelegenheiten“ schaffen Eltern lebenswelt-liche Bedingungen, die das Kind dazu anregen, seinenLern- und Erfahrungshorizont zu erweitern. Eltern über-nehmen sozusagen die Rolle des „Türöffners“, damit dasKind in einer erweiterten Umwelt selbstständig neue Er-fahrungen machen und sich Handlungsspielräume er-schließen kann (Schneewind 2002a).

Im Regelfall erbringen Familien diese Bildungsmöglich-keiten für das 1. Lebensjahr des Kindes aus eigenen Res-sourcen und mit fortschreitendem Alter der Kinder imZusammenwirken mit anderen Lernwelten und Bildungs-orten. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Erzie-hung von Kindern für Eltern allein vor dem Hintergrundgestiegener gesellschaftlicher Anforderungen an Bildungeine zunehmend schwierigere und komplexere Aufgabedarstellt. Ebenso ist zu berücksichtigen, dass nicht alle El-tern dazu in der Lage sind, jene Qualität an Pflege, Be-treuung, Bindung und Anregung sicherzustellen, die esden Kindern erlaubt, sich die Welt in ihren unterschiedli-chen Bezügen vertrauensvoll und explorativ anzueignen(vgl. Kapitel 3). Familien bedürfen daher gesellschaftli-cher Unterstützung in Form von sowohl monetären Leis-tungen als auch Infrastrukturleistungen.

5.2.2 Leistungen für FamilienMonetäre Leistungen bietet die Gesellschaft der Familiein Form von Erziehungsgeld und Kindergeld an. Mankann sich über ihre Höhe streiten; eine Steigerung des Fa-milieneinkommens durch monetäre Transferleistungenwürde aber sicher nicht ausreichen, um die Chancenge-rechtigkeit bezüglich der Bildungsbeteiligung und desBildungserfolgs von Kindern in unserer Gesellschaft zusichern. Hierfür bedarf es zusätzlich der Verbesserung derInfrastruktur für Familien in Form erziehungs- und bil-dungsbezogener Angebote, u. a. durch Familienbildungs-stätten und Familienzentren.

5.2.2.1 Öffentliche monetäre LeistungenStaatliche monetäre Transferleistungen sind insbesonderefür einkommensschwache Familien als finanzielle Fami-

lienförderung unerlässlich. „Die Leistungen des Famili-enlastenausgleichs im weiteren Sinne (also Kindergeld,Erziehungsgeld, Unterhaltsvorschuss und BaföG) redu-zieren die relative Einkommensarmut von Familien deut-lich“ (Bundesministerium für Gesundheit und SozialeSicherung [BMGS] 2004, S. 76). Insgesamt beliefen sichdie Ausgaben des Staates für sozial- und familienpoliti-sche Leistungen im Jahr 2002 auf 34,5 Mrd. Euro (vgl.Tab. 5.1).160

Das im Rahmen des Familienleistungsausgleichs ge-währte Kindergeld nimmt davon den Löwenanteil ein. Esbetrug 28,83 Mrd. Euro im Jahr 2002, 1,4 Prozent desBruttoinlandsprodukts. Für die einzelne Familie beläuftsich das Kindergeld gegenwärtig für das erste bis dritteKind auf jeweils 154 Euro und für jedes weitere Kind auf179 Euro monatlich (Bundesamt für Finanzen 2003).Darüber hinaus können einkommensschwache Eltern seitdem 1. Januar 2005 einen monatlichen Kinderzuschlagvon maximal 140 Euro pro Kind beantragen. Der Kinder-zuschlag richtet sich an gering verdienende Eltern, diemit ihrem Einkommen zwar ihren eigenen Bedarf, nichtaber den Unterhalt ihrer Kinder abdecken können unddeshalb auf Arbeitslosengeld II angewiesen wären(BMFSFJ 2004a).

Ta b e l l e 5.1

Ausgaben für die öffentliche Kinder- und Jugendhilfe und andere staatliche sozial- und familienpolitische

Leistungen (Deutschland; Haushaltsjahr 2002)

1 Bruttoinlandsprodukt in jeweiligen Preisen 2002: 21 073 Mrd. Euro.2 Bruttoausgaben (einschließlich Einnahmen).Quelle: BMFSFJ o.J.; Bundesagentur für Arbeit 2003; StatistischesBundesamt 2003f, 2003g

160 Das Gesamtvolumen familienfördernder Leistungen unter Berück-sichtigung weiterer familienpolitischer Maßnahmen – wie etwa imBereich der Steuergesetzgebung und im Sozialversicherungssektor,zusätzliche monetäre Transfers des Bundes, der Länder und Gemein-den mit familienpolitischem Bezug (z. B. Beiträge für Kindererzie-hungsleistung, Familienzuschläge im öffentlichen Dienst, Familien-komponenten bei der Sozialhilfe u. Ä.) – liegt deutlich über dieserSumme. Für das Jahr 2001 ergeben sich nach Berechnungen des Kie-ler Weltwirtschaftsinstituts 167,8 Euro als Untergrenze für den Um-fang der Familienförderung (Rosenschon 2001).

Summein Mrd. €

In % vom BIP1

Erziehungsgeld 3,31 0,16

Kindergeld 28,83 1,37

Hilfe zum Lebensunterhalt für unter 18-Jährige 2,43 0,12

Kinder- und Jugendhilfe2 20,18 0,96

davon

Kindertagesbetreuung 10,95 0,52

Andere Arbeitsfelder 9,23 0,44

Page 179: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 169 – Drucksache 15/6014

Materielle und zeitliche Unterstützung für die Betreuungjüngerer Kinder in der Familie erhalten Eltern durch dasErziehungsgeld sowie durch die Regelungen zur Eltern-zeit. Die staatlichen Leistungen für das Erziehungsgeldbetrugen 3,31 Mrd. Euro im Jahr 2002; das sind0,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das Erziehungs-geld wird einkommensabhängig gewährt, wobei die Ein-kommensgrenzen für die ersten sechs Monate des Leis-tungsbezugs höher angesetzt sind als für die Zeit danach.Eltern können bei ihrem Antrag auf Erziehungsgeld zwi-schen zwei Angeboten wählen: dem monatlichen Regel-betrag in Höhe von bis zu 300 Euro in den ersten beidenLebensjahren des Kindes und dem monatlichen Erzie-hungsgeld in Budgetform in Höhe von bis zu 450 Eurofür das 1. Lebensjahr des Kindes (BMFSFJ 2004b).

Mit Elternzeit (früher Erziehungsurlaub) ist der Anspruchauf unbezahlte Freistellung von der Arbeit gemeint. DerAnspruch auf Elternzeit besteht bis zur Vollendung des3. Lebensjahres des Kindes. Die Elternzeit kann in zweiAbschnitte pro Elternteil aufgeteilt werden. Es besteht je-doch auch die Möglichkeit, dass Eltern ihre Elternzeitganz oder zeitweise gemeinsam nehmen, wodurch sichdiese für den einzelnen Elternteil weder verlängert nochverkürzt. Wer Elternzeit nimmt, darf gleichzeitig bis zu30 Stunden in der Woche erwerbstätig sein (BMFSFJ2004b).

Eine Studie der Familienwissenschaftlichen Forschungs-stelle im Statistischen Landesamt Baden-Württembergzum Erziehungsurlaub kommt auf der Grundlage des So-zio-oekonomischen Panels (SOEP)161 zu dem Ergebnis,dass jüngere Mütter häufiger Erziehungsurlaub nehmenals ältere; ferner nehmen alleinerziehende Mütter den Er-ziehungsurlaub seltener in Anspruch als Mütter, die in ei-ner Partnerschaft leben. Ebenfalls lassen sich Frauen mithöherer Ausbildung seltener nach der Geburt des erstenKindes freistellen als Frauen ohne Berufsabschluss. Nachder Geburt eines zweiten Kindes oder weiterer Kinder ge-winnen andere Einflussgrößen an Bedeutung. Frauen mitniedriger Qualifikation gehen nach der Geburt weitererKinder seltener in den Erziehungsurlaub als die entspre-chenden Erstmütter. Hier ist zu vermuten, dass die Not-wendigkeit, aus finanziellen Gründen aktiv erwerbstätigzu bleiben, eine Rolle spielt.

Bei Frauen mit höherem Ausbildungsgrad verhält es sichumgekehrt. Sie können es sich mit mehreren Kinderneher leisten, Erziehungsurlaub zu nehmen, sofern sienicht auf Kinder ganz verzichten, um keinerlei Einkom-menseinbußen zu erleiden. Frauen haben im Gegensatzzu ihren Partnern vor der Geburt des ersten Kindes einebessere Einkommensposition als vor der Geburt weitererKinder. Eine vergleichsweise niedrige Einkommensposi-tion des Partners trägt eher dazu bei, dass die Frau den Er-ziehungsurlaub nicht beansprucht, während eine niedrigeEinkommensposition der Frau häufig mit Erziehungsur-laub verbunden ist. Im Jahr vor der Geburt des erstenKindes ist die große Mehrheit (75 Prozent) der Erzie-

hungsurlaub nehmenden Frauen vollzeiterwerbstätig; imJahr vor der Geburt des zweiten Kindes sind dies nur we-nige (11 Prozent). Ein Jahr vor der Geburt des zweitenKindes arbeiten viele Frauen in Teilzeit, befinden sichnoch im Erziehungsurlaub mit dem ersten Kind oder sindaus anderen Gründen nicht erwerbstätig. Die Dauer desErziehungsurlaubs hängt u. a. davon ab, ob nach dem ma-ximal zweijährigen Bezug von Bundeserziehungsgeld dieMöglichkeit des Erhalts von Landeserziehungsgeld be-steht. Dort, wo dies der Fall ist, nehmen Frauen häufigerdas dritte Jahr Erziehungsurlaub in Anspruch als in denBundesländern ohne Anschlussförderung der Erwerbsun-terbrechung (Engstler/Menning 2003).

Der Anteil der Väter, die Erziehungsurlaub (heute Eltern-zeit) beanspruchen, ist sehr gering und lag laut Erzie-hungsgeldstatistik im Jahr 2000 beim Erstantrag bei1,6 Prozent und beim Zweitantrag bei 2,4 Prozent. In ei-ner Befragung junger Väter zu den Ursachen für ihre ge-ringe Beteiligung am Erziehungsurlaub werden vorwie-gend finanzielle Gründe genannt (drei Viertel der Männerverdienten vor der Geburt des ersten Kindes deutlichmehr als ihre Ehefrauen). 32 Prozent der Männer in denalten Bundesländern und 22 Prozent der Männer in denneuen Bundesländern gaben an, Angst zu haben, im Berufden Anschluss zu verlieren. Etwa genauso viele wolltennicht auf die beruflichen Karrierechancen verzichten.Ebenfalls in dieser Größenordnung lag der Anteil derjeni-gen, die angaben, dass in ihrem Beruf eine Unterbrechungin Form eines Erziehungsurlaubs nicht möglich sei, undein Fünftel (19 Prozent in den alten und 30 Prozent in denneuen Bundesländern) äußerten die Befürchtung, nicht anden Arbeitsplatz zurückkehren zu können. Befürchtungenbezüglich negativer Reaktionen von Arbeitskollegen undVorgesetzten äußerten rund 10 Prozent der Männer.16 Prozent der jungen Väter in den alten und 20 Prozentin den neuen Bundesländern konnten sich nicht vorstel-len, zu Hause zu bleiben. Ein Fünftel der Männer aus denalten und ein Viertel aus den neuen Bundesländern gabenan, nie daran gedacht zu haben, Erziehungsurlaub zu neh-men (Engstler/Menning 2003).

Insgesamt haben die monetären Transferleistungen fürFamilien und die Möglichkeit der Inanspruchnahme vonElternzeit in Deutschland kaum Einfluss auf die Fertilität(vgl. Abschnitt 1.2.5). „Der Zusammenhang zwischenden finanziellen Mitteln, die Staaten für Kinder und Fa-milien ausgeben, und der Kinderzahl je Frau ist in West-europa relativ gering“ (Kröhnert u. a. 2005, S. 10). Den-noch werden tendenziell dort mehr Kinder geboren, woder Staat mehr Geld für Kinder und Familien ausgibt.„Die Gesellschaft kann also in Familienfreundlichkeit in-vestieren – sie muss es aber an der richtigen Stelle tun“(ebd.). Offensichtlich bedarf es anderer Anreize für Fami-lien, wie das schwedische Modell zeigt. Dort müssen Vä-ter einen Teil des Erziehungsurlaubs antreten, wenn die-ser nicht verfallen soll. Des Weiteren bekommen Eltern inSchweden im ersten Lebensjahr des Kindes ihren Lohnanteilig fortgezahlt, wodurch die finanzielle Situation derFamilien durch die Geburt eines Kindes weniger belastetist. Nach dieser relativ hohen, aber kurzen direkten Sub-ventionierung der Familie fließt mehr staatliches Geld in161 Zum Sozio-oekonomischen Panel vgl. Glossar.

Page 180: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 170 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Dienstleistungen (Kinderkrippen, Kindergärten, Tages-mütter, Haushaltshilfen), die eine Erwerbstätigkeit auchbei vorhandenen Kindern ermöglichen. „WährendDeutschland lediglich 29 Prozent seiner Sozialausgabenfür Kinder und Familien in solche kinderfreundlichenDienstleistungen investiert, sind es in Frankreich 45 Pro-zent, in Schweden 50 Prozent und in Dänemark sogar59 Prozent“ (ebd., S. 12).

5.2.2.2 Öffentliche Infrastrukturleistungen und private Angebote

Der Aufbau eines Netzes von Angeboten der Eltern- undFamilienbildung mit dem Ziel, die Erziehungskompetenzder Eltern zu stärken und Kindern ein entwicklungsför-derndes Sozialisationsumfeld zu schaffen, ist in Deutsch-land noch in der Entwicklung begriffen. Ebenso fehlt esan Angeboten für Eltern und Kinder, die geeignet wären,den Zusammenhalt zwischen den Familienmitgliedern zustärken sowie die soziale Einbindung und die Möglich-keiten des Kontaktes zu anderen Familien mit Kindern zufördern. Funktionäre aus der Wirtschaft setzen sich zwarzunehmend für Maßnahmen ein, die den Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern eine befriedigende Balance zwischenFamilie und Arbeitswelt ermöglichen sollen (BMFSFJ2002c); allerdings investieren Wirtschaftsunternehmenvorrangig in familienunterstützende Kinderbetreuungsan-gebote und weniger in Familienbildung.

(a) Familienbildung

Die Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe, Eltern bei derErziehung ihrer Kinder zu beraten und zu unterstützen(§ 1 Abs. 3 SGB VIII), wird vor allem durch Angebotenach den §§ 16ff. SGB VIII wahrgenommen. In § 16 wer-den mögliche Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe zurallgemeinen Förderung der Erziehung in der Familien ge-nannt; dazu gehören:

– Angebote der Familienbildung, die auf Bedürfnisseund Interessen sowie auf Erfahrungen von Familien inunterschiedlichen Lebenslagen und Erziehungssituatio-nen eingehen, die Familie zur Mitarbeit in Erziehungs-einrichtungen und in Form der Selbst- und Nachbar-schaftshilfe besser befähigen sowie junge Menschenauf Ehe, Partnerschaft und das Zusammenleben mitKindern vorbereiten;

– Angebote der Beratung in allgemeinen Fragen der Er-ziehung und der Entwicklung junger Menschen;

– Angebote der Familienfreizeit und der Familiener-holung, insbesondere in belastenden Familiensitua-tionen, die bei Bedarf die erzieherische Betreuung derKinder einschließen.

Näheres über Inhalt und Umfang dieser Aufgaben findetsich im Bundesgesetz nicht, dafür aber der Hinweis, dassdies in den Landesgesetzen zu regeln sei. Neben demSGB VIII sind deshalb Verwaltungsvorschriften von Län-derministerien zur Familienbildung sowie Landesgesetzezur Erwachsenen- und Weiterbildung wichtige Rechts-grundlagen für die Familienbildung.

Die verfügbaren Angaben zur tatsächlichen Anzahl vonEinrichtungen der Familienbildung divergieren stark(Fuchs 2003a). Textor gibt eine Zahl von 586 Familien-bildungsstätten in Deutschland an, die im Jahr rund200 000 Veranstaltungen mit fast 3 000 000 Unterrichts-stunden durchführen. Hinzu kommen die Volkshochschu-len, die pro Jahr rund 7 400 Kurse zu Erziehungsfragen/Pädagogik anbieten.162 Eine Untersuchung über trägerun-abhängige familienbezogene Bildungsangebote, die inBaden-Württemberg durchgeführt wurde, ermittelte479 Einrichtungen bzw. Träger mit Familienbildungsan-geboten (John 2003). Die Kinder- und Jugendhilfestatis-tik für das Jahr 1998 weist insgesamt 352 „Einrichtungender Eltern- und Familienbildung“ aus (Fuchs 2003b).163

Offensichtlich wird das reale Ausmaß von Einrichtungenund Trägern durch die derzeit vorliegenden Daten nur un-zureichend abgebildet.

Familienbildungsstätten sind zwar die „klassischen“Grundsäulen der Familienbildung (Rauschenbach 2005;Fuchs 2003a), doch wird Familienbildung auch in vielenanderen Einrichtungen durchgeführt:

– Einrichtungen der Erwachsenenbildung, die u. a. El-tern- und Familienbildung anbieten, wie Volkshoch-schulen oder Bildungswerke;

– sonstige Institutionen, Organisationen und Vereine,die Eltern- und Familienbildung neben anderenSchwerpunkten anbieten, z. B. Einrichtungen des Ge-sundheitswesens wie Hebammenpraxen, Elternschu-len an Kliniken, Einrichtungen der Kinder- undJugendhilfe wie beispielsweise bei der Arbeiterwohl-fahrt, dem Deutschen Roten Kreuz oder sonstigen Ver-einen und Verbänden wie dem Deutschen Frauenring,dem Kinderschutzbund, dem Verband alleinerziehen-der Mütter und Väter;

– Privat- und Selbsthilfeinitiativen (meist frei gemein-nützig, manchmal auch gewerblich), Mütterzentren,Familienzentren, Begegnungs- und Kulturzentren, El-terninitiativen, Stillcafés.

Die Familienbildung in Deutschland ist, verglichen mitanderen Arbeitsfeldern, nicht sehr stark ausgebaut. InNordrhein-Westfalen sind beispielsweise nach der amtli-chen Kinder- und Jugendhilfestatistik etwa 500 pädagogi-sche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Einrichtun-gen für Familienbildung (Voll- und Teilzeitbeschäftigte)tätig, zu denen allerdings noch die zahlreichen freien Mit-arbeiterinnen und Mitarbeiter in den Kursleitungen hinzu-zurechnen sind (Rauschenbach 2005). Den genannten500 Fachkräften stehen in Nordrhein-Westfalen 66 000pädagogische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in denKindertageseinrichtungen und über 8 000 Mitarbeiterin-nen und Mitarbeiter in der Kinder- und Jugendarbeit(ohne Ehrenamtliche) gegenüber (ebd.), was zeigt, dass,gemessen an diesen unterschiedlichen Größenordnun-gen, die Familienbildung in Deutschland bislang keinegroße Rolle spielt.

162 Vgl. www. familienhandbuch.de.163 Zur Kinder- und Jugendhilfestatistik vgl. Glossar.

Page 181: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 171 – Drucksache 15/6014

Angebotene und nachgefragte Themen der Familienbil-dung: Laut einer bundesweiten empirischen Institutionen-analyse (Schiersmann u. a.1998) waren im Jahr 1994 fol-gende Themen und Angebote besonders wichtig:

– Eltern-Kind-Gruppen (von 94 Prozent der Institutio-nen angeboten);

– Gesundheitsbildung (91 Prozent);

– Pädagogik, Erziehung, Entwicklungspsychologie(88 Prozent);

– Geburtsvor- und Geburtsnachbereitung (85 Prozent).

Werden Eltern danach befragt, welche Angebote sie sichim Rahmen der Familienbildung wünschen und welchesie tatsächlich nutzen, sind sie laut Ergebnissen einer re-präsentativen Telefonbefragung weitgehend übereinstim-mender Meinung, unabhängig davon, ob sie diese Ange-bote wirklich in Anspruch nehmen (Smolka 2003).

Rund 73 Prozent der Befragten waren der Meinung, dasses im Rahmen der Familienbildung Veranstaltungen zumThema „Erziehung und Entwicklung des Kindes“ gebensollte. Auch die Themen „Gesundheit“ (knapp über70 Prozent) und „ökologische Fragen“ (fast 70 Prozent)stießen bei den Eltern auf großes Interesse. Demgegen-über wurden nur von etwas mehr als der Hälfte der be-fragten Mütter und Väter Angebote im Bereich der „Mut-ter-Kind-“ bzw. „Eltern-Kind-Gruppen“ gewünscht. Stelltman jedoch die von den Eltern gewünschten Themenbe-reiche den von ihnen genutzten gegenüber, zeigen sichbeträchtliche Differenzen. Eine Beschäftigung mit „Er-ziehung und Entwicklung des Kindes“ halten zwar mehrals 70 Prozent für wünschenswert, aber nur ein knappesDrittel der Befragten hat schon einmal ein Angebot derFamilienbildung zu diesem Thema angenommen. „Mut-ter-Kind-“ bzw. „Eltern-Kind-Gruppen“ haben immerhinüber 43 Prozent der Befragten genutzt. Diese Ergebnissewerden dahingehend interpretiert, dass entweder das An-gebot der Familienbildung in den am häufigsten ge-wünschten Themenbereichen so gering ist, dass tatsäch-lich nicht mehr Eltern eine Veranstaltung zu solchenFragen besuchen können, „… oder aber es handelt sichhierbei um Phänomene der sozialen Erwünschtheit, alsoum das Nennen von Themenbereichen, von denen Elternglauben, dass sie wichtig sind und dass sie sich eigentlichdamit befassen müssten, es aber in der Realität nicht tun“(Smolka 2003, S. 49).

Mutter- und Eltern-Kind-Gruppen: In vielen Fällen wer-den „Mutter-Kind-Gruppen“ bzw. „Eltern-Kind-Grup-pen“ mit Themenbereichen gekoppelt, die die Erzie-hungskompetenz der Eltern stärken und ihre Sensitivitätfür die Entwicklung des Kindes unterstützen sollen. EinBeispiel hierfür ist das Prager Eltern-Kind-Programm(PEKiP)164, das für das 1. Lebensjahr des Kindes angebo-ten wird. Ziel des Programms ist es, Eltern mit Hilfe pä-dagogisch geschulter Fachkräfte165 für die Bedürfnisseund die Entfaltungsmöglichkeiten ihrer Säuglinge zu sen-sibilisieren. Dazu gehören u. a. die Vermittlung vonSpiel- und Bewegungsmöglichkeiten, Anregungen zurEntwicklung der Beziehung zwischen Eltern und Kindsowie die Förderung der Feinfühligkeit von Eltern. Dane-

ben ermöglicht das PEKiP-Programm Kontakte sowohlzwischen Erwachsenen, die in vergleichbarer Lebenssitu-ation sind, als auch zwischen Erwachsenen und Kindernsowie zwischen den Kindern untereinander. Die Katholi-sche und die Evangelische Kirche, die Arbeiterwohlfahrt(AWO), das Deutsche Rote Kreuz (DRK) und der Deut-sche Paritätische Wohlfahrtsverband (DPWV), aber auchMütter-, Familien- und Nachbarschaftszentren, Initiativenund Selbsthilfegruppen sowie kommunale Träger (nach§ 16 SGB VIII) bieten mit PEKiP-Kursen Leistungen zurFörderung familialer Bildung und Erziehung an. Im Jahr2001 wurden PEKiP-Kurse von 880 Einrichtungen ange-boten. In Anspruch genommen wurden PEKiP-Kurse proWoche bundesweit von rund 45 000 Familien mit Kin-dern im 1. Lebensjahr – die Altersgrenze für die Teil-nahme liegt bei 12 Monaten –, das entspricht etwa5 Prozent eines Geburtsjahrgangs in der Bundesrepublik(laut Unterlagen zur Fortbildung von PEKiP-Gruppenlei-ter/innen des PEKiP e.V., Stand 2002).166

Die Kosten für das Prager Eltern-Kind-Programm werdenvon den Eltern aufgebracht167, wobei die Preise in Abhän-gigkeit vom Anbieter (privat oder trägerorganisiert)sowie vom Bundesland differieren.168 Insbesonderebildungsschwache Familien und Eltern mit Migrations-hintergrund werden mit diesem Programm, dessen finan-zielle Grundlage nicht öffentlich dauerhaft gesichert ist,unterdurchschnittlich erreicht (Rocholl 2003).

Baby- oder Säuglingsschwimmen (Frühschwimmen) ge-hört ebenfalls zu den Eltern-Kind-Gruppenangeboten. Eswird häufig von Schwimmvereinen, privaten Schwimm-schulen, Geburtshäusern oder Familienbildungsstättenangeboten. Da es keine Beschränkung für die Offerierungderartiger Angebote gibt, wird – um Konkurrenzvorteilezu erzielen – häufig mit gezielt geschultem Personalgeworben (sport-pädagogische oder medizinisch-thera-peutische Ausbildung, spezielle Zusatzqualifikationen im

164 Der PEKiP e.V. ist ein eigenständiger Verein und Träger der PEKiP-Gruppenleiter/innenausbildung. Entwickelt wurde das Konzept vondem Prager Psychologen Jaroslav Koch. Anfang der 1970er-Jahrewurde das Programm von Christa Ruppelt weiterentwickelt und inder Bundesrepublik eingeführt (Scherer 1999). Zurzeit sind etwa950 Mitglieder (in erster Linie PEKiP-Gruppenleiter/innen) imPEKiP-Verein registriert.

165 Der PEKiP e.V. bietet die Fortbildung zur Pekip-Gruppenleiter/in alsVeranstalter oder in Kooperation mit anderen Trägern der Erwachse-nenbildung an. Voraussetzung einer Tätigkeit als PEKiP-Gruppenlei-ter/in ist eine sozialpädagogische Grundausbildung und eine Zusatz-qualifikation, bei der man das PEKiP-Zertifikat erlangt. Die meistenGruppenleiter/innen arbeiten freiberuflich als Honorardozent/in, an-dere wiederum sind in Krankenhäusern angestellt.

166 Als Konzept eines gesundheitsbewussten Verhaltens wurde dasPEKiP-Programm eine Zeit lang von den Krankenkassen anerkannt.Mittlerweile müssen die Eltern für den Beitrag selber aufkommen.Der Preis eines PEKiP-Kurses hängt davon ab, ob er privat angebo-ten oder von einem Träger organisiert wird und in welchem Bundes-land er stattfindet.

167 Eine Zeit lang wurden die Kosten von den Krankenkassen übernom-men (Anerkennung aufgrund des Konzepts eines gesundheitsbewuss-ten Verhaltens).

168 Für Berlin liegt beispielsweise der Kursbeitrag für insgesamt zehnTreffen zwischen 60 Euro und 90 Euro.

Page 182: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 172 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Bereich Säuglingsschwimmen).169 Derartige Schwimm-programme erfreuen sich steigender Nachfrage; statis-tisch gesicherte Aussagen zu ihrer Nutzung liegen jedochnicht vor. Förderliche Wirkungen liegen im Bereich derBewegungsförderung, des Selbstvertrauens, der kogniti-ven Entwicklung, der positiven physiologischen Effekte(insbesondere auch bei körperbehinderten Kindern) sowieder Stärkung der Eltern-Kind-Bindung (Cherek 2000;Tonne 2001; Diem u. a. 1980; www.dlrg.de).

Nutzer von Angeboten der Familienbildung: Bei denHauptnutzern institutioneller Familienbildung handelt essich um eine relativ klar umgrenzte Gruppe (Smolka2003; Schiersmann u. a. 1998).170 Angebote der Famili-enbildung werden meist nur von jüngeren Müttern mitjüngeren Kindern wahrgenommen. In der Befragung vonSchiersmann u. a. waren 93 Prozent der Teilnehmer weib-lich, 40 Prozent zwischen 25 und 34 Jahre alt, und48 Prozent hatten Kinder unter 4 Jahren. Des Weiterenwerden überwiegend Mütter mit mittlerer und hoher Bil-dung von den Angeboten der Familienbildung erreicht.39 Prozent der Mütter hatten die mittlere Reife,11 Prozent die Fachhochschulreife und 30 Prozent dasAbitur (Schiersmann u. a. 1998).

Elternbriefe: Eine Qualifizierung von Eltern aller gesell-schaftlichen Schichten strebt der Arbeitskreis Neue Erzie-hung (ANE e.V.) mit seinen Elternbriefen an, die passendzum jeweiligen Alter des Kindes verschickt werden(www.arbeitskreis-neue-erziehung.de). Die insgesamt46 Briefe beziehen sich auf die Entwicklungsspanne zwi-schen der Geburt und dem 8. Lebensjahr des Kindes undbehandeln eine breite Palette von Themen der Kindesent-wicklung und Kindererziehung. Die Elternbriefe sind aufDeutsch und auf Türkisch erhältlich; sie werden den Fa-milien per Post zugesandt und sind auch im Internet ab-rufbar. Die Elternbriefe gibt es seit 30 Jahren. Inzwischenwurden 100 Mio. Briefe verschickt; pro Jahr beträgt dieAuflage rund 3,5 Mio. Laut Angaben des Vereins werdenjährlich etwa 800 000 Elternhäuser bundesweit erreicht;in Berlin erhalten rund 75 Prozent der Eltern Elternbriefe.Zusätzlich zu den Elternbriefen bietet der ANE e.V. Er-ziehungsberatung in verschiedenen Sprachen an und un-terhält auf lokaler Ebene als Datenbank das Berliner El-tern Netz (BEN) mit über 4 000 Angeboten für Eltern mitKindern im Alter bis 6 Jahre. Die Form der zeitnahen El-ternbildung durch Elternbriefe scheint gut angenommenzu werden. Eine Befragung von 508 Eltern in der StadtHof, in der Elternbriefe verschickt werden, ergab, dassder Versand als Einzelbrief zu einer fast doppelt so hohenAnzahl von Leserinnen und Lesern führte wie der ge-meinsame Versand aller Briefe (Textor 2003).

Angebote für sozial Benachteiligte und Familien mit Mi-grationshintergrund: In den letzten Jahren wurden in derFamilienbildung zahlreiche Projekte ins Leben gerufen,die die Erziehungskompetenz sozial benachteiligter Fa-milien sowie von Familien mit Migrationshintergrundstärken und die Chancen der Kinder auf eine erfolgreicheTeilhabe an der Gesellschaft erhöhen sollen. Es wird ver-sucht, die Selbsthilfe von Familien zu aktivieren und da-bei Erkenntnisse der Säuglingsforschung sowie der Ent-wicklungspsychologie in die praktische Arbeit mit denFamilien einzubeziehen.

Das aus den Niederlanden stammende Programm„Opstapje – Schritt für Schritt“, das in Bayern in den Jah-ren 2001 bis 2004 durchgeführt wurde, richtete sich an2- bis unter 4-jährige Kinder und deren Eltern. Schwer-punkt des Programms war es, durch wöchentliche Haus-besuche einer ausgebildeten Laienhelferin sozial benach-teiligte Familien und Migrantenfamilien zu erreichen, dieandere Angebote der Familienbildung oder der Erzie-hungshilfe nicht in Anspruch nahmen (Thrum u. a. 2003).Durch modellhaft vermittelte Eltern-Kind-Interaktionensollen Eltern zu förderlichen Verhaltensweisen im alltäg-lichen Zusammenleben mit ihren Kindern und zur Anre-gung der sprachlichen Entwicklung der Kinder angeleitetwerden. Zusätzlich lernten es die Kinder, durch die Teil-nahme der Familien an regelmäßigen Gruppentreffen mitanderen Kindern zu spielen und zu sprechen. Kinderpsy-chologische Tests bestätigen, dass sich Kinder, die sich zuBeginn des Programms zu beinahe 50 Prozent in ihrerEntwicklung unterhalb des Normbereichs befanden,durch die Teilnahme am Programm positiv in Richtungeines altersgerechten Entwicklungsstandes bewegt haben(ebd.). Eine verlässliche Evaluation des Projekts steht al-lerdings bis heute noch aus.

Ein weiteres aus den Niederlanden stammendes Pro-gramm, das „Rucksack-Programm“, wird in Nordrhein-Westfalen seit 1999 vom Arbeitskreis Interkulturelle Er-ziehung im Elementar- und Primarbereich (IKEEP) derRegionalen Arbeitsstelle für Ausländerfragen (RAA)durchgeführt (www.raa.de/RUCK SACK/rucksa03.html).Das Programm zur Sprachförderung und zur Elternbildungim Elementarbereich, das eine Laufzeit von neun Mona-ten hat, richtet sich an Mütter aus bildungsfernen Schich-ten mit Migrationshintergrund, deren Kinder eine Kinder-tageseinrichtung besuchen. Mütter, die sowohl ihreMuttersprache als auch die deutsche Sprache gut beherr-schen, werden zu Stadtteilmüttern bzw. Elternbegleiterin-nen ausgebildet. Sie leiten Gruppen von jeweils siebenbis zehn Müttern zu Sprach- und Entwicklungsaktivitätenmit ihren Kindern an und versuchen, sie in ihrer Erzie-hungskompetenz zu stärken. Parallel zu der Arbeit mitden Müttern wird in den Kindertageseinrichtungen dieSprachentwicklung der Kinder gefördert. Bis zum Juli2003 gab es in Nordrhein-Westfalen insgesamt 107 Ruck-sackgruppen in 19 Kommunen und Kreisen, die 1 200Mütter erreichten. Im Rahmen einer Evaluation wurdenin den Jahren 2000 bis 2002 in der Stadt Essen alle Pro-jektbeteiligten schriftlich zu den Auswirkungen des Pro-gramms befragt. Die Ergebnisse dieser Befragung zeigennach Aussage der RAA, dass sich das Verhältnis zwi-

169 Vgl. z. B. www.eltern-kind-schwimmen.de; www.delphistart.de;www.dlrg.de.members.aol.com/paedaqua/index.htm?http://members.aol.com/paedaqua/25jahre.htm. Die Kursleiter bzw. das Fachperso-nal sollten über vielfältige Methoden der Vermittlung verfügen, umeine positive körperliche, geistige und soziale Entwicklung zu erzie-len.

170 Schiersmann u. a. (1998) führten eine Befragung von 2 845 Teilneh-merinnen an Angeboten von Familienbildungsstätten durch, Smolka(2003) eine Telefonbefragung von rund 1 000 bayerischen Eltern mitminderjährigen Kindern.

Page 183: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 173 – Drucksache 15/6014

schen Müttern und Erzieherinnen positiv entwickelt unddie Sprachkompetenz der Kinder sowohl in der Mutter-sprache als auch in der deutschen Sprache sich verbesserthat.

Der Deutsche Kinderschutzbund führt als präventives El-ternbildungsangebot Kurse mit dem Titel „Starke Eltern –Starke Kinder“ durch (www.starkeeltern-starkekinder.de).Die Eltern sollen darin bestärkt werden, ihre Rolle undihre Verantwortung als Erziehende wahrzunehmen, dieEntwicklung ihrer Kinder zu begleiten und auf Gewalt zuverzichten. Die Kurse umfassen acht bis zehn Kurseinhei-ten und werden in Gruppen von acht bis 16 teilnehmen-den Eltern durchgeführt. Eltern aus Elternkursen(159 Mütter und 42 Väter) sowie Eltern einer Kontroll-gruppe (106 Mütter und 8 Väter) wurden im Rahmen ei-ner Evaluation zu ihren Erziehungseinstellungen sowiezur Häufigkeit des Auftretens eines bestimmten Erzie-hungsverhaltens befragt (Tschöpe-Scheffler/Niermann2002). Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Eltern-kurse konnten deutlich unterscheiden, welche ihrer Erzie-hungsmaßnahmen als „Gewalt“ einzustufen waren undsomit einen Eingriff in die Integrität des Kindes darstell-ten. Kurseltern versuchten weitgehend, auf entwicklungs-hemmendes Erziehungsverhalten zu verzichten und statt-dessen entwicklungsfördernde Erziehungsmaßnahmeneinzusetzen. „Durch ein erweitertes Verhaltensrepertoireund die Kenntnis von den Entwicklungsbedürfnissen ei-nes Kindes sind die Eltern zumindest theoretisch in derLage, über alternative Möglichkeiten nachzudenken unddiese teilweise auch schon umzusetzen“ (ebd., S. 121).Häufiger fiel es den Eltern jedoch schwer, ihre neu ge-wonnenen Erkenntnisse auch im Erziehungsalltag zu rea-lisieren, weshalb sie selbst eine Fortsetzung des Kursesoder zumindest eine Fortführung des Austauschs mit an-deren Eltern wünschten.

Neben diesen beispielhaft ausgeführten Angeboten derFamilienbildung, in denen geschulte Laien eingesetztwerden, ist auch die Familienselbsthilfe in Form der„Mütterzentren“ als Angebot der staatlich subventionier-ten Familienbildung anzusehen (DJI 1999). Mütterzen-tren sind offene Treffpunkte für Mütter und Kinder imStadtteil oder in der Gemeinde. Mittlerweile gibt es etwa400 Mütterzentren in Deutschland, die etwa 100 000 bis150 000 Familien pro Jahr erreichen (Gerzer-Sass 2000).Ziel der Mütterzentren ist es, Familien aus unterschiedli-chen sozialen und kulturellen Lebensräumen zu erreichen,die nachbarschaftlich orientierte soziale Infrastruktur zufördern, der Isolation vorzubeugen und die Lebensquali-tät von Familien zu stärken.

Eine systematische Überprüfung der Effekte solcher An-gebote und Programme steht in Deutschland noch aus.Ein Beispiel für die systematische Überprüfung von Inter-ventionen ist die Erlangen-Nürnberger Entwicklungs-und Präventionsstudie (Lösel u. a. 2004). Hier werden so-wohl die Entstehung und die Verfestigung von Verhaltens-problemen von Kindern im Kindergartenalter (3- bis un-ter 6-Jährige) untersucht als auch Präventionsmaßnahmendurchgeführt und evaluiert, die zur Verbesserung der Er-ziehungskompetenz der Eltern und der sozialen Kompe-

tenz der Kinder beitragen sollen. Die Programme für Kin-der und Eltern sind niedrigschwellig angelegt. ErsteErgebnisse zeigen Zusammenhänge zwischen kindlichenVerhaltensproblemen und dem Erziehungsverhalten derEltern. Sowohl für das Kindertraining zur Förderung dersozialen Kompetenz als auch für das Elternprogramm zurFörderung der Erziehungskompetenz konnten signifi-kante Effekte nachgewiesen werden. Die besten Effektezeigten sich bei der Kombination von Kinder- und Eltern-training. Des Weiteren profitierten jene Kinder am meis-ten von den Präventionsprogrammen, die zuvor größereVerhaltensprobleme gehabt hatten.

Um Familienbildung in Deutschland als Selbstverständ-lichkeit zu etablieren, sind niedrigschwellige Angebotevonnöten, in denen Eltern nicht von Erziehungsexpertenbelehrt werden, sondern sich selbst als Experten der Er-ziehung ihrer Kinder angenommen fühlen bzw. sich ge-genseitig beraten. Um insbesondere sozial benachteiligteFamilien zu erreichen, scheint es eher von Vorteil zu sein,Eltern in ihren jeweiligen Lebenszusammenhängen zuHause anzusprechen statt zu erwarten, dass diese Fami-lien selbst aktiv werden und Bildungsangebote wahrneh-men.

(b) Integrierte Bildungs- und Betreuungsangebote

Um familiale Risikofaktoren zu minimieren sowie dieVermittlung und die Aneignung sozialen und kulturellenKapitals in den Familien zu erleichtern, bedarf es eineröffentlichen Unterstützung von Familien, die sowohl aufdie Beratung der Eltern als auch auf Bildung, Betreuungund Erziehung der Kinder gerichtet ist. „Dabei bildenMaßnahmen zur Verbesserung der Erziehungskompetenzder Eltern durch Bildungs- und Betreuungsangebote in ei-nem Verbund, der die Vielfalt der Beratungsdienste inte-griert, einen wichtigen Schwerpunkt“ (BMFSFJ 2002a,S. 37).

Ein in Großbritannien entwickeltes Modell richtet sich ansozial benachteiligte Familien (Hebenstreit-Müller 2002).Die bekannteste Einrichtung, die nach diesem Modell ar-beitet, ist das „Pen Green Centre for Under Fives andtheir Families“ in Corby, einer ehemaligen Stahlarbeiter-stadt in Mittelengland mit besonders hohem Anteil vonArbeitslosen und Schulabbrechern. Unterstützt von For-schungsprojekten einiger englischer Universitäten, wurdeein Familienzentrum installiert, das Formen der Beobach-tung und der Begleitung kindlicher Entwicklungsschritteentwickelte. Eltern aller Schichten und aller ethnischenMinderheiten werden in die Förderung ihrer Kinder direktmit einbezogen, und es werden gemeinsame, auf die Kin-der bezogene Förderpläne aufgestellt. Darüber hinausbietet das Pen Green Centre eine Vielzahl von Angebotenfür Eltern an, z. B. Beratungs- und Bildungsangebote zurStärkung der Erziehungskompetenz sowie arbeitsmarkt-bezogene Fortbildungen, die zum Teil auf den erstenBlick nichts mit der Bildung der Kindern zu tun haben,die jedoch darauf abzielen, die Eltern in ihrem unmittel-baren Lebenszusammenhang zu stärken und ihnen denErwerb zusätzlicher Qualifikationen zu ermöglichen.

Page 184: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 174 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Ausgereifte Einrichtungen im Sinne der „Early Excel-lence Centres“ sind in Deutschland nicht anzutreffen; vie-les ist jedoch laut einer Recherche des Deutschen Ju-gendinstituts zu Häusern für Kinder und Familien(Peucker/Riedel 2004) im Entstehen begriffen. „Im Zugeder Erhebung zeigte sich auch deutlich, dass viele Ideenzwar sowohl auf lokaler Ebene als auch bei Einrichtun-gen, Trägern und Erzieherinnen und Erziehern vorhandensind, deren Umsetzung bisher allerdings an den fehlendenfinanziellen, personellen und strukturellen Voraussetzun-gen scheitert“ (ebd., S. 8).

Die von Peucker und Riedel (2004) recherchierten120 Häuser für Kinder und Familien in Deutschland las-sen sich folgendermaßen spezifizieren:

– Kinderbetreuungsangebote für Kinder bis 12 Jahre,mit Übermittagbetreuung, Hausaufgabenbetreuung,Jugendtreff und integrierte heilpädagogische Ange-bote;

– offene, niedrigschwellige Angebote wie Elterncafé,Familientreff, Gesprächskreise, Elternfrühstück, El-tern-Kind-Gruppen und Freizeitangebote;

– stärker spezialisierte, professionelle Angebote, die oftin Kooperation mit externen Stellen organisiert sind,z. B. Elternkurse der Familienbildung, Deutschkursefür ausländische Frauen und Erziehungsberatung;

– für den Arbeitsmarkt relevante Angebote wie z. B.Qualifizierungsmaßnahmen, Computerkurse und Be-werbungstraining.

Die Finanzierung der familienorientierten Angebote istsehr unterschiedlich, und nur ein kleiner Teil der Ange-bote kann durch die Kindertageseinrichtung allein finan-ziert werden. Für die Qualifizierung des Personals und fürzusätzliches Personal, für Koordinationsstellen, Räum-lichkeiten und Sachkosten werden in der Regel weitereMittel benötigt. Relativ häufig kommt es daher zu einerMischfinanzierung aus verschiedenen Förderprogrammendes Bundes und der Länder, aus kommunalen Beiträgen,Sponsorengeldern, ABM, Leistungen von Zivildienstleis-tenden und Ähnlichem. „Zusammenfassend lässt sich sa-gen, dass es bisher keine etablierten Finanzierungswegezur Finanzierung der Durchführung von familienorien-tierten Angeboten gibt. Von fast allen befragten Einrich-tungen wurde daher die dauerhafte Finanzierung auch alsHauptproblem angesprochen“ (Peucker/Riedel 2004,S. 40).

Zusammenfassung: Grundsätzlich ist von der Annahmeauszugehen, dass das Interaktionssystem Familie dazu inder Lage ist, dem Kind im 1. Lebensjahr jene Bildungs-möglichkeiten zur Verfügung zu stellen, die es braucht,um soziale Anschlussfähigkeit und kulturelle Teilhabefä-higkeit zu erwerben. Die für die Kinder zentrale Bil-dungswelt der Familie bleibt erhalten, wenn sie zusätzli-che Bildungsgelegenheiten wahrnehmen und dasPotenzial weiterer Lernwelten oder anderer Bildungsortenutzen. Ab dem 2., spätestens jedoch ab dem 3. Lebens-jahr sollte das Kind die Möglichkeit erhalten, seinen Er-

fahrungsraum durch regelmäßige soziale Kontakte zu Er-wachsenen außerhalb der eigenen Familie und zugleichaltrigen Kindern zu erweitern. Die gesellschaftlicheVerantwortung für die Familie liegt in der finanziellenAbsicherung, besonders im 1. Lebensjahr des Kindes,und darin, den Müttern die Rückkehr ins Erwerbsleben zusichern. Die gegenwärtigen Regelungen führen dazu, dassjunge Eltern, selbst wenn sie die auf das 1. Lebensjahrdes Kindes konzentrierte Budgetvariante des Erziehungs-geldes in Anspruch nehmen, in ihrem Nettoäquivalenz-einkommen gegenüber der vorgeburtlichen Situationdeutlich zurückfallen. Damit Eltern ihre wichtige Funk-tion für das Kind speziell im 1. Lebensjahr wahrnehmen,sollte dieses Jahr für sie finanziell attraktiv gestaltet sein.

Die gesellschaftliche Verantwortung besteht aber auchdarin, die Eltern in ihrer Erziehungskompetenz für dasfrühe Kindesalter zu stärken sowie ihnen diesbezüglicheBildungs- und Unterstützungsprogramme bereitzustel-len, die zu einer stärkeren Reflexion ihres Erziehungsver-haltens und gegebenenfalls auch zu einer Modifikationihrer Erziehungspraktiken führen. Dies gilt insbesonderefür Eltern, die, häufig bedingt durch ihre Lebenslage, zueher ungünstigen Erziehungs- und Interaktionsmusternneigen und ihren Kindern nicht in ausreichendem Maßeförderliche Bildungsbedingungen bieten können.

Das gegenwärtig noch geringe Angebot an Eltern- undFamilienbildung im Rahmen von Familienbildungsstättenerreicht nur einen kleinen Teil der jungen Eltern (etwa5 Prozent), die ohnehin zu einer der Mittelschicht zuzu-rechnenden und für Fragen der frühen Bildung und Erzie-hung bereits aufgeschlossenen Elternpopulation gehören.

Programme, die sozial benachteiligte Eltern, auch Fami-lien mit Migrationshintergrund, früh zu erreichen und zuunterstützen versuchen, bzw. Kindertageseinrichtungen,die speziell diese Zielgruppen ansprechen wollen, stehennoch in den Anfängen. Die gesellschaftliche Verantwor-tung für junge Kinder und ihre Familien erfordert densystematischen Aufbau niedrigschwelliger Unterstüt-zungssysteme der Elternbildung. Dabei sollte auch überzielgruppenadäquate Anreizsysteme nachgedacht wer-den.

Namentlich im Bereich der Eltern- und Familienbildungbedarf es umfassender Analysen dazu, welche Angebots-formen vorhanden sind und von welchen Eltern sie ge-nutzt werden. Der Erfolg von Maßnahmen der Eltern-und Familienbildung wird bisher weitgehend durchSelbstberichte der Beteiligten belegt. Zur genaueren Be-stimmung der Effekte dieser Maßnahmen besteht daherForschungs- und Evaluationsbedarf.

5.3 Bildungsorte in öffentlicher Verantwortung

5.3.1 Rechtliche Regelungen auf Bundes- und Länderebene

Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern im vor-schulischen Alter außerhalb der Herkunftsfamilie ist imSGB VIII sowie in den Kindertagesbetreuungsgesetzen

Page 185: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 175 – Drucksache 15/6014

der Länder geregelt.171 Diese stellen im Regelfall landes-spezifische Ausführungsgesetze mit differenzierendenBestimmungen zum SGB VIII als Rahmengesetz dar.Teile des SGB VIII (§§ 22 bis 24 und § 74) wurden unterder Bezeichnung „Tagesbetreuungsausbaugesetz“ (TAG)novelliert und sind am 1. Januar 2005 in Kraft getreten.Insofern gibt es auf Bundesebene eine neue rechtlicheSituation.172 Die aktuellen Ausführungsgesetze auf Län-derebene sind jedoch noch auf die bundesrechtlichenRegelungen vor der Novellierung bezogen. Diese Gege-benheit ist bei den folgenden Ausführungen zu berück-sichtigen.

Der Bundesgesetzgeber unterscheidet nach dem TAGzwei Arten von Orten, an denen Bildung, Betreuung undErziehung von Kindern im vorschulischen Alter außer-halb der Familie in öffentlicher Verantwortung stattfindet:Tageseinrichtungen und Kindertagespflege. Mit dem am1. Januar 2005 in Kraft getretenen TAG wurde vom Bun-desgesetzgeber eine Gleichstellung von Tageseinrichtun-gen und Kindertagespflege in ihrem Auftrag vorgenom-men. Der breite Auftrag wird als Förderauftragbeschrieben und umfasst Bildung, Betreuung und Erzie-hung (§ 22 SGB VIII in der Fassung des TAG). Danachsollen Tageseinrichtungen für Kinder und Kindertages-pflege

– die Entwicklung des Kindes zu einer eigenverantwort-lichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit för-dern,

– die Erziehung und die Bildung in der Familie unter-stützen,

– den Eltern dabei helfen, Erwerbstätigkeit und Kinder-erziehung besser miteinander vereinbaren zu können.

Präzisierend erstreckt sich der Förderauftrag auf die so-ziale, emotionale, körperliche und geistige Entwicklungdes Kindes sowie die Vermittlung orientierender Werteund Regeln; er soll sich dabei an Alter und Entwicklungs-stand sowie den sprachlichen und sonstigen Fähigkeitendes einzelnen Kindes, seiner Lebenssituation und seinerethnischen Herkunft sowie seinen Interessen und Bedürf-nissen orientieren (§ 22 Abs. 3 SGB VIII).

Tageseinrichtungen für Kinder werden als Einrichtungendefiniert, in denen sich Kinder für einen Teil des Tagesoder ganztags aufhalten. Die Zusammenarbeit mit den El-tern und deren Beteiligung an den Entscheidungen sowieden wesentlichen Angelegenheiten von Erziehung, Bil-dung und Betreuung ist ebenfalls gesetzlich verankert(§ 22a SGB VIII). Die Träger von Einrichtungen, in de-nen Kinder ganztägig oder für einen Teil des Tages be-

treut werden, bedürfen seit der Reform des Kinder- undJugendhilferechts im Jahr 1990 für den Betrieb der Ein-richtung einer Erlaubnis. Diese wird vom überörtlichenTräger der Jugendhilfe erteilt und soll sicherstellen, dassdie Betreuung von Kindern durch geeignete Kräfte ge-schieht und dass das Wohl des Kindes nicht gefährdet ist(§ 45 SGB VIII).

Den gesetzlichen Auftrag zu Bildung, Betreuung und Er-ziehung haben Kindertageseinrichtungen bereits seit1990. Zur genaueren Bestimmung des Bildungsauftragsgab es im SGB VIII bis Ende 2004 keine näheren Anga-ben. Der Bundesgesetzgeber bestimmte lediglich, dasssich das Leistungsangebot von Kindertageseinrichtungenpädagogisch und organisatorisch an den Bedürfnissen derKinder und ihrer Familien orientieren sollte.

Von den Bundesländern wurde der allgemeine Bildungs-auftrag in ihren Kinderbetreuungsgesetzen verankert. Al-lerdings ist er, was die Zielgruppe anbelangt, unterschied-lich weit ausgelegt. In den Ländern Bayern, Bremen,Hessen und Saarland gilt das Kinderbetreuungsgesetz fürKinder von 3 Jahren bis zum Schuleintritt, die in institutio-nellen Einrichtungen betreut werden. Für Kinder im Krip-penalter gelten andere gesetzliche Regelungen, Verord-nungen und Ausführungsvorschriften, in denen jedochnicht von einem Bildungsauftrag gesprochen wird. Dem-gegenüber schließen die Kinderbetreuungsgesetze in denneuen Bundesländern den Bildungsauftrag für Kindergar-tenkinder wie auch für Krippenkinder ein. Gleiches trifftfür Berlin, Hamburg, Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen undRheinland-Pfalz zu (www.mbjs.brandenburg.de). Nachder Einführung des TAG ist zu erwarten, dass der Bil-dungsauftrag in allen Ausführungsgesetzen der Länderauch auf unter 3 Jahre alte Kinder ausgeweitet wird.

Seit 1996, mit einer Übergangsregelung bis zum 31. De-zember 1998, haben Kinder vom vollendeten 3. Lebens-jahr bis zum Schuleintritt einen Rechtsanspruch auf einenKindergartenplatz (§ 24 Abs. 1 SGB VIII). Der Rechtsan-spruch auf einen Kindergartenplatz wird in den Ländernmeistens als Anspruch auf fünf Stunden am Tag bzw. alsAnspruch auf den herkömmlichen Halbtagskindergarten-platz ausgelegt. Einzelne Länder gehen über die bundes-gesetzliche Regelung des Rechtsanspruchs hinaus (vgl.Abb. 5.1).

Nach dem TAG haben die Träger der öffentlichen Ju-gendhilfe darauf hinzuwirken, dass neben Plätzen, diedem Rechtsanspruch unterliegen, ein bedarfsgerechtesAngebot an Ganztagsplätzen oder ergänzender Förderungin Kindertagespflege (§ 24 Abs. 1 SGB VIII) und an Plät-zen für Kinder unter drei Jahren und im Schulalter (§ 24Abs. 2 SGB VIII) zur Verfügung steht. Der Gesetzgebersieht einen Bedarf an Plätzen in Tageseinrichtungen undin Kindertagespflege für Kinder unter drei Jahren dannals gegeben, wenn die Eltern einer Erwerbstätigkeit nach-gehen, sich in einer beruflichen Aus- oder Weiterbil-dungsmaßnahme befinden oder wenn ohne diese Leistungeine dem Wohl des Kindes entsprechende Förderungnicht gewährleistet ist (§ 24 Abs. 3 SGB VIII). Unter Be-rücksichtigung dieser Kriterien wird damit gerechnet,

171 Die Gesetze haben jeweils landesspezifische Bezeichnungen. Solautet das entsprechende Gesetz in Thüringen beispielsweise „Kin-dertageseinrichtungsgesetz“, in Berlin „Kindertagesbetreuungsge-setz“ und in Hessen „Kindergartengesetz“. Eine Übersicht über dieKinderbetreuungsgesetze der Länder findet sich unterwww.mbjs.brandenburg.de.

172 Zu beachten ist darüber hinaus, dass gegenwärtig weitere Novellie-rungskontroversen zum SGB VIII zwischen Bundestag und Bundes-ratsmehrheit im Gange sind.

Page 186: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 176 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

A b b i l d u n g 5.1

Regelungen zum Rechtsanspruch in den Bundesländern, die über das SGB VIII hinausgehen (Stand: Dezember 2004)

Berlin Kann-Regelung für 2- bis unter 3-jährige Kinder.

Brandenburg

Unbedingter Rechtsanspruch für Kinder vom vollendeten dritten Lebensjahr bis zum Übergang in die fünfte Schuljahrgangsstufe, mit einem Betreuungsumfang von sechs Stunden täglich im Vorschulalter und vier Stunden täglich im Schulalter.

Bedingter Rechtsanspruch für jüngere und ältere Kinder sowie längere Betreuungs-zeiten, wenn es die familiäre Situation erforderlich macht.

Sachsen-Anhalt

Rechtsanspruch ab der Geburt bis zur Versetzung in den siebten Schuljahrgang, mit einem Betreuungsumfang von fünf Stunden täglich oder 25 Stunden wöchentlich bis zum Schuleintritt. Ein Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz besteht bei ei-nem Betreuungsbedarf aufgrund von Erwerbsarbeit, Aus-, Fort- und Weiterbildung der Eltern oder der Teilnahme an Maßnahmen der Arbeitsförderung.

Thüringen Rechtsanspruch besteht für Kinder zwischen 2 Jahren und 6 Monaten sowie für den Schuleintritt.

dass in den alten Bundesländern 230 000 Plätze zuschaffen sind (Regierungsentwurf, Bundestagsdrucksa-che 15/3676, S. 45). Damit wird eine Versorgungsquotevon durchschnittlich 17 Prozent erreicht, die damit leichtunter den ursprünglich politisch anvisierten 20 Prozentliegt.173 Die neue Gesetzeslage verlangt von den kommu-nalen Gebietskörperschaften in den westlichen Bundes-ländern einen Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder un-ter 3 Jahren und soll in den östlichen Bundesländern dasbestehende Angebot sichern und weiterentwickeln (vgl.5.2.3.3). Das bedarfsgerechte Angebot an Plätzen soll vonden Trägern der öffentlichen Jugendhilfe in den westli-chen Bundesländern spätestens ab dem 1. Oktober 2010erfüllt sein. Für die Ausbauperiode schreibt das Gesetzeine verbindliche Ausbauplanung und eine jährliche Bi-lanzierung vor (§ 24a SGB VIII).

Kindertagespflege soll von einer geeigneten Tagespflege-person in ihrem Haushalt oder im Haushalt der Personen-sorgeberechtigten geleistet werden (§ 22 Abs. 1 SGBVIII). Für die Kindertagespflege gelten dieselben Grund-sätze der Förderung wie für Tageseinrichtungen. Die spe-zifischen Regelungen für die Kindertagespflege (§ 23SGB VIII) umfassen die Vermittlung einer geeigneten Ta-gespflegeperson, deren fachliche Beratung, Begleitungund weitere Qualifizierung sowie eine laufende Geldleis-tung. Zur Eignung von Tagespflegepersonen sind im TAG(§ 23 Abs. 3 SGB VIII) erstmals Kriterien genannt, diesich auf die Persönlichkeit, die Sachkompetenz und Be-reitschaft zur Kooperation der Tagespflegeperson mit denErziehungsberechtigten beziehen. Das Vorhandenseinkindgerechter Räume im Haushalt der Tagespflegepersonbzw. die kindgemäße Ausstattung bei angemieteten Räu-

men ist im Gesetz ebenfalls vorgeschrieben. Zur Siche-rung der Betreuungskontinuität sollen Ausfallzeiten einerTagespflegeperson abgedeckt und Zusammenschlüssevon Tagespflegepersonen unterstützt werden (§ 23 Abs. 4SGB VIII).

Diese Regelungen beziehen sich auf die vom Jugendamtvermittelte und finanzierte Kindertagespflege. Danebenwird es auch künftig die privat vermittelte und finanzierteKindertagespflege geben. Bisher benötigen Tagespflege-personen, die nicht vom Jugendamt vermittelt (und finan-ziert) werden, zwar eine Pflegeerlaubnis, jedoch erst abdem vierten Tageskind (§ 44 SGB VIII). Diese Regelungwird von Experten kritisch bewertet im Hinblick auf Ent-wicklung und Qualitätssicherung der Kindertagespflegeund soll im zustimmungspflichtigen Teil des TAG, dem sogenannten „Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungs-gesetz“ (KICK)174, dahingehend verändert werden, dasseine Pflegeerlaubnis bereits mit dem ersten Tageskind er-forderlich ist (Änderungsantrag der SPD und der Grünen –Deutscher Bundestag, Ausschuss für Familie, Senioren,Frauen und Jugend, Ausschuss-Drucksache 15/12/444).

Die Ausführungsgesetze und die Bestimmungen der Län-der bezüglich der Tagespflege konkretisieren die Bestim-mungen des SGB VIII nach Inhalt und Umfang. Sie be-finden sich zurzeit in einer Phase der Modifikation(www.dji.de/kindertagespflege). Gegenwärtig gibt es hin-sichtlich des Bildungsauftrags der Kindertagespflegeerhebliche Unterschiede. Nicht überall findet die vomBundesgesetzgeber postulierte Gleichrangigkeit von in-stitutioneller Tagesbetreuung und Tagespflege in denrechtlichen Bestimmungen der Länder Berücksichtigung.In sieben Bundesländern (Baden-Württemberg, Branden-

173 Diese Versorgungsquote wurde bereits 1992 als erforderlich betrach-tet (BMFSFJ 1992). 174 Zum KICK vgl. Glossar.

Page 187: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 177 – Drucksache 15/6014

burg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen,Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein) wird die Kinderta-gespflege explizit durch das jeweilige Kinderbetreuungs-gesetz als landesspezifisches Ausführungsgesetz in dengesetzlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag einbezo-gen. In zwei Ländern (Berlin und Rheinland-Pfalz) wirddie Kindertagespflege ebenfalls im Kinderbetreuungsge-setz geregelt, woraus sich schließen lässt, dass sich dergesetzliche Bildungsauftrag auch auf die Tagespflege be-zieht. In sieben anderen Bundesländern (Bayern, Ham-burg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Saar-land, Thüringen) nehmen die Ausführungsgesetze bislangkeinen Bezug auf die Tagespflege bzw. ist ein Bildungs-auftrag der Tagespflege nicht formuliert. Die hier vor-findbaren Regelungen in Form von Richtlinien, Verord-nungen oder Empfehlungen sind rechtlich niederrangig;auch wird die Aufgabe der Förderung des Kindes durchBildung, Betreuung und Erziehung zumeist nicht konse-quent aufgegriffen. Damit droht sich der vom Bundesge-setzgeber auch bisher schon intendierte Bildungsanspruchfür Kinder in der Tagespflege in den rechtlichen Regelun-gen von Ländern zu verflüchtigen (Münder u. a. 1998;Lakies 1996). Es ist zu erwarten, dass die diesbezüglichenRegelungen des TAG in Novellierungen der entsprechen-den Ausführungsgesetze der Länder ihren Niederschlagfinden werden.

5.3.2 TagespflegeMit dem Begriff „Kindertagespflege“ oder auch kurz „Ta-gespflege“ werden alle Formen von Bildung, Betreuungund Erziehung nach § 23 SGB VIII bezeichnet175, in de-nen Kinder für einen Teil des Tages oder ganztags von ei-ner Tagespflegeperson betreut werden. Für die Tages-pflege sind folgende Merkmale charakteristisch:

– „Das Kind wird von einer Person betreut, die nichtzum engeren Haushalt der Eltern gehört.

– Die Betreuung erfolgt gegen Entgelt.

– Die Betreuung erfolgt regelmäßig; der Stundenumfangder Betreuung kann dabei von wenigen Stunden an ei-nem Tag pro Woche bis zu zehn Stunden täglich rei-chen.

– Ort der Betreuung kann der Haushalt der Tagespflege-person oder der Haushalt der Eltern sein; die Betreu-ung kann aber auch in angemieteten Räumen stattfin-den.

– Die Betreuung ist prinzipiell auf längere Zeit angelegt.

– In einer Sonderform der Tagespflege werden Tages-kinder betreut, deren Wohl in ihrer eigenen Familienicht gesichert ist“ (Jurczyk u. a. 2004, S. 55).

Neben dieser Form der „öffentlichen“ Tagespflege exis-tiert die privat organisierte Tagespflege, häufig als „infor-melle Tagespflege“ bezeichnet, für die die meisten dervorgenannten Merkmale ebenfalls zutreffen. Die privat

organisierte Tagespflege ist legal und (wie die öffentli-che) erlaubnisfrei, sofern nicht mehr als drei Tagespflege-kinder betreut werden.

Als familiennahes System der Kinderbetreuung liegen diePotenziale von Tagespflege in einer familienähnlichenBetreuungskonstellation in kleinen Gruppen, mit hoherFlexibilität, hinreichend Zeit und individueller Zuwen-dung in einem altersgemäß gestalteten Alltag, der überdas eigene familiale Umfeld des Kindes hinausgeht. Derquantitative Ausbau und die qualitative Weiterentwick-lung der Kindertagespflege gehören zu den zentralenAufgaben, die im TAG festgelegt sind.

5.3.2.1 Formen und Träger von Tagespflege-angeboten

Die Tagespflege erweist sich in der Praxis als eine ausge-sprochen heterogene Betreuungsform. Dies gilt sowohlhinsichtlich der Art und Weise, wie Tagespflegeverhält-nisse zustande kommen, als auch hinsichtlich der For-men, in denen sie realisiert werden, aber auch im Hin-blick auf unterschiedliche Trägerstrukturen.

(a) Formen von Tagespflegeangeboten

Die verschiedenen Formen der Tagespflege lassen sich indrei Dimensionen unterscheiden: (1) rechtlicher Statusder Tagespflege: öffentliche vs. informelle Tagespflege;(2) Ort der Tagespflege: Haushalt der Tagespflegepersonvs. Haushalt der Eltern des Kindes; (3) Größe der Tages-pflegestelle: Tagespflege mit bis zu drei Kindern (erlaub-nisfrei) vs. Großtagespflegestellen.

(1) Rechtlicher Status der Tagespflege

Öffentliche Tagespflege: Bei der Tagespflege handelt essich dann um ein öffentliches Kinderbetreuungsangebot,wenn sie nach den Vorgaben §§ 22-24 SGB VIII von ei-nem Träger der öffentlichen oder der freien Jugendhilfevermittelt, ausgestaltet und fachlich begleitet sowie teil-weise auch öffentlich finanziert wird.

Die Tagespflegepersonen sollen „sich durch ihre Persön-lichkeit, Sachkompetenz und Kooperationsbereitschaftmit Erziehungsberechtigten und anderen Tagespflegeper-sonen auszeichnen und über geeignete Räumlichkeitenverfügen“. Nachgewiesene „vertiefte Kenntnisse hin-sichtlich der Anforderungen der Kindertagespflege“ ge-hören ebenfalls zum Anforderungsprofil (§ 23 Abs. 3SGB VIII). Die Tagespflegepersonen sollen eine laufendeGeldleistung für ihre Tätigkeit erhalten, die die Erstattungangemessener Kosten für den Sachaufwand, einen ange-messenen Beitrag zur Anerkennung der Förderungsleis-tung für die Kinder und die Erstattung nachgewiesenerBeiträge für eine Unfallversicherung „sowie die hälftigeErstattung der Aufwendungen zu einer angemessenen Al-terssicherung der Tagespflegeperson“ einschließt. Soweitdas jeweilige Landesrecht nicht anderes vorsieht, wird dieHöhe der laufenden Geldleistung vom Träger der öffentli-chen Jugendhilfe festgelegt“ (§ 23 Abs. 2 SGB VIII).

175 Im Folgenden beziehen sich alle Angaben zum SGB VIII auf die ge-änderte Fassung nach dem Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG).

Page 188: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 178 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Informelle Tagespflege: Kindertagespflege existiert aberauch als Form der Kinderbetreuung, die ausschließlichprivat organisiert und finanziert wird und auf dem „freienMarkt“ oder im Rahmen privater Netzwerke zustandekommt (Jurczyk u. a. 2004). Fachliche und finanzielleBeteiligung der öffentlichen Jugendhilfe sind hier nichtgegeben. Diese Form der privat organisierten, informel-len Tagespflege ist legal. Erst wenn mehr als drei Kinderin Tagespflege betreut werden, benötigt die Tagespflege-person eine Erlaubnis durch den örtlichen Träger der Ju-gendhilfe (§ 44 SGB VIII).176

Die informelle Tagespflege kommt häufig über Anzeigenund sonstige Vermittlungen zustande und überschneidetsich zum Teil mit den halbprivaten Netzwerken von Fa-milien (DJI 2002). Aktuelle Daten der DJI-Kinderbetreu-ungsstudie 2005 besagen, dass nur der kleinere Teil derTagespflegeverhältnisse öffentlich organisiert und regu-liert ist; auf zwei Kinder im Alter bis sechs Jahre in öf-fentlicher Tagespflege kommen drei Kinder in informel-ler Tagespflege.

(2) Ort der Tagespflege

Formen der Kindertagespflege können auch nach dem Ortunterschieden werden, an dem die Tagespflege stattfindet.Tagespflege, ob privat, ob informell organisiert, findetmeist in der Wohnung der „Tagesmutter“ statt, unabhän-gig davon, ob es sich dabei um ein öffentlich anerkanntesoder um ein privat organisiertes und ausschließlich privatfinanziertes Tagespflegeverhältnis handelt.177 Die Tages-mütter nehmen für gewöhnlich bis zu drei Kinder auf,auch aus mehreren Familien. Sie sind vom Arbeitsstatusher im Regelfall selbstständig. Die Klientel dieser Tages-pflegepersonen ist unterschiedlich. Es finden sich sowohlTagesmütter, die ihre Tätigkeit mit einer Langzeitpers-pektive ausüben, als auch Frauen mit eigenem jungemKind (oder Kindern), die – teilweise im Rahmen von El-ternzeit – die Tagespflege als Übergangstätigkeit bis zurRückkehr in den früheren Beruf betrachten. Ein Nachteilfür die letztgenannte Gruppe wird darin gesehen, dass oftnur wenig pädagogische Erfahrung gegeben ist und dieTagespflegeverhältnisse instabil sind.

Die Betreuung der Kinder kann aber auch durch eine Ta-gespflegeperson im Haushalt der Eltern („Kinderfrau“bzw. „Kinderbetreuerin“) erfolgen. Die Betreuung vonKindern im Haushalt der Eltern ist zumeist mit einem an-deren Arbeitsstatus der Tagespflegepersonen verbunden.Als „Kinderfrauen“ oder „Kinderbetreuerinnen“ sind sie,anders als die selbstständigen Tagesmütter, in der Regelausschließlich von den Eltern angestellt und finanziert

und lediglich für die Kinder einer Familie zuständig. DieTätigkeit als Kinderbetreuerin im Haushalt der Elternwird meistens von Frauen mit größeren Kindern oderohne Kinder ausgeführt. Die Arbeitsverhältnisse der Kin-derbetreuerinnen können im Rahmen von Minijobs oderals sozialversicherungspflichtige Beschäftigung abge-schlossen werden. Die Dunkelziffer hinsichtlich illegalerBeschäftigungsverhältnisse dürfte hoch sein. Kinderbe-treuerinnen in solchen Beschäftigungsverhältnissen sindweisungsgebunden; eine klare Abgrenzung ihrer Tätig-keit zu Haushaltsarbeiten ist oft nicht gegeben. Die finan-ziellen Aufwendungen für die Eltern sind bei dieser Formder Tagespflege in der Regel höher als bei anderen For-men.

Außer im Haushalt der Tagespflegeperson oder im Haus-halt der Eltern des Kindes kann die Tagespflege auch ineigens für diesen Zweck angemieteten Räumen erfolgen.Dieser Ort der Tagespflege ist eher selten und zumeist aufdie „Tagesgroßpflegestelle“ beschränkt.

(3) Größe der Tagespflegestelle

In den meisten Tagespflegestellen werden nicht mehr alsdrei fremde Kinder betreut. Die Tagespflegestellen ope-rieren damit in dem quantitativen Rahmen, der vom Bun-desgesetzgeber als erlaubnisfrei definiert ist. Diesen Ta-gespflegestellen mit bis zu drei Kindern steht die sogenannte „Tagesgroßpflege“ gegenüber.

Der Begriff „Tagesgroßpflege“ wird in Deutschland aller-dings nicht einheitlich verwendet. Er wird meistens fürdie erlaubnispflichtige Tagespflege nach § 44 SGB VIIIverwendet, wobei die Bezeichnung Tagesgroßpflegenicht überall gebräuchlich ist (Gerszonowicz 2005,2004). In Berlin beispielsweise wird dann von Tagesgroß-pflege gesprochen, wenn eine Pflegeerlaubnis nach § 44SGB VIII erteilt wird, die ab dem vierten Kind vorge-schrieben und für jedes weitere Tagespflegekind erneutauszustellen ist. Maximal dürfen in Berlin in einer Tages-großpflegestelle acht Kinder betreut werden. In den meis-ten anderen Bundesländern ist nur eine maximale Anzahlvon fünf Tagespflegekindern erlaubt (Jurczyk u. a. 2004,S. 70). Die Betreuung kann im eigenen Haushalt der Ta-gespflegeperson durchgeführt werden oder in eigens dazuangemieteten Räumen.178 Die Tagesgroßpflege – auch als„kleiner professioneller Zweig“ der Tagespflege bezeich-net (Gerszonowicz 2004) – wird in der Regel von solchenTagespflegepersonen durchgeführt, die eine beruflichePerspektive mit ihrer Tätigkeit verbinden.

Über die Häufigkeit der einzelnen Formen von Tagespfle-gestellen gibt es keine statistischen Daten und auch nursehr bedingt zuverlässige Schätzungen. Dies liegt zum ei-nen daran, dass die Tagespflege mit bis zu drei fremdenKindern erlaubnisfrei ist und deswegen, zumindest in ih-

176 Diese Regelung soll in der anstehenden Novelle zum SGB VIII, demso genannten „Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz“(KICK), dahingehend geändert werden, dass öffentliche Tagespflege(wieder) generell erlaubnispflichtig wird.

177 Nach den Daten der DJI-Kinderbetreuungsstudie 2005 werden öf-fentliche Tagespflegeverhältnisse zu 75 Prozent im Haushalt der Ta-gesmutter und nur zu 20 Prozent in der Wohnung des Kindes durch-geführt; an einem dritten Ort finden sie sich nur zu knapp 6 Prozent.Anders gelagert ist dies bei der informellen Tagespflege; sie findet zujeweils 49 Prozent im Haushalt der Eltern und der Tagesmütter statt.

178 In Berlin benötigen die Tagespflegepersonen in Großpflegestellen ei-ne mindestens zweijährige Erfahrung in der Betreuung von Kindern,müssen an Fortbildungskursen teilgenommen haben und sich bei derArbeit durch Hilfskräfte entlasten können. Sie erhalten für ihre Tätig-keit im Vergleich zu den Tagesmüttern mit bis zu drei betreuten Kin-dern ein erhöhtes Honorar pro Kind (Gerszonowicz 2004).

Page 189: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 179 – Drucksache 15/6014

rer privat organisierten Form, von den Jugendbehördennicht erfasst wird. Zum anderen ist die zeitliche Stabilitätvon Tagespflegestellen oft begrenzt; ebenso kann diePlatzzahl in einer Tagespflegestelle leicht dem Wandelunterliegen.

In Berlin wurde Ende 2001 knapp die Hälfte (49 Prozent)aller öffentlich geförderten Tagespflegekinder in Groß-pflegestellen betreut. Zwei Drittel dieser Tagesgroß-pflegestellen befanden sich im Privathaushalt der Tages-pflegeperson, ein Drittel in angemieteten Räumen(Gerszonowicz 2004). Eine Tagespflegestudie in Bran-denburg fand ebenfalls bei 50 Prozent der Tagespflege-stellen mehr als drei Tagespflegekinder vor (Tietze u. a.2003). Auf das ganze Bundesgebiet hin betrachtet dürftees sich hier jedoch um eher untypische Gegebenheitenhandeln. Eine Umfrage des Deutschen Jugendinstituts beiJugendämtern ergab, dass in den „öffentlichen“ Tages-pflegestellen im Durchschnitt 1,3 Kinder betreut werden,es sich also im Regelfall um „kleine Tagespflegestellen“handelt (Santen 2005b). Die auf der Grundlage dieser Er-hebung hochgerechnete Anzahl aller öffentlichen Tages-pflegestellen liegt bei rund 50 000. Geht man von der An-nahme aus, dass die Durchschnittszahl der betreutenKinder in den informellen Tagespflegestellen dieselbe istwie in den öffentlichen, dann lässt sich die Anzahl der in-formellen Tagespflegestellen im Zusammenhang mit derin der Betreuungsstudie des DJI (2005) ermittelten Kin-derzahlen in öffentlicher und informeller Tagespflegebe-treuung auf 70 000 schätzen. Insgesamt würde demnachdie Anzahl der in Deutschland existierenden Tagespflege-stellen bei geschätzten 120 000 liegen.

(b) Träger von Tagespflegeangeboten

Tagespflegeangebote unterliegen zum einen den Vorga-ben des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (§§ 22 bis24 SGB VIII) und zumeist auch landesrechtlichen Rege-lungen. Zum anderen sind jedoch viele Formen von Kin-dertagespflege aus der Selbsthilfe von Familien entstan-den, die in erster Linie auf Notlagen reagierten. DieseTagespflegestellen haben sich auf einem weitgehend„freien Markt“ als eigenständige Betreuungsform eta-bliert und unterliegen de facto keinerlei Regelungen. Ausdieser Situation resultiert eine heterogene Trägerstruktur,die von der Gegebenheit, dass viele Tagespflegestellenohne Träger in rein privater Verantwortung agieren, überunterschiedliche kleine Träger und Initiativen bis zu aus-gebauten kommunalen Tagespflegesystemen mit Bera-tungs- und Vermittlungsdiensten reicht. Dem Gesetz nachobliegt die Vermittlung geeigneter Pflegepersonen, derenfachliche Beratung, Begleitung und weitere Qualifizie-rung sowie die Gewährung einer diesbezüglichen laufen-den Geldleistung (§ 23 SGB VIII) den Trägern der öffent-lichen Jugendhilfe. Darüber hinaus haben die Träger deröffentlichen Jugendhilfe die Gesamtverantwortung fürdie Planung und die Bereitstellung von Tagespflegeange-boten (§ 80 SGB VIII). Sie haben eine Bedarfsplanungvorzunehmen und die erforderlichen Plätze in der Tages-pflege vorzuhalten (Lakies 1996). Soweit sie diese ge-

setzliche Aufgabe übernehmen, können sie diese selbstausführen oder an freie Träger delegieren. Die Delegie-rung an freie Träger ist in den alten Bundesländern dievorherrschende Form, während in den neuen Bundeslän-dern die Tagespflege im Regelfall beim öffentlichen Trä-ger der Jugendhilfe, also beim Jugendamt, angesiedelt ist(Jurczyk u. a. 2004).

Insbesondere in den alten Bundesländern finden sich typi-scherweise kleine freie Träger in Form von Vereinen oderInitiativen, die im Rahmen von Delegierungsvereinbarun-gen mit den Kommunen oder den Jugendämtern oder inEigenverantwortung ein Angebot aufbauen sowie Ange-bote der Vermittlung, Qualifizierung und Beratung vor-halten. Die Vereine und die Initiativen sind teilweise inDachverbänden auf Landesebene sowie auf Bundesebeneorganisiert. Der Tagesmütter-Bundesverband registrierteim Jahr 2000 105 Mitgliedsorganisationen und 96 Einzel-mitglieder (Wischnewski 2002). Man kann jedoch da-rüber hinaus eine größere Anzahl lokaler Initiativen undVereine vermuten, die sich keinem Dachverband ange-schlossen haben. Genaue Angaben und Analysen zur An-zahl sowie zur Art von Vereinen und Anbietern im Be-reich der Tagespflege liegen nicht vor.

Die Finanzierungsstrukturen der kleinen Träger gebenbisher wenig Raum für Beratung, fachlich qualifizierteVermittlung sowie Qualitätsweiterentwicklung und Qua-litätssicherung. Gleichwohl gingen die Bemühungen derProfessionalisierung in der Tagespflege bisher größten-teils von solchen Vereinen und ihren Dachverbänden aus.

Große freie Träger wie die Wohlfahrtsverbände und dieKirchen haben sich in der Vergangenheit eher zurückge-halten und sind bisher nur in geringem Umfang an derAngebotsstruktur in der Tagespflege beteiligt. Privatge-werbliche Träger spielen, wie in der Kinder- und Jugend-hilfe insgesamt, für die Tagespflege bislang eine unbe-deutende Rolle. Unabhängig von der Einbindung inTrägerstrukturen arbeiten die meisten Tagespflegestellenselbstständig. Formen der Anstellung, wie die bei einemTräger in Kiel, der Tagesmütter auf BAT-Basis anstellt,sind eine Ausnahme. Viele Tagespflegestellen arbeitenohne öffentliche Zuschüsse und ohne Trägeranschluss.Sie sind am Markt und an Gewinn orientiert und müssenkostendeckend arbeiten; von daher sprechen sie vor allemfinanzkräftige Eltern an (Gerszonowicz 2004).

5.3.2.2 Angebot und Inanspruchnahme der Tagespflege

Nicht nur im Hinblick auf Tagespflegestellen, sondernauch hinsichtlich der Art und der Anzahl von Tagespfle-geverhältnissen besteht ein Mangel an zuverlässigen Da-ten (Jurczyk u. a. 2004). Die Gründe hierfür liegen beson-ders darin, dass Tagespflegeverhältnisse zum großen Teilim privaten Rahmen zustande kommen und dadurch derstatistischen Erfassung unzugänglich sind. Dies führtdazu, dass in der Fachliteratur vor allem Schätzungenüber Anzahl und Merkmale von Tagespflegestellen sowieder in Tagespflege betreuten Kinder berichtet wurden.

Page 190: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 180 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

In der Kinder- und Jugendhilfestatistik werden „besetzte“Tagespflegeplätze nur insofern erfasst, als sie für dieöffentliche Hand Kosten verursachen. Hier sind die„Leistungsberechtigten“ aber nicht die Tagesmütterselbst, sondern die Eltern der Tageskinder. Diese öffent-lich geförderte Kindertagespflege macht nur einen Teilder „besetzten“ Tagespflegeplätze aus. Wie viele unbe-setzte, potenziell besetzbare Plätze in vorhandenen öf-fentlichen und informellen Tagespflegestellen existieren,ist unbekannt. Auch Schätzungen hierüber sind nicht be-kannt geworden.

Auch bei den Bundesländern ist derzeit die statistischeBasis für valide Aussagen zur Anzahl der existierendenTagespflegeverhältnisse nur in Ausnahmen vorhanden.Eine dieser Ausnahmen bildet das Land Mecklenburg-Vorpommern, wo nach dem Kindertagesstättengesetz eineErlaubnis für die Tagespflege ab dem ersten Tageskinderforderlich ist. Als Beispiel zur Erfassung von Tages-pflegeverhältnissen für ein westliches Bundesland sinddie Bestrebungen Baden-Württembergs zu nennen. ImRahmen des Konzepts „Kinderfreundliches Baden-Württemberg“ (www. smbw.de) werden seit 2003 Förder-mittel für die Tagespflege an eine Komplementärförderungin den Kommunen gebunden. Die Zuwendungen werdenpro besetztem Platz gewährt, d. h. die Anzahl der Tages-pflegeplätze muss von den Kommunen festgestellt wer-den.

Die wichtigsten Datenquellen zur Bestimmung der An-zahl von Tagespflegeverhältnissen sind gegenwärtig Sur-veys, insbesondere der DJI-Familiensurvey, das Sozio-oekonomische Panel sowie die erste repräsentative Kin-derbetreuungsstudie des Deutschen Jugendinstituts.179

Unter Zuhilfenahme dieser Daten sowie der Jugendhil-festatistik und einer eigenen Erhebung in Jugendämternkommen Seckinger und van Santen (DJI 2002) zu einer

Schätzung von 295 000 Tagespflegeverhältnissen bis un-ter 16-jähriger Kinder in Deutschland. Der Anteil der un-ter 6-Jährigen in Tagespflege wurde in Anlehnung an eineUntersuchung von Tietze u. a. (1993) auf 82 Prozent ge-schätzt, der Anteil der unter 3-Jährigen auf 50 Prozent.Danach wäre anzunehmen, dass sich im Jahr 2002 etwa240 000 Kinder im vorschulischen Alter in Tagespflegebefanden, 150 000 von ihnen unter drei Jahre (Jurczyku. a. 2004, S. 118).

Nach den Daten der neuen DJI-Kinderbetreuungsstudie(DJI 2005) ergibt sich nunmehr erstmals ein etwas diffe-renzierteres Bild (vgl. Tab. 5.2). Mit insgesamt 138 000geschätzten Tagespflegeverhältnissen liegt die Anzahl derTagespflegeverhältnisse geringfügig niedriger als die An-zahl von 156 000, die sich bei geschätzten 120 000 Ta-gespflegestellen mit einer durchschnittlichen Belegungvon 1,3 Kindern pro Tagespflegestelle ergeben würde(vgl. Abschnitt 5.3.2.1); allerdings werden nur bei 81 000Tagespflegeverhältnissen Betreuungszeiten von mehr alszehn Stunden pro Woche erreicht. Beide Schätzungen fal-len deutlich niedriger aus als die oben erwähnte Schät-zung auf der Grundlage anderer Daten (DJI 2002), diesich auf insgesamt 295 000 Tagespflegeverhältnisse fürKinder bis 16 Jahren belief (da hierbei alle nicht-ver-wandten Betreuungsverhältnisse einbezogen wurden).Bei einem angenommenen Anteil der unter 6-Jährigenvon 82 Prozent würden sich 240 000 Tagespflegeverhält-nisse für diese Altersgruppe ergeben, also doppelt soviele wie in der aktuellen Schätzung.

Die neuen Daten lassen überdies erkennen, dass annä-hernd zwei Drittel aller Tagespflegeverhältnisse für Kin-der im vorschulischen Alter auf die Gruppe der unter3 Jahre alten Kinder entfallen und ein gutes Drittel aufKinder im Kindergartenalter. Der relativ hohe Anteil vonTagespflegeverhältnissen für Kinder dieser Altersgruppelässt darauf schließen, dass die Tagespflege auch als Er-gänzung zur Kindergartenbetreuung genutzt wird, wenndie institutionelle Betreuungszeit nicht ausreicht odernicht zum Familienrhythmus passt.

179 Zum DJI-Familiensurvey, zum Sozio-oekonomischen Panel (SOEP)und zur DJI-Kinderbetreuungsstudie vgl. Glossar. Siehe hier auch dieAngaben zum DJI-Zahlenspiegel.

Ta b e l l e 5.2

Kinder in öffentlicher und informeller Tagespflege nach Altersgruppen und Betreuungszeit (Deutschland; 2005)

Quelle: DJI-Kinderbetreuungsstudie 2005, DJI; eigene Berechnungen

Alle Betreuungszeiten Nur Betreuungszeiten = 10 Stunden/Woche

Kinder von 0 bis 6 Jahren

Kinder unter

3 Jahren

Kinder von3 bis 6 Jahren

Kinder von 0 bis 6 Jahren

Kinder unter

3 Jahren

Kinder von 3 bis 6 Jahren

Öffentliche Tagespflege 60 000 41 000 19 000 38 000 29 000 9 000

Informelle Tagespflege 78 000 48 000 30 000 43 000 29 000 14 000

Insgesamt 138 000 89 000 49 000 81 000 58 000 23 000

Page 191: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 181 – Drucksache 15/6014

Für beide Altersgruppen dominieren die informellen Ta-gespflegeverhältnisse. Bei Kindern im Kindergartenaltersind sie häufiger als bei Kindern unter 3 Jahren, allerdingsnicht so stark, wie dies bisher angenommen wurde.180

Etwas genauer sichtbar wird auch, dass gut 40 Prozentder Tagespflegeverhältnisse bei den unter 3-Jährigen(58 000) solche mit relativ geringer Betreuungszeit vonweniger als zehn Stunden sind. Dies bedeutet, dass Tages-pflege zu einem erheblichen Anteil nur für eher kleinereBetreuungslücken genutzt wird. Die Anzahl der Tages-pflegeverhältnisse mit zehn oder mehr Stunden pro Wo-che erscheint mit geschätzten 81 000 nicht besondershoch. Charakteristische Unterschiede ergeben sich, wennman die wöchentliche Dauer der Tagespflege nach denbeiden Altersgruppen der Kinder differenziert. Bei denunter 3 Jahre alten Kindern in Tagespflege werden rund65 Prozent über zehn oder mehr Stunden in der Wochebetreut. Bei den 3- bis unter 6-jährigen Kindern sind eslediglich 47 Prozent. Der hohe Anteil zeitlich kurzer Ta-gespflegeverhältnisse bei den älteren Kindern verweistauf den Ergänzungscharakter der Tagespflege für dieseAltersgruppe.

Betrachtet man die Tagespflegeverhältnisse differenziertnach westlichen und östlichen Bundesländern sowie nachStadtstaaten, so zeigen sich aufschlussreiche Unter-schiede zwischen der öffentlichen und informellen Tages-pflege (vgl. Tab. 5.3).

In den östlichen Bundesländern und in den Stadtstaatendominiert eindeutig die öffentliche Tagespflege, während

in den westlichen Flächenländern die informelle, von El-tern selbst organisierte Tagespflege überwiegt. Auf dasganze Land hin betrachtet, sind die meisten Tagespflege-verhältnisse solche der informellen Art.

Die Unterschiede in den Anteilen öffentlicher und infor-meller Tagespflege dürften darauf zurückzuführen sein,dass in den Stadtstaaten die Tagespflege schon lange alseine öffentliche Aufgabe betrachtet wird und in denneuen Bundesländern die Tagespflege zumeist in denKinderbetreuungsgesetzen geregelt ist. Demgegenüberbegreift die öffentliche Jugendhilfe in den westlichen Flä-chenländern die Tagespflege erst in den letzten Jahren alseine öffentliche Aufgabe.

Neben den Unterschieden nach neuen und alten Bundes-ländern sowie den Stadtstaaten differiert die Häufigkeitvon Tagespflegeverhältnissen auch hinsichtlich andererregionaler Gesichtspunkte. Nach dem DJI-Kinderpanel181

2002 liegt sowohl in stark als auch in gering verdichtetenGebieten die Quote der Betreuung durch Tagesmütter undKinderbetreuerinnen höher als in Gebieten mit mittlererVerdichtung. In der DJI-Kinderbetreuungsstudie 2005fällt der Anteil von Kindern in Tagespflege (informell undöffentlich) mit zunehmender Verdichtung in den Regionenhöher aus.

Die Tagespflege wird politisch und fachlich als Potenzialfür die Betreuung speziell bei Kindern unter 3 Jahren an-gesehen und für diese Altersgruppe auch als Alternativezu einer institutionellen Betreuung betrachtet. Unter die-sem Gesichtspunkt überraschen die in der aktuellen Kin-derbetreuungsstudie (DJI 2005) ermittelten Befunde (vgl.Tab. 5.4).180 Dies könnte allerdings auch damit zusammenhängen, dass nicht alle

Eltern informelle Tagespflegeverhältnisse angeben, da sie sich nichtsicher sind, inwieweit sie sich arbeits- und steuerrechtlich in einerGrauzone bewegen. 181 Zum DJI-Kinderpanel vgl. Glossar

Ta b e l l e 5.3

Anteil öffentlicher und informeller Tagespflege an den Tagespflegeverhältnissen für unter 6-Jährige (Deutschland, westliche und östliche Flächenländer sowie Stadtstaaten; 2005; in Prozent)

Quelle: DJI-Kinderbetreuungsstudie, DJI 2005

Ta b e l l e 5 . 4

Versorgungsquoten in öffentlicher Tagespflege und institutioneller Tagesbetreuung bei Kindern unter drei Jahren (Deutschland, westliche und östliche Flächenländer sowie Stadtstaaten; 2005;

pro 100 der unter 3-Jährigen in der Bevölkerung)

Quelle zur Tagespflege: DJI-Kinderbetreuungsstudie, DJI 2005Quelle zu den Kindertageseinrichtungen: Statistisches Bundesamt (2004d); eigene Berechnungen

Deutschland insgesamt

Westliche Flächenländer

Östliche Flächenländer Stadtstaaten

Öffentliche Tagespflege 44 39 64 69Informelle Tagespflege 56 61 36 31

Deutschland insgesamt

Westliche Flächenländer

Östliche Flächenländer Stadtstaaten

Tagespflege 2004/2005 1,9 1,6 3,2 5,9Kindertageseinrichtung 2002 8,6 2,4 37,0 25,8

Page 192: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 182 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Die Ergebnisse zeigen, dass in den Gebieten mit einer ho-hen institutionellen Versorgung für die unter 3 Jahre altenKinder auch eine hohe Tagespflegeversorgung gegebenist. Die These, dass die geringe institutionelle Versorgungfür die unter 3 Jahre alten Kinder in Westdeutschland we-nigstens zum Teil durch Tagespflege kompensiert würde,findet in diesen Daten keine Stütze. Die Befunde spre-chen vielmehr dafür, dass bei einer guten Versorgungs-lage in der Kinderbetreuung für die unter 3 Jahre altenKinder beide Säulen, Tageseinrichtung und Tagespflege,gut entwickelt sind, wenn auch auf unterschiedlichemNiveau.

Alter der Kinder: Aktuelle wie auch ältere Studien bele-gen, dass die Tagespflege vorwiegend als Betreuungs-form für unter 3 Jahre alte Kinder genutzt wird. So ergabdie Untersuchung von Tietze u. a. (1993), dass 50 Prozentder Kinder in Tagespflege unter 3 Jahre alt waren,31 Prozent zwischen 3 und 6 Jahren und 19 Prozent6 Jahre und älter. Nach den Daten des SOEP aus dem Jahr2002 werden fast dreimal so viele Kinder unter 3 Jahrenwie Kinder vom vollendeten 3. Lebensjahr bis zum 6. Le-bensjahr von Tagesmüttern betreut. Nach der DJI-Kinder-betreuungsstudie (2005) verteilen sich die Tagespflege-verhältnisse von Kindern im vorschulischen Alterdurchaus ähnlich (vgl. Abb. 5.2).

Die Tagespflege wird danach als Betreuungsform vorwie-gend für Kinder im 2. und 3. Lebensjahr genutzt. Aufdiese Altersgruppe entfallen mehr als die Hälfte aller Ta-gespflegeverhältnisse. Knapp jedes fünfte Tagespflege-verhältnis wird noch von einem 3- bis unter 4-jährigenKind in Anspruch genommen. Vor allem die bislang un-terversorgten Kinder im 2. und 3. Lebensjahr sind diejeni-gen, die Tagespflege in Anspruch nehmen.

Sozio-ökonomischer Status und Einkommen: Die Betreu-ung von Kindern in Tagespflege wird derzeit vor allemvon einkommensstarken Eltern genutzt. Nach den Datendes DJI-Kinderpanels 2002 greift das obere Einkom-mens-Zehntel der befragten Haushalte zu 11 Prozent aufeine Tagesmutter bzw. Kinderbetreuerin zurück. Demge-genüber kann das untere Einkommens-Zehntel sich eineTagesmutter oder eine Kinderbetreuerin überhaupt nichtleisten. Hinsichtlich des sozio-ökonomischen Status derEltern zeigte sich in der Untersuchung, dass Kinder ausFamilien mit hohem Status mit 15 Prozent überdurch-schnittlich häufig, Kinder aus Familien mit mittlerem undunterem Schichtstatus mit 2 Prozent bzw. unter 1 Prozentüberdurchschnittlich selten von Tagesmüttern bzw. Kin-derbetreuerinnen betreut wurden. Dieser Zusammenhangzwischen verfügbarem Einkommen und der Nutzung vonTagespflege wird auch in der neuen DJI-Kinderbetreu-ungsstudie 2005 überaus deutlich (vgl. Abb. 5.3).

A b b i l d u n g 5.2

Prozentuale Verteilung der Tagespflegeverhältnisse für Kinder unter 6 Jahren auf einzelne Altersjahrgänge (2005; in Prozent aller Tagespflegeverhältnisse für Kinder unter 6 Jahren)

Quelle: DJI-Kinderbetreuungsstudie, DJI 2005

8

2728

18

910

0

5

10

15

20

25

30

unter 1 Jahr 1-2 Jahre 2-3 Jahre 3-4 Jahre 4-5 Jahre 5-6 Jahre

Page 193: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 183 – Drucksache 15/6014

A b b i l d u n g 5.3

Öffentliche und informelle Tagespflege nach Haushaltseinkommen (2005; in Prozent)1

1 Haushaltseinkommen, bezogen auf Anzahl und Art der Haushaltsmitglieder: OECD-Äquivalenzeinkommen182.Quelle: DJI-Kinderbetreuungsstudie, DJI 2005

47

20

69

11

2022

47

0

10

20

30

40

50

60

70

80

1. Quartil 2. Quartil 3. Quartil 4. Quartil

Äquivalenzeinkommen

Informelle Tagespflege Öffentliche Tagespflege

Es besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen demverfügbaren Äquivalenzeinkommen der Eltern und derTagespflegebetreuung des Kindes. 70 Prozent aller infor-mellen Tagespflegeverhältnisse (selbst organisiert undausschließlich privat finanziert) entfallen auf Kinder ausdem Haushalte-Viertel mit dem höchsten Einkommen(Äquivalenzeinkommen: >1 450 Euro pro Monat), dage-gen nur 4 Prozent aus dem einkommensschwächsten Vier-tel (<830 Euro pro Monat). Bei der öffentlichen Tages-pflege lässt sich, in etwas abgeschwächter Form, derselbeZusammenhang erkennen. Hier fallen knapp die Hälfteder Tagespflegeverhältnisse auf die einkommensstärksteGruppe und rund 10 Prozent auf die einkommens-schwächste. Auch wenn der Zusammenhang mit dem Ein-kommen bei der öffentlichen Tagespflege geringer ausge-prägt ist, gelingt es den öffentlichen Trägern der Kinder-und Jugendhilfe offensichtlich nicht, bei dieser Betreu-ungsform einen sozialen Ausgleich herbeizuführen.183

Familienformen und Erwerbstätigkeit: Tagespflege hatoffensichtlich dort eine große Bedeutung, wo die Öff-nungszeiten von Einrichtungen der Kindertagesbetreuungnicht kompatibel sind mit den Bedürfnissen der Familie.Bei den 3- bis unter 6-Jährigen fällt auf, dass ein großerAnteil der Kinder, die in Tagespflege betreut werden,ebenfalls eine Kindertageseinrichtung besucht (DJI2005). Dies deutet auf einen erweiterten Betreuungsbe-darf von Familien hin, dem öffentliche Kindereinrichtun-gen nicht nachkommen können oder wollen.

Das DJI-Kinderpanel 2002 zeigt zudem, dass bei vollzeit-erwerbstätigen Frauen die Quote der Kinderbetreuungdurch Tagesmütter bzw. Kinderbetreuerinnen bei voll-zeiterwerbstätigen Müttern mit 6,5 Prozent höher ist alsbei teilzeittätigen (5 Prozent) sowie bei nicht berufstäti-gen Frauen (2 Prozent). Ebenso kommen bei einer Wo-chenarbeitszeit der Frau von mehr als 41 Stunden über-durchschnittlich häufig Tagesmütter zum Einsatz. Einausgeprägter Zusammenhang zwischen mütterlicher Er-werbsarbeit und Tagespflegebetreuung findet sich auchin der aktuellen DJI-Kinderbetreuungsstudie 2005. Al-leinerziehende und nichteheliche Lebensgemeinschaftennutzen insgesamt häufiger Tagespflege als Ehepaare; beiAlleinerziehenden liegt die öffentliche Tagespflege vorden informellen Formen (DJI-Kinderbetreuungsstudie2005).

182 Zum Äquivalenzeinkommen bzw. zur Äquivalenzgewichtung vgl.Glossar.

183 Nicht alle öffentlichen Tagespflegeverhältnisse werden durch die ört-lichen Träger der Kinder- und Jugendhilfe subventioniert. Öffentli-che Tagespflegeverhältnisse können auch durch bloße Vermittlungdes örtlichen öffentlichen Trägers oder eines von ihm beauftragtenfreien Trägers zustande kommen, ohne dass die Jugendämter das Ta-gespflegeverhältnis im Einzelfall subventionieren.

Page 194: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 184 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Multivariate Analysen: In der sozialen Wirklichkeit sindviele der genannten Bedingungen, mit denen die Tages-pflege im Zusammenhang steht, untereinander verwoben.Betrachtet man das Zusammenspiel in einer multivariatenAnalyse (logistische Regression), dann zeigt sich in derDJI-Studie, dass die Inanspruchnahme einer Tagespflege-betreuung (öffentliche und informelle zusammengenom-men) hauptsächlich vom Erwerbsstatus und vomErwerbsumfang der Mutter und vom verfügbaren Famili-eneinkommen (Äquivalenzeinkommen) abhängt. Siekommt häufiger vor bei Kindern mit alleinerziehendenMüttern gegenüber verheirateten Müttern sowie Mütternin nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften, und die Wahr-scheinlichkeit, dass ein Kind in Tagespflege betreut wird,ist in den Stadtstaaten größer als in den westlichen undden östlichen Flächenstaaten. Zwischen Migrationsstatusder Kinder und Tagespflege gibt es keinen Zusammen-hang.

Zu den Faktoren, mit denen sich in einer multivariatenAnalyse am besten erklären lässt, ob eine öffentliche odereine informelle Tagespflege in Anspruch genommenwird, gehören der Ort der Betreuung, der Status der Mut-ter als Alleinerziehender und der Wohnort in einem west-

deutschen Flächenland. Betreuung im Haus des Kindes,Kind einer nicht-alleinerziehenden Mutter zu sein sowiein einem westdeutschen Bundesland zu leben, zählen zuden vorrangigen Bedingungen einer informellen Tages-pflegebetreuung.

5.3.2.3 Strukturmerkmale der Tagespflege

(a) Betreuungszeiten

Die Erhebung des Familiensurvey aus dem Jahr 2000zeigt eine durchschnittliche Betreuungszeit von14½ Stunden wöchentlich, woraus sich eine durchschnitt-liche Betreuungszeit von rund drei Stunden täglich ergibt(DJI 2002). Dieser Zeitumfang findet sich der Größen-ordnung nach auch in der aktuellen DJI-Kinderbetreu-ungsstudie. Danach liegt die durchschnittliche wöchentli-che Betreuungsdauer in der informellen Tagespflege bei14 Stunden, in der öffentlichen bei 18 Stunden (Angabenzu gruppierten Betreuungszeiten lassen sich Abb. 5.4 ent-nehmen). Deutlich über ein Drittel der in Tagespflege be-treuten Kinder wird weniger als neun Stunden pro Wochebetreut.

A b b i l d u n g 5 . 4

Betreuungsumfang in Stunden pro Woche, differenziert nach öffentlicher und informeller Tagespflege(in Prozent)

Quelle: DJI-Kinderbetreuungsstudie, DJI 2005

41

23

19

13

5

35

17

13

17 17

0

5

10

15

20

25

30

35

40

45

1-8 9-16 17-24 25-32 32 und mehr

Betreuungsstunden pro Wochen

Informelle Tagespflege Öffentliche Tagespflege

Page 195: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 185 – Drucksache 15/6014

Bei längeren Betreuungszeiten (ab 25 Stunden pro Wo-che) wird die öffentliche Tagespflege stärker nachgefragt.Aus den dargestellten Ergebnissen lässt sich schließen,dass zahlreiche Eltern Tagespflege als flexible Kurzzeit-betreuung in Anspruch nehmen, auch neben der Betreu-ung in Einrichtungen. Letzteres gilt besonders für Kinderim Kindergartenalter (DJI 2005; Jurczyk u. a. 2004,S. 128). Die durchschnittlichen täglichen Betreuungszei-ten variieren nach Wochentagen. Sie fallen montags undbesonders freitags (hier ein Viertel) niedriger aus als anden anderen Werktagen. Tagespflegebetreuung am Wo-chenende ist sehr selten; sie kommt zudem nur als infor-melle Tagespflege vor.

(b) Stabilität von Tagespflegeverhältnissen

Ein qualitätsbehindernder Faktor in der Tagespflege wirdin der geringen Stabilität der Tagespflegeverhältnisse un-ter den derzeitigen Organisationsbedingungen gesehen.Laewen, Hédervári und Andres (1991) ermittelten in ihrerUntersuchung in West-Berlin, dass mehr als 40 Prozentder erfassten 4.500 Tagespflegeverhältnisse höchstenssechs Monate Bestand hatten. Die hohe finanzielle Belas-tung durch die Tagespflege bei gleichzeitig eingeschränk-ter Verlässlichkeit führt häufig dazu, dass einerseits El-tern Tagespflegeverhältnisse vorzeitig beenden, wenn siedie Möglichkeit haben, ihr Kind in einer Einrichtung be-treuen zu lassen. Häufig erfolgt die Entscheidung für einTagespflegeverhältnis in Ermangelung eines institutionel-len Angebots als „zweite Wahl“. Bei veränderter Ange-botslage wird dann auf die eigentlich gewünschte, weilgünstigere und qualitativ besser gesicherte institutionelleBetreuungsform zurückgegriffen (Jurczyk u. a. 2004).Andererseits sehen auch Tagesmütter ihre Tätigkeit häu-fig als vorübergehend und provisorisch an und beendenlaufende Tagespflegeverhältnisse, wenn sich ihnen andereberufliche Möglichkeiten bieten (Stranz 1995). Um diegesetzlich gebotene Gleichrangigkeit von Tagespflege-verhältnissen mit den institutionellen Angeboten herzu-stellen, muss die Stabilität von Betreuungs- und Förder-leistungen der Tagespflege erheblich verbessert werden(dazu ausführlich Jurczyk u. a. 2004).

(c) Qualifizierung der pädagogischen Akteure

Derzeit liegen keine verbindlichen Qualifikationsanforde-rungen oder Eignungsfeststellungen für die Tätigkeit alsTagespflegeperson vor. Auch das TAG hat kaum Verbind-lichkeiten geschaffen (§ 23 Abs. 3 SGB VIII). Danachsollen sich Tagespflegepersonen durch ihre Persönlich-keit, ihre Sachkompetenz und ihre Bereitschaft zurKooperation mit Erziehungsberechtigten und anderen Ta-gespflegepersonen auszeichnen und über vertiefte Kennt-nisse hinsichtlich der Anforderungen der Kindertages-pflege verfügen, die sie in qualifizierten Lehrgängenerworben oder in anderer Weise nachgewiesen haben.Welche genauen Standards zu erfüllen sind und wie diesüberprüft wird, bleibt allerdings offen.

Derzeit zeichnen sich deutliche Ost-West-Unterschiedebei der pädagogischen Qualifikation von Tagesmüttern

ab. Tietze u. a. (2003) fanden in ihrer Untersuchung inBrandenburg nahezu 50 Prozent Tagesmütter mit einempädagogischen Berufsabschluss vor. Eine Befragung von382 Teilnehmerinnen von Qualifikationskursen in der Ta-gespflege in sechs Bundesländern ergab einen Anteil vonetwa 25 Prozent der Tagesmütter mit einer pädagogischenVorbildung. Die Teilnehmerinnen mit pädagogischerAusbildung waren zumeist arbeitslose Erzieherinnen,überwiegend aus Mecklenburg-Vorpommern (Keimeleder2001).

5.3.2.4 Bedarf an Tagespflegestellen

Der Bedarf an Tagespflegestellen ist als Teil des Bedarfsan Plätzen für die Tagesbetreuung von Kindern unter dreiJahren überhaupt zu sehen. Daneben ist ein Bedarf an Ta-gespflege für Kinder im Kindergartenalter anzunehmen,und zwar für solche Kinder, die einer Ergänzungsbetreu-ung bedürfen, weil die Öffnungszeiten von Kindertages-einrichtungen und elterliche Abwesenheitszeiten nichtzur Deckung zu bringen sind. Die Tatsache, dass dieQuote der in Ostdeutschland in Tagespflege betreutenKinder unter drei Jahren mit 3,2 Prozent deutlich höherliegt als die von 1,6 Prozent in Westdeutschland ein-schließlich Berlin (vgl. Tab. 5.4), obwohl das institutio-nelle Angebot in Ostdeutschland für diese Altersgrupperund zehnmal so groß ist wie in Westdeutschland, zeigt,dass institutionelle Tagesbetreuung und Tagespflege nichtnur alternativ zu betrachten sind.

Geht man von der im Kontext des TAG vorgesehenen Er-weiterung der Betreuungsplätze für unter 3-jährige Kin-der in Westdeutschland um 230 000 Plätze bis zum Jahr2010 aus, von denen 30 Prozent als Tagespflegeplätze ge-schaffen werden sollen, müssten in den nächsten fünfJahren 69 000 neue Tagespflegeplätze in Westdeutsch-land eingerichtet werden. Zusammen mit den in diesemSzenarium zu schaffenden institutionellen Plätzen undden vorhandenen Plätzen in Kindertagespflege und Ein-richtungen für Kinder unter 3 Jahren ergäbe sich eine Ver-sorgungsquote von 17 Prozent für diese Altersgruppe.Legt man eine Versorgungsquote von 20 Prozent zu-grunde, wie ursprünglich geplant und bereits 1992 vomBundesministerium für Frauen und Jugend (BMFJ) vor-gesehen, wären 78 000 neue Tagespflegeplätze erforder-lich. Angesichts der Tatsache, dass die Anzahl allerTagespflegeplätze für Kinder unter 3 Jahren sich gegen-wärtig in Deutschland Ost und West zusammen auf ge-schätzte 89 000 Plätze beläuft (vgl. Tab. 5.2), wird deut-lich, dass die vorhandene Anzahl von Tagespflegeplätzenin Westdeutschland wenigstens verdoppelt werdenmüsste (weitere Szenarien des Platzausbaus wie auch derdamit verbundenen Mehrkosten werden in den Abschnit-ten 5.3.3.3 und 5.3.3.6 dargestellt). Genau genommenmuss man sogar sagen, dass bislang nur 41 000 Tages-pflegeverhältnisse für unter 3-Jährige in öffentlicherForm bestehen, so dass unter dem Strich die Anzahl deröffentlichen Tagespflegeverhältnisse in Westdeutschlandmehr als verdreifacht werden müsste.

Page 196: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 186 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

5.3.2.5 Kosten der TagespflegeAn der derzeitigen Finanzierung der öffentlichen Tages-pflege sind zwei Kostenträger beteiligt: die Eltern und dieöffentliche Jugendhilfe. Die informelle Tagespflege wirdausschließlich von den Eltern selbst finanziert. Kostenan-gaben liegen nur für den Teil der öffentlichen Tagespflegevor, der vom Jugendamt mitfinanziert wird. Insgesamtsind die Ausgaben der öffentlichen Hand für die Leis-tungsberechtigten in der Tagespflege in den letzten Jahrenvon 57 Mio. Euro im Jahr 1993 auf 86 Mio. Euro im Jahr2002 gestiegen. Die Gesamtaufwendungen der öffentli-chen Jugendhilfe, zu denen neben den Geldleistungen fürdie Berechtigten auch Personalausgaben und sonstige lau-fende bzw. auch einmalige Ausgaben der öffentlichenTräger sowie die Förderung freier Träger gehören, stiegennominell von 133 Mio. Euro im Jahr 1993 auf146 Mio. Euro im Jahr 2002; inflationsbereinigt sind siefaktisch gleich geblieben (Jurczyk 2004, S. 111).

Für die zukünftige Finanzierung öffentlicher Tagespflegewerden gegenwärtig zwei Kostenmodelle diskutiert:

– In einem Anforderungsprofil des Bundesministeriumsfür Familie, Senioren, Frauen und Jugend [BMFSFJ]werden 596 Euro pro Tagespflegeverhältnis monatlichangesetzt. Dies entspricht 7 152 Euro jährlich; der Be-trag resultiert aus einem Betreuungsansatz von 3 Europro Stunde bei einer täglichen Inanspruchnahme vonacht Stunden (jährlich 5 760 Euro) und Kosten fürfachliche Begleitung von jährlich 1 392 Euro. Dabeiwird angenommen, dass eine Fachkraft 60 Kinderta-gespflegeverhältnisse betreut.

– In der Kostenvariante des DJI werden 814 Euro proTagespflegeverhältnis monatlich (9 762 Euro jähr-lich) veranschlagt; dieser Betrag resultiert aus einemBetreuungssatz von 4 Euro pro Stunde bei einer tägli-chen Inanspruchnahme von ebenfalls acht Stunden undfachlicher Begleitung, wobei die Fachkraft 40 Kinderta-gespflegeverhältnisse betreut (Jurczyk u. a. 2004,S. 316ff.).

Auf der Grundlage solcher Berechnungen erscheint derAusbau von Tagespflegeplätzen kostengünstiger als derAusbau von Plätzen in Tageseinrichtungen, bei denenPlatzkosten von 12 000 bis 14 000 Euro pro Jahr für unter3-Jährige anzusetzen sind.

Was die Tagespflege kostengünstiger macht, sind fol-gende Faktoren:

– Das private Umfeld und die Investitionen der Tages-pflegefamilie werden kostenlos mitgenutzt.

– Tagespflege bindet für die öffentliche Hand keine län-gerfristigen Ressourcen.

– Die Tagesmütter tragen das Auslastungsrisiko selbst-ständig.

– Tagesmütter stellen ein hohes zeitliches Engagementbei minimalen Ausfallzeiten zur Verfügung.

– Die Kosten berechnen sich nach den effektiven Be-treuungszeiten.

Zur Verteuerung der Tagespflege tragen folgende Fakto-ren bei:

– Die Relation Kind-Betreuungsperson ist intensiverund damit teurer.

– Die isolierte Arbeitssituation erfordert fachliche Be-gleitung.

– Es ist ein Vertretungssystem mit eigenen Strukturenerforderlich (Jurczyk u. a. 2004, S. 322).

Angesichts der generellen Unterausstattung des Tages-pflegesystems sind in diesem Bereich zukünftig in jedemFall öffentliche Investitionen nötig, wenn die Tagespflegezu einem breit akzeptierten, qualitativ entwickelten An-gebot in der Kinderbetreuung werden soll. Die erforderli-chen gesellschaftlichen Kosten hängen u. a. vom ange-strebten Versorgungsgrad und von der gesellschaftlichangestrebten Qualität ab. Bislang ist Tagespflege keinverbindliches und damit für Eltern auch kein verlässlichesAngebot. Ebenfalls haben Eltern kaum Anhaltspunkte fürdie pädagogische Qualität. Öffentliche Zuschüsse er-scheinen über die geplanten Leistungen zum Versiche-rungsschutz der Tagesmutter hinaus z. B. auch notwendigfür ein Erstausstattungsinventar von Tagespflegefamilien,für begleitende Unterstützung und Qualitätsüberprüfung.

Für Eltern ist die Tagespflege derzeit meist deutlich teurerals ein Platz in einer öffentlichen Einrichtung. Bisher gibtes bei den Elternbeiträgen nur in Berlin und einigenneuen Bundesländern eine kostenmäßige Gleichstellungmit der institutionellen Betreuung. Im Allgemeinen habenEltern gegenwärtig nur unter bestimmten Voraussetzun-gen Anspruch auf Erstattung ihrer Kosten für eine Tages-mutter durch das Jugendamt. Künftig soll nach den Vor-stellungen des KICK im § 90 SGB VIII denGebietskörperschaften die Möglichkeit eröffnet werden,die Kostenbeiträge der Eltern zur Tagespflege nach Ein-kommen gestaffelt zu gestalten, analog zu den Regelun-gen für Tageseinrichtungen.

5.3.2.6 Pädagogische Qualität in der Tagespflege

Weniger noch als die strukturellen Merkmale der Tages-pflege sind qualitative Aspekte der Tagespflege inDeutschland erforscht. Von daher muss vorwiegend aufausländische Untersuchungen zurückgegriffen werden.Textor (1998) kommt nach Sichtung zahlreicher interna-tionaler Studien seit 1980 zu dem Schluss: „Eine qualita-tiv hochwertige Familientagespflege zeichnet sich unteranderem durch eine einschlägige Ausbildung der Tages-pflegeperson, … Registrierung der Tagespflegestelle an-hand bestimmter Kriterien, das Einhalten bestimmterStandards, kindgemäße Räumlichkeiten, das Vorhan-densein entwicklungsfördernder (Spiel-)Materialien, po-sitive Interaktionen zwischen Tagespflegeperson undKind, vielfältige Beschäftigungen und eine begleitendeBeratung durch sozialpädagogische Fachkräfte aus“ (Tex-tor 1998, S. 83). „Ferner wirkte sich positiv auf die Quali-tät der Familientagesbetreuung aus, wenn die Befragtenhierin eine Beschäftigung auf Dauer sahen, ein professio-nelles Selbstverständnis besaßen, Kontakte zu anderen

Page 197: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 187 – Drucksache 15/6014

Tagespflegepersonen hatten bzw. Mitglied eines Verban-des waren und bereits viel ‚Berufserfahrung’ hatten“(ebd., S. 79).

In einer deutschen Untersuchung aus Brandenburg fandenTietze u. a. (2003) im Durchschnitt nur eine mittelmäßigeQualität und zugleich eine große Qualitätsstreuung beiden Tagespflegestellen. Bei rund jeder siebten von ihnenkonnte nur eine unzureichende Qualität festgestellt wer-den, bei knapp zwei Dritteln zeigte sich eine mittelmä-ßige, und nur bei einem Siebtel der Tagespflegestellenwar eine gute bis sehr gute pädagogische Qualität gege-ben. Untersucht wurde die Qualität mit der Tagespflege-Skala (Tietze u. a. 2005b), einem international verbreite-ten Messinstrument, das eine mehrstündige Beobachtungin der Tagespflegestelle sowie ein Interview mit der Ta-gespflegeperson erfordert.

Bezüglich der Stärken der untersuchten Tagespflegestel-len wurde festgestellt, dass sie „in einer freundlichen undden Kindern zugewandten Atmosphäre, einem Eingehenauf die Signale der Kinder nach Trost, Nähe, Körperkon-takt und Aufmerksamkeit, einem auf die Aktivitäts- undRuhebedürfnisse der Kinder abgestimmten Tagesablauf,einer Balance von Innen- und Außenaktivitäten und einerBereitstellung zahlreicher Spielmöglichkeiten“ lagen(Tietze u. a. 2003, S. 45). Verbesserungsbedürftig er-schienen Aspekte, „die als frühe Bildungsanregungenverstanden werden können, z. B. in den Bereichen Bewe-gung/Spiel, Sprachverstehen, Auge-Hand-Koordination,Musik und Bewegung, künstlerisches Gestalten, kogni-tive Anregungen“ (ebd., S. 45).

Die Qualität der pädagogischen Arbeit fiel besser aus,wenn die Tagespflegepersonen eine pädagogische Ausbil-dung hatten, an einem Vorbereitungskurs teilgenommenhatten und einen höheren allgemein bildenden Schulab-schluss aufwiesen. Ebenso waren ein regelmäßiger Aus-tausch mit anderen Tagesmüttern, die Inanspruchnahmevon Beratung, das Lesen von Fachliteratur und das Vor-handensein einer schriftlichen Konzeption mit bessererQualität verbunden (Tietze u. a. 2003). Verschiedene aus-ländische Untersuchungen belegen, dass gute pädagogi-sche Qualität bessere Bildungs- und Entwicklungsergeb-nisse bei den Kindern zeitigt (Expertise Roßbach; vgl.auch Abschnitt 5.3.3.4). Solche positiven Effekte warenauch in dem ersten großen Modellprojekt zur Tagespflegein der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre gefunden worden(Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit[BMJFG 1980]. Allerdings wurden die äußerst günstigenRahmenbedingungen der Tagespflege in diesem Modell-projekt bisher nirgendwo in Deutschland implementiert.

5.3.2.7 Sicherung pädagogischer Qualität in der Tagespflege

Der Frage der Sicherung pädagogischer Qualität in derTagespflege kommt insofern eine besondere Bedeutungzu, als es sich um ein sehr heterogenes, wenig geregeltesTagesbetreuungssystem handelt, dem in der Vergangen-heit von der öffentlichen Jugendhilfe wenig fachliche Be-achtung geschenkt wurde. Nimmt man die öffentlicheVerantwortung dafür ernst, dass Kinder in der Tages-

pflege ein qualitativ hochwertiges Bildungs-, Betreuungs-und Erziehungsangebot erfahren und sich Eltern daraufverlassen können, sind eine Reihe von Maßnahmen zu er-greifen (Jurczyk u. a. 2004, S. 165ff. und S. 343ff.):

– Die Jugendhilfe kann öffentliche Verantwortung fürQualität in der Tagespflege nur dann wahrnehmen,wenn ihr die entsprechenden Tagespflegestellen bzw.Tagespflegeverhältnisse bekannt sind. Es sollte des-halb darauf hingewirkt werden, dass alle Tagespflege-verhältnisse beim örtlichen Träger der Jugendhilfemeldepflichtig werden, zumindest wenn sie eine be-stimmte Wochenzeit umfassen (z. B. ab zehn Stun-den). Die Meldepflicht sollte unabhängig davon sein,ob es sich um ein öffentliches oder um ein informelles,privat organisiertes und ausschließlich privat finan-ziertes Tagespflegeverhältnis handelt.

– Die Sicherung für Kinder und Eltern verlässlicher undqualitativ hochwertiger Angebote erfordert lokale Sys-teme mit öffentlichen und/oder freien Trägern der Ju-gendhilfe, die geeignet sind, Qualität im umfassendenSinne sicherzustellen.

– Dazu gehört der Aufbau einer stabilen Anbietersitua-tion. Es sollten Anreize dahingehend gesetzt werden,dass Tagespflegeanbieter in hinreichender Anzahl undmit akzeptabler Dauer ihre Leistung anbieten, bei an-gemessener Entlohnung und entsprechender sozialerAbsicherung.

– Bei neuen Tagespflegeanbietern sollte vor der Auf-nahme der Tagespflegetätigkeit eine Eignungsbera-tung und Eignungsprüfung der Tagespflegestelle nacheinheitlichen, transparenten Kriterien vorgenommenwerden.

– Als Eignungsvoraussetzung für die Aufnahme einerTagespflegetätigkeit sollte eine Grundqualifizierungim Umfang von 160 bis 200 Stunden vorgesehen wer-den (z. B. DJI-Curriculum), die im Bedarfsfall auchtätigkeitsbegleitend ausgelegt werden kann.

– Jede Tagespflegeperson sollte eingebunden sein in einlokales Netz von Tagespflegepersonen zum fachlichenAustausch, verbunden mit tätigkeitsbezogener Weiter-qualifikation.

– Dieses Netz sollte im Bedarfsfall auch wechselseitigeVertretungen ermöglichen und mit den Kindertages-einrichtungen im gemeinsamen Einzugsbereich zu-sammenarbeiten.

– Für die Tagespflegepersonen sollte regelmäßig qualifi-zierte Fach- und Praxisberatung zur Verfügung stehen;als Richtgröße sollte für etwa 40 Tagespflegestelleneine Fachberatungskraft zur Verfügung stehen.

– Die pädagogische Qualität in der einzelnen Tagespfle-gestelle ist für die Förderung der betroffenen Kindervon großer Bedeutung. Die öffentliche Verantwortungfür Bildung, Betreuung und Erziehung der Kinder er-fordert auch in der Tagespflege, dass die tatsächlichgegebene Qualität an Ort und Stelle überprüft wird.Dies sollte nach einheitlichen Kriterien und durch In-

Page 198: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 188 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

stanzen geschehen, die vom örtlichen Träger der Ju-gendhilfe unabhängig sind, damit mögliche Interes-senkonflikte von vornherein auszuschließen sind.

– In diesem Zusammenhang sollten auch Akkreditie-rungs- bzw. Gütesiegelansätze zur Qualitätssicherungerprobt werden, die sowohl für die Eltern als Nachfra-ger als auch für die Tagespflegepersonen als Anbietersowie für die Träger der Jugendhilfe neben der Quali-tätssicherung auch Qualitätsinformationen bereitstel-len. Zugleich können die auf diese Weise gewonnenenInformationen für ein langfristiges Qualitätsmonito-ring herangezogen werden.

Zusammenfassung: Die Tagespflege bildet in Deutsch-land ein auf weite Strecken hin unübersichtliches Systemder Bildung, der Betreuung und der Erziehung. Sie hat ih-ren Schwerpunkt bei den unter 3 Jahre alten Kindern,kommt als Ergänzungsbetreuung aber auch bei einer er-heblichen Anzahl von Kindergartenkindern vor. Es lassensich zwei grundsätzliche Formen der Tagespflege unter-scheiden: die öffentliche, gesetzlich geregelte Tages-pflege, die durch den öffentlichen Träger der Jugendhilfevermittelt und begleitet sowie meist auch finanziell unter-stützt wird, und die informelle Tagespflege, die legal ist,aber außerhalb gesetzlicher Regelungen von den Elternselbst organisiert und auch ausschließlich selbst finanziertwird. Die informelle Tagespflege ist die in den westdeut-schen Flächenländern dominierende Form; in den Stadt-staaten und östlichen Bundesländern herrscht die öffentli-che Tagespflege vor.

Die Tagespflege kann weiterhin danach unterschiedenwerden, ob sie im Haushalt der Tagespflegeperson („Ta-gesmutter“) oder im Haushalt des Kindes („Kinderfrau“,„Kinderbetreuerin“) stattfindet, und sie kann nach derGröße von Tagespflegestellen differenziert werden. DieTagespflege mit mehr als drei Kindern ist nach gegenwär-tigem Bundesrecht erlaubnispflichtig („Tagesgroß-pflege“); eine diesbezügliche Änderung ist geplant. DieTagespflegepersonen arbeiten im Regelfall selbstständig.Anstellungsverhältnisse sind – außer bei „Kinder-frauen“ – selten.

In Deutschland werden knapp 140 000 Kinder im Alterbis zu 6 Jahren in öffentlicher und informeller Tages-pflege betreut, darunter etwa 80 000 Kinder im Alter un-ter 3 Jahren; hierbei handelt es sich in gut 40 000 Fällenum eine öffentliche Tagespflege. Mehr als die Hälfte allerTagespflegeverhältnisse entfällt auf die Altersgruppe der1- bis unter 3-jährigen Kinder. Der Anteil der unter 3-jäh-rigen Kinder in Tagespflege ist in den östlichen Flächen-ländern mit gut 3 Prozent trotz des hohen institutionellenAngebots auch für diese Altersgruppe (37 Prozent) grö-ßer als in den westlichen Flächenländern (weniger als2 Prozent).

Die Inanspruchnahme der Tagespflege ist stark einkom-mensabhängig. Dies gilt für die öffentliche und die infor-melle Tagespflege in gleicher Weise. Neben dem Ein-kommen der Eltern und dem Alter des Kindes gehörendie mütterliche Erwerbstätigkeit und der Status als Al-leinerziehende sowie der Wohnort zu den Faktoren, die

die Inanspruchnahme der Tagespflege als Ort der Bil-dung, der Betreuung und der Erziehung des Kindes starkbeeinflussen. Die durchschnittliche Dauer der Betreuungin Tagespflege beläuft sich auf 14 Stunden für die infor-melle und auf 18 Stunden für die öffentliche Tagespflegepro Woche.

Die öffentlichen Aufwendungen für Tagespflege sind inden zehn Jahren von 1993 bis einschließlich 2002 infla-tionsbereinigt so gut wie unverändert geblieben. In aktu-ellen Kostenmodellen werden die Kosten für einen Tages-pflegeplatz (Vollzeit) mit 600 bzw. 800 Euro pro Monatangesetzt. Die Kostenkalkulation enthält ein Entgelt von3 bzw. 4 Euro pro Stunde und Kind für die Tagespflege-person.

Bei dem von der Bundesregierung intendierten Platzaus-bau für unter 3-jährige Kinder müssten in Westdeutsch-land rund 70 000 neue Tagespflegeplätze geschaffen wer-den. Dies bedeutet mehr als eine Verdreifachung der fürdie Altersgruppe in öffentlicher Tagespflege vorhandenenPlätze in den westlichen Bundesländern.

Die Tagespflege ist nach vorliegenden Untersuchungeneine qualitativ sehr heterogene Form der Kinderbetreu-ung. Zugleich ist bekannt, dass von ihrer Qualität nach-haltige Auswirkungen auf die Entwicklung von Kindernausgehen. Die Sicherung eines qualitativ hochwertigenTagespflegeangebots erfordert u. a. den Aufbau wirksa-mer lokaler Trägerstrukturen, die Erlaubnispflicht auchfür informelle Tagespflege vom ersten Kind an, transpa-rente Eignungsprüfungen, Qualifikationsmaßnahmen,Fachberatung, Netzwerke von Tagespflegepersonen so-wie vom Träger unabhängige direkte Qualitätsprüfungen.

5.3.3 Institutionelle KindertagesbetreuungDas heutige System der institutionellen Kindertagesbe-treuung ist das Produkt eines historisch teils wechselvol-len Prozesses. Der aus dem 19. Jahrhundert stammendeGegensatz zwischen einer bewahrpädagogischen und ei-ner bildungsbezogenen Orientierung ist noch heute in sei-nen Auswirkungen erkennbar. Wenigstens den Kinder-garten als wichtigen Bildungsort zu erkennen undauszugestalten, gelang weder auf der Reichsschulkonfe-renz von 1920 zur Neuordnung des Bildungssystems zuBeginn der Weimarer Republik noch im Zuge der Bil-dungsreform der späten 1960er-Jahre. Zwar hatte derDeutsche Bildungsrat (1970) den Kindergarten als „Ele-mentarbereich“ zur grundlegenden Stufe des gesamtenBildungssystems erklärt; das staatliche Engagement bliebjedoch in Westdeutschland lange Zeit mit zersplittertenund wenig kraftvoll wahrgenommenen Zuständigkeitenund einer Dominanz freier Träger sehr begrenzt.184 DerRechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ist erst jün-geren Datums. Die Nachwirkungen eines realitätsfernen,historischen Familienbildes mit der Zuständigkeit derMutter für das kleine, unter 3 Jahre alte Kind im häusli-chen Rahmen, verstärkt durch entsprechende Familienbil-der der Kirchen mit ihren großen Trägerorganisationen,

184 Zum Bildungsrat vgl. Glossar.

Page 199: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 189 – Drucksache 15/6014

führten dazu, dass die Plätze für Kinder unter 3 Jahren biszum heutigen Tag sehr knapp gehalten wurden und so-wohl Fachlichkeit als auch Forschung in diesem Bereichauffällig wenig entwickelt sind.

Kontrastierend zu den Gegebenheiten in den alten Bun-desländern wurde in der DDR von Anfang an auf denVollausbau des ganztägigen bildungsorientierten Kinder-gartens und eines umfassenden Krippenangebots für diejüngeren Kinder gesetzt. Zum Zeitpunkt der Wiederverei-nigung trafen in Deutschland zwei Früherziehungssys-teme aufeinander, die kaum unterschiedlicher sein konn-ten. Die Reform, die in den westlichen Bundesländern mitder Einführung eines Rechtsanspruchs auf einen Kinder-gartenplatz eingeleitet wurde, kann in einer breiteren ge-sellschaftlichen Perspektive nur als der Beginn einesModernisierungsschubs für die institutionelle Kinderta-gesbetreuung in Deutschland angesehen werden, der inden westlichen Bundesländern in quantitativer Hinsicht,in Gesamtdeutschland in qualitativer Hinsicht seine An-schlussfähigkeit gegenüber den im europäischen Ver-gleich entwickelten Systemen mit sich bringen sollte.

5.3.3.1 Formen und Träger der institutionellen Kindertagesbetreuung

Öffentlich verantwortete Bildung, Betreuung und Erzie-hung von Kindern im vorschulischen Alter wird vorwie-gend als institutionelles Angebot im Rahmen von Kinder-tageseinrichtungen bereitgestellt. Im Jahr 2002 gab esetwa 48 000 Einrichtungen der institutionellen Kinderta-gesbetreuung (einschließlich Horte) mit ungefähr3,1 Mio. angebotenen Plätzen. Im Vergleich dazu beliefsich die Anzahl der Grundschulen auf rund 17 000 mit ei-ner faktisch gleichen Kinderzahl von etwa 3,2 Mio. Kin-dern. Gegenüber 1990/1991 mit 50 700 Kindertagesein-richtungen ist deren Anzahl insgesamt um knapp7 Prozent gesunken, wobei in Ost und West unterschiedli-che Entwicklungen zu verzeichnen sind. In Ostdeutsch-land ging die Anzahl der Einrichtungen, nicht zuletzt auf-grund stark gesunkener Geburtenzahlen, um 53 Prozentzurück, in Westdeutschland stieg sie durch den Ausbauim Zusammenhang mit dem Rechtsanspruch um 24 Pro-zent.

Die amtliche Statistik unterscheidet bei den im Jahr 2002erfassten 48 017 Tageseinrichtungen (einschließlichHorte) nach folgenden Formen (Statistisches Bundesamt2004d):

– Krippen: Einrichtungen, in denen ausschließlich Kin-der bis zum vollendeten 3. Lebensjahr betreut werden;

– Kindergärten: Einrichtungen für Kinder vom vollen-deten 3. Lebensjahr bis zum Schuleintritt;

– Horte: Einrichtungen, in denen nur Schulkinder vorund nach dem Unterricht sowie in den Ferien betreutwerden;185

– Kombi-Einrichtungen186: Tageseinrichtungen mit al-terseinheitlichen Gruppen, beispielsweise reinen Krip-pengruppen und parallel dazu laufenden Kindergarten-gruppen;

– Kombi-Einrichtungen: Tageseinrichtungen mit alters-gemischten Gruppen, z. B. gemeinsamen Gruppen fürKrippenkinder und Kindergartenkinder sowie Hort-kinder;

– Kombi-Einrichtungen: Tageseinrichtungen mit alter-seinheitlichen und altersgemischten Gruppen.

Bei den verschiedenen Arten der Kombi-Einrichtungenkann auf der Einrichtungsebene nicht immer eine eindeu-tige Zuordnung des Angebots zu den einzelnen Alters-gruppen (unter 3 Jahren, 3 Jahre bis zum Schuleintritt,Hortkinder) vorgenommen werden. Allerdings wird fürjeden Platz abgefragt, für welche Altersgruppe er vorge-sehen ist. Auf dieser Grundlage werden dann die verfüg-baren Plätze für die unter 3-Jährigen bzw. für die Kindervom vollendeten 3. Lebensjahr bis zum Schuleintritt so-wie für die Hortkinder erfasst.

Die Häufigkeit der einzelnen Einrichtungsformen fälltsehr unterschiedlich aus (vgl. Tab. 5.5). Zugleich ergebensich deutliche Ost-West-Unterschiede. Während im Wes-ten 71 Prozent aller Einrichtungen reine Kindergärtensind, beläuft sich deren Anteil an allen Einrichtungen inOstdeutschland auf lediglich 5 Prozent. Umgekehrt machtder Anteil der Kombi-Einrichtungen in Ostdeutschland80 Prozent gegenüber nur 22 Prozent in Westdeutschlandaus. Von 1998 bis 2002 ist allerdings die Anzahl derKombi-Einrichtungen in Westdeutschland um 26 Prozentgestiegen, besonders der Anteil der Kombi-Einrichtungenmit altersgemischten Gruppen. Dies dürfte überwiegenddarauf zurückzuführen sein, dass sich zahlreiche Kinder-gärten auch für jüngere Kinder geöffnet haben. Dagegenist in Ostdeutschland die Anzahl der Kombi-Einrichtun-gen, speziell mit altersgemischten Gruppen, wieder rück-läufig; sie hat von 1998 bis 2002 um fast 10 Prozent ab-genommen. Damit deutet sich eine Abkehr an von demim Westen propagierten Modell der Gruppen mit großerAltersmischung (Merker 1998), das nach der Wende erst-mals in Ostdeutschland eingeführt wurde, sowie eineRückkehr zur Förderung von Kindergartenkindern undKindern unter 3 Jahren in getrennten Gruppen. Ob dieseTendenz als bewusste pädagogische Abkehr vom Modellder großen Altersmischung interpretiert werden kannoder ob diese Entwicklung auf wieder zunehmende Kin-

185 Diese werden in Abschnitt 6.1.2 gesondert behandelt.

186 In der ehemaligen DDR waren die so genannten Kombi-Einrichtun-gen die Regel, unterschieden sich aber in ihrer Struktur von dem, washeute unter dieser Bezeichnung verstanden wird. Bei einer Kombi-Einrichtung handelte es sich in der DDR immer um zwei getrennteHäuser (Krippe und Kindergarten) unter einem Dach mit jeweils ei-ner eigenen Leiterin. Die Kinder wurden in altershomogenen Jahr-gangsgruppen betreut. Die Unabhängigkeit der beiden Häuser wurdezusätzlich dadurch unterstrichen, dass die Krippe zum Zuständig-keitsbereich des Gesundheitsministeriums gehörte, während der Kin-dergarten in den Zuständigkeitsbereich des Volksbildungsministeri-ums fiel. Auch die jeweiligen Ausbildungen waren getrennt. Unterdie Bezeichnung Kombi-Einrichtungen im aktuellen Sprachgebrauchfallen auch die kindergartenähnlichen Einrichtungen und die neuenFormen von Kindertageseinrichtungen als erweiterte Orte für Famili-en wie beispielsweise die „Häuser für Kinder und ihre Familien“.

Page 200: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 190 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Ta b e l l e 5 . 5

Tageseinrichtungen (TE) für Kinder nach Einrichtungsart (westliche und östliche Bundesländer; 31. Dezember 1998, 31. Dezember 2002)

Quelle: Statistisches Bundesamt, Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe – Tageseinrichtungen für Kinder, Wiesbaden verschiedene Jahrgänge; eige-ne Berechnungen

31.12.1998 31.12.2002 Verände-rung von 1998 bis 2002 %

absolut % absolut %

Deutschland

Insgesamt 48 203 100,0 48 017 100,0 – 0,4

Krippen 693 1,4 799 1,7 15,3

Kindergärten 30 117 62,5 28 406 59,2 – 5,7

Horte 3 762 7,8 3 494 7,3 – 7,1

Kombi-Einrichtungen 13 631 28,3 15 318 31,9 12,4

darunter:

TE mit alterseinheitlichen Gruppen 4 606 9,6 4 863 10,1 5,6

TE mit altersgemischten Gruppen 5 323 11,0 6 202 12,9 16,5

TE mit alterseinheitl./altersgem. Gruppen 3 702 7,7 4 253 8,9 14,9

Westliche Bundesländer

Insgesamt 39 095 100,0 39 474 100,0 1,0

Krippen 589 1,5 708 1,8 20,2

Kindergärten 29 524 75,5 27 959 70,8 – 5,3

Horte 2 182 5,6 2 268 5,7 3,9

Kombi-Einrichtungen 6 800 17,4 8 539 21,6 25,6

darunter:

TE mit alterseinheitlichen Gruppen 2 345 6,0 2 328 5,9 -0,7

TE mit altersgemischten Gruppen 2 400 6,1 3 560 9,0 48,3

TE mit alterseinheitl./altersgem. Gruppen 2 055 5,3 2 651 6,7 29,0

Östliche Bundesländer

Insgesamt 9 108 100,0 8 543 100,0 – 6,2

Krippen 104 1,1 91 1,1 – 12,5

Kindergärten 593 6,5 447 5,2 – 24,6

Horte 1 580 17,3 1 226 14,4 – 22,4

Kombi-Einrichtungen 6 831 75,0 6 779 79,4 – 0,8

darunter:

TE mit alterseinheitlichen Gruppen 2 261 24,8 2 535 29,7 12,1

TE mit altersgemischten Gruppen 2 923 32,1 2 642 30,9 – 9,6

TE mit alterseinheitl./altersgem. Gruppen 1 647 18,1 1 602 18,8 – 2,7

Page 201: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 191 – Drucksache 15/6014

derzahlen in Ostdeutschland zurückzuführen ist, die eineOrganisation in altersdifferenzierten Gruppen innerhalbder einzelnen Einrichtung ermöglichen, muss an dieserStelle offen bleiben.

Für die Zukunft ist mit weiteren Veränderungen bei denZusammensetzungen von Gruppen in den Tageseinrich-tungen zu rechnen. Kindergärten (in den alten Bundeslän-dern) werden sich angesichts abnehmender Kinderzahlenwie auch des gesellschaftspolitisch gewollten Platzaus-baus für jüngere Kinder zunehmend für unter 3-jährigeKinder öffnen. Im Durchschnitt jünger werden dürftenKindergartengruppen infolge der zu beobachtenden Ten-denz zu einer Absenkung des faktischen Schuleintrittsal-ters (www.senbjs.berlin.de; www.km.bayern.de) ebensowie aufgrund spezieller Fördergruppierungen für 5-Jäh-rige im Kindergarten (Sozialministerium des LandesMecklenburg-Vorpommern 2004). Der Frage der Alters-mischung von Kindergruppen in Tageseinrichtungen wirdin der pädagogischen Fachdiskussion große Bedeutungbeigemessen (Merker 1998; Völkel 1995). Bedauerlicher-weise gibt es in Deutschland keine empirischen Untersu-chungen zu den Auswirkungen der verschiedenen For-men der Altersgruppierung auf Kinder. BehaupteteVorteile wie Nachteile bewegen sich vorwiegend im Be-reich der Spekulation.

Für die Bereitstellung eines bedarfsgerechten Angebotsan Plätzen in Tageseinrichtungen sind die örtlichen Ju-

gendhilfeträger verantwortlich (§ 69 SGB VIII). DieKindertageseinrichtungen selbst werden jedoch dem Sub-sidiaritätsprinzip entsprechend von einer Vielzahl unter-schiedlicher Träger mit Vorrang vor dem öffentlichenTräger betrieben. Überall dort, wo die freie JugendhilfeAufgaben der Tagesbetreuung übernehmen kann, soll dieöffentliche Jugendhilfe davon absehen (§ 4 Abs. 2SGB VIII). Nach den zuletzt verfügbaren Daten (2002)befinden sich 60 Prozent der Einrichtungen in freier Trä-gerschaft (Wohlfahrtsverbände und Kirchen, Elterninitia-tiven, betriebliche Einrichtungen) und 40 Prozent in öf-fentlicher Trägerschaft (Kommunen).

Bei den Einrichtungen wie auch bei den Plätzen ergebensich deutliche Ost-West-Unterschiede. Während sich inden westlichen Bundesländern 61 Prozent aller Plätze inKindertageseinrichtungen in freier Trägerschaft befinden,sind es in den östlichen Bundesländern nur 43 Prozent.Auch bei den freien Trägern lassen sich deutliche Ost-West-Unterschiede verzeichnen. In Ostdeutschland verfü-gen die nicht-kirchlichen Träger unter den freien Trägernüber 33 Prozent aller Plätze in Kindertageseinrichtungen;der Anteil der Plätze in kirchlichen Einrichtungen liegtbei 8,5 Prozent, davon fast 7 Prozent in evangelischenund fast 2 Prozent in katholischen Einrichtungen. InWestdeutschland sind demgegenüber 19 Prozent derPlätze in evangelischer und 27 Prozent in katholischerTrägerschaft (vgl. Tab. 5.6).

Ta b e l l e 5.6

Verfügbare Plätze in Tageseinrichtungen für Kinder nach Art des Trägers (Deutschland, westliche und östliche Bundesländer; 31. Dezember 2002)

Quelle: Statistisches Bundesamt 2004d; eigene Berechnungen

Deutschland Westliche Bundesländer einschl. Berlin

Östliche Bundesländer

absolut % absolut % absolut %Insgesamt 3 142 497 100 2 505 360 100 637 137 100davon:

Öffentliche Träger 1 345 823 42,8 979 179 39,1 366 644 57,5Freie Träger 1 796 674 57,2 1 526 181 60,9 270 493 42,5davon:

Arbeiterwohlfahrt 138 320 4,4 88 781 3,5 49 539 7,8DPWV 167 520 5,3 85 784 3,4 81 736 12,8Deutsches Rotes Kreuz 83 567 2,7 55 350 2,2 28 217 4,4DW/EKD 507 562 16,2 465 017 18,6 42 545 6,7Caritasverb./kath. Kirch. 685 451 21,8 673 618 26,9 11 833 1,9Zentralwohlf d. Juden 1 066 0,0 1 066 0,0 0 0,0Sonst. Religionsgem. 9 256 0,3 8 508 0,3 748 0,1Jugendverbände usw. 1 277 0,0 1 082 0,0 195 0,0Wirtschaftsunternehmen 12 391 0,4 6 345 0,3 6 046 0,9Sonstige jur. Personen 190 264 6,1 140 630 5,6 49 634 7,8

Page 202: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 192 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Insgesamt hat sich der Anteil der Plätze in Einrichtungenin freier Trägerschaft in Ostdeutschland seit 1991 ver-zehnfacht (1991: 4 Prozent; 2002: 43 Prozent). In West-deutschland ist der traditionell hohe Anteil der Einrichtun-gen in freier Trägerschaft seit 1990 leicht rückläufig(1990: 67 Prozent; 2002: 61 Prozent). Dies dürfte daraufzurückzuführen sein, dass im Zuge des Rechtsanspruchsauf einen Kindergartenplatz die Einrichtungen kommuna-ler Trägerschaft notgedrungen stärker expandierten, umden Rechtsanspruch erfüllen zu können. Allerdings findetsich in manchen Regionen mit einem hohen Anteil kom-munaler Trägerschaft (z. B. Berlin) auch die Tendenz,kommunale Kindertageseinrichtungen in freie Träger-schaft überzuführen (www.gew-berlin.de); dieser Effektschlägt sich in der starken zahlenmäßigen Zunahme derEinrichtungen in freier Trägerschaft in den neuen Bundes-ländern nieder.

Zu den Kindertageseinrichtungen in nicht-staatlicher Trä-gerschaft gehören auch die betrieblichen Einrichtungensowie die Elterninitiativen. Die Anzahl der Betriebskin-dergärten ist bis zum Jahresende 2002 auf 272 gegenüber302 Einrichtungen im Jahr 1994 gesunken; sie stellen le-diglich 0,5 Prozent der verfügbaren Plätze. Eine neuereStudie zeigt, dass Kindertageseinrichtungen in betriebli-cher Trägerschaft eine betriebswirtschaftlich durchauslohnende Investition darstellen können (BMFSFJ 2003).Inwieweit das Engagement von Betrieben hinsichtlich derKindertagesbetreuung ausgeschöpft wird, bleibt jedochunklar. Neuere Entwicklungen in der Kooperation zwi-schen Wirtschaft und Jugendhilfe werden statistischkaum erfasst (Hagemann u. a. 1999).187

Der Anteil von Eltern-Kind-Initiativen lag 2002 insge-samt bei 7 Prozent der Einrichtungen mit einem Anteilvon insgesamt 3,1 Plätzen. In Westdeutschland (ohneBerlin) ist der Anteil der Plätze um 20 Prozent gegenüber1998 zurückgegangen, in Ostdeutschland (ohne Berlin)hat er sich mit gegenwärtig gut 3 Prozent der Plätze in El-terninitiativen seit 1994 mehr als verdoppelt. Über diesebesonderen Einrichtungen hinaus erfasst die Statistikauch die Plätze in so genannten „kindergartenähnlichenEinrichtungen“. Hierunter fallen beispielsweise die Spiel-kreise in Niedersachsen, das Angebot „Ein Netz für Kin-der“ in Bayern und die geförderten Eltern-Kind-Gruppenin Berlin, die aus ehemaligen Miniclubs entstanden sindund an mindestens drei Tagen pro Woche regelmäßigeBetreuung gewährleisten. Insgesamt stellen kindergarten-ähnliche Einrichtungen knapp 11 Prozent der verfügbarenPlätze in Deutschland. Ihr Anteil ist seit 1994(14 Prozent) rückläufig.

Am Jahresende 2002 gab es in Deutschland 10 100 Tages-einrichtungen mit 55 700 Plätzen für behinderte Kinder.Damit betreut gut jede fünfte Einrichtung als behindert an-erkannte Kinder gemäß § 39 BSHG. Der Anteil ist in denalten Bundesländern und in den neuen Bundesländern so

gut wie identisch. Bei der ganz überwiegenden Anzahl derEinrichtungen mit behinderten Kindern handelt es sich umso genannte „integrative Einrichtungen“, in denen behin-derte und nicht behinderte Kinder gemeinsam betreut wer-den (97 Prozent). Die Anzahl der Einrichtungen nur mitbehinderten Kindern beläuft sich auf 299 und hat sich ge-genüber 1994 mit 557 Einrichtungen nahezu halbiert.

Zusammenfassung: Die institutionelle Kindertagesbetreu-ung stellt ein großes System dar. Mit 3,1 Mio. verfügba-ren Plätzen (einschl. Hortplätze) liegt ihre Anzahl in der-selben Größenordnung wie die Gesamtzahl allerGrundschüler (3,2 Mio.). Die Einrichtungsformen unter-scheiden sich nach den Altersgruppen der betreuten Kin-der. In Westdeutschland ist der Kindergarten mit Kindernim Alter von 3 Jahren bis zum Schuleintritt die nach wievor dominierende Einrichtungsform (74 Prozent gegen-über nur 5 Prozent in Ostdeutschland). In Ostdeutschlandsind 80 Prozent aller Einrichtungen so genannte Kombi-Einrichtungen, in denen auch jüngere Kinder (unter3 Jahren) und/oder Kinder im Schulalter (Hort) betreutwerden. In Westdeutschland liegt der Anteil solcher Ein-richtungen bei 19 Prozent.

Die Trägerstrukturen haben sich in Ost- und Westdeutsch-land einander stark angenähert, zeigen aber immer nochdeutliche Unterschiede. Die Dominanz der freien Träger,insbesondere der kirchlichen Träger, in Westdeutschlandhat in Ostdeutschland keine Entsprechung. Der Anteil derfreien Träger ist im Zwölf-Jahre-Vergleich (von 1990/1991 bis 2002) im Westen leicht rückläufig, im Osten an-wachsend. Elterninitiativen als Träger von Einrichtungenhaben in den zurückliegenden Jahren an Bedeutung verlo-ren. Eine erhebliche Anzahl von Einrichtungen hat sichauf die integrierte Förderung von als behindert anerkann-ten Kindern eingestellt (gut 20 Prozent). Die integrativeErziehung gehört damit zum Regelangebot der Kinderta-geseinrichtungen.

In Deutschland gibt es bislang keine empirische Evidenzdafür, in welcher Alterszusammensetzung Kinder am bes-ten gefördert werden können. Die Frage gewinnt speziellim Hinblick auf den Ausbau für die Kinder unter 3 Jahrenan Bedeutung, der die Möglichkeiten der Altersmischungfür viele Einrichtungen erweitern wird; sie sollte deshalbsystematisch erforscht werden.

5.3.3.2 Platzangebot, Versorgungsquoten und Inanspruchnahme

Für Informationen zu Platzangeboten und Versorgungs-quoten sowie zur Inanspruchnahme institutioneller Tages-betreuung stehen in Deutschland nur begrenzt Daten zurVerfügung. Im Wesentlichen kann auf vier Datenquellenzurückgegriffen werden, die jeweils spezifische Stärkenund Schwächen aufweisen: die Kinder- und Jugendhil-festatistik (Platzstatistik, Erhebungen alle 4 Jahre), derjährliche Mikrozensus188 (1 Prozent-Bevölkerungsstich-

187 Jenseits des in der Kinder- und Jugendhilfestatistik verzeichnetenzahlenmäßigen Rückgangs der Betriebskindergärten haben in derDJI-Kinderbetreuungsstudie 2005 knapp 7 Prozent der erwerbstäti-gen Mütter angegeben, dass es bei ihnen eine Kinderbetreuungsmög-lichkeit im Betrieb gibt.

188 Vgl. dazu auch Fuchs (2005). Hingewiesen werden muss darauf, dassab 2004 der Mikrozensus diese Informationen nicht mehr erhebt.Zum Mikrozensus und zur Kinder- und Jugendhilfestatistik vgl.Glossar.

Page 203: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 193 – Drucksache 15/6014

probe), das Sozio-oekonomische Panel und die Kinderbe-treuungsstudie des Deutschen Jugendinstituts 2005.189

Nach Angaben der Kinder- und Jugendhilfestatistik gabes zum Jahresende 2002 in Deutschland 191 000 Plätzefür Kinder im Krippenalter (Kinder unter 3 Jahre); diesentspricht einer durchschnittlichen Versorgungsquote190

von 9 Prozent (Statistisches Bundesamt 2004d). Hinterdieser Durchschnittszahl verbergen sich starke regionaleDifferenzen. So beläuft sich der durchschnittliche Versor-gungsgrad in den östlichen Flächenländern auf 37 Pro-zent, in den westlichen Flächenländern hingegen nur auf2,4 Prozent und in den Stadtstaaten auf 26 Prozent (vgl.Tab. 5.7).

Ta b e l l e 5.7

Verfügbare Plätze in Tageseinrichtungen für unter 3-jährige Kinder (Deutschland, westliche und

östliche Flächenländer sowie Stadtstaaten; 31. Dezember 2002; pro 100 der unter

3-Jährigen in der Bevölkerung)

Quelle: Statistisches Bundesamt 2004d; eigene Berechnungen

Die durchschnittliche Versorgung im Krippenbereich istin den alten Bundesländern auch im mehrjährigen Ver-gleich von 1990 bis 2002 nur wenig gestiegen. In denneuen Bundesländern fiel die Platz-Kind-Relation von53 Prozent im Jahr 1991 auf 35 Prozent im Jahr 1998; in-zwischen ist sie wieder auf 37 Prozent gestiegen. Die Dif-ferenzen in der Versorgung im Krippenbereich zwischenOst und West sind nach wie vor so groß, dass von zweiunterschiedlichen Systemen gesprochen werden muss.Dies drückt sich auch in der Art der Plätze aus. Die weni-gen Krippenplätze in den westlichen Flächenstaaten sindzu drei Vierteln (72 Prozent) Ganztagsplätze, in denStadtstaaten sogar zu 91 Prozent gegenüber nur gut derHälfte (55 Prozent) in den neuen Bundesländern. DieseRelation verweist darauf, dass die wenigen Plätze inWestdeutschland vorwiegend bei Vollerwerbstätigkeitbeider Eltern, Alleinerziehung oder ähnlichen sozialenIndikationen vergeben werden, in Ostdeutschland jedochauch Teilzeitplätze als institutionelle Bildungsorte für

Kinder außerhalb sozialer Notlagen eine quantitativ be-deutende Rolle spielen.

Große Differenzen im Versorgungsgrad – hier bestimmtüber die Platz-Kind-Relation – ergeben sich auch jeweilsinnerhalb der westlichen und der östlichen Bundesländer.So wies Sachsen-Anhalt Ende 2002 einen Versorgungs-grad von 57 Prozent gegenüber 29 Prozent in Sachsenauf. In den westlichen Bundesländern betrug in den Stadt-staaten Hamburg und Bremen die Platz-Kind-Relation13 Prozent bzw. 10 Prozent im Krippenbereich, währendsie in Bayern und Baden-Württemberg jeweils bei ledig-lich 2 Prozent lag. Die Großstädte weisen traditionell er-heblich höhere Quoten auf als Klein- und Mittelstädtebzw. ländliche Regionen, wie auch die DJI-Kinderbetreu-ungsstudie 2005 zeigt.

Deutlich homogener stellt sich die Platz-Kind-Relationim Kindergartenbereich dar. Im Zuge des Rechtsan-spruchs auf einen Kindergartenplatz wurde 2002 in denwestlichen Flächenländern eine Versorgungsquote von91 Prozent erreicht, gegenüber noch knapp 70 Prozent imJahr 1990. In den Stadtstaaten lag die Versorgungsquoteim Jahr 2002 mit 84 Prozent niedriger. Dies dürfte daraufzurückzuführen sein, dass sich ein Anteil der 5-Jährigenschon im Schulsystem befand (Vorklasse). In den öst-lichen Flächenländern gibt es im statistischen Durch-schnitt eine Vollversorgung mit Kindergartenplätzen(vgl. Tab. 5.8).

Ta b e l l e 5.8

Entwicklung der Plätze in Tageseinrichtungen für Kinder im Alter von 3 Jahren bis zum Schuleintritt,

1990/91 bis 2002 (Deutschland, westliche und östliche Flächenländer sowie Stadtstaaten; pro 100 der 3- bis unter 6½-Jährigen in der Bevölkerung)

Quelle: Statistisches Bundesamt 2004d; eigene Berechnungen

Gravierende Unterschiede lassen sich allerdings bei denAngebotszeiten feststellen. In den östlichen Flächenstaa-ten sind 98 Prozent der Plätze Ganztagsplätze gegenübernur 24 Prozent in den westlichen Flächenstaaten; in denStadtstaaten liegt der Anteil bei 76 Prozent (StatistischesBundesamt 2004d).

Die tatsächliche Nutzung des Platzangebots der institutio-nellen Kindertagesbetreuung im Krippen- wie im Kinder-gartenbereich, nachgewiesen durch Daten des Mikrozen-sus, ist neben dem Umfang des Angebots am Wohnort ineine Vielzahl von Bedingungen eingebettet, mit denen siepotenziell kovariiert. Zu nennen sind hier Alter und Ge-schwisterkonstellation des Kindes, Bildungs-, Familien-

189 Die Daten zu Versorgungsquoten und Inanspruchnahme institutionel-ler Tagesbetreuung variieren in gewissem Ausmaß je nach Daten-quelle (vgl. Abb. A-5.3 im Anhang). Zum Sozio-oekonomischen Pa-nel und zur DJI-Kinderbetreuungsstudie vgl. Glossar.

190 Platz-Kind-Relation. Zur Berechnung der Versorgungsquote wird diein der Jugendhilfestatistik ermittelte Platzzahl zur Anzahl der Kinderder entsprechenden Altersgruppe aus der Bevölkerungsstatistik inBeziehung gesetzt.

1990/91 1994 1998 2002

Westliche Flächenländer 1,1 1,4 1,9 2,4

Östliche Flächenländer 52,6 40,0 34,8 37,0

Stadtstaaten 22,8 20,7 22,7 25,8

1990/91 1994 1998 2002

Westliche Flächenländer 68,8 74,8 88,2 90,6

Östliche Flächenländer 97,4 96,6 113,7 105,1

Stadtstaaten 73,7 71,2 82,6 84,0

Page 204: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 194 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

und Migrationsstatus der Eltern oder auch elterliche Er-werbstätigkeit, wobei viele dieser Bedingungen nicht un-abhängig voneinander sind, sondern sich überlagern.

Alter der Kinder: Starke Altersdifferenzierungen der In-anspruchnahme ergeben sich im Krippenbereich. Diesgilt in Ost- und Westdeutschland gleichermaßen, wennauch auf unterschiedlichem Niveau. In beiden Landestei-len handelt es sich bei der institutionellen Betreuungunter 3-Jähriger ganz dominant um die Betreuung 2- bisunter 3-jähriger Kinder.191 Auffällig ist, dass die Beteili-gung der 2- bis unter 3-Jährigen an institutioneller Kin-derbetreuung in Ostdeutschland ein der Kindergartenbe-suchsquote ähnliches Niveau aufweist (vgl. Tab. 5.9).

Für die Inanspruchnahme eines Kindergartenplatzesspielt das Alter der Kinder in Ostdeutschland keine Rolle.Von der Altersgruppe der 3- bis unter 4-Jährigen besuchteim Jahr 2002 mit 86 Prozent nur ein geringfügig kleinererAnteil einen Kindergarten als bei den 5- bis unter 6-Jähri-gen (89 Prozent bis 90 Prozent). In Westdeutschland da-gegen besuchte von den 3- bis unter 4-Jährigen nur gut je-des zweite Kind einen Kindergarten (55 Prozent) (vgl.Abb. A-5.2 im Anhang). Die Quote fällt damit niedrigeraus als bei den 2- bis unter 3-Jährigen in Ostdeutschland.Der maximale Anteil von Kindern einer Altersgruppe, dieeinen Kindergarten besuchen, liegt bei 90 Prozent.

Vergleicht man unter dem Strich die verschiedenen Da-tengrundlagen zur Inanspruchnahme öffentlicher Kinder-betreuung in Kindertageseinrichtungen für unter 3-Jäh-

rige in Westdeutschland, dann zeigt sich zumindest imTrend eine steigende Anzahl an Plätzen (vgl. Abb. A-5.3im Anhang). Ob sich damit bereits ein spürbarer Effektder begonnenen Ausbauaktivitäten in den letzten Jahrenandeutet – was aufgrund der zurückgehenden Kinderzah-len im Kindergartenalter durchaus plausibel wäre (infolgeder Umwandlung von Plätzen zugunsten der unter 3-Jäh-rigen) – oder ob dies vor allem auf die unterschiedlichenDatenquellen und Erhebungsformen zurückzuführen ist,lässt sich noch nicht abschließend klären.

Die Inanspruchnahme von Betreuungsangeboten ist vonunterschiedlichen Einflussfaktoren abhängig, von denennachfolgend einige überprüft werden sollen.

– Geschwisterkonstellation: Auf allen Altersstufen wer-den Einzelkinder häufiger und zeitlich länger institu-tionell betreut als Kinder mit Geschwistern. Das gilt inOst und West in gleicher Weise (Büchel/Spieß 2002,S. 42ff.).

– Familienform: Die Kinder Alleinerziehender sind häu-figer in die vorschulischen Einrichtungen einbezogenals Kinder aus Partnerfamilien. Diese Differenz ist beiKindern im Krippenalter deutlicher ausgeprägt als beiKindern im Kindergartenalter und beträgt im Bundes-durchschnitt 16 Prozent gegenüber 9 Prozent (Fuchs2005, S. 6). In der Relation kommt zum Ausdruck,dass die knappen Plätze stark nach sozialem Bedarfvergeben werden.

– Erwerbstätigkeit: Kinder aus Partnerfamilien, in de-nen beide Eltern erwerbstätig sind, besuchen häufigereine Einrichtung als Kinder von Eltern mit anderemErwerbsstatus. Das gilt für Kinder im Krippen- und im

191 Diese Relationen belegen auch die Daten der neuen DJI-Kinderbe-treuungsstudie, DJI 2005; vgl. Abb. A-5.1 im Anhang)

Ta b e l l e 5 . 9

Quote der Inanspruchnahme von Plätzen in Tageseinrichtungen für Kinder nach dem Alter der Kinder (Deutschland, westliche und östliche Bundesländer; April 2002)

1 Die Untergliederung wurde mit dem Scientific-Use-File berechnet.Quelle: Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2002; Für unter 3-Jährige in Altersjahrgängen Statistisches Bundesamt, Sientific-Use-File des Mikro-zensus 2002; Berechnungen der Dortmunder Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik

Deutschland Westliche Bundesländer einschl. Berlin West

Östliche Bundesländer einschl. Berlin Ost

Unter 3 Jahre insgesamt 10,2 5,9 36,8

davon:1

Unter 1-Jährige 2,0 1,3 7,0

1-Jährige 8,1 4,5 32,5

2-Jährige 19,3 12,4 64,9

3-Jährige 58,6 54,6 86,2

4-Jährige 85,8 85,3 89,3

5-Jährige 92,5 92,9 89,4

6-Jährige und ältere 90,9 91,0 90,1

Page 205: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 195 – Drucksache 15/6014

Kindergartenalter in gleicher Weise. Entsprechende,noch stärker ausgeprägte Differenzierungen, lassensich bei Kindern alleinerziehender Eltern in Abhän-gigkeit von deren Erwerbsstatus feststellen (Fuchs2005, S. 6).

– Familieneinkommen: Berücksichtigt man beim Haus-haltsnettoeinkommen die Tatsache, dass je nach Fami-liensituation der Lebensunterhalt einer unterschiedli-chen Anzahl von Erwachsenen und Kindern gesichertwerden muss, und legt dementsprechend eine so ge-nannte Äquivalenzskala zugrunde, die solche Unter-schiede neutralisiert, dann zeigt sich, dass bei höheremEinkommen die institutionelle Betreuung steigt undinsbesondere die Kinder unter 3 Jahren eher ganztägiginstitutionell betreut werden (Büchel/Spieß 2002,S. 45).

– Bildungsstatus: Bei einem höheren allgemein bilden-den Abschluss der Bezugsperson (nach Definition desMikrozensus bei Partnerfamilien: Vater, sonst der al-leinerziehende Elternteil) ist die Wahrscheinlichkeitgrößer, dass ein Kind institutionell betreut wird. Deut-liche Unterschiede in den Beteiligungsquoten liegenzwischen Kindern, deren Bezugsperson als Bildungs-abschluss die mittlere Reife (oder einen höheren Ab-schluss) hat und Kindern, deren Bezugsperson über ei-nen niedrigeren Bildungsabschluss verfügt (Fuchs2005, S. 4). Bei westdeutschen Kindern, die eineKrippe oder einen Ganztagsplatz im Kindergarten be-suchen, zeigt sich überdies, dass sie überdurchschnitt-lich häufig eine akademisch gebildete Mutter haben(Büchel/Spieß 2002, S. 43).

– Familiale Herkunft: Ausländische Kinder, namentlichsoweit sie aus Nicht-EU-Ländern stammen, besuchenseltener eine Kindertageseinrichtung als deutsche Kin-der. Im Kindergartenbereich macht die Differenz rund10 Prozent aus (Fuchs 2005, S. 4). Vor allem in denersten Kindergartenjahren sind Kinder mit Migrations-hintergrund zudem unterrepräsentiert, ein Befund, dersich auch in anderen Studien wieder findet.

In der sozialen Wirklichkeit sind die Faktoren, in die derBesuch bzw. der Nicht-Besuch eines Kindes in einer Kin-dertageseinrichtung eingebunden ist, meist nicht unab-hängig voneinander, sondern oftmals miteinander verwo-ben. So ist z. B. bei einem höheren allgemeinbildendenSchulabschluss ein höheres Einkommen zu erwarten bzw.ist der Migrationsstatus (Nicht-EU-Bürger) im Regelfallmit einem niedrigen Bildungsabschluss verbunden. Bis-lang liegen zwei größere multivariate Analysen vor, diedie eigenständige Bedeutung verschiedener „Einflussfak-toren“ für den Besuch einer Kindertageseinrichtung (bzw.die Nicht-Teilnahme an institutioneller Kindertagesbe-treuung) schätzen, wobei die Untersuchung von Büchelund Spieß (2002) die SOEP-Daten des Jahres 2000 unddie Untersuchung von Fuchs (2005) Daten des Mikrozen-sus 2000 nutzt.

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind unter 3 Jahren eineKindertageseinrichtung besucht, wird nach den Analysenauf der Grundlage des Mikrozensus am stärksten durchdas jeweilige Bundesland als Standort (Platzangebot) so-

wie durch das Alter des Kindes bestimmt. Es folgen Fak-toren der Erwerbstätigkeit (alleinerziehender Elternteilerwerbstätig, beide Eltern in Partnerfamilie erwerbstätig,Umfang der Erwerbstätigkeit). Ein eigenständiger Bei-trag, wenngleich im Betrag gering, ist auch beim Bil-dungsstatus der Bezugspersonen zu vermuten. Kein ei-genständiger Effekt findet sich bei Kontrolle der übrigenFaktoren für den Migrationsstatus und das Haushaltsein-kommen. Die Regressionsanalysen der Kinderbetreuungsstudie be-stätigen den Einfluss der Erwerbstätigkeit der Mutter,während ein Effekt ihres Bildungsabschlusses nicht nach-gewiesen werden konnte. Hingegen lässt sich feststellen,dass nicht nur das Haushaltseinkommen, sondern, wie ge-zeigt, auch das Äquivalenzeinkommen für den Krippen-besuch eine Rolle spielt: Geringes Einkommen machteine institutionelle Betreuung weniger wahrscheinlich.Auch in der Kinderbetreuungsstudie hat der Migrations-hintergrund diesbezüglich keinen Einfluss auf die Betreu-ungssituation.Als bislang unberücksichtigter Effekt kommt in der Kin-derbetreuungsstudie der Grad der Urbanität hinzu: Jegroßstädtischer die Wohngegend ist, desto eher wird aufeine institutionelle Betreuung zurückgegriffen (Platzan-gebot). Ein weiterer signifikanter Effekt geht von demUmstand aus, dass in Regionen mit einer eher prekärensozialen und wirtschaftlichen Lage die Wahrscheinlich-keit einer Betreuung in einer Institution wächst. Beim Kindergartenbesuch, der inzwischen als Normalfallin der Bildungs- und Betreuungsbiografie für Kinder imAlter von 3 Jahren bis zum Schuleintritt angesehen wer-den kann, stellt sich die Frage, welche Faktoren die Wahr-scheinlichkeit erhöhen, dass ein Kind keinen Kindergar-ten besucht. Ein starker Effekt in der multivariatenAnalyse geht auch hier vom Alter des Kindes aus (je jün-ger, desto eher Nicht-Kindergartenkind); ebenfalls spieltdas jeweilige Bundesland als Standort eine gewisse Rolle(östliche Bundesländer: geringere Wahrscheinlichkeit,Nicht-Kindergartenkind zu sein). Des Weiteren sinkt dieWahrscheinlichkeit, dass ein Kind keinen Kindergartenbesucht, wenn die Eltern erwerbstätig sind und die Wo-chenarbeitszeit eher hoch ist, ferner wenn das Kind miteinem alleinerziehenden Elternteil lebt. Ein vergleichs-weise hoher Stellenwert für den Nicht-Besuch im Kinder-garten kommt einem niedrigen Schulabschluss der Be-zugsperson zu. Anders als bei den unter 3 Jahre altenKindern spielt der Migrationsstatus insofern eine eigen-ständige Rolle, als die Kinder von Ausländern aus Nicht-EU-Staaten seltener einen Kindergarten besuchen. Wiebei den Kindern unter 3 Jahren zeigt sich auch hier keinEffekt des absoluten Haushaltseinkommens auf den Kin-dergartenbesuch. Ein solcher Effekt dürfte jedoch zu er-warten sein, wenn man anstelle des absoluten Haushalts-einkommens eine für die Anzahl der im Haushaltlebenden Personen korrigierte Einkommensäquivalenz-skala anlegte (Büchel/Spieß 2002).192 Die multivariate

192 Den vorläufigen Auswertungen der DJI-Kinderbetreuungsstudie, (DJI2005) ist ein deutlich positiver Zusammenhang zwischen der Höhedes Äquivalenzeinkommens (vgl. Glossar) sowie der Wahrschein-lichkeit des Besuchs einer Kindertageseinrichtung zu entnehmen.

Page 206: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 196 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Analyse für den Nicht-Besuch des Kindergartens vonKindern dieser Altersgruppe erklärt die Tatsache aller-dings nur schwach (rund 12 Prozent erklärte Varianz); esmuss also mit zahlreichen anderen Einflussfaktoren ge-rechnet werden, die den Nicht-Besuch im Kindergartenwahrscheinlich machen. Angesichts der Bedeutung desKindergartens für die weitere Bildungsbiografie bedarf eshier zusätzlicher Forschungsanstrengungen zur Erhellungder Gründe für den Nicht-Kindergartenbesuch.

Auch die DJI-Kinderbetreuungsstudie bestätigt, dass derOst-West Effekt bei dem Besuch oder Nicht-Besuch einesKindergartens die größte Rolle spielt. Die Erwerbstätig-keit und die Bildung sind in den Analysen hingegen nurdann bedeutsam, wenn der Migrationshintergrund als ei-genständiger Effekt nicht mit einbezogen wird. DerNicht-Besuch eines Kindergartens hängt also vor allemmit dem Migrationsstatus, dem Ost-West-Effekt sowiedem Alter des Kindes zusammen. Je älter ein Kind ist,desto wahrscheinlicher geht es in den Kindergarten.Gleichfalls bedeutsam ist die Anzahl der Kinder im Haus-halt, da mit steigender Kinderzahl der Besuch des Kinder-gartens weniger wahrscheinlich ist. Deutlich wird durchdie Kinderbetreuungsstudie, dass in stark verdichtetenRäumen (Großstädten) die Wahrscheinlichkeit steigt, dassein Kind den Kindergarten besucht.

Zusammenfassung: Die Chancen des Zugangs von Kin-dern im Vorschulalter zu institutioneller Bildung, Betreu-ung und Erziehung sind in Deutschland sehr unterschied-lich. Dies gilt insbesondere für die Kinder unter 3 Jahren,bei denen in den östlichen Bundesländern, und mit gewis-sem Abstand auch in den Stadtstaaten eine um ein Vielfa-ches höhere Platzchance besteht. Ähnliches gilt aber auchnoch für die jüngeren Kinder im Kindergartenalter. ImLangzeitvergleich der letzten zwölf Jahre haben sich hier-bei kaum Veränderungen ergeben. Von regionalen Gege-benheiten sowie dem Alter der Kinder abgesehen, sind eszum einen Faktoren der Familiensituation (Erwerbssitua-tion, Status als alleinerziehender Elternteil), die die Ein-beziehung eines Kindes in eine Kindertageseinrichtungbeeinflussen, zum anderen der Bildungsstatus der Eltern.Sowohl bei höherem Bildungsstatus der Eltern von Kin-dern im Kindergartenalter als auch schon bei den unter3-jährigen Kindern wächst die Wahrscheinlichkeit derBeteiligung an einer institutionellen Bildung, Betreuungund Erziehung. Bei den Kindern im Kindergartenalterwirkt sich zusätzlich der Migrationsstatus (Nicht-EU-Ausländer) auf den Kindergartenbesuch aus. Die Tatsa-che, dass durch die vorliegenden Analysen die Nicht-Teilnahme an der Kindergartenerziehung nur unzurei-chend geklärt werden kann, wobei es sich auch bei den äl-teren Kindergarten-Jahrgängen immerhin um rund10 Prozent der Kinder handelt, bedarf zukünftig differen-zierter Forschungsanstrengungen sowie entsprechenderAnstrengungen in der Praxis, damit gerade dieser als so-zial benachteiligt erkennbaren Gruppe von Kindern mög-lichst frühe und umfassende Förderung zukommen kann.

5.3.3.3 Zukünftiger Bedarf an PlätzenSchätzungen für den zukünftigen Bedarf an Plätzen kön-nen sehr unterschiedlich ausfallen, je nachdem, ob von ei-nem politisch definierten Bedarf ausgegangen wird oder

die Nachfrage von Eltern zum Ausgangspunkt genommenwird. Darüber hinaus dürfte das jeweils aktuelle Nachfra-geverhalten von Eltern selbst davon abhängen, welcheAngebote tatsächlich zur Verfügung stehen (Spieß/Wroh-lich 2005).193 Von daher sind Prognosen über einen erfor-derlichen Platzausbau in ihrer Generalisierungsfähigkeitbegrenzt und an die jeweils angenommenen Rahmenbe-dingungen gebunden.

Die aktuellen Rahmenbedingungen sind ganz überwie-gend politisch bedingt und in Westdeutschland traditio-nell durch Angebotsknappheit gekennzeichnet. DieseKnappheit wurde im Kindergartenbereich erst durch denRechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz weitgehendaufgehoben; bei den unter 3-Jährigen wird die angestrebteVersorgungsquote von 20 Prozent zur Lockerung beitra-gen. Die Wirksamkeit solcher Rahmenbedingungen ist inDeutschland mit seinen zwei unterschiedlich gewachse-nen Früherziehungssystemen offensichtlich. So mussz. B. die Tatsache, dass die Quote der Kindergartenbetei-ligung bei den 3-Jährigen in den westdeutschen Flächen-staaten bei lediglich gut 50 Prozent, in den ostdeutschendagegen bei über 80 Prozent liegt, als eine Funktion sol-cher Rahmenbedingungen wie auch gewachsener Verhal-tensmuster betrachtet werden. Gleiches gilt für die Gege-benheit, dass die institutionell betreuten Kinder unter3 Jahren in Westdeutschland deutlich häufiger ganztagsbetreut werden als in Ostdeutschland mit seinem um einVielfaches größeren Platzangebot. Letzteres lässt die in-stitutionelle Betreuung kleiner Kinder auch außerhalbganz eng gefasster Lebenslagen der Eltern zu (z. B. Voll-erwerbstätigkeit beider Eltern, Status als alleinerziehen-der Elternteil). Die Abschätzung des Bedarfs sowie einePrognose zu erforderlichen Plätzen hängen des Weiterenvon der demografischen Entwicklung (aktuell: sinkendeKinderzahlen) und der Frage ab, ob die bisherigen Sys-temgrenzen sich verändern (beispielsweise Absenkungdes Schuleintrittsalters).194

(a) Einrichtungsplätze für Kinder im Alter von 3 Jahren bis zum Schuleintritt

Zum Bedarf an Plätzen für Kinder im Alter von 3 Jahrenbis zum Schuleintritt im Jahr 2010 wird von folgendenAnnahmen ausgegangen:

– Mit dem Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatzbei freier Elternentscheidung hat der Gesetzgeber denEltern die Option der Inanspruchnahme überlassen.Unter den Bedingungen in Ostdeutschland, wo schonlange ein hinreichendes Angebot vorhanden ist (vgl.Abb. 5.5), zeigt sich, dass diese Möglichkeit nahezuunabhängig vom Alter der Kinder wahrgenommenwird, während in Westdeutschland erst jedes zweite3- bis unter 4-jährige Kind einen Kindergarten be-sucht. Die Zeitreihe (vgl. Abb. 5.6) verdeutlicht, dass

193 Zu den vielfältigen Einflussfaktoren für das Nachfrageverhalten vonEltern vgl. die DJI-Kinderbetreuungsstudie (DJI 2005).

194 Die folgenden Berechnungen wurden von der Dortmunder Arbeits-stelle Kinder- und Jugendhilfestatistik durchgeführt.

Page 207: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 197 – Drucksache 15/6014

bei zunehmendem Platzangebot dieses zuerst für dieälteren Kinder genutzt wird. Eine Extrapolation desgegenwärtigen Trends lässt erwarten, dass in den kom-menden Jahren auch in den westlichen Flächenländernzunehmend mehr 3- bis unter 4-Jährige an der Kinder-gartenerziehung teilnehmen werden. Unterstützt wer-den dürfte die Tendenz durch die zu beobachtendePropagierung früher Bildung in unserer Gesellschaft.Vor diesem Hintergrund erscheint daher die Annahmeplausibel, dass sich die Kindergartenbeteiligungsquoteder 3- bis unter 4-Jährigen im Jahr 2010 weiterhin je-ner der Vier- bis Fünfjährigen annähert und bei etwa75 Prozent liegen wird. Das ist insbesondere dann zuerwarten, wenn die gegenwärtig häufig praktiziertenStichtagsregelungen für die 3- bis unter 4-Jährigenentfallen, deren faktische Konsequenz darin besteht,dass der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatzerst weit nach der Vollendung des 3. Lebensjahres ein-gelöst werden kann. Dieser Anstieg der Beteiligungbei den 3- bis unter 4-Jährigen dürfte auch dadurch be-flügelt werden, dass in Zukunft ein entsprechend ho-her Anteil institutionell betreuter Kinder unter 3 Jah-ren in das Kindergartensystem übernommen werdenmuss.

A b b i l d u n g 5.5

Kinder in Tageseinrichtungen nach Altersjahrgängen (östliche Bundesländer einschließlich Berlin-Ost;

1991 bis 2003; in Prozent)

Quelle: Statistisches Bundesamt, Bevölkerungsfortschreibung. Fachse-rie 1 Reihe 1., Stuttgart, verschiedene Jahrgänge (Auswertungen des Mi-krozensus); Berechnungen der Dortmunder Arbeitsstelle Kinder- undJugendhilfestatistik

A b b i l d u n g 5.6

Kinder in Tageseinrichtungen nach Altersjahrgängen (westliche Bundesländer einschließlich Berlin-West;

1991 bis 2003; in Prozent)

Quelle: Statistisches Bundesamt, Bevölkerungsfortschreibung. Fachse-rie 1 Reihe 1.3,Stuttgart, verschiedene Jahrgänge (Auswertungen desMikrozensus); Berechnungen der Dortmunder Arbeitsstelle Kinder- undJugendhilfestatistik

– Im Jahr 2010 wird in Westdeutschland nach der Be-völkerungsvorausberechnung der statistischen Ämterder Länder und des Bundes (Basis: 31. Dezember2001) die Anzahl der Kinder im Kindergartenalter um15 Prozent niedriger ausfallen als im Jahr 2002. Da-durch werden unter sonst gleichen Bedingungen Kin-dergartenplätze in Westdeutschland frei.

– Mit der Erweiterung des vorschulischen Bildungs-,Betreuungs- und Erziehungssystems „nach unten“ bie-tet sich eine Absenkung des gegenwärtigen, auch iminternationalen Vergleich hohen Schuleintrittsaltersvon durchschnittlich mehr als 6½ Jahren um 6 Monateauf 6 Jahre an. Die Bundesländer Bayern und Berlinhaben mit einer Absenkung des Schuleintrittsalters be-reits zum Schuljahr 2005/06 begonnen (www.sen-bjs.berlin.de; www.km.bayern. de). Bei einer Absen-kung des Schuleintrittsalters um ein halbes Jahrwerden für 50 Prozent eines KindergartenjahrgangsPlätze frei.

– Anders stellen sich die Gegebenheiten dar, wenn mandie Art der Kindergartenplätze betrachtet und hier ins-besondere die Ganztagsplätze. Geht man von densel-ben Bedarfskriterien für einen Ganztagsplatz im Kin-dergarten aus, wie sie der Gesetzgeber im TAG für dieunter Dreijährigen formuliert hat (beide Eltern gehen

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

1992

1993

1994

1995

1996

1997

1998

1999

2000

2001

2002

2003

in %

de

s je

we

ilig

en

Alte

rsja

hrg

an

gs

3-Jährige

4-Jährige

5-Jährige

6-Jährige

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

1991

1992

1993

1994

1995

1996

1997

1998

1999

2000

2001

2002

2003

in %

de

s je

we

ilig

en

Alte

rsja

hrg

an

gs

3-Jährige

4-Jährige

5-Jährige

6-Jährige

Page 208: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 198 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

einer Erwerbstätigkeit nach, nehmen an einer berufli-chen Bildungsmaßnahme teil, befinden sich in derSchul- oder der Hochschulausbildung, nehmen anMaßnahmen zur Eingliederung in das Arbeitsleben teiloder können eine dem Wohl des Kindes entsprechendeFörderung nicht gewährleisten), dann müssten gegen-wärtig gut 50 Prozent der Kindergartenplätze in denwestlichen Bundesländern anstelle der tatsächlichen24 Prozent als Ganztagsplätze ausgewiesen sein. Dasverweist auf die Notwendigkeit der Umwandlung ei-ner großen Anzahl von Halbtagsplätzen in Ganztags-plätze in der Altersgruppe der 3- bis unter 6-Jährigen.

– In Ostdeutschland dürfte bei einer leichten Zunahmeder Stärke der Kindergartenjahrgänge 2010 um4 Prozent gegenüber 2002 und einer Absenkung desSchuleintrittsalters nicht mit größeren Veränderungenbeim Platzbedarf zu rechnen sein. Auch ergibt sichkeine Notwendigkeit der Erweiterung von Halbtags-auf Ganztagsplätze, da Ganztagsplätze hier der Regel-fall sind.

Vor diesem Hintergrund beziehen sich die nachfolgendwiedergegebenen Bedarfsschätzungen für Kindergarten-plätze ausschließlich auf Westdeutschland (vgl. Tab.5.10).

Ta b e l l e 5.10

Schätzung des Bedarfs an Kindergartenplätzen im Jahr 2010 in Westdeutschland

1 Einem Ganztagsplatz entsprechen die Ressourcen von 1,5 Halbtags-plätzen.

Quelle: Dortmunder Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik, Be-rechnungen im Auftrag des Zwölften Kinder- und Jugendberichtes,Dortmund 2005

Die Anzahl der – bei sonst gleich bleibenden Bedingun-gen – frei werdenden Kindergartenplätze (650 000) über-steigt deutlich die Anzahl der zusätzlich benötigten Plätzefür die 3- bis unter 4-Jährigen (80 000) und der rechne-risch notwendigen Plätze (140 000), die für eine Um-wandlung von 250 000 Halbtagsplätzen in Ganztags-

plätze benötigt werden, wenn eine 50 Prozent-Quoteerreicht werden soll. Das heißt: Nach dieser Modellrech-nung steht ein ausreichendes Potenzial zur Verfügung, umzusätzlich 250 000 Ganztagsplätze durch Umwandlungvon Halbtagsplätzen zu schaffen und 80 000 3- bis 4-jäh-rige Kinder mit einem Kindergartenplatz zu versorgen. Esverbleiben 430 000 Kindergartenplätze, die als Umwand-lungspotential für den Ausbau des Platzangebots für dieunter 3-Jährigen genutzt werden können.

(b) Plätze in Tageseinrichtungen für Kinder unter 3 Jahren

Es ist damit zu rechnen, dass der Bedarf an Plätzen fürunter 3-Jährige aufgrund der Entwicklung der Erwerbstä-tigkeit der Eltern, insbesondere von jungen Müttern, biszum Jahr 2010 auf rund 20 Prozent steigen wird; dafürwürden insgesamt etwa 260 000 neue Plätze benötigt. Diedamit gegebene Versorgungsquote ist allerdings eine poli-tisch gesetzte Größe, sie spiegelt nicht zwingend das wi-der, was die Eltern als Bedarf wahrnehmen.

Vor diesem Hintergrund ist die spezielle Situation imLand Sachsen-Anhalt, wo der Rechtsanspruch auf einenKindertageseinrichtungsplatz von Geburt an besteht, vonbesonderem Interesse. Dort können Eltern – ohne poli-tisch gesetzte Deckelung – selbst entscheiden, was ihrBedarf ist. Es zeigt sich, dass auch bei einem rechtlich ge-sicherten Platz nur von einem geringen Teil (etwa5 Prozent) der Kinder im Säuglingsalter (unter einemJahr) ein Platz in Anspruch genommen wird. Bei den1- bis unter 2-Jährigen beläuft sich die Quote auf47 Prozent, und mit 80 Prozent bei den 2- bis unter 3-Jäh-rigen erreicht sie annähernd das Niveau der Kindergarten-versorgungsquote in den westlichen Bundesländern.Nimmt man die nicht durch Platzeinschränkungen ver-zerrte Situation des Landes Sachsen-Anhalt zum Aus-gangspunkt, dann ist die tatsächliche elterliche Nachfragenach Plätzen für Kinder im Krippenalter ganz überwie-gend eine Nachfrage für 2- bis unter 3-Jährige, zum gro-ßen Teil auch eine Nachfrage für 1- bis unter 2-Jährige,kaum jedoch eine Nachfrage für Kinder unter 1 Jahr.

Sicherlich wird man aufgrund gewachsener Traditionendes gegebenen Nachfrageverhaltens von Eltern mit Kin-dern unter 3 Jahren in Sachsen-Anhalt nicht umstandslosauf jenes von Eltern in den westlichen Bundesländernschließen können. Aufgrund anderer Traditionen in West-deutschland dürfte – auch bei einem Rechtsanspruch beiden unter 3-Jährigen – das tatsächliche Nachfrageverhal-ten der Eltern niedriger ausfallen. Mittel- bis langfristigjedoch ist bei Wegfall erzwungener Begrenzungen mit ei-ner Annäherung an die sachsen-anhaltinischen Gegeben-heiten zu rechnen. Nimmt man das bei den Eltern inSachsen-Anhalt unter den Bedingungen des Rechtsan-spruchs beobachtbare Nachfrageverhalten als Bezugs-punkt, so müssten in den westlichen Bundesländern620 000 neue Plätze für unter 3-jährige Kinder geschaf-fen werden, also 360 000 mehr als im TAG vorgesehen,zuzüglich 25 000 Plätze in den östlichen Bundesländern.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Veränderungenbeim prognostizierten Platzbedarf im Wesentlichen diewestlichen Bundesländer betreffen (Spieß/Wrohlich2005). Dem ausgeprägten Bedarf an Plätzen für unter

Platzart Veränderung in Anzahl

Frei werdende Kindergartenplätze auf-grund geringerer Jahrgangsstärken – 340 000

Frei werdende Kindergartenplätze auf-grund einer Absenkung des Schulein-trittalters um sechs Monate – 310 000

Zusätzl. Kindergartenplatzbedarf auf-grund einer Anhebung der Beteili-gungsquote der 3- bis unter 4-Jährigen auf 75 Prozent + 80 000

Rechnerischer zusätzlicher Platzbedarf zur Umwandlung von 250 000 Halb-tagsplätzen in 250 000 Ganztags-plätze1 + 140 000

Page 209: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 199 – Drucksache 15/6014

3 Jahre alte Kinder steht ein deutlich verringerter Bedarfan Kindergartenplätzen gegenüber, der sich aufgrundschrumpfender Jahrgangsstärken sowie im Zusammen-hang mit einer leichten Absenkung des Schuleintrittsal-ters ergibt. Die erforderlichen Veränderungen im Sys-tem betreffen, im Ganzen betrachtet, weniger die Anzahlder Plätze als erforderliche Veränderungen bei den Platz-arten. Die verschiedenen Platzarten sind allerdings mitsehr unterschiedlichen Kosten verbunden (vgl. Ab-schnitt 5.2.3.5).

Zusammenfassung: Schätzungen über den zukünftigenBedarf an Plätzen hängen davon ab, welche Rahmenbe-dingungen zugrunde gelegt werden, insbesondere auchdavon, ob eine „Bedarfsfeststellung“ nach politisch ge-setzten Kriterien vorgenommen wird oder ob man von derAnnahme ausgeht, dass sich der tatsächliche Bedarf in ei-nem politisch nicht gedeckelten Nachfrageverhalten vonEltern artikuliert. Zu den im voranstehenden Abschnittvorgenommenen möglichen Entwicklungsszenarien wur-den die Daten der koordinierten Bevölkerungsvorausbe-rechnung der statistischen Ämter der Länder und desBundes (Basis: 31. Dezember 2001) herangezogen (2010in Westdeutschland 15 Prozent weniger Kinder als 2002)und angenommen, dass bei einer Absenkung des durch-schnittlichen Schuleintrittsalters von gegenwärtig gut6½ Jahren auf 6 Jahre ein halber Altersjahrgang wenigerPlätze im Kindergartensystem in Anspruch nimmt. In die-sem Rahmen wurde der (veränderte) Platzbedarf für ver-schiedene Szenarien berechnet.

(1) Bei einem Anstieg der Kindergartenbeteiligungs-quote bei den 3-jährigen Kindern von derzeit rund50 Prozent auf 75 Prozent werden in Westdeutschland zu-sätzlich 80 000 Kindergartenplätze benötigt. Gleichzeitigwerden aufgrund sinkender Kinderzahlen sowie einer Ab-senkung des Schuleintrittsalters in Westdeutschland biszum Jahr 2010 etwa 650 000 Kindergartenplätze frei;diese können zum großen Teil – abgesehen von 80 000zusätzlich benötigten Plätzen für die 3- bis unter 4-Jähri-gen sowie den rechnerischen Bedarf zur Schaffung weite-rer Ganztagsplätze – zum Ausbau des Angebots für unter3-jährige Kinder genutzt werden. In Ostdeutschland wür-den aufgrund der erwarteten Absenkung des Schuleintritts-alters ca. 47 000 Kindergartenplätze nicht mehr benötigt,während die Anzahl der Kinder aber noch leicht stiege, sodass per Saldo ca. 36 000 Kindergartenplätze bis zumJahre 2010 frei würden.

(2) In Westdeutschland sind gegenwärtig nur 24 Prozentaller Kindergartenplätze Ganztagsplätze. Bei einer ange-nommenen Quote von 50 Prozent Ganztagsplätzen müss-ten bis zum Jahr 2010 insgesamt 250 000 bestehendeKindergartenplätze in Ganztagsplätze umgewandelt wer-den, was einem rechnerischen Bedarf von 140 000 benö-tigten Ganztagsplätzen entspricht. In Ostdeutschland er-gibt sich kein zusätzlicher Bedarf an Ganztagsplätzen.

(3) Im Hinblick auf das politisch gesetzte Ziel, bis zumJahr 2010 für rund 20 Prozent der unter 3-Jährigen Plätzezu schaffen, müssten ungefähr 260 000 neue Plätze(182 000 in Tageseinrichtungen und 78 000 in Tages-pflege) für Kinder dieser Altersgruppe in Westdeutsch-land geschaffen werden. In Ostdeutschland besteht keinzusätzlicher Platzbedarf.

(4) Bei einer Aufhebung politisch gesetzter Deckelungund einer Bedarfsdeckung, die sich an dem tatsächlichenNachfrageverhalten von Eltern im Rahmen eines Rechts-anspruchs auch für unter 3-jährige Kinder orientierte,müssten – unter Zugrundelegung der in dieser Hinsichteinschlägigen Gegebenheiten in Sachsen-Anhalt – inWestdeutschland 620 000 Plätze, d. h. 360 000 Plätzemehr als im TAG vorgesehen, und in Ostdeutschland25 000 neue Plätze für unter 3-Jährige geschaffen werden.

Die Zusammenfassung macht das Spektrum des zukünfti-gen Bedarfs deutlich und gibt erste Hinweise darauf, dasszumindest ein Teil des Mehrbedarfs durch den demogra-fisch bedingten Rückgang der Kindergartenplätze ge-deckt werden kann (zur Berechnung der damit verbunde-nen Kosten vgl. Abschnitt 5.3.3.6).

5.3.3.4 Qualitative Anforderungen an die institutionelle Kindertagesbetreuung

Neben dem quantitativen Ausbau bilden systematischeAnstrengungen zur Entwicklung, zur Sicherung sowie zurSteuerung pädagogischer Qualität bei den öffentlichverantworteten Angeboten zu Bildung, Betreuung und Er-ziehung im frühen Kindesalter die zweite große Heraus-forderung im deutschen Früherziehungssystem. Der Ge-setzgeber hat diese Aufgabe anerkannt, indem er dieQualitätsfrage im TAG (§ 22a) ausdrücklich thematisierte.

Einrichtungen sollen danach durch geeignete Maßnahmendie Qualität ihrer Arbeit sicherstellen und weiterentwi-ckeln. Dazu gehört die Erarbeitung einer pädagogischenund organisatorischen Konzeption ebenso wie der Einsatzvon Instrumenten und Verfahren zur Evaluation der Arbeitsowie die systematische Dokumentation der Entwick-lungs- und Lernprozesse der Kinder. Die pädagogischenFachkräfte in den Kindertageseinrichtungen sind dazu an-gehalten, mit den Erziehungsberechtigten der Kinder, denTagesmüttern, anderen kinder- und familienbezogenen In-stitutionen sowie Initiativen im Gemeinwesen, insbeson-dere solchen der Familienbildung und Familienberatung,wie auch den Grundschulen zusammenzuarbeiten, um dieKontinuität des Erziehungsprozesses zu sichern. Die Er-ziehungsberechtigten sollen an Entscheidungen und we-sentlichen Angelegenheiten der Bildung, der Betreuungund der Erziehung beteiligt werden.

(a) Konzeptualisierung pädagogischer Qualität

Die grundlegenden Qualitätsbereiche von Kinderbetreu-ungsangeboten können in einem gemeinsamen Rahmenverortet werden (vgl. Abb. A-5.4 im Anhang).195 In ihremZusammenspiel sollten sie darauf gerichtet sein, das kör-perliche und psychische Wohlbefinden der Kinder, ihre

195 Die hier vorgenommene terminologische Gleichsetzung von Prozess-qualität und Output basiert auf dem Gedanken, dass der pädagogi-sche Prozess für die Fachkraft der Output ist. Allerdings wird viel-fach diese Typologie dahingehend verwendet, dass der Output als dasErgebnis von Prozessen und nicht als Prozess selbst verstanden wird.Demzufolge wäre dann beispielsweise die Schulnote im Fach Eng-lisch der Output des Unterrichts und die spätere Kompetenz, dieseSprache konkret anzuwenden, ein möglicher Outcome. Insofern kannman diesen Begriff der Prozessqualität in einer anderen Typologieauch als Ergebnisqualität bezeichnen.

Page 210: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 200 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Entwicklung und Bildung zu fördern, sowie die Eltern inihrer Erziehungsaufgabe und Sorge für ihre Kinder zu un-terstützen. Im Einzelnen stehen die Qualitätsbereiche fürdie folgenden Sachverhalte:

Orientierungsqualität: Es handelt sich um normative Ori-entierungen, Leitvorstellungen, Überzeugungen undWerte, unter denen das konkrete pädagogische Handeln(Prozessqualität) erfolgt bzw. erfolgen soll. WichtigeKomponenten der Orientierungsqualität liegen im Vor-handensein, der Art und auch der Verbindlichkeit einesCurriculums, ebenso im Vorhandensein und der Verbind-lichkeit einer einrichtungsspezifischen Konzeption oderin Orientierungen, wie sie in den Qualitätskriterienkatalo-gen der Nationalen Qualitätsinitiative beschrieben sind(BMFSFJ 2003, S. 91 ff.).196

Strukturqualität: Darunter sind die räumlich-materialenund sozialen Rahmenbedingungen zu verstehen, unter de-nen das pädagogische Handeln (Prozessqualität) stattfin-det. Ausstattung der Einrichtung, Platz innen und außenpro Kind, Gruppengrößen, Erzieher-Kind-Schlüssel, Qua-lifikation wie auch Vor- und Nachbereitungszeiten für daspädagogische Personal sind Merkmale der Strukturquali-tät.

Den Merkmalen der Struktur- und Orientierungsqualitätist gemeinsam, dass sie mehr oder weniger direkt poli-tisch regulierbar sind und auch reguliert werden. Gemein-sam können sie als Inputfaktoren197 betrachtet werden,die den pädagogisch Handelnden im konkreten Fall vor-gegeben sind, unter denen sie die konkrete pädagogischeArbeit gestalten und damit eine bestimmte Prozessquali-tät realisieren.

Prozessqualität: Zu den zentralen Merkmalen der Prozess-qualität gehören unter anderem die Anregungen, die dieKinder in den einzelnen Entwicklungs- und Bildungsbe-reichen erhalten, die Art der konkreten Interaktionen zwi-schen pädagogischem Personal und Kindern wie auch derKinder untereinander, ebenso der konkrete Umgang mitden Eltern und ihre Beteiligung sowie die beobachtbarenEffekte der pädagogischen Arbeit der Einrichtung. DieMerkmale der Prozess- und Ergebnisqualität beschreibenzusammen die realisierte Pädagogik, wie sie ihren Adres-saten, Kindern und Eltern, begegnet. Insoweit kann sieauf der pädagogischen Ebene auch als Output einer Kin-dertageseinrichtung bezeichnet werden.

Management- und Organisationsqualität: Der Outputwird durch die Inputbedingungen der Orientierungs- undStrukturqualität nicht determiniert. Inwieweit die gegebe-nen Inputbedingungen und die Erkenntnisse aus dem Out-come für gute Prozessqualität genutzt werden, hängt we-sentlich von der Management- und Organisationsqualitätin der Einrichtung ab. Aus dieser Einsicht heraus habendie Trägerorganisationen der freien Jugendhilfe expliziteQualitätsmanagementsysteme (QM) entwickelt.

Kontextqualität: Die Erzeugung einer positiven Prozess-qualität als wünschenswerter Output hängt nicht nur vonden gegebenen Inputbedingungen und der Qualität des in-ternen Managements ab, sondern auch von externen Be-dingungen der Kontextqualität. Zu nennen sind hier z. B.Fachberatung, Fortbildung, Unterstützung durch die Trä-gerorganisation, aber auch sonstige Möglichkeiten exter-ner Unterstützung.

Bildungsergebnis/Auswirkungen bei Eltern: Von denMerkmalen in den drei (zusammen genommenen) Quali-tätsbereichen Orientierungs-, Struktur- und Prozessquali-tät können Auswirkungen auf die Bildungs- und Entwick-lungsförderung der Kinder erwartet werden, und zwarsowohl mittelfristig als auch langfristig. Ebenso könnenAuswirkungen auf Eltern erwartet werden (z. B. Zufrie-denheit), die hier nur am Rande betrachtet werden sollen.Die Bildungs- und Entwicklungsergebnisse (in Abb. A-5.4 im Anhang als Outcome bezeichnet) sind dabei beimeinzelnen Kind nicht deterministisch zu betrachten, inso-fern sich Bildung als ein durch Selbstbeteiligung charak-terisierter Prozess darstellt, an dem zudem andere Instan-zen, wie die Familie, maßgeblich beteiligt sind (vgl.Abschnitt 5.1). Ähnliches gilt für die Outcomes bei denEltern. Sie sind aber über eine Wahrscheinlichkeitsfunk-tion mit der Qualität des jeweiligen Angebots verbunden,in das ein Kind einbezogen ist.

Die auf Kindertageseinrichtungen wie auch die Tages-pflege bezogene Qualitätsdiskussion bei Fachwissen-schaft, Fachpolitik und Praxis in Deutschland hat dieVielfalt der Komponenten pädagogischer Qualität wieauch ihre Verwobenheit bislang zu wenig im Zusammen-hang gesehen, sondern ihr Augenmerk vorwiegend nurauf einzelne Qualitätsmerkmale gerichtet. Dies gilt auchfür die aktuelle Diskussion, in der mit einer verbessertenAusbildung von Erzieherinnen und Erziehern sowie päda-gogischen Rahmenplänen schwerpunktmäßig jeweils einMerkmal der Struktur- und Orientierungsqualität themati-siert wird; andere Merkmale, wie vor allem die Prozess-qualität, werden hingegen kaum ins Blickfeld gerückt.Auch Outcomes bei Kindern wurden in der Vergangen-heit nur ansatzweise thematisiert. Sie sind erst in denletzten Jahren, besonders im Zusammenhang mit aufrüt-telnden Ergebnissen von Schuleingangs- und Sprach-standsmessungen in das Bewusstsein getreten. Vor die-sem Hintergrund muss auch bei einer eingeschränktenBetrachtung der verschiedenen Qualitätsmerkmale sowieihres Zusammenhangs mit Bildungs- und Entwicklungs-outcomes bei Kindern vorwiegend auf ausländische Un-tersuchungen zurückgegriffen werden.

(b) Bildungsergebnisse bei Kindergartenkindern

In einem Überblick über die neuere Forschungsliteratur,die mit dem EPPE-Projekt in Großbritannien (Sammonsu. a. 2003, 2002), der European Child Care and EducationStudy in Deutschland, Österreich, Portugal und Spanien(ECCE-Study Group 1999, 1997) und der NICHD-Study(NICHD Early Child Case Research Network 2003a-d,2002a, b, 2001a, b, 2000a, b,1999, 1998, 1997) jeweilszwei aktuelle europäische und amerikanische Großpro-

196 Zur Nationalen Qualitätsinitiative vgl. Glossar.197 Zur allgemeinen Definition von Input, Output und Outcome im Rah-

men systemischer Ansätze vgl. z. B. Reinermann 2000.

Page 211: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 201 – Drucksache 15/6014

jekte in den Vordergrund rückt, kommt Roßbach (Exper-tise) zu dem Schluss, dass sich pädagogische Qualität imKindergarten nachhaltig auf die Entwicklung der Kindersowohl im sprachlich-kognitiven als auch im sozialen Be-reich auswirkt (z. B. soziale Kompetenz, Peerbeziehun-gen, Selbstständigkeit).

Vorliegende Forschungsbefunde sprechen zudem dafür,dass sich eine höhere Gesamtdauer des Besuchs einerKindertageseinrichtung in der frühkindlichen Bildungsbio-grafie sowie ein früherer Beginn – mit dem 2. Lebensjahr –als förderlich für die sprachlich-kognitive Entwicklungerweisen. Ob es sich um eine Halbtags- oder eine Ganz-tagsförderung handelt, ist dabei nach den vorliegendenErkenntnissen ohne Belang. Die Beziehungen zwischenQualität und Bildungsoutcomes gelten sowohl für dieProzessqualität, erfasst über Beobachtungen des pädago-gischen Geschehens in den Einrichtungen nach standardi-sierten Verfahren198, als auch für Merkmale der Struktur-und Orientierungsqualität. Hier sind es besonders dieMerkmale Erzieher-Kind-Schlüssel, Gruppengröße undErzieherqualifikation, für die Zusammenhänge mit Bil-dungsoutcomes bei Kindern ermittelt werden.

In der deutschen Untersuchung von Tietze u. a. (Tietze1998) zeigte sich, dass die untersuchten Merkmale derStruktur-, Orientierungs- und Prozessqualität zusammen-genommen einen Entwicklungsunterschied von bis zu ei-nem Jahr bei 4½ jährigen Kindern erklären, bei breiterKontrolle der pädagogischen Qualität in den Familien derKinder. Dies traf speziell für den Bereich der sprachlich-kognitiven Förderung und den Bereich „Bewältigung vonLebenssituationen“ zu. Die Effekte guter Qualität (Orien-tierungs-, Struktur- und Prozessqualität zusammenge-nommen) waren noch vier Jahre später, am Ende derzweiten Grundschulklasse, feststellbar. Die Kinder ausqualitativ guten Kindergärten wiesen – bei Kontrolle derhäuslichen Qualität – signifikant bessere Schulleistungen,sprachliche Kompetenz und soziale Kompetenz auf alsKinder aus Kindergärten mit einer geringeren Qualität(Tietze u. a. 2005b). Gleichgerichtete Befunde ergabensich in der Cost, Quality and Child Outcomes Study(Peisner-Feinberg u. a. 1999), in der European Child Careand Education Study (1999) wie auch in der EPPE-Studie(Sammons u. a. 2003, 2002).

Je nach Untersuchung erweist sich mehr das eine oder an-dere Qualitätsmerkmal als der stärkere Faktor für Bil-dungseffekte. Vor diesem Hintergrund wird vorgeschla-gen, Sets von Qualitätsbedingungen in die Analyseneinzubeziehen. Damit wird eine bekannte Forschungsein-sicht im Bereich der frühen Bildung, Betreuung und Er-ziehung aus den 80er-Jahren des letzten Jahrhundertswieder aufgenommen: Good things tend to go together(Phillips/Howes 1987). Zugleich ergibt sich aus solchenForschungseinsichten eine ernüchternde Konsequenz füreine verbesserte Bildungsförderung im Früherziehungs-system: Über ein oder zwei „Stellschrauben“ das Früh-

erziehungssystem grundlegend qualitativ zu verbessern,erscheint wenig aussichtsreich. Verbesserungen müssen,wenn sie bessere Bildungsergebnisse bei Kindern bewir-ken sollen, an vielen Punkten simultan ansetzen.

(c) Bildungsergebnisse bei Kindern unter 3 Jahren

Nach den vorliegenden Forschungsübersichten könnendie bei Kindern im Kindergartenalter ermittelten Befundenicht bruchlos auf die Situation jüngerer, unter 3 Jahre al-ter Kinder übertragen werden, sondern bedürfen der Dif-ferenzierung (Expertise Roßbach).

Frühe Bindung: Eine vertrauensvolle und stabile zwi-schenmenschliche Beziehung ist die Voraussetzung füreine weltzugewandte Entwicklung besonders des kleinenKindes. Ergebnisse aus Untersuchungen der 1990er-Jahrebis heute bestätigen, im Gegensatz zu Befunden aus frü-heren Untersuchungen der 1980er-Jahre, dass die sichereMutter-Kind-Bindung durch eine frühe Fremdbetreuungnicht beeinträchtigt wird. In der gegenwärtig breitestenUntersuchung zu diesem Aspekt, der NICHD-Studie199,finden sich keine Hinweise, dass ein früher Beginn derFremdbetreuung oder auch deren zeitlich großer Umfangdie Mutter-Kind-Bindung beeinträchtigen (NICHD EarlyChild Case Research Network 2001a, 1997; Lamb 1998).Als bedeutsam für die Mutter-Kind-Bindung erwies sichjedoch die Feinfühligkeit und psychische Verfassung derMutter. Bei wenig feinfühligen Müttern, bei niedrigerQualität, einem hohen Zeitumfang und geringer Stabilitätder Fremdbetreuung treten häufiger unsichere Bindungenauf. Eine gute Qualität der nicht-mütterlichen Betreuungbei weniger feinfühligen Müttern kann eine kompensato-rische Funktion erfüllen.

Die Tatsache, dass tendenziell negative Ergebnisse früherund umfangreicher Fremdbetreuung aus den 80er-Jahrendes letzten Jahrhunderts in späteren Untersuchungennicht mehr repliziert werden konnten, verweist auf dieEinflüsse epochaler Kontextbedingungen verschiedenerArt (z. B. Veränderung in Ausbildung, Sozialschicht, Ein-kommen, Motive für Erwerbstätigkeit von Müttern, Sen-sibilisierung für Feinfühligkeit bei Müttern und Be-treuungspersonen; Expertise Roßbach) und damit auf dieFrage der jeweiligen „Kultur des Aufwachsens“(Krappmann 1996).

Soziale Förderung: Die Auswirkungen früher Fremdbe-treuung (speziell auch unter einem Jahr) auf die kindlicheSozialentwicklung (als Aneignung der sozialen Welt)sind nach vorliegenden Forschungsbefunden stärkerdurch den zeitlichen Beginn und den zeitlichen Umfanggekennzeichnet als durch spezielle Qualitätsaspekte. Sehrfrüh und zeitlich umfangreich fremdbetreute Kinder ten-dierten in der NICHD-Studie im Alter von 24 Monatenetwas stärker zu Verhaltensproblemen. Die Werte lagenallerdings nicht in einem kritischen Bereich und tratenauch zu späteren Messzeitpunkten nicht konsistent in Er-scheinung. Bei guter pädagogischer Prozessqualität zeig-

198 Zur Messung der Prozessqualität werden häufig die Instrumente derECERS-Familie herangezogen (Harms u.a 2004, 2002, 1995, 1989).Sie liegen auch als deutsche Adaptionen vor (Tietze u. a. 2005a, b, c, e). 199 Zur NICHD-Studie vgl. Glossar.

Page 212: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 202 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

ten die Kinder weniger Problemverhalten und ein günsti-geres Sozialverhalten auch während der späterenVorschulzeit (Expertise Roßbach). Für alle Förderberei-che (auch den kognitiven Bereich) gilt, dass sich kleineGruppen, ein günstiger Erzieher-Kind-Schlüssel und eingut qualifiziertes Personal positiv auswirken.

Insgesamt erscheinen die Befunde zu Verhaltenspro-blemen und zur Sozialentwicklung sehr system- undkontextabhängig (ebd.). Die Situation verweist auf diedringende Notwendigkeit eigener, hinreichend breit ange-legter Untersuchungen in Deutschland.

Sprachlich-kognitive Förderung: Während die Ergeb-nisse zur frühen extra-familialen Betreuung von Kindernkein völlig konsistentes Bild im Hinblick auf das Sozial-verhalten und potentielle Verhaltensprobleme vermitteln,fügen sich die in der Forschung dokumentierten Auswir-kungen im sprachlich-kognitiven Bereich zu einem kohä-renten Muster zusammen. Nahezu alle einschlägigen Un-tersuchungen dokumentieren bei einem breiten Kranzunterschiedlicher Maße der kognitiven Förderung, dasseine höhere Qualität – kurzfristig wie längerfristig – mitgünstigeren Werten im sprachlich-kognitiven Bereicheinhergeht. Dieses Ergebnis gilt für die Betreuung in Kin-dertageseinrichtungen wie auch in der Tagespflege undunabhängig von der sozialen Herkunft der Kinder (ebd.).

Aus verschiedenen Untersuchungen lässt sich der Schlussziehen, dass neben der Qualität der frühen Bildung, Be-treuung und Erziehung auch ein früher Beginn sich posi-tiv auf die kognitive Förderung auswirkt (ebd.). FrüherBeginn, Umfang und Qualität sind dabei besonders bei be-nachteiligten Kindern auch die entscheidenden Faktorenfür die andauernden positiven Effekte im kognitiven Be-reich, die verbesserte Schulleistung und die günstigereBildungsbiografie, wie sie in verschiedenen US-amerika-nischen Studien dokumentiert sind (Barnett 1998).

Gesundheit (Exkurs): Die Datenlage zu früher Fremdbe-treuung ist auch für den gesundheitlichen Bereich beikleinen Kindern in Deutschland unbefriedigend. Hierzuträgt u. a. die bis zum heutigen Tag gegebene gesellschaft-liche Vernachlässigung institutioneller Betreuung bei unter3 Jahre alten Kindern in Westdeutschland bei, aber auchdie Tatsache, dass führende Vertreter westdeutscher Sozi-alpädiatrie durch ihre Ablehnung einer frühen nicht-müt-terlichen Betreuung in der Weise wirkten, dass sich einedifferenzierte Forschung nicht entwickelte. Anders alsz. B. in den USA gibt es auch keine Stellungnahmen undEmpfehlungen der pädiatrischen Fachgesellschaften zurGestaltung der institutionellen Früherziehung unter ge-sundheitlichen Gesichtspunkten (Expertise Heinrich/Ko-letzko).

Nach den gegebenen internationalen Erkenntnissen kannvon folgenden Gegebenheiten ausgegangen werden: InKinderkrippen betreute Kinder haben ein höheres Risikozu erkranken als Familienkinder. Dies gilt besonders imHinblick auf Atemwegserkrankungen und Entzündungendes Ohres. Die Unterschiede zu den Familienkindern sindim 1. Lebensjahr am deutlichsten ausgeprägt, schwächensich über die Zeit ab und sind bei den 6-Jährigen nur noch

in geringem Ausmaß erkennbar. Insgesamt spricht vielesdafür, dass mit dem frühen Besuch von Krippen keinegravierenden, dauerhaften gesundheitlichen Benachteili-gungen auftreten (ebd.).

Neben Atemwegserkrankungen und Ohrentzündungensind infektionäre Durchfallerkrankungen ein Risiko, dasbei Krippenkindern größer ist als bei Nur-Familienkin-dern. Stärker als bei Atemwegs- und Ohrerkrankungenlässt sich deren Auftreten jedoch durch entsprechende Hy-gienemaßnahmen reduzieren. Wichtige Faktoren für dieReduzierung von Infektionen sind hinreichend große Flä-chen mit entsprechend geringer Dichte (crowding) derKinder, gute Belüftung der Räume, hinreichende Ab-stände zwischen Liegen bzw. Schlafmatratzen der Kinder,Trennung von Hygiene- und Aufenthaltsraum zur Ver-meidung der Exposition mit Fäkalkeimen sowie konse-quente Hygienemaßnahmen. Dazu liegen vielfältige Vor-schläge und Empfehlungen vor (American Academy ofPediatrics 2002; Churchill & Pickering 2000). Auf ver-besserte Hygiene gerichtete Maßnahmen sind daher auchBestandteil von Verfahren zur Erfassung pädagogischerQualität in Einrichtungen für Kinder im Krippenalter(Tietze u. a. 2005a).

Positiv dagegen wirkt sich ein früher Krippenbesuch– speziell bei Einzelkindern – auf atopische Erkrankun-gen, die genetisch bedingte Neigung, auf Umweltfaktorenmit allergischen Reaktionen der Haut und Schleimhäutezu reagieren, aus. In der Bitterfeld-Studie zeigten sichdeutlich verminderte Erkrankungsraten an Asthma undHeuschnupfen in Abhängigkeit von einem frühen Krip-peneintritt (Krämer u. a. 1999). Dieser protektive Effektließ sich aber nur bei Einzelkindern nachweisen. Er wirdmit dem Training des Immunsystems durch wiederholteInfektionen im intensiven Kontakt mit anderen Kindernin der Krippengruppe, aber auch durch mikrobakterielleStimulation des Immunsystems erklärt (ExpertiseHeinrich/Koletzko).

(d) Auswirkungen unterschiedlicher Betreuungsformen

Neben den Faktoren Qualität, Beginn, Umfang der früh-kindlichen Betreuung hat sich die Forschung auch denAuswirkungen bestimmter Betreuungsformen zugewandt,insbesondere dem Vergleich der Bildung, Betreuung undErziehung in Kindertageseinrichtungen gegenüber Tages-pflegestellen. Nach noch unveröffentlichten Daten derBerliner Forschungsgruppe um Wolfgang Tietze findetsich eine Hierarchie in der Prozessqualität dergestalt, dassdiese im Kindergartenbereich deutlich besser ausfällt alsim Krippenbereich und hier wiederum besser als im Ta-gespflegebereich. Ein solches Ergebnis scheint insofernplausibel, als eine auf Förderung angelegte Pädagogik imKindergartenbereich deutlich stärker und länger verankertist als im Krippenbereich (zumindest in den westlichenBundesländern), und diese wiederum stärker professio-nell fundiert ist als der Tagespflegebereich (Jurczyk u. a.2004).

Direkt vergleichende Untersuchungen zu den Effektenverschiedener Betreuungsformen, speziell auch von Kin-

Page 213: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 203 – Drucksache 15/6014

dertageseinrichtungen gegenüber Tagespflege, auf dieFörderung und Entwicklung von Kindern sind eher sel-ten. Auch ist die Bedeutung der Tagespflege für die kind-liche Entwicklung insgesamt weniger untersucht als dieder institutionellen Betreuung. Verschiedene Autoren(Lamb 1998; Textor 1998) gehen davon aus, dass wenigerdie Form der Betreuung als vielmehr deren Qualität fürdie kindliche Entwicklung von Bedeutung ist.

Im Hinblick auf die Mutter-Kind-Bindung gelten bei inTagespflege betreuten Kindern dieselben Erkenntnissewie bei der institutionellen Betreuung. Es ergeben sichkeine Unterschiede, was mögliche Einflüsse auf die Mut-ter-Kind-Bindung anbelangt. Die vorliegenden Untersu-chungsergebnisse zu den Auswirkungen der Tagespflegeauf die Sozialentwicklung und auf das Verhalten erschei-nen gegenwärtig zu inkonsistent, um daraus Schlussfol-gerungen zugunsten der einen oder anderen Form zu zie-hen. Jedenfalls gilt dies, wenn für Faktoren der Qualität,der Quantität sowie des zeitlichen Beginns kontrolliertwird (Expertise Roßbach).

Bezogen auf die sprachlich-kognitive Förderung der Kin-der vermittelt die internationale Forschung alles in allemein relativ klares Bild: In der speziell auf die Tagespflegebezogenen Auswertung der NICHD-Studie (Clark-Ste-wart u. a. 2002) ergab sich, dass Kinder, die von Tages-müttern mit einem höheren Bildungsniveau und einer ent-sprechenden Ausbildung betreut wurden, höhere Werteim kognitiven und sprachlichen Bereich aufwiesen. In derschwedischen Untersuchung von Broberg, Wessels,Lamb und Hwang (1997) standen Merkmale der Struktur-qualität in der Tagespflege (Index aus Gruppengröße, Be-treuer-Kind-Relation, Altersmischung der betreuten Kin-der) mit besseren mathematischen Fähigkeiten der Kinderim Alter von 8 Jahren in Verbindung. Insgesamt sprechendie vorliegenden empirischen Befunde dafür, dass einegute Qualität in der Tagespflege – ähnlich wie im institu-tionellen Bereich – kurzfristig wie auch längerfristig mitbesseren Werten in verschiedenen sprachlich-kognitivenMaßen verbunden ist.

Bei einem Vergleich der Auswirkungen unterschiedlicherFormen der nicht-elterlichen Bildung, Betreuung und Er-ziehung lassen sich im 3. Lebensjahr Vorteile der institu-tionellen Form gegenüber allen anderen Formen, auch derTagespflege oder der rein elterlichen Betreuung erken-nen. Eine Förderung im sprachlich-kognitiven Bereich istzwar auch bei einer noch früheren institutionellen Förde-rung belegt, jedoch sprechen vorliegende Befunde dafür,dass eine vorgängige und früh einsetzende Tagespflege-betreuung ebenfalls mit einem späteren besseren sprach-lich-kognitiven Entwicklungsstand verbunden ist (Exper-tise Roßbach).

Für die gesellschaftliche und politische Gestaltung bietetsich vor dem Hintergrund solcher Befunde eine Strategiean, bis zur Vollendung des 2. Lebensjahres der Kinder Ta-gespflege und institutionelle Förderung – bei entspre-chender Qualität von beidem – gleichrangig vorzusehen,vom 3. Lebensjahr der Kinder an aber verstärkt auf die in-stitutionelle Bildung, Betreuung und Erziehung zu setzen.

Angesichts der Tatsache, dass der Tagesbetreuung nachdem TAG in Zukunft eine deutlich größere Bedeutung beider Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern unter3 Jahren zukommen soll, springt die unbefriedigende For-schungslage in Deutschland in diesem Bereich besondersins Auge. Neuere, nach wissenschaftlichen Standardsdurchgeführte empirische Studien zur Tagespflegebetreu-ung sind Mangelware. Die Klage über das geringe empi-rische Wissen auf Grund des Mangels an deutschen Stu-dien zur Bildungsförderung, aber auch zu Risiken beiunter 3-jährigen Kindern, gilt nicht minder für die institu-tionelle Kindertagesbetreuung. Für die Zukunft werden inDeutschland hinreichend breit angelegte Querschnitts-und Längsschnittstudien benötigt, um die Effekte der ver-schiedenen Betreuungsformen mit ihren bestimmten Qua-litätsmerkmalen auf die Bildungsförderung von Kindernwie auch auf andere Outcome-Maße besser abschätzen zukönnen. Ebenfalls sollten gut geplante Interventionsstu-dien aufgelegt werden, um eine breitere Wissensbasis fürdie gezielte Planung qualitativ guter, bildungsfördernderpädagogischer Umwelten für die Kinder zu gewinnen.

(e) Auswirkungen von Management- und Kontextqualität

Die im Voranstehenden berichteten Befunde verdeutli-chen, dass Kinder in den öffentlich verantworteten Ange-boten der Bildung, Betreuung und Erziehung im Hinblickauf ihre Bildungs- und Entwicklungsförderung qualitativsehr unterschiedlich gute Umwelten vorfinden. Dies giltspeziell im Hinblick auf die von den Kindern erfahreneProzessqualität, den pädagogischen Umgang sowie diebildungsfördernden Anregungen, die sie erfahren. Die pä-dagogischen Prozesse (Output) reichen von inakzeptabelunzureichender Qualität bis zu guter und sehr guter Qua-lität. Die Qualitätsspanne trifft für die institutionelle Kin-derbetreuung (Tietze 1998) sowie für die Tagespflege(Jurczyk u. a. 2004) gleichermaßen zu, ist jedoch für letz-tere als wenig geregeltes System besonders ausgeprägt.

Auch unter vergleichbaren Inputbedingungen der Struk-tur- und Orientierungsqualität (vgl. Abb. A-5.4 im An-hang) finden sich beachtliche Unterschiede in der Prozess-qualität. Empirische Befunde dokumentieren, dasszwischen einem Viertel und der Hälfte der Varianz derProzessqualität durch vorgelagerte Bedingungen derStruktur- und Orientierungsqualität bestimmt wird (Tietze1998; Cryer u. a. 1999). Die Tatsache, dass damit ein er-heblicher Varianzanteil der Prozessqualität nicht erklärtwird, lässt auf eine hohe Bedeutung „intervenierender“Management- und Organisationsqualität in den Kinderta-geseinrichtungen (wie auch bei Tagespflegepersonen)schließen, ebenso auch auf die Bedeutung von Unter-stützungssystemen im Kontext (z. B. Fachberatung,Fortbildung). Beide entscheiden als Vermittlungs- undVerarbeitungsinstanzen bzw. als einrichtungsexterneUnterstützungssysteme mit darüber, wie die Inputs derOrientierungs- und Strukturqualität genutzt werden.

Die Bereitstellung solcher Unterstützung (in den USA als„technical assistance“ bezeichnet; Cryer 2005) wird inDeutschland traditionell als eine wichtige Aufgabe von

Page 214: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 204 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Trägern und Trägerorganisationen betrachtet. Zu nennenist hier ein breites Spektrum an Fortbildungsprogrammen,wie es von allen großen Trägerorganisationen angebotenwird, ebenfalls mehr oder weniger dichte Netze vonFachberatung für Einrichtungen. Im Zuge des Ausbausder öffentlichen Tagespflege ist auch für diesen Bereichentsprechende Fortbildung und unterstützende Fachbera-tung vorgesehen (Jurczyk u. a. 2004; sowie § 23 SGBVIII). Die Bedeutung solcher Unterstützungen für dieQualität pädagogischer Prozesse wird von Experten alshoch eingeschätzt. Andererseits fehlen grundlegende Da-ten darüber, welche Fortbildungen in welchem Umfang inAnspruch genommen werden, welche Dichte an Fachbe-ratung im Einzelnen tatsächlich gegeben ist und welcheInhalte und Formen der Unterstützung auf diese Weiseangeboten werden (Expertise Larrá). Untersuchungen derAuswirkungen solcher Unterstützungssysteme auf dieQualität pädagogischer Prozesse oder Bildungsergebnissebei Kindern sind bislang in Deutschland ebenfalls nichtbekannt geworden.

Der hohe Stellenwert, der Management und Organisationfür die Qualität in den Einrichtungen zuerkannt wird, hatin den zurückliegenden Jahren zu großen Anstrengungenbesonders (wenn auch nicht nur) bei den freien Trägeror-ganisationen von Kindertageseinrichtungen geführt, pä-dagogische Qualität in ihren Einrichtungen über Quali-tätsmanagement-Systeme zu entwickeln und zu sichern.Zu nennen sind hier neben der Entwicklung fachlich an-gemessener Steuerungsinstrumente durch Bündelung vonTrägeraufgaben in neuen administrativen Strukturen(ebd.) insbesondere die Einführung von ursprünglich inder Industrie und anderen Dienstleistungsbereichen ent-wickelten Qualitätsmanagementverfahren. Diese orientie-ren sich am Konzept der DIN ISO 2000, dem EuropeanFoundation for Quality Management (EFQM) oder demTotal Quality Management-Modell (TQM). Die Verfah-ren halten einen Ordnungsrahmen bereit, in dem das ge-nerelle Konzept und Leitbild sowie die Handlungsrichtli-nien, Schlüsselprozesse und Methoden einer Einrichtungdokumentiert und als Standards festgelegt werden bzw.damit überprüfbar gemacht werden sollen. Eingeschlos-sen sind auch Anforderungen, die für das Funktionierender gesamten Organisation von Bedeutung sind, also auchAspekte, die in den Verantwortungsbereich der Trägerfallen, wie Wirtschaftlichkeit, Personalentwicklung, Er-mittlung von Mitarbeiter- und Elternzufriedenheit, diekonkrete Umsetzung von Qualitätsmanagement durchQualitätszirkel, wie auch interne Audits. Die Veröffentli-chung von Qualitätshandbüchern sowie die systematischeWeiterbildung von Fachkräften zu Qualitätsmanagerin-nen und Qualitätsmanagern sind weitere Bestandteile die-ses Ansatzes (Viernickel 2005). Man kann vermuten, dasssolche Stützungssysteme einen wichtigen Beitrag zurQualität in den Einrichtungen leisten.

Empirische Evaluationen, die anzeigen ob, und, wenn ja,inwieweit hierdurch eine bessere Prozessqualität (Output)bzw. günstigere Bildungsergebnisse (Outcomes) bei Kin-dern erreicht werden, liegen bislang nicht vor. DasGleiche gilt auch für die im Rahmen der Nationalen Qua-litätsinitiative des BMFSFJ entwickelten Unterstützungs-

potentiale (BMJFSJ 2003), deren qualitätssteigerndeWirksamkeit bisher ebenfalls nicht überprüft wurde.

In Deutschland gilt für alle Qualitätsbereiche im Systemder Tagesbetreuung von Kindern, dass sie insgesamt we-nig untersucht sind. Aussagen über ihre Bedeutung fürdie Qualität pädagogischer Prozesse wie auch für die Bil-dungsförderung (Outputs) von Kindern basieren zumeistauf Hypothesen, beruhen seltener auf empirischer Evi-denz. Benötigt werden hinreichend breit angelegte Quer-schnitt- wie auch Längsschnittstudien, um sowohl dieZusammenhänge zwischen den verschiedenen Qualitäts-bereichen als auch erwünschte (wie auch nicht-inten-dierte) Outcomes bei Kindern und Familien (wie auchweiteren Adressaten) besser abschätzen zu können. Umbestimmte Wirkungsweisen besser kennen zu lernen,dürften auch gezielte experimentelle Interventionsstudienunverzichtbar sein. Ein höheres Ausmaß an empirischerEvidenz ist dabei nicht nur von wissenschaftlichem Inte-resse, sondern stellt eine Notwendigkeit dar, um die fürein qualitativ hochwertiges Früherziehungssystem erfor-derlichen gesellschaftlichen Ressourcen zu begründen.

Zusammenfassung: Die Sicherung eines hohen Ausmaßesan pädagogischer Qualität bei den öffentlich verantworte-ten Angeboten bildet – neben der quantitativen Expansion –die zweite große gesellschaftliche Herausforderung fürein angemessenes System der Bildung, Betreuung undErziehung in der frühen Kindheit. Als grundlegende Qua-litätsbereiche können die Orientierungsqualität (z. B.Curriculum) und die Strukturqualität (z. B. Erzieher-Kind-Schlüssel) – beides Inputfaktoren – sowie die päda-gogische Prozessqualität als die konkrete, realisierte Pä-dagogik (Output) betrachtet werden. Die Qualitätsbereichestehen untereinander in komplexen Wechselwirkungen.Inputbedingungen der Struktur- und Orientierungsqualitätschlagen sich nicht umstandslos in einer entsprechendenProzessqualität nieder. Diese wird vielmehr moderiertdurch die in einer Einrichtung gegebene Management-und Organisationsqualität sowie durch Unterstützungs-systeme im Kontext der Einrichtungen (wie auch derTagespflegeangebote). Die folgenden Aussagen zur Be-deutung pädagogischer Qualität in familienexternen An-geboten der Bildung, Betreuung und Erziehung jüngererKinder können als weitgehend gesichert gelten:

– Pädagogische Qualität in Kindergärten (Orientie-rungs-, Struktur- und Prozessqualität) hat positiveAuswirkungen auf den Bildungs- und Entwicklungs-stand von Kindergartenkindern sowohl im sozialen alsauch im kognitiv-sprachlichen Bereich. Die Effektesind von der Größenordnung her bedeutsam und auchnoch im Grundschulalter (auch als bessere Schulleis-tung) nachweisbar.

– Eine frühe Betreuung auch von sehr jungen Kindern inKindertageseinrichtungen oder Tagespflege beein-trächtigt die für die Entwicklung des Kindes wichtigeMutter-Kind-Bindung nicht.

– Die sehr frühe Gruppenbetreuung des Kindes kann miteinem auffälligeren Sozialverhalten verbunden sein;

Page 215: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 205 – Drucksache 15/6014

die Ergebnisse sind jedoch nicht konsistent; die Quali-tät der Betreuungsform scheint eine Rolle zu spielen.

– Die frühe Gruppenbetreuung ist mit einem erhöhtenErkrankungsrisiko der Kinder verbunden (Atem-wegserkrankungen, Durchfallerkrankungen). Im We-sentlichen handelt es sich um „vorgezogene“ Erkran-kungen. Allergische Erkrankungen treten bei frühgruppenbetreuten (Einzel-)Kindern seltener auf.

– Eine frühe Betreuung in qualitativ guten Kindertages-einrichtungen wie auch in qualitativ guter Tagespflegewirkt sich positiv auf die Förderung im kognitiv-sprachlichen Bereich aus.

– Unter diesem Gesichtspunkt zeigt sich die Förderungin einer Kindertageseinrichtung ab dem 3. Lebensjahrals überlegen gegenüber der Tagespflege.

– Ob und inwieweit sich Systeme des Qualitätsmanage-ments sowie der Qualitätsunterstützung im Kontextvon Kindertageseinrichtungen (wie auch Tagespflege-stellen) auf die Verbesserung der Prozessqualität bzw.auch auf Bildungsergebnisse bei Kindern auswirken,ist in Deutschland bisher nicht untersucht.

– Insgesamt sind in Deutschland Fragen der Qualität, ih-rer komplexen Verwobenheit sowie ihre Bedeutungfür Bildungsergebnisse bei Kindern (wie auch fürsonstige Outcomes, z. B. bei Eltern) wenig untersucht.Es mangelt weitgehend an einer Kultur evidenzbasier-ter Entscheidungen. Die notwendige qualitative Ver-besserung der Angebote früher Bildung, Betreuungund Erziehung sollte durch ein darauf bezogenes, hin-reichend breites empirisches Forschungsprogrammbegleitet werden.

5.3.3.5 Auf dem Weg zur Verbesserung pädagogischer Qualität

Die Frage nach einer bildungsfördernden pädagogischenQualität in den Kindertageseinrichtungen ist nicht erstdurch das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene Tagesbe-treuungsgesetz (TAG) in das öffentliche und politischeBewusstsein getreten. Bereits die im Jahr 2001 veröffent-lichten zwölf Empfehlungen des Forum Bildung hobendie frühe und individuelle Förderung von Kindern in derKindertageseinrichtung und der Grundschule als wichtigebildungspolitische und fachliche Aufgabe hervor (Ar-beitsstab Forum Bildung 2001). Ausgehend von der Ana-lyse des Bildungsangebots in Kindertageseinrichtungengelangte das Forum Bildung zu dem Schluss, dassDeutschland im europäischen Vergleich von entsprechen-den Fördermöglichkeiten zu wenig Gebrauch mache (Ar-beitsstab Forum Bildung 2001, S. 5), und empfahl, denBildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen zu defi-nieren und durch entsprechende Maßnahmen zu verwirk-lichen. Diese enthielten für den Kindergarten u. a. die Be-stimmung von Bildungszielen und ihre curriculareUmsetzung, ferner eine auf die neuen Aufgaben bezogeneReform und Aufwertung der Aus- und Weiterbildung vonErzieherinnen und Erziehern, sowie eine intensivere För-derung der Interessen von Kindergartenkindern vor allem

an Naturwissenschaften, Technik, Fremdsprachen undmusisch-kreativen Fächern.

(a) Ansätze zur Verbesserung der Orientierungs-qualität

Bildungspläne: In dem Dokument „Gemeinsamer Rah-men der Länder für die frühe Bildung in Kindertagesein-richtungen“ spezifizierte die Jugendministerkonferenz(JMK) (2004) folgende Bildungsbereiche, in denen dieBildungsmöglichkeiten des Kindes beachtet und geför-dert werden sollen: Sprache, Schrift, Kommunikation;personale und soziale Entwicklung, Werteerziehung/reli-giöse Bildung; Mathematik, Naturwissenschaft, (Infor-mations-) Technik; Musische Bildung/Umgang mit Me-dien; Körper, Bewegung, Gesundheit; Natur undkulturelle Umwelten. Damit war für das institutionelleSystem der Kindertagesbetreuung in Deutschland ein ge-meinsamer Rahmen der Orientierungsqualität gesetzt,den die meisten Bundesländer durch landesspezifischeRahmenpläne mittlerweile ausgefüllt haben (vgl.Abb. 5.7; Hovestadt 2003).

Gemeinsam ist den Konzepten, dass Kinder auf der Basisentwicklungspsychologischer und neurobiologischer Er-kenntnisse als neugierige, interessierte und aktive Lernerbeschrieben werden, die mit der Fähigkeit geboren wer-den, sich in der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt zubilden, d. h. sich mit den ihnen zur Verfügung stehendenMöglichkeiten und mit Unterstützung der Erziehendenein „Bild von der Welt“ zu machen. Der systematischeund inhaltliche Aufbau der einzelnen Bildungsbereicheist in den meisten Bildungskonzepten der Bundesländerebenfalls ähnlich. Die meisten Konzepte berücksichtigen„Sprache“, „Bewegung“, „Soziale Kompetenzen“, „Ma-thematik und Naturwissenschaften“ sowie „Musik undKunst“ als Bildungsbereiche und lassen damit enge An-knüpfungspunkte für die in Kapitel 2 und 3 ausgeführten„Weltbezüge“ erkennen. Weiterhin sind alle Bildungs-konzepte so ausgelegt, dass allen Kindern individuelleBildungsprozesse ermöglicht werden sollen. Fortgesetztwerden sollte diese Möglichkeit der individuellen Bil-dung auch in den Anfangsjahren der Grundschule (Ar-beitsstab Forum Bildung 2001). In diesem Zusammen-hang kann über eine faktische Vorverlegung desSchuleintrittsalters nachgedacht werden, die an die Gege-benheiten in den meisten anderen europäischen Ländernanschließt und in einigen Bundesländern schon vorgese-hen ist.

Allerdings ist der Grad der Verbindlichkeit von Bildungs-plänen in den Kindertageseinrichtungen in den verschie-denen Ländern unterschiedlich und meist gering. DieUmsetzung der Bildungspläne der Länder beruht im Re-gelfall auf Vereinbarungen der Länder mit den Spitzen-verbänden der Freien Wohlfahrtspflege und den Kommu-nalen Spitzenverbänden, die sich selbst verpflichten, zurUmsetzung des Bildungsauftrags beizutragen. Der Ver-einbarungscharakter enthebt die Länder der Pflicht, fürdie inhaltlichen Vorgaben in finanzieller Hinsicht aufzu-kommen. Die Landesorganisationen der Wohlfahrtsver-bände und die kommunalen Spitzenverbände auf Landes-

Page 216: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 206 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

A b b i l d u n g 5.7

Curriculare Rahmenpläne der Bundesländer für Kindertageseinrichtungen (Stand: Ende 2004)

Land Bezeichnung Geltungsbereich UmsetzungBaden-Württemberg

„Orientierungsplan für Bildung und Erziehung“

3 Jahre bis Schulein-tritt

Mehrjährige Erprobungsphase

Bayern „Der Bayerische Bildungs- und Er-ziehungsplan für Kinder in Tages-einrichtungen bis zu Einschulung“

Geburt bis Schulein-tritt

Erprobung in 106 Modelleinrichtungen bis Ende 2004 mit wissenschaftlicher Begleitung und Fortbildung für Fach-kräfte

Berlin „Das Berliner Bildungsprogramm für die Bildung, Erziehung und Be-treuung von Kindern in Tagesein-richtungen bis zu ihrem Schulein-tritt“

Geburt bis Schulein-tritt

Einführung durch gestuftes Fortbil-dungssystem: Multiplikatorenkurse für alle Trägerbereiche; Fortbildung aller Kita-Leitungen durch die Multiplikato-ren

Brandenburg „Grundsätze elementarer Bildung in Einrichtungen der Kindertages-betreuung im Land Brandenburg“

Geburt bis Ende der Grundschule; Schwer-punkt Kindergarten

Internet, Veranstaltungen, Fortbildun-gen, Verbindung mit 10-Stufen-Pro-jekt (infans) und KES-Evaluation (PädQuis)

Bremen „Rahmenplan für Bildung und Er-ziehung im Elementarbereich“

Geburt bis Schulein-ritt; Schwerpunkt Kin-dergarten

Verbindliche Umsetzung geplant

Hamburg (in Arbeit)Hessen „Bildungs- und Erziehungsplan für

Kinder von 0 bis 10 Jahren“Geburt bis Ende der Grundschule

Internet, Veranstaltungen, Fortbildung, Entwicklung eines Evaluationssystems

Mecklen-burg-Vor-pommern

„Rahmenplan für die zielgerichtete Vorbereitung von Kindern in Kin-dertageseinrichtungen auf die Schule“

Vorwiegend letztes Jahr vor dem Schulein-tritt;

Entwurf an alle Kindertageseinrichtun-gen

Niedersach-sen

„Orientierungsplan für Bildung und Erziehung im Elementarbereich niedersächsischer Tageseinrichtun-gen für Kinder“

Schwerpunkt Elemen-tarbereich

Diskussionsentwurf an Kindertages-einrichtungen; ergänzende Projekte: Konsultationskitas, Lerngeschichten (DJI)

Nordrhein-Westfalen

„Bildungsvereinbarung NRW – Fundament stärken und erfolgreich starten“

Geburt bis Schulein-tritt; Schwerpunkt Kin-dergarten und Jahr vor der Einschulung

Bildungsprojekt für 2,5 Jahre mit wis-senschaftlicher Begleitung und Weiter-bildung

Rheinland-Pfalz

„Bildungs- und Erziehungsempfeh-lungen für Kindertageseinrichtun-gen in Rheinland-Pfalz“

Geburt bis 14 Jahre Rückmeldung der Kindertageseinrich-tungen mit standardisiertem Fragebo-gen, Veranstaltungen, Fortbildung

Saarland „Bildungsprogramm für saarländi-sche Kindergärten“

Geburt bis Schulein-tritt

Zusätzliche Handreichungen, Veran-staltungen, Fortbildung

Sachsen „Praxis für Praxis – Werkbuch zum Landesprojekt: Zum Bildungsauf-trag in Kindertageseinrichtungen“ „Curriculum zur Umsetzung des Bildungsauftrages in Kindertages-einrichtungen im Freistaat Sach-sen“

Geburt bis Schulein-tritt

Noch nicht konkretisiert; geplant: Fort-bildung von Fachberaterinnen, Ver-pflichtung zur internen Evaluation

Sachsen-Anhalt

„Bildung: elementar – Bildung als Programm für Kindertageseinrich-tungen in Sachsen-Anhalt“

Geburt bis 14 Jahre Ausbau von 4 Erprobungseinrichtun-gen zu „Exzellenzzentren“ mit wissen-schaftlicher Begleitung; Konsultations-kitas

Page 217: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 207 – Drucksache 15/6014

n o c h Abbildung 5.7

Quelle: Kommission Kindertagesstätten der AGOLJB, Bildungsserver/DJI 2005a

Land Bezeichnung Geltungsbereich UmsetzungSchleswig-Holstein

„Erfolgreich starten – Leitlinien zum Bildungsauftrag von Kinderta-geseinrichtungen“

Geburt bis 14 Jahre Versand an alle Einrichtungen, Fortbil-dung, Ausbildung, einjährige Erpro-bung in allen Einrichtungen und schriftliche Rückmeldung

Thüringen „Leitlinien frühkindlicher Bildung“ Geburt bis Schulein-tritt

Verpflichtende Fortbildung für alle Er-zieherinnen, Fortbildung im Rahmen der NQI für alle Fachberatungskräfte, Einbeziehung der Fachschulen

ebene sind ihrerseits bis auf wenige Ausnahmen selbstgar nicht Träger von Kindertageseinrichtungen, sondernInteressensverbände oder Dachverbände vieler rechtlichselbstständiger Träger, die über die konkrete Umsetzungder Bildungskonzepte letztlich selbst entscheiden können.Die Dachverbände können ihren Einfluss auf ihre Mit-gliedseinrichtungen zwar geltend machen, Empfehlungenzur Umsetzung aussprechen sowie im Rahmen ihrer übli-chen Dienstleistungen die Umsetzung durch Fachbera-tung und Fortbildung fördern; sie können die Bildungs-konzepte aber nicht in geltendes Recht umsetzen(Expertise Larrá). Damit bleibt im Wesentlichen unklarund vage, welche in den Bildungskonzepten erarbeitetenBildungsmöglichkeiten den Kindern in Kindertagesein-richtungen tatsächlich offen stehen. Erfahrungen aus demSchulbereich zeigen überdies, dass die erhoffte Qualitäts-steuerung über Bildungspläne auch bei klarer rechtlicherVerbindlichkeit nur bedingt eingelöst werden kann.

Das Land Bayern versucht seinen Bildungs- und Erzie-hungsplan auf dem Weg der direkten Vorgabe durch einGesetz in der Praxis zu etablieren. Allerdings fehlen bis-lang auch hier noch geeignete Instanzen der Kontrolleoder Evaluation, um die Umsetzung des Bildungskon-zepts in der Praxis auch tatsächlich sicher zu stellen. An-dere Länder wie Berlin und Mecklenburg-Vorpommernplanen, die Umsetzung des Bildungskonzepts über eineVerknüpfung mit Finanzierungsregelungen zu sichern(ebd.). Neben den strukturellen Grundfragen für die Um-setzung der Bildungskonzepte stellt sich in allen Bundes-ländern die Frage der tatsächlichen Implementation undderen Überprüfung.

Sprachförderung: Bei den normativen Orientierungenwird in den meisten Bundesländern eine frühe sprachlicheFörderung für alle Kinder als grundlegend für die Bil-dungslaufbahn angesehen (Organisation for EconomicCooperation and Development [OECD] 2004a). An dieTageseinrichtungen wird die Erwartung gerichtet, ge-zielte sprachliche Bildung und Förderung auf dem Hinter-grund des vorliegenden Wissens zu Sprachentwicklungund Mehrsprachigkeit anzubieten. Dabei ist die sprachli-che Entwicklung aller Kinder als eine vordringliche Auf-gabe verankert. Allerdings zeigt sich hier eine gewisseDiskrepanz zwischen den vorher gegebenen normativen

Orientierungen und den praktischen Möglichkeiten. Diemuttersprachliche Förderung der Kinder mit Migrations-hintergrund findet jedoch meist zu wenig Beachtung.

In den letzten Jahren sind zwar eine Fülle von Aktivitätenzur sprachlichen Bildung und Förderung von Kindern vorder Schule entstanden, viele Bundesländer haben u. a.spezielle Programme für Migrantenkinder aufgelegt. EineDarstellung solcher Maßnahmen sowie eine analytischeBetrachtung ausgewählter Sprachförderkonzepte wurdenaktuell im Rahmen eines Projekts des Deutschen Ju-gendinstituts veröffentlicht (Jampert u. a. 2005). DieVielzahl der Programme und Aktivitäten hat als Kehr-seite, dass sehr unterschiedliche Konzepte und Ansätze„auf dem Markt“ angeboten werden. Diese einzuschätzenund für die eigene Situation nutzbringend anzuwenden,stellt die Fachpraxis durchaus vor Probleme.

Ein Hauptschwerpunkt der derzeitigen Programme liegtbei der (teilweise sehr kurzfristigen) Deutschförderungim Hinblick auf die Schule bei den Kindern, die aufgrundihrer kulturellen oder sozialen Lebensbedingungen Defi-zite in ihren Deutschkenntnissen aufweisen. Die Wirk-samkeit dieser Programme ist noch kaum untersucht.Auch wird diese defizitgeprägte Sichtweise in Bezug aufdie deutsche Sprache immer mehr von sprachwissen-schaftlichen Erkenntnissen zum zweisprachigen Auf-wachsen in Frage gestellt (Jampert u. a. 2005; ExpertiseNeumann; Weissenborn/Penner 2004; Jampert 2002; List2001). Das Beispiel der Sprachförderung verdeutlicht,dass – durchaus begründete – normative Forderungenrasch die praktische Begrenzung ihrer Wirksamkeit erfah-ren, wo angemessene Umsetzungsstrategien nicht zurVerfügung stehen.

Zusammenarbeit mit Eltern: Zu den wichtigen normati-ven Orientierungen bei den öffentlich verantwortetenAngeboten der Kindertagesbetreuung gehört auch die Zu-sammenarbeit mit den Eltern. Tatsächlich haben Eltern infrühkindlichen Bildungsprozessen eine wichtige Funk-tion. Sie sind für das Kind die ersten Vermittler von Bil-dung und Bildungschancen. Das Grundgesetz verbürgtdas natürliche Recht der Eltern auf Pflege und Erziehungder Kinder (Artikel 6 Abs. 2 Grundgesetz). Die Bildungs-konzepte der meisten Bundesländer berücksichtigen diese

Page 218: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 208 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

„starke“ Position von Eltern. In Rheinland-Pfalz und inThüringen haben Elternvertreter an der Formulierung derKonzepte zur Umsetzung des Bildungsauftrages mitge-wirkt. In Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt wirdeine „Erziehungspartnerschaft“ angestrebt, in der sichKindertageseinrichtung und Eltern über Fragen der Erzie-hung und Bildung der Kinder abstimmen. Im BayerischenBildungs- und Erziehungsplan wird darauf hingewiesen,dass Kindertageseinrichtungen dazu verpflichtet sind, mitEltern im Sinne einer „Bildungspartnerschaft“ zusam-menzuarbeiten. Im Berliner Bildungsprogramm wirdWert darauf gelegt, dass die Eingewöhnung des Kindes inden Alltag der Kindertageseinrichtung in Zusammenar-beit mit den Eltern erfolgt; zudem werden Entwicklungs-gespräche mit den Eltern angeregt.

Auch für die Elternmitwirkung gilt, dass die regulativeKraft entsprechender Orientierungen begrenzt bleibenwird, solange nicht klare Praxismodelle zu Verfügung ste-hen, die ein entsprechendes professionelles Handeln vorOrt erlauben. Ingesamt gesehen steht außer Frage, dass inden zurückliegenden fünf Jahren fachpolitisch bedeutendeAkzente in der Orientierungsqualität gesetzt wurden, dieals Kernelemente einer Neujustierung der öffentlich ver-antworteten Früherziehung in Deutschland verstandenwerden können.

Weitere wichtige Orientierungen: Neben Bildungsplänen,der Betonung der Sprachförderung sowie der Zusammen-arbeit mit Eltern hat die Fachpolitik auf verschiedenenEbenen weitere fachliche Orientierungen vorgegeben.Dazu gehört eine Verbesserung des Übergangs vom Ele-mentar- in den Primarbereich als zentrales Element derReform (Jugendministerkonferenz [JMK] 2004). Im Rah-men von Qualitätsentwicklungsprozessen wird der Festle-gung pädagogischer Ziele, der systematischen Evaluationdieser Ziele sowie der Verbesserung der fachlichen Kom-petenzen der Erzieherinnen und Erzieher große Bedeu-tung beigemessen. Zur Weiterentwicklung der pädagogi-schen Qualität im System der Kindertageseinrichtungenhatte das Bundesministerium für Familie, Senioren,Frauen und Jugend [BMFSFJ] bereits 1999 eine Natio-nale Qualitätsinitiative gestartet (BMFSFJ 2003), die mitt-lerweile mehrere tausend Einrichtungen erreicht hat.

Ebenfalls dienten dem Ziel des qualitativen und quantita-tiven Ausbaus öffentlich verantworteter früher Bildungzwei vom BMFSFJ in Auftrag gegebene Gutachten zuden „Perspektiven zur Weiterentwicklung des Systemsder Tageseinrichtungen für Kinder in Deutschland“ (ebd.)und „Von der Tagespflege zur Familientagesbetreuung“(Jurczyk u. a. 2004), in denen detaillierte Vorschläge zueinem auf Bildungsförderung hin orientierten qualitativenund quantitativen Ausbau enthalten sind.

(b) Ansätze zur Verbesserung der Strukturqualität

Zu den wesentlichen Strukturmerkmalen der institutionel-len Kindertagesbetreuung, die sich auf die Bildungsförde-rung von Kindern auswirken, gehören die Erzieherinnen-Kind-Relation, die Gruppengröße, räumliche Bedingun-gen, wie auch die Qualifikation der pädagogischen Ak-teure (Tietze u. a. 2005c; Expertise Roßbach). Unter an-

derem hängt es von solchen strukturellen Merkmalen ab,welche Situation das einzelne Kind in der Kindertages-einrichtung vorfindet und wie es in seiner individuellenBildung unterstützt und gefördert wird. Obwohl es sichbei den Merkmalen der Strukturqualität um harte Datenhandelt, lässt sich über die tatsächlichen Gegebenheitenin den Einrichtungen ein nur ungenaues Bild gewinnen.

Die Jugendhilfestatistik enthält, soweit überhaupt, nursehr grobe Informationen. Die einschlägigen rechtlichenRegelungen in den einzelnen Bundesländern sind kaumvergleichbar; auch können diese nur ein sehr einge-schränktes Bild der Wirklichkeit der Strukturqualität lie-fern, die die einzelnen Kinder in ihren Betreuungsformenerfahren.

Gruppengrößen und Erzieher-Kind-Schlüssel: Zur Grup-pengröße und zur Erzieherinnen-Kind-Relation gibt es inden Kita-Gesetzen der einzelnen Bundesländer Vorgaben,die in der Regel in Abhängigkeit zum Alter der Kinderund zum Teil auch zum zeitlichen Betreuungsumfang so-wie zu den Öffnungszeiten der Einrichtung stehen.200

Diese Vorgaben sind von Land zu Land unterschiedlich.In Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Hol-stein und dem Saarland darf eine Kindergartengruppe bei-spielsweise bis zu 25 Kinder umfassen. Die Größe einerKrippengruppe darf in diesen Bundesländern zwischen8 und 15 Kindern betragen, zum Teil in Abhängigkeitzum Alter der unter 3-Jährigen. Betreut werden solcheGruppen von 1,5 bis 2 Fachkräften oder von einer Fach-kraft und einer Kinderpflegerin, die allerdings für zweiGruppen zuständig ist. In den neuen Bundesländern undin Berlin ist die Gruppengröße dagegen nicht festgelegt.Hier bemisst sich die Personalausstattung nach dem Alterder Kinder und dem täglichen Betreuungsumfang. In Ber-lin kommt beispielsweise, bei einem Betreuungsumfangvon 5 Stunden täglich, eine Fachkraft auf 9 Kinder beiden 0- bis unter 2-Jährigen, auf 10 Kinder bei den 2- bisunter 3-Jährigen und auf 15 Kinder bei den Kindern abdrei Jahren bis zur Einschulung. Je höher der tägliche Be-treuungsumfang der Kinder wird, desto günstiger wirddie Personalausstattung für die Einrichtung. ZusätzlicheStellenanteile bekommt eine Einrichtung, wenn sie behin-derte Kinder betreut (0,25 bzw. 0,5 Stellen pro behinder-tem Kind je nach Schwere der Behinderung), wenn min-destens 40 Prozent der Kinder in der Einrichtungnichtdeutscher Herkunftssprache sind (0,017 Stellen proKind) und wenn die betreuten Kinder aus ungünstigenwirtschaftlichen Verhältnissen in sozialen Brennpunktenkommen (0,01 Stellen pro Kind).

Über die tatsächlichen Gegebenheiten lassen sich auf derGrundlage der Statistik kaum bzw. nur sehr ungenaue An-gaben machen. Angaben zu dem den Kindern zur Verfü-gung stehenden Raum bzw. zu den Gruppengrößen wer-den nicht erhoben. Die Personal-Platz-Relation fürKinder im Kindergartenalter bzw. im Krippenalter kön-nen nur für Einrichtungen mit ausschließlich altershomo-

200 Vgl. hierzu die Website des Ministeriums für Jugend, Bildung undSport des Landes Brandenburg: http://www.mbjs.brandenburg.de/sixcms/detail.php/lbm1.c.235427.de.

Page 219: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 209 – Drucksache 15/6014

genen Gruppen und damit nur für einen Teil aller Einrich-tungen berechnet werden (Schilling 2004b). Nach denAnalysen der Dortmunder Arbeitsstelle Kinder- und Ju-gendhilfestatistik beläuft sich die Anzahl der Plätze proVollzeitstelle für Kinder im Kindergartenalter in denwestlichen Bundesländern einschließlich Berlin auf 12,6(Spannbreite: Berlin: 9,9; Niedersachsen: 14,6), in denöstlichen Flächenländern auf 13,4 (Spannbreite: Sachsen-Anhalt: 9,6; Sachsen: 15,6). Für Kinder im Krippenalterliegt die Relation bei 6,1 im Westen (Spannbreite: Bay-ern: 4,6; Schleswig-Holstein: 8,5) und 8,5 im Osten(Spannbreite: Thüringen: 6,3; Sachsen-Anhalt: 9,3). In al-tersgemischten Gruppen mit Kindern im Kindergarten-und Krippenalter ist in den einzelnen Ländern der Anteilder unter 3-jährigen Kinder sehr unterschiedlich. Deshalbschwankt die Personal-Platz-Relation hier noch deutli-cher, und zwar zwischen 6,3 in Nordrhein-Westfalen und13,5 in Sachsen.

Bei einer Bewertung der Personal-Platz-Relation ist zubedenken, dass insbesondere in den östlichen Bundeslän-dern relativ hohe offizielle Personal-Platz-Relationendurch nicht besetzte Plätze entstehen können. Aber auchunter solchen Vorbehalten fällt die Erzieherinnen-Kind-Relation meist ungünstiger aus als das, was internationaleExpertinnen und Experten als Mindeststandard fordern(Tietze/Förster 2005; BMFSFJ 2003). Dabei ist zuberücksichtigen, dass die rechnerische Relation z. B.aufgrund nicht berücksichtigter Fehltage des Personalsgünstiger ausfällt als die tatsächlich empirisch zu beob-achtenden Relationen, also die Situation, die Kinder inden Einrichtungen tatsächlich erfahren.

Über die hier genannten Merkmale pädagogischer Struk-turqualität in den Einrichtungen liegen nicht nur keinebzw. nur sehr grobe Informationen vor. Im Regelfall fehltes auch an angemessenen, d. h. hinreichend komplexenDefinitionen dieser Merkmale. So sollte z. B. in einemaussagekräftigen Erzieherinnen-Kind-Schlüssel die Al-terszusammensetzung der Kinder nach Jahren, die tägli-che Betreuungsdauer und der Aspekt, ob besondere Kin-der (z. B. behinderte Kinder) mit betreut werden,Berücksichtigung finden (Tietze/Förster 2005).

Erst auf einer exakten Grundlage werden auch die Rege-lungen zwischen den Bundesländern vergleichbar, wasgegenwärtig kaum gegeben ist. Gruppengrößen undErzieher-Kind-Schlüssel, die nach internationalen For-schungsergebnissen als für die Bildungsförderung vonKindern bedeutsame Parameter der Strukturqualität gel-ten können, werden gegenwärtig kaum diskutiert, solltenaber besonders beim Platzausbau für die unter 3 Jahre al-ten Kinder Beachtung finden.

Qualifikation des pädagogischen Personals: Anders alsdie strukturellen Bedingungen wie Gruppengrößen,Raumgrößen, Erzieher-Kind-Schlüssel wird die Qualifi-kation des pädagogischen Personals in den Kindertages-einrichtungen in Deutschland viel diskutiert, auch vordem Hintergrund, dass die formalen Qualifikationsanfor-derungen in Deutschland niedriger angesetzt sind als innahezu allen anderen europäischen Ländern (Fthenakis/Oberhuemer 2002).

Die gegebene Personalsituation stellt sich im Überblickwie folgt dar. Von den im Bereich der Kindertagesein-richtungen ca. 380 000 Beschäftigten sind 86 Prozentpädagogisch tätig. Die übrigen sind mit Leitungs- undVerwaltungsaufgaben betraut bzw. gehören zum haus-wirtschaftlichen und technischen Personal (vgl.Tab. 5.11). Das pädagogische Personal in den Angebotenfür unter 3-Jährige unterscheidet sich bezüglich Ge-schlecht, Alter und Ausbildungsabschluss grundsätzlichnicht vom pädagogischen Personal für Kinder anderer Al-tersstufen (Schilling 2004a). Bei den pädagogischen Ak-teuren in der institutionellen Kindertagesbetreuung han-delt es sich fast ausschließlich um weibliche Beschäftigte.Von dem vom Kindernetzwerk der EU propagierten Ziel,dass 2010 rund 20 Prozent der Beschäftigten Männer seinsollten (European Commission Network 1995), istDeutschland weit entfernt: Lediglich 2,7 Prozent des pä-dagogischen Personals sind männlich. Deutsche Kindererleben im Erziehungsalltag der Kindertageseinrichtun-gen so gut wie keine männlichen Modelle. Immerhin45 Prozent der Beschäftigten sind 40 Jahre und älter, wo-bei in Ostdeutschland mit 67 Prozent der über 40-Jähri-gen deutlich älteres Personal arbeitet als in Westdeutsch-land. Diese Situation geht darauf zurück, dass im Zugedes Personalabbaus in den neuen Bundesländern aus so-zialen Gründen durchgängig jüngere Erzieherinnen ent-lassen wurden (Fendrich/Schilling 2003). Die Gegeben-heiten werden aller Voraussicht nach in den nächstenJahren zu einem Mangel an Erzieherinnen in den östli-chen Bundesländern führen, der auch nicht dadurch zukompensieren ist, dass viele der heute teilzeitbeschäftig-ten Erzieherinnen ihre Tätigkeit ausweiten.

Staatlich geprüfte Erzieherinnen bildeten zum Jahresende2002 mit 71 Prozent den Kern der Beschäftigten in Kin-dertageseinrichtungen (östliche Bundsländer, ohne Berlin93 Prozent; westliche Bundesländer 66 Prozent). Bundes-weit stellten im Jahr 2002 Kinderpfleger/innen 14 Pro-zent des pädagogischen Personals, wobei dieser Perso-nenkreis vorwiegend als Zweit- bzw. Ergänzungskrafteingesetzt wird (Schilling 2004a). 12,5 Prozent der päda-gogischen Beschäftigten verfügen über einen anderen,nicht-pädagogischen Berufsabschluss und 3,3 Prozent ha-ben keine abgeschlossene Berufsausbildung. AkademischAusgebildete findet man im Bereich der Kindertagesbe-treuung kaum; sie stellten 2002 nur 3,3 Prozent des päda-gogischen Personals.

Die Ausbildung zur staatlich anerkannten Erzieherin er-folgt an Fachschulen oder Fachakademien, orientiert ander Rahmenvereinbarung der Kultusministerkonferenz(KMK) aus dem Jahr 2000: „Ziel der Ausbildung ist dieBefähigung, Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungsauf-gaben zu übernehmen und in allen sozialpädagogischenBereichen als Erzieher oder Erzieherin selbstständig undeigenverantwortlich tätig zu sein. Die Ausbildung solleine berufliche Handlungskompetenz vermitteln, dieFach-, Methoden- und Sozialkompetenz verknüpft“(KMK 2000). Die Ausbildung zur staatlich anerkanntenErzieherin ist damit eine Breitbandausbildung, die für allesozialpädagogischen Tätigkeitsfelder und damit für dieArbeit mit einer Altersgruppe von 0 bis 27 Jahren vorbe-

Page 220: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 210 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Ta b e l l e 5.11

Tätige Personen in Tageseinrichtungen1 für Kinder nach ausgewählten Merkmalen (Deutschland, westliche und östlichen Bundesländer; 31. Dezember 2002)

1 In der Anzahl der tätigen Personen ist die Anzahl der tätigen Personen in der Horterziehung enthalten. Aufgrund der altersgemischten Angebotekönnen die Personen der Horterziehung nicht mit den entsprechenden Merkmalsausprägungen herausgerechnet werden.

2 Verberuflichung: Tätige Personen, die über eine (wie auch immer geartete) Berufsausbildung verfügen; Verfachlichung A: Tätige Personen, dieüber eine fachlich einschlägige, sozialpädagogische Ausbildung verfügen; Verfachlichung B: wie Verfachlichung A aber ohne Kinderpfleger/in-nen; Akademisierung: Tätige Personen die über einen (Fach-)Hochschulabschluss verfügen; Professionalisierung: Diplom-Sozialpädagogen/-in-nen und Diplom-Sozialarbeiter/innen der Fachhochschulen sowie die an Universitäten ausgebildeten Diplom-Pädagogen/-innen.

Quelle: Statistisches Bundesamt 2004d; eigene Berechnungen

DeutschlandWestliche

Bundesländer einschl. Berlin

Östliche Bundesländer

absolut % absolut. % absolut %Anzahl aller Beschäftigten in Tageseinrichtungen 379 723 100 308 882 100 70 841 100Anzahl der pädagogisch Tätigen einschl. Leitung 346 498 283 470 63 028Vollzeitäquivalente der pädagogisch Tätigen 287 488 234 626 52 862

davon Männlich 9 232 2,7 8 752 3,1 480 0,8Weiblich 337 266 97,3 274 718 96,9 62 548 99,2

< 25 Jahre 55 088 15,9 53 164 18,8 1 924 3,125 – 40 Jahre 131 430 37,9 113 306 40,0 18 124 28,840 – 60 Jahre 157 088 45,3 115 006 40,6 42 082 66,8> 60 Jahre 2 892 0,8 1 994 0,7 898 1,4

Vollzeit 160 952 46,5 148 359 52,3 12 541 19,932 bis unter 38,5/40 Stunden 47 699 13,8 23 979 8,5 23 712 37,621 bis unter 32 Stunden 94 762 27,3 72 185 25,5 22 552 35,8Unter 21 Stunden 38 029 11,0 34 064 12,0 3 953 6,3Nebentätigkeit 5 155 1,5 4 883 1,7 270 0,4

Dipl.-Sozialpädagogen/-innen u. a. 9 754 2,8 9 175 3,2 579 0,9Erzieher/innen/Heilpädagogen/-innen 246 086 71,0 187 540 66,2 58 546 92,9Kinderpfleger/innen, Assistenten/-innen i. Sozial-wesen 48 429 14,0 47 951 16,9 478 0,8Sonstige Sozial- und Erziehungsberufe 3 707 1,1 2 725 1,0 982 1,6Gesundheitsberufe 3 358 1,0 2 968 1,0 390 0,6Andere Abschlüsse 7 958 2,3 7 018 2,5 940 1,5Praktikanten/-innen/Ausbildung 15 702 4,5 15 249 5,4 453 0,7Ohne Ausbildung 11 504 3,3 10 844 3,8 660 1,0

Verberuflichung2 319 292 92,1 257 377 90,8 61 915 98,2Verfachlichung A2 303 265 87,5 243 675 86,0 59 590 94,5Verfachlichung B2 255.840 73,8 196 715 69,4 59 125 93,8Akademisierung2 11 565 3,3 10 682 3,8 883 1,4Professionalisierung2 9 754 2,8 9 175 3,2 579 0,9

Page 221: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 211 – Drucksache 15/6014

reiten soll. Als Voraussetzungen des Zugangs für die Aus-bildung zur Erzieherin sieht die KMK-Rahmenvereinba-rung einen mittleren Bildungsabschluss sowie eineabgeschlossene berufliche Vorbildung in einem sozialpä-dagogischen oder sozialen Beruf vor (z. B. als Kinder-pflegerin, Erziehungshelferin, Sozialassistentin) (KMK2000). Die gesamte Ausbildungszeit umfasst in der Regelfünf Jahre, muss mindestens jedoch vier Jahre betragen.Darin enthalten ist eine in der Regel dreijährige, mindes-tens jedoch zweijährige Ausbildung an der Fachschulemit Berufspraktikum (KMK 2002).

Nimmt man die Qualifikationsbreite, die Erzieherinnen inihrer Ausbildung erwerben sollen, ernst, dann erscheinteine Ausbildungszeit von zwei oder drei Jahren nicht an-gemessen (Becker 2002). Zudem werden durch die aktu-elle Bildungsdebatte weitgehende Forderungen an denBeruf der Erzieherin bzw. des Erziehers formuliert; unteranderem sollen Erzieherinnen und Erzieher die Sprach-entwicklung der Kinder effektiver begleiten, die lernme-thodische Kompetenz fördern, naturwissenschaftlicheKenntnisse vermitteln, individuelle Bildungs- und Lern-prozesse vor dem Hintergrund einer wachsenden Vielfaltvon Entwicklungsbedingungen und Familienstrukturenanregen und begleiten, zielgruppenorientierte Familien-angebote organisieren und Elternnetzwerke unterstützen,partnerschaftliche Beziehungen zu Eltern aufbauen, ander Entwicklung einer Einrichtungskonzeption mitwir-ken, Verbindungen zu den Grundschulen herstellen undentsprechende Formen der Zusammenarbeit entwickeln,sich mit verschiedenen Ansätzen der Qualitätsentwick-lung und Evaluation auseinandersetzen und diese für dieeigene Professionalisierung und die Weiterentwicklungder Einrichtung nutzen (BMFSFJ 2003, S. 159f.).

Vor diesem Hintergrund gewinnen Forderungen, das Abi-tur als Eingangsvoraussetzung einzuführen und die Erzie-herausbildung mittelfristig auf Hochschulniveau anzuhe-ben, an Bedeutung (ebd., S. 164f.). Zugleich würde damitan die in den meisten europäischen Ländern herrschendenStandards angeschlossen werden, zumindest die pädago-gischen Kernkräfte auf Hochschulniveau auszubilden(Bildungsserver/DJI 2005b; Lohmander 2004). Erste Ini-tiativen in diese Richtung wurden unternommen. So kannman sich an der Universität Bremen in Kooperation mitdem Landesverband Evangelischer Tageseinrichtungenseit August 2004 berufsbegleitend für ein weiterbildendesZertifikatsstudium „Frühkindliche Bildung“ für Erziehe-rinnen und Erzieher einschreiben; ferner bietet die Berli-ner Alice-Salomon-Fachhochschule seit April 2004 denersten grundständigen Bachelor-Studiengang „Erziehungund Bildung im Kindesalter“ als Fachhochschulstudiumfür Erzieherinnen und Erzieher an. Im gesamten Bundes-gebiet gibt es inzwischen ähnliche Initiativen, die in un-terschiedlichen Konstellationen von Kooperation zwi-schen Fachschulen, Fachhochschulen und Universitätenentwickelt werden.201

Vor dem Hintergrund, dass Kindertageseinrichtungen undGrundschulen zu einem guten Teil an gleichartigen Zielenwie Förderung der Gesamtpersönlichkeit des Kindes, sei-ner Selbsttätigkeit und Selbstständigkeit, der Förderungtragfähiger sozialer Beziehungen orientiert und „gleicher-maßen das schulfähige Kind wie die kindfähige Schule“anstreben sollten (JMK 2004, S. 10), werden auch weiter-gehende Überlegungen einer – jedenfalls zum Teil – ge-meinsamen Ausbildung von Erzieher/innen und Grund-schullehrer/innen angestellt. Angestrebt wird hierbei einAusbildungskonzept für Pädagogen, „das sie befähigensollte, in allen Stufen des Bildungssystems bis Ende derGrundschule tätig zu werden. Dieses Ausbildungskonzept,das die Ausbildungsgänge für Erzieher und Lehrer erset-zen würde, stellt die folgerichtige Konsequenz aus derForderung nach institutionsübergreifenden Bildungsplä-nen dar“ (BMFSFJ 2003, S. 164). Ein solches Ausbil-dungsmodell wird seit kurzem in Schweden realisiert(Lohmander 2004).

Die Debatte um die Reform der Ausbildung ist inDeutschland in Gang gekommen. Sie wird gegenwärtigwesentlich mitgetragen durch eine bundesweite Initiativeder Robert-Bosch-Stiftung. Sie ist andererseits empirischnoch wenig fundiert. Untersuchungen, dass eine Ausbil-dung auf einem höheren Niveau zu einer verbessertenQualität in den Kindertageseinrichtungen führt, sind bis-lang in Deutschland nicht bekannt geworden. Eine kürz-lich durchgeführte breit angelegte Studie in den USAkommt zu dem überraschenden Ergebnis, dass ein Bache-lor-Abschluss des pädagogischen Personals kaum mit ei-ner höheren Qualität in den Einrichtungen verbunden ist(Early/Clifford 2005). Das Ergebnis verweist auf die Not-wendigkeit, die Inhalte der Ausbildung und nicht vorwie-gend nur das formale Niveau in den Blick zu nehmen.

Zu beachten ist auch, dass eine Qualitätsverbesserungdurch Anheben der Ausbildung nur als ein erster Schrittin die richtige Richtung eines längerfristig wirksamen Re-formprojekts betrachtet werden kann. Selbst unter opti-mistischer Annahme, dass ab 2010 nur noch auf Hoch-schulniveau ausgebildete Fachkräfte in das Systemeintreten, ergeben die Schätzungen, dass es in West-deutschland – bei einer angenommenen durchschnittli-chen Verweildauer von wenigstens 25 Jahren im Beruf –bis zum Jahr 2035 dauern würde, bis das gesamte pädago-gische Personal auf diesem Niveau ausgebildet wäre.

Die langfristigen Reformziele sollten daher durch kurz-fristige ergänzt werden. Vordringlich und auch machbarerscheint eine Qualifizierung des Leitungspersonals inden Einrichtungen auf akademischem Niveau (gegenwär-tig knapp 20 000 freigestellte Leitungskräfte). Dieskönnte in Form eines berufsbegleitenden Aufbaustudiumsfür berufstätige Leitungskräfte wie auch eines grundstän-digen Studiums für zukünftige Leitungskräfte bestehen(sofern sie die Zugangsvoraussetzungen für ein Hoch-schulstudium erfüllen). Für das übrige pädagogische Per-sonal bieten sich tätigkeitsbegleitende systematischeQualifizierungskurse als „Im-Haus-Trainings“ an, die inden Einrichtungen unter Einbezug des jeweils gesamtenpädagogischen Personals durchgeführt werden.

201 In der Broschüre „Erzieherinnenausbildung an die Hochschule“ be-richtet die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) vonacht derartigen Studiengängen (Stand Januar 2005; GEW 2005).Nach mündlicher Auskunft im April 2005 hat sich diese Zahl inzwi-schen auf neun Studiengänge erhöht.

Page 222: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 212 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

(c) Ansätze zur Verbesserung von Prozessqualität

Die Frage der direkten Verbesserung der pädagogischenProzessqualität ist schwerpunktmäßig durch die „Natio-nale Qualitätsinitiative im System der Tageseinrichtungenfür Kinder“ (NQI) in die fachlichpolitische Diskussion inDeutschland gelangt. Die Initiative wurde 1999 vomBundesministerium für Familie, Senioren, Frauen undJugend gestartet (BMFSFJ 2003, S. 91ff.). Sie umfasstverschiedene Teilprojekte, die sich mit der Qualitätsent-wicklung in Kindertageseinrichtungen mit Kindern imKrippen- und Kindergartenalter (teilweise auch mit Hort-kindern) befassen.

Der Schwerpunkt der meisten Projekte liegt, wenn auchnicht ausschließlich, auf der Verbesserung der konkretenProzessqualität in den Einrichtungen. Entwickelt wurdendazu „Qualitätskriterienkataloge“ (Tietze/Viernickel2003; Preissing 2003; Fthenakis u. a. 2003; Strätz u. a.2003), die als Hilfen für die Orientierung und Reflexionder pädagogischen Arbeit konzipiert sind, sowie Check-listen und Materialien, mit denen die eigene Arbeit vonden beteiligten Fachkräften selbst evaluiert und verbes-sert werden kann (Tietze 2004). Ein übergreifendesKennzeichen der im Detail verschiedenen Ansätze be-steht darin, dass sie sich an ganze Einrichtungsteamswenden und sich im Sinne einer Im-Haus-Fortbildung aufdie Verbesserung der pädagogischen Arbeit vor Ort bezie-hen. Angeleitet wird dieser Prozess durch geschulte Qua-litätsmultiplikatoren, die in systematischer Weise mit deneinzelnen Teams arbeiten.

Seit Ende 2003 hat eine breite Implementation der Mate-rialien begonnen, in die mittlerweile mehrere tausend Er-zieherinnen und Erzieher sowie zahlreiche Einrichtungenaus allen Bundesländern einbezogen worden sind. DieQualitätsentwicklungsansätze der Nationalen Qualitätsin-itiative werden nach vorliegenden Berichten in der Praxispositiv aufgenommen. Dies trifft insbesondere auch inso-fern zu, als sie sich mit den Bildungsplänen der Länderkompatibel erweisen. Allerdings liegen auch für diesenAnsatz der Qualitätsverbesserung bislang keine empiri-schen Evaluationen vor. Insofern muss in einem strengenSinne offen bleiben, ob, und, wenn ja, in welchem Aus-maß bzw. unter welchen Randbedingungen diese Formder Intervention tatsächlich zu Qualitätsverbesserungenführt. Für die Zukunft wären kritische Evaluationen zuwünschen, nicht zuletzt auch, um solche Ansätze einerschwerpunktmäßig direkten Verbesserung der Prozess-qualität optimieren zu können.

5.3.3.6 Gesellschaftliche Kosten der institutio-nellen Kindertagesbetreuung

Wir wissen in Deutschland – auch auf der gesamtstaatli-chen Ebene – nur sehr ungenau, was für die Betreuungvon Kindern in Tageseinrichtungen aufgewendet wird.Nach den Angaben des Statistischen Bundesamtes gabdie öffentliche Jugendhilfe im Jahr 2003 11,3 Mrd. Eurofür die Betreuung von Kindern in Tageseinrichtungen aus(Statistisches Bundesamt 2004h). Hinzuzurechnen sind625 Mio. Euro für Personalkostenzuschüsse sowie inves-tive Zuschüsse für Kindergärten freier Träger in Bayern,

die nach dem Bayerischen Kindergartengesetz in der Ju-gendhilfestatistik nicht enthalten sind. Somit belaufensich die Ausgaben in Deutschland insgesamt auf11,9 Mrd. Euro. Berücksichtigt man die Einnahmendurch Elternbeiträge und sonstige Einnahmen in eigenenEinrichtungen der öffentlichen Träger sowie Rückflüssevon Zuschüssen für freie Träger, dann beliefen sich die„reinen“ Ausgaben der öffentlichen Hand auf rund10,5 Mrd. Euro (einschließlich Bayern). Diese entsprichteinem Anteil von 1,1 Prozent an allen Ausgaben der öf-fentlichen Haushalte und einem Anteil von 0,5 Prozentam Bruttoinlandsprodukt. Bezogen auf die Einrichtungender Träger der freien Jugendhilfe werden in der amtlichenStatistik nur die öffentlichen Zuschüsse nachgewiesen;die Elternbeiträge, die direkt von den Einrichtungen infreier Trägerschaft eingenommen werden, sowie die Ei-genanteile dieser Träger werden nicht erfasst. Überträgtman die nachgewiesenen Elternbeiträge der öffentlichenEinrichtungen auf die der Träger der freien Jugendhilfe,so ergibt sich eine Größenordnung von ca. 1 Mrd. EuroElternbeiträge. Der Eigenanteil der freien Jugendhilfewird auf 0,5 Mrd. Euro geschätzt.202 Somit belaufen sichdie Gesamtkosten auf ca. 13,4 Mrd. Euro.203

Seit dem Jahr 1992, in dem der Rechtsanspruch auf einenKindergartenplatz beschlossen wurde, erhöhten sich inWestdeutschland die reinen Ausgaben um 3,5 Mrd. Europro Jahr.204 Dies entspricht nominell einer Steigerung um80 Prozent, inflationsbereinigt um 48,5 Prozent. Betrach-tet man diese Kostensteigerung im Verhältnis zum gleich-zeitig stattgefundenen Platzausbau, dann haben sich dieAusgaben pro Platz in diesem Zeitraum praktisch nichtverändert (Schilling 2005).

Innerhalb des hier betrachteten Zehnjahreszeitraums las-sen sich jedoch zwei gegenläufige Entwicklungen ver-zeichnen. Bis 1998 sinken die durchschnittlichen Auf-wendungen pro Platz; dies dürfte auf die imZusammenhang mit der Realisierung des Rechtsan-spruchs auf einen Kindergartenplatz gegebenen Deregu-lierungen mit ihren Absenkungen von Standards zurück-zuführen sein (Reidenbach 1996). Gegenüber 1998 fallendie reinen Ausgaben im Jahre 2003 jedoch um16,9 Prozent höher aus (preisbereinigt: 9,6 Prozent). Ver-mutliche Gründe hierfür sind der Zuwachs bei den Ganz-tagsplätzen im Kindergartenbereich um 150 000 Plätzeund die Rückkehr zu Standards, die im Zuge der Über-gangsregelungen zum Rechtsanspruch zeitweise gelo-ckert waren. Gleichwohl ist festzuhalten, dass die durch-schnittlichen Platzkosten auf der Grundlage der letztverfügbaren Daten inflationsbereinigt leicht unter denPlatzkosten des Jahres 1992 liegen (Schilling 2005).

202 Schätzung des Statistischen Bundesamtes im Rahmen der regelmäßi-gen OECD-Berichterstattung (OECD 2004b).

203 Zu den Ausgaben der öffentlichen Jugendhilfe zählen die laufendenAusgaben für eigene Einrichtungen (Personalkosten und Sachausga-ben), laufende Zuschüsse für Einrichtungen freier Träger und Ausga-ben für Investitionen, d. h. für den Erhalt bestehender und den Auf-bau neuer Einrichtungen, ebenso die Übernahme von Elternbeiträgenfür Kinder aus finanziell schwachen Familien (Statistisches Bundes-amt 2004d).

204 In Ostdeutschland gingen im gleichen Zeitraum die reinen Ausgabenum 232 Mio. Euro zurück.

Page 223: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 213 – Drucksache 15/6014

Die Platzkosten variieren bei einer Betrachtung nachBundesländern. So belaufen sich die geschätzten Platz-kosten für einen Kindergartenhalbtagsplatz in Mecklen-burg-Vorpommern auf 2 400 Euro (Ganztagsplatz:3 600 Euro) und in Schleswig-Holstein auf 3 900 Euro(Ganztagsplatz: 5 800 Euro). Für einen Platz für unter3-jährige Kinder belaufen sich die Schätzungen in denwestlichen Ländern auf 12 000 bis 14 000 Euro jährlich,für die östlichen Bundesländer auf 8 000 bis 9 000 Euro.Generell gilt für alle Platzarten, dass die durchschnittli-chen Kosten in den östlichen Bundesländern deutlich un-ter denen in den westlichen liegen.205 Dies dürfte zumTeil auf die Unterschiede im BAT zurückzuführen sein,teilweise dürften sich hierin aber auch Unterschiede inder Strukturqualität zeigen (z. B. ungünstigerer Erzieher-Kind-Schlüssel).206

Für alle voran stehenden Angaben gilt, dass es sich umSchätzungen auf der Grundlage teils undifferenziertenDatenmaterials handelt. In den vorhandenen Datengrund-lagen kommt ein administrativer Mangel zum Ausdruck,der angesichts des Ausgabevolumens und der gesell-schaftlichen Bedeutung des Bereichs als nicht akzeptabelangesehen werden muss und der sich im Hinblick auf dieAusbauplanung des Systems als nachteilig erweist.

(a) Gesellschaftliche Kosten für einen bedarfs-gerechten Ausbau der Kindertagesbetreuung

Im Hinblick auf einen bedarfsgerechten Ausbau der Ta-gesbetreuung von Kindern sollen im Folgenden drei Sze-narien unterschieden werden: ein Minimum-Szenarium,ein mittleres Szenarium und ein Maximum-Szenarium.

(1) Minimum-Szenarium

Dieses Szenarium geht – unter Zugrundelegung der ge-genwärtig vorhandenen Plätze, einer Absenkung desdurchschnittlichen Schuleintrittsalters von gut 6½ auf6,0 Jahre und von Jahrgangsstärken auf der Grundlageder Bevölkerungsvorausschätzung für das Jahr 2010 –von folgenden Annahmen aus:

– Durch die Schrumpfung der Kinderzahlen gegenüberdem Bezugsjahr 2002 werden bei gleich bleibendenRahmenbedingungen ca. 340 000 Kindergartenplätzein Westdeutschland nicht mehr benötigt; in Ost-deutschland ist mit einer leichten Zunahme von ca.14 000 Plätzen (+4 Prozent) zu rechnen.

– Durch die Absenkung des faktischen Schuleintrittsal-ters um 6 Monate bis 2010 werden weitere ca.310 000 Kindergartenplätze in Westdeutschland (und50 000 in Ostdeutschland) frei.

– Bei einem Anstieg der Beteiligungsquote der 3-Jähri-gen in Westdeutschland von derzeit 54 Prozent auf75 Prozent im Jahre 2010 werden zusätzlich 80 000Kindergartenplätze benötigt (davon die Hälfte alsGanztagsplätze).

– Um die Quote von derzeit 24 Prozent der Ganztags-plätze an den Kindergartenplätzen auf 50 Prozent (Be-darfskriterium wie bei den „unter Dreijährigen“ nachTAG) im Jahr 2010 anzuheben, werden 250 000 zu-sätzliche Ganztagsplätze benötigt (zuzüglich der zu-sätzlichen Ganztagsplätze für 3-Jährige).

– Bei den unter 3-Jährigen wird eine Versorgungsquotevon 20 Prozent in Westdeutschland erreicht.207 Vondiesen Kindern werden 70 Prozent in einer Kinderta-geseinrichtung und 30 Prozent in Tagespflege betreutwerden. Dies bedeutet, dass in Westdeutschland zu-sammen 182 000 Plätze in Tageseinrichtungen und78 000 in Tagespflege geschaffen werden müssen.

– Es wird davon ausgegangen, dass sich die jährlichenBetriebskosten für die öffentliche Jugendhilfe (ohneElternbeiträge und Trägeranteile)

– für einen Kindergartenplatz in Westdeutschland auf2 700 Euro,

– für einen Ganztagskindergartenplatz in Westdeutsch-land auf 4 200 Euro,

– für einen Platz für unter 3-Jährige in einer Kindertages-einrichtung auf 8 900 Euro und

– für einen Tagespflegeplatz für unter 3-Jährige auf6 000 Euro belaufen.208

Es wird weiterhin davon ausgegangen, dass sich im Saldoin Ostdeutschland keine größeren Veränderungen erge-ben, so dass sich die folgende Kalkulation ausschließlichauf Westdeutschland bezieht (vgl. Tab. 5.12).

(2) Mittleres Szenarium

Bei diesem Szenarium wird von folgenden Voraussetzun-gen ausgegangen:

– Es gelten alle Bedingungen des Minimum-Szenari-ums.

205 Allerdings liegen die Gesamtkosten für die Kindertagesbetreuungaufgrund der erheblich besseren Versorgungslage in den ostdeut-schen Bundesländern dennoch anteilsmäßig erheblich über den west-lichen Ländern. In letzteren (einschließlich Berlin) wurden im Jahre2003 für Kindertageseinrichtungen Brutto-Ausgaben in Höhe von6,8 Mrd. Euro aufgewendet, in den östlichen Ländern waren es0,91 Mrd. Euro. Relativiert auf die Anzahl der unter 10-Jährigen inder Bevölkerung, ergibt sich für den Westen ein Wert von 1 322 Euround für den Osten von 2 520 Euro pro Jahr und Kind.

206 Hierbei handelt es sich um Schätzungen auf der Basis der Ergebnisseder amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik zu den Ausgaben undEinnahmen sowie unter Berücksichtigung länderspezifischer Be-triebskostenabrechnungen (Schilling 2004).

207 Im Unterschied zum TAG gehen wir von einem Mindestbedarf von20 Prozent aus, wie er auch in der Koalitionsvereinbarung der Bun-desregierung im Jahr 2002 zugrunde gelegt worden ist, da in der Ten-denz eher ein weiterer Anstieg der Erwerbstätigkeit von jungen Müt-tern anzunehmen ist.

208 Die Annahmen zu den Platzkosten beruhen auf einer Berechnung derDortmunder Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik auf derGrundlage der in der Jugendhilfestatistik ausgewiesenen öffentlichenAusgaben für Kindertageseinrichtungen abzüglich der Elternbeiträge(bei den kommunalen Einrichtungen). In den Ausgaben der öffentli-chen Hand sind neben den Betriebskosten auch Ausgaben für Erhal-tung und Investition enthalten.

Page 224: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 214 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Ta b e l l e 5.12

Minimum-Szenarium – Veränderungen bei Platzarten und Kosten für die öffentliche Jugendhilfe in Westdeutschland im Jahr 2010

Quelle: Dortmunder Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik: Berechnungen im Auftrag des 12. Kinder- und Jugendberichts

PlatzartVeränderung

der Anzahl der Plätze

Platzkosten pro Jahr

in €

Kosten in Mrd. €

Kindergartenplätze (geringere Jahrgangsstärke) – 340 000 2 700 – 0,92Kindergartenplätze (Absenkung Schuleintrittsalter auf 6,0 Jahre) – 310 000 2 700 – 0,84Kindergartenplätze(Anhebung Beteiligungsquote bei 3-Jährigen auf 75 Prozent) 80 000 2 700 0,22Ausweitung des Ganztagesangebots (Ziel: 50 Prozent aller Kindergartenplätze für 3- bis 6-Jährige) 250 000 1 500 0,38Plätze für unter 3-Jährige in Tageseinrichtungen (70 Prozent der 20-Prozent-Versorgungsquote) 182 000 8 900 1,62Plätze für unter 3-Jährige in Tagespflege (30 Prozent der 20 Prozent-Versorgungsquote) 78 000 6 000 0,47Veränderung bei den Kosten der öffentlichen Hand / / 0,92

– Der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz wirdauf das vollendete zweite Lebensjahr ausgeweitet und60 Prozent der Zweijährigen nehmen einen Kindergar-tenplatz in Anspruch.

– Der Platz für ein zweijähriges Kind kostet die öffentli-che Jugendhilfe – besonders aufgrund des erforderlichengünstigeren Erzieher-Kind-Schlüssels – 150 Prozent ei-nes bisherigen Kindergartenplatzes, also als Halbtags-platz 4 050 Euro und 6 300 Euro als Ganztagsplatz.

– Die Hälfte aller Kindergartenplätze für alle Altersstu-fen sind Ganztagsplätze.

– Für 20 Prozent der unter zwei Jahre alten Kinder ste-hen Plätze zur Verfügung; davon 70 Prozent in Kin-dertageseinrichtungen und 30 Prozent in Tagespflege.

Die Veränderungen in den Platzzahlen und den sich da-raus ergebenden Kosten sind in der Tabelle 5.13 wieder-gegeben.

Ta b e l l e 5.13

Mittleres Szenarium – Veränderungen bei Platzarten und Kosten für die öffentliche Jugendhilfe in Westdeutschland im Jahr 2010

Quelle: Dortmunder Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik: Berechnungen im Auftrag des 12. Kinder- und Jugendberichts

PlatzartVeränderung

der Anzahl der Plätze

Platzkostenpro Jahr

Kosten in Mrd. €

Kindergartenplätze (geringere Jahrgangsstärke) – 340 000 2 700 – 0,92Kindergartenplätze(Absenkung Schuleintrittsalter auf 6,0 Jahre) – 310 000 2 700 – 0,84Kindergartenplätze(Anhebung Beteiligungsquote bei 3-Jährigen auf 75 Prozent) 80 000 2 700 0,22Ausweitung des Ganztagesangebots(Ziel: 50 Prozent aller Kindergartenplätze für 3- bis 6-Jährige) 250 000 1 500 0,38Halbtagsplätze für 30 Prozent der 2- bis unter 3-Jährigen 175 000 4 050 0,71Ganztagsplätze für 30 Prozent der der 2- bis unter 3-Jährigen 175 000 6 300 1,10Plätze für unter 2-Jährige in Tageseinrichtungen (70 Prozent der 20-Prozent-Versorgungsquote) 90 000 8 900 0,80Plätze für unter 2-Jährige in Tagespflege (30 Prozent der 20-Prozent-Versorgungsquote) 40 000 6 000 0,24Veränderung bei den Kosten für die öffentliche Hand / / 1,69

Page 225: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 215 – Drucksache 15/6014

Die Mehrkosten für die öffentliche Jugendhilfe belaufensich bei diesem mittleren Szenarium gegenüber dem Mi-nimum-Szenarium auf 0,77 Mrd. Euro. Sie liegen ledig-lich um 200 Mio. Euro über dem im Rahmen des TAGangenommenen Entlastungseffekts von 1,5 Mrd. Euro.

(3) Maximum-Szenarium

In diesem Szenario wird von folgenden Voraussetzungenausgegangen:

Es gelten alle Bedingungen des Minimum-Szenariums.

– Jedes Kind hat einen Rechtsanspruch von Geburt an.

– Der Rechtsanspruch wird – in Anlehnung an die empi-rischen Gegebenheiten im Land Sachsen-Anhalt mitrealisiertem Rechtsanspruch von Geburt an – von70 Prozent der 2-Jährigen, 50 Prozent der 1-Jährigenund 5 Prozent der unter 1-jährigen Kinder in Anspruchgenommen (im Durchschnitt ergibt sich für alle dreiJahrgänge eine Versorgungsquote von 42 Prozent, fürdie unter 2-Jährigen ein Quote von ca. 28 Prozent).

– Alle 2-Jährigen werden in Tageseinrichtungen betreut,die Hälfte davon ganztags. Für den Halbtagsplatz wer-den Platzkosten von 4 050 Euro, für den Ganztags-platz Platzkosten von 6 300 Euro zu Grunde gelegt.

– Für die unter 2-Jährigen wird eine Versorgungsquotevon ca. 28 Prozent erwartet. Das Platzangebot soll zu70 Prozent in Einrichtungen und 30 Prozent in Tages-pflege vorgehalten werden (die vorhandenen Plätze inEinrichtungen und Tagespflege werden hier berück-sichtigt).

Die daraus resultierenden Gegebenheiten sind in Tabelle5.14 dargestellt.

Um in jedem östlichen Bundesland die im Maximum-Szenarium unterstellten Beteiligungsquoten für die unter3-jährigen Kinder zu erreichen, müssten in den östlichenBundesländern insgesamt 25 000 Plätze für unter 3-jäh-rige Kinder zusätzlich bereitgestellt werden. Die Kostender öffentlichen Hand für diese Plätze würden sich auf175 Mio. Euro jährlich belaufen.

Bei diesem Maximum-Szenarium209, das praktisch ohnepolitisch gesetzte Kriterien arbeitet und davon ausgeht,dass der Bedarf allein durch das Nachfrageverhalten derEltern gesteuert wird, ergeben sich für die öffentliche Ju-gendhilfe Mehrkosten von rund 1,01 Mrd. Euro gegen-über dem mittleren Szenarium (Rechtsanspruch für 2-Jäh-rige, Erweiterung der Ganztagsplätze auf 50 Prozent allerKindergartenplätze, 20 Prozent-Versorgungsquote für un-ter 2-Jährige) und von 1,78 Mrd. Euro gegenüber demMinimum-Szenarium.

Die drei Szenarien würden – bezogen auf das Jahr 2002 –eine Steigerung der Aufwendungen der öffentlichen Ju-gendhilfe um 9 Prozent, 16 Prozent bzw. 26 Prozent be-deuten. Die Aufwendungen des Maximum-Szenariums(einschließlich Ost-Deutschland) entsprächen mit Bezugauf das Jahr 2002 einem Anteil von 1,4 Prozent (statt1,1 Prozent) an den Ausgaben der öffentlichen Haushalteund einem Anteil von 0,7 Prozent (statt 0,5 Prozent) amBIP.

209 Das Minimum-Szenarium würde für die östlichen Bundesländer be-inhalten, dass 41 000 Plätze für unter 3 Jahre alte Kinder geschaffenwerden müssten, was hier nicht weiter berücksichtigt wird.

Ta b e l l e 5 . 1 4

Maximum-Szenarium – Veränderungen bei Platzarten und Kosten für die öffentliche Jugendhilfe in Westdeutschland im Jahr 2010

Quelle: Dortmunder Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik: Berechnungen im Auftrag des Zwölften Kinder- und Jugendberichts

PlatzartVeränderung

der Anzahl der Plätze

Platzkostenpro Jahr

Kosten in Mrd. €

Kindergartenplätze (geringere Jahrgangsstärke) – 340 000 2 700 – 0,92Kindergartenplätze(Absenkung Schuleintrittsalter auf 6,0 Jahre) – 310 000 2 700 – 0,84Kindergartenplätze(Anhebung Beteiligungsquote bei Dreijährigen auf 75 Prozent) 80 000 2 700 0,22Ausweitung des Ganztagsangebots(Ziel: 50 Prozent aller Kindergartenplätze für 3- bis 6-Jährige) 250 000 1 500 0,38Halbtagsplätze für 35 Prozent der 2- bis unter 3-Jährigen 195 000 4 050 0,79Ganztagsplätze für 35 Prozent der 2- bis unter 3-Jährigen 195 000 6 300 1,23Zusätzliche Plätze für unter 2-Jährige in Tageseinrichtungen 160 000 8 900 1,42Zusätzliche Plätze für unter 2-Jährige in Tagespflege 70 000 6 000 0,42Veränderung bei den Kosten für die öffentliche Hand / / 2,70

Page 226: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 216 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

(b) Mehrkosten bei Qualitätsverbesserungen

Das deutsche Früherziehungssystem steht nicht nur vorder Frage seiner quantitativen Ausweitung speziell in denwestlichen Bundesländern, sondern auch vor der Heraus-forderung seiner qualitativen Verbesserung. Dies gilt füralte und neue Bundesländer in gleicher Weise. Auf derEbene der Einrichtung bzw. der Kindergruppe könnenvier Gruppen von Qualitätsmerkmalen unterschiedenwerden: Solche der (1) Strukturqualität und der (2) Orien-tierungsqualität; diese sind als Inputbedingungen der ein-zelnen Einrichtung vorgegeben und bestimmen ihrenOutput, die Qualität der tatsächlichen pädagogischen Pro-zesse, die (3) Prozessqualität wesentlich mit. Die bei dengegebenen Inputbedingungen der Struktur- und Orientie-rungsqualität tatsächlich erreichte Prozessqualität hängtdabei wesentlich von der (4) Organisations- und Ma-nagementqualität in der Einrichtung ab, die gegebenenRessourcen für eine optimale Prozessqualität (Output) zunutzen (vgl. Abschnitt 5.3.3.4, Abb. A-5.4 im Anhang).Nach vorliegenden Analysen werden 25 Prozent bis50 Prozent der Varianz der Prozessqualität durch Merk-male der Struktur- und Orientierungsqualität bestimmt(Tietze 1998, S. 273f.).

Andererseits lässt sich ein hoher Anteil an Unterschieden(Varianz) in der Prozessqualität zwischen Kindergruppenerkennen, die nicht durch Unterschiede in der Struktur-und Orientierungsqualität bestimmt sind. Solche Ge-gebenheiten verweisen darauf, dass die mit den Inputbe-dingungen der Struktur- und Orientierungsqualität gege-benen Ressourcen im Rahmen unterschiedlicherOrganisations- und Managementqualität auf der Ebeneder einzelnen Einrichtung unterschiedlich gut genutztwerden. Verbesserungen in der Prozessqualität, also demQualitätsbereich, den die Kinder unmittelbar erfahren,können damit auf zwei Wegen erreicht werden: indirektdurch eine Verbesserung der die Prozessqualität beein-flussenden Merkmale der Struktur- und Orientierungs-qualität, direkt durch – auf die Verbesserung der Prozess-qualität gerichtete – Fortbildungen und Trainings derpädagogischen Teams in den Einrichtungen bzw. durchdie Einführung von Organisations- und Managementsys-temen, die der Verbesserung des Outputs dienen.

Im Folgenden werden zunächst die Kosten für zwei For-men der Verbesserung der Strukturqualität geschätzt:

– (1) die gegenwärtig stark diskutierte Anhebung derAusbildung von Erzieherinnen und Erzieher auf Hoch-schulniveau,

– (2) der Erzieher-Kind-Schlüssel, der gegenwärtig eherwenig Beachtung findet.

– In einem weiteren Schritt werden die Kosten für dieflächendeckende Implementation zweier direkt auf dieVerbesserung der Prozessqualität gerichteter Ansätzegeschätzt:

– (3) Qualitätsverbesserung nach dem Ansatz der Natio-nalen Qualitätsinitiative des BMFSFJ (BMFSFJ 2003,S. 99ff.) bzw.

– (4) nach Ansätzen, die auf der Einführung von Quali-tätsmanagementsystemen nach DIN ISO 9000 : 2000beruhen (Viernickel 2005).

(1) Anhebung der Ausbildung von Erzieherinnen undErzieher auf Fachhochschul- bzw. Universitätsniveau:Bei einer Anhebung der Ausbildung von Erzieherinnenund Erzieher vom derzeitigen Fachschulniveau auf Fach-hochschul- bzw. Universitätsniveau sind vorrangig fol-gende Kostenpositionen zu berücksichtigen:

– die jeweiligen direkten Ausbildungskosten,

– die jeweiligen indirekten Ausbildungskosten, die auf-grund unterschiedlicher Bildungswege bzw. Bildungs-abschlüsse als Zulassungsvoraussetzung für den je-weiligen Ausbildungsgang gelten,

– anfallende Transformationskosten des Ausbildungs-systems,

– gegebenenfalls höhere Gehaltskosten aufgrund verän-derter Einstufung.

Pasternack/Schildberg (Expertise) kommen in ihren Kos-tenberechnungen auf der Grundlage vielfältiger, wennauch im Einzelnen nicht immer belastbarer Datenquellenzu dem Schluss, dass die direkten Ausbildungskosten proErzieherin und Jahr mit rund 3 700 Euro an der Fach-hochschule und rund 4 200 Euro an der Universität umrund 600 bzw. 100 Euro günstiger ausfallen als an derFachschule mit rund 4 300 Euro. Die Gründe liegen da-rin, dass die Fachschulen wegen der primär unterrichtli-chen Ausbildungssituation einen hohen Personalbedarfhaben und die Personalkosten etwa 80 Prozent der Ge-samtkosten ausmachen. An Hochschulen besteht dagegenein größerer Teil der Ausbildung aus dem Selbststudiumund benötigt deshalb keine unmittelbare Betreuung durchLehrpersonal.

Neben den direkten jährlichen Ausbildungskosten sindauch die Ausbildungszeit und die Spezifika der Ausbil-dungsbiografie und damit die indirekten Ausbildungskos-ten zu berücksichtigen. Sowohl für die Ausbildung anFachschulen als auch an Fachhochschulen sowie an Uni-versitäten kann in der Regel eine Ausbildungszeit von3 Jahren bzw. 6 Semestern veranschlagt werden. In derFachschulausbildung besteht eines der drei Ausbildungs-jahre jedoch aus dem Praktikum bzw. Anerkennungsjahr,in dem der Kostenaufwand für die Betreuung mit1 100 Euro deutlich geringer ausfällt als für die schulin-terne Ausbildung (4 300 Euro pro Jahr). Fachschülerin-nen und Fachschüler benötigen in der Regel nur die Mitt-lere Reife als Zugangsvoraussetzung, was in derBiografie zu einer um 2 Jahre kürzeren Verweildauer imallgemeinbildenden Bildungswesen führt als bei Fach-hochschulstudierenden, die für ihr Studium die Fach-hochschulreife benötigen, bzw. um eine 3 Jahre kürzereSchulzeit als bei Universitätsstudierenden mit der allge-meinen Hochschulreife als Zugangsvoraussetzung. UnterBerücksichtigung dieser Gegebenheiten kommen Paster-nak/Schildberg (2004) zu dem Ergebnis, dass sich die Op-portunitätskosten für die Ausbildung zur Erzieherin bzw.zum Erzieher an der Fachschule – ab dem mittleren

Page 227: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 217 – Drucksache 15/6014

Schulabschluss bis zur beruflichen Qualifikation – insge-samt auf rund 18 400 Euro, an der Fachhochschule auf20 100 Euro und an der Universität auf 25 400 Euro proPerson belaufen.210

Bezüglich möglicher Transformationskosten gehen Pas-ternack und Schildberg (Expertise) davon aus, dass bei ei-ner Überführung der Fachschulen in die Hochschulenoder einer Kooperation zwischen Fachschulen und Hoch-schulen diesbezüglich keine wesentlichen fiskalischenKosten für den Umbau des Ausbildungssystems entste-hen.

Die Vergütungen des Bundesangestelltentarifs BAT orien-tieren sich generell an der ausgeübten Tätigkeit und nichtam Ausbildungsabschluss; dies gilt auch für den Bereichder Kindertageseinrichtungen. Insofern führt eine bessereQualifikation für dieselbe Tätigkeit nicht automatisch zueiner höheren Eingruppierung. Dennoch ist nicht auszu-schließen, dass eine höhere Qualifikation im Vergleich zuanderen Ausbildungsabschlüssen an Fachhochschulenoder Universitäten mittelfristig dazu führt, dass das Ge-haltsniveau der neu ausgebildeten akademischen Fach-kräfte aufgrund eines steigenden Drucks durch dieBeschäftigten nach und nach angehoben wird.211 Nimmtman z. B. an, dass das gegenwärtige Gehalt einer„Modellerzieherin“ (30 Jahre, verheiratet, ein Kind) vonBAT Vc auf BAT IVb im Falle eines Hochschulabschlus-ses an einer Fachhochschule oder Universität angehobenwird, würde dies jährliche Mehrkosten von 6 000 Europro Vollzeitstelle verursachen.212

Geht man davon aus, dass ab 2010 jährlich etwa 10 000neu ausgebildete Fachkräfte der Fachhochschulen bzw.Universitäten anstelle der gegenwärtigen Erzieherinnenund Erzieher in das Arbeitsfeld eintreten und auch ent-sprechend den Annahmen besser bezahlt werden, sowürden sich jährliche Mehraufwendungen von ca.60 Mio. Euro ergeben, von denen etwa 51 Mio. Eurodurch die öffentliche Jugendhilfe zu tragen wären. Dashieße, dass sich bis 2015, aufsummiert für rund 50 000Vollzeitkräfte, Mehrkosten im Umfang von rund 255 Mio.Euro ergeben (in heutigen Preisen). Zusätzlich wäre vonBildungsmehrkosten von bis zu 17 Mio. Euro im Falle derFachhochschulen bzw. 70 Mio. Euro im Falle der Univer-sitäten auszugehen, die zum einen vor allem aufgrund derverlängerten Schulzeit und zum anderen nicht bei der öf-fentlichen Jugendhilfe anfallen.

Finanzielle Konsequenzen einer Anhebung der Qualifi-kation von Erzieherinnen und Erzieher würden somit of-fenkundig weniger aus erhöhten Ausbildungskosten alsvielmehr aus damit zusammenhängenden höheren Ge-

haltsforderungen resultieren. Aber auch deren Realisie-rungschancen sind keineswegs sicher, nicht nur, weil dasgesamte Tarifgefüge der außerschulischen Sozial- und Er-ziehungsberufe auch in den letzten 30 Jahren – trotzneuer akademischer Ausbildungen – nicht entscheidendangehoben worden ist213, sondern auch, weil die aktuellenTarifreformen derzeit noch nicht absehbare Einbußen vorallem bei Neueinstellungen mit sich bringen können. Al-lerdings ist zugleich auch nicht auszuschließen, dass einauf Fachhochschul- bzw. Universitätsniveau ausgebilde-tes pädagogisches Personal „Druck“ auf das Gehaltsge-füge erzeugt, so dass in der Folge eine tendenzielle An-passung an die Vergütungsstruktur der anderenBildungsbereiche erfolgen könnte. Aber in jedem Fallgilt, dass entsprechende Mehraufwendungen erst nachund nach ihre Wirkung erzielen. Insoweit wäre auch indiesem Fall einer Anhebung der Vergütung nur von einemmoderaten Anstieg der Gehaltskosten auszugehen.

(2) Verbesserung des Erzieher-Kind-Schlüssels: Der rech-nerische Erzieher-Kind-Schlüssel lag Ende 2002 im Kin-dergartenbereich in den westlichen Bundesländern ohneBerlin bei 1 : 12,6; in den östlichen Bundesländern bei1 : 13,4. Zur Bewertung dieser Relation ist zu berücksich-tigen, dass in Ostdeutschland mehr als zehnmal so vieleunter 3-jährige Kinder betreut werden wie in West-deutschland, der Erzieherinnen-Kind-Schlüssel – untersonst gleichen Bedingungen – also günstiger ausfallenmüsste. Eine Angleichung des Erzieher-Kind-Schlüsselsin den östlichen Bundesländern an den westlichen aufeine Relation von 1 : 12,6 würde bei Zugrundelegung derGegebenheiten Ende 2002 insgesamt 1 600 zusätzlicheErzieherinnen-(Vollzeit)Stellen erfordern. Nach der Kin-der- und Jugendhilfestatistik zu den Personalausgaben inTageseinrichtungen für Kinder des öffentlichen Trägersaus dem Jahr 2002 ergeben sich durchschnittliche Kostenpro Vollzeitstelle von ca. 36 000 Euro jährlich. Auf dieserBasis würden sich durch die Verbesserung des Erzieher-Kind-Schlüssels in den östlichen Ländern Mehrkosten inHöhe von 58 Mio. Euro ergeben, für die öffentliche Ju-gendhilfe bei einem angenommenen Kostenanteil von85 Prozent Mehrkosten von 49 Mio. Euro.

Nach Vorschlägen und Standards internationaler Exper-tengremien kann – besonders wenn auch jüngere Kinderim Kindergartenalter stark vertreten sind – ein durch-schnittlicher Schlüssel von 1 : 10 als qualitativ akzeptableRichtgröße angesehen werden (BMFSFJ 2003; Tietze/Förster 2005). Unter Zugrundelegung dieser Relationwürde sich auf der Datenbasis für das Jahr 2002 einMehrbedarf von 8 500 in den östlichen und von45 500 Erzieherinnenstellen in den westlichen Bundes-

210 Der Anteil der enthaltenen indirekten Ausbildungskosten bei Fach-hochschul- und Universitätsausbildung würde sich verringern, wenn,wie zum Teil angestrebt, die Gymnasialzeit von 9 auf 8 Jahre ver-kürzt wird.

211 Inwieweit sich dieses „klassische Muster“ der Verbesserung einesTarifgefüges auch in Zukunft noch realisieren lässt, ist eine Frage,die auch in der Kommission kontrovers diskutiert wurde.

212 Dabei wird zusätzlich angenommen, dass sich auf mittlere Sicht dieTarife in Ost- und Westdeutschland angleichen.

213 So zeigen beispielsweise Daten aus der Berufsverbleibsforschung zuDiplom-Pädagog/innen sehr deutlich, dass ein akademisches Qualifi-kationsniveau bei einer Beschäftigung im Feld der Kinder- und Ju-gendhilfe nur für eine Minderheit mit einer Bezahlung von BAT IIIund besser einhergeht. So wurden nur etwa 7 Prozent der Diplom-Pä-dagog/innen 3 bis 5 Jahre nach Ende des Studiums in diesem Feldbesser als BAT IV bezahlt und selbst ca. 15 Jahre nach Abschluss er-hielten gerade mal 25 Prozent der Diplom-Pädagog/innen eine Ver-gütung oberhalb von BAT IVa (Krüger/Rauschenbach 2004).

Page 228: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 218 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

ländern einschließlich Berlin ergeben. Die daraus resul-tierenden Mehrkosten beliefen sich in den östlichen Bun-desländern auf 310 Mio. Euro, in den westlichen auf1,6 Mrd. Euro (in heutigen Preisen). Auch hier wäre si-cherlich zu berücksichtigen, dass ein günstigerer Erzie-her-Kind-Schlüssel nicht auf einmal umgesetzt werdenmuss, sondern schrittweise erreicht werden kann. Inso-fern würden vermehrte Aufwendungen – wie bei der Hö-herqualifizierung von Erzieherinnen und Erzieher – erstnach und nach ins Gewicht fallen.

(3) Flächendeckende Qualitätstrainings: Diese Formder Qualitätsverbesserung ist direkt auf die Verbesserungder Prozessqualität gerichtet; sie lässt die Strukturbedin-gungen unberührt. Das BMFSFJ (2003, S. 91 ff.) hat inseiner Nationalen Qualitätsinitiative in verschiedenenTeilprojekten systematische, von außen angeleitete Pro-zeduren der Qualitätsverbesserung entwickeln lassen, indie das gesamte pädagogische Personal der jeweilsteilnehmenden Einrichtungen einbezogen ist. Der Quali-tätsentwicklungsprozess erstreckt sich dabei auf einenZeitraum von ca. zwei Kindergartenjahren. Die Ge-samtaufwendungen (einschließlich Material) belaufensich pro Einrichtung auf ca. 3 000 Euro, pro Jahr also aufca. 1 500 Euro.214 Geht man davon aus, dass jede Einrich-tung alle 4 Jahre von neuem an einem solchen Programmteilnimmt (2 Jahre angeleitete Qualitätsentwicklung,2 Jahre eigene Qualitätssicherung, 2 Jahre erneut angelei-tete Qualitätsentwicklung) würden bei ca. 50 000 Einrich-tungen insgesamt und jährlich jeweils 25.000 beteiligtenEinrichtungen Kosten in Höhe von 1 500 Euro pro Ein-richtung anfallen, insgesamt also 37,5 Mio. Euro pro Jahr.Ein Teil dieser Kosten könnte dabei aus den den Einrich-tungen ohnehin zur Verfügung stehenden Fortbildungs-mitteln abgedeckt werden. Bei diesem Szenarium sindkeine evtl. erforderlichen zusätzlichen Dienstzeiten despädagogischen Personals in Ansatz gebracht.

In einer anderen Variante dieses Qualitätsentwicklungs-ansatzes werden trägereigene Multiplikatoren so ge-schult, dass sie selbst den vorgenannten Qualitätsent-wicklungsprozess in den Einrichtungen ihres Trägersvornehmen können. Die Kosten für diese Multiplikato-renschulung, die praktische Begleitung einschließt undsich über rund 2 Jahre erstreckt, belaufen sich ebenfallsauf 3 000 Euro (pro Multiplikator). Geht man davon aus,dass jeder Multiplikator die Qualitätsentwicklung bei imDurchschnitt 30 Einrichtungen seines Trägers anleitetund begleitet, würden sich Kosten von 100 Euro pro Ein-richtung ergeben, hochgerechnet auf 50 000 Einrichtun-gen Kosten von 5 Mio. Euro. In dieser Kostenkalkulationsind keine Zeitkosten für die Multiplikatoren und evtl. er-forderliche zusätzliche Dienstzeiten des pädagogischenPersonals in den Einrichtungen enthalten. Unter der An-nahme, dass alle vier Jahre eine Wiederholungsschulungder Multiplikatoren mit gleichen Kosten erforderlich ist,

würden sich die durchschnittlichen Kosten pro Jahr auf1 bis 2 Mio. Euro belaufen.

In einem realitätsnahen Szenarium kann davon ausgegan-gen werden, dass etwa bei zwei Dritteln aller Einrichtun-gen die Qualitätsentwicklung über trägereigene Multipli-katoren erfolgen könnte, bei einem Drittel, bei derenTräger eine entsprechende Infrastruktur an trägereigenenMultiplikatoren nicht zur Verfügung steht bzw. geschaf-fen werden kann, würde die Qualitätsentwicklung nachder erstgenannten Variante verlaufen. Unter Zugrundele-gung dieser Kombination würden sich jährliche Kostenvon rund 14 Mio. Euro ergeben. Die fiskalischen Kostenfür das Qualitätstraining sind also insgesamt vernachläs-sigbar.

(4) Einführung von Qualitätsmanagementsystemen: Inden zurückliegenden Jahren haben zahlreiche Trägerver-bände der freien Jugendhilfe verschiedenartige Qualitäts-managementsysteme eingeführt. Diese orientieren sichhäufig am Qualitätsmanagementsystem nach DIN ENISO 9001 : 2000, zum Teil auch an anderen Standards(eine Übersicht zu den verschiedenen Verfahren findetsich bei Irskens/Vogt 2000).

Eine genaue Kostenübersicht zu gewinnen ist schwierig,da die jeweiligen Projektgrößen die Kosten maßgeblichbeeinflussen. Nach Angaben des Verbandes KatholischerTageseinrichtungen für Kinder (KTK) setzen sich dieKosten für Qualitätsentwicklung und Zertifizierung proEinrichtung im Rahmen des KTK-Gütesiegels, das sichan DIN EN ISO 9001 : 2000 orientiert (Verband KTK2004), wie folgt zusammen: Anerkannte Ausbildung ei-ner Qualitätsbeauftragten (nach DIN EN ISO 19011) proEinrichtung einschließlich externer Unterstützung beimAufbau eines Qualitätsmanagementsystems in der Ein-richtung: 1 300 bis 4 000 Euro, abhängig von der Anzahlder an einem Beratungsprojekt teilnehmenden Einrich-tungen215; Zertifizierung (soweit gewünscht) durch einevon fünf durch den KTK-Bundesverband anerkanntenZertifizierungsstellen in Form einer Matrixzertifizierung(Stichprobenverfahren); bei 150 Einrichtungen 60 bis90 Euro pro Einrichtung und Jahr.216

Die Zertifizierung ist drei Jahre gültig und schließt einjährliches Überwachungsaudit ein. Wenn man davon aus-geht, dass für die Ausbildung einer Qualitätsbeauftragtenund die externe Unterstützung bei der Einführung einesQualitätsmanagementsystems im Mittel 2 000 Euro proEinrichtung anfallen, dann ergeben sich für die Matrix-zertifizierung 75 Euro pro Einrichtung und Jahr. Für dieEinführung eines Qualitätsmanagements mit anschließen-der Matrixzertifizierung ergäben sich 2 225 Euro pro Ein-richtung. Geht man weiter davon aus, dass sich die Kos-ten auf einen Zeitraum von 6 Jahren beziehen (dreijährigeEinführungszeit, drei Jahre gültige Zertifizierung mitjährlichem Überwachungsaudit), so würden sich die jähr-

214 In der gegenwärtigen, zeitlich begrenzten Implementationsphaseübernimmt das BMFSFJ im Rahmen eines Modellprojekts die Hälftedieser Kosten.

215 Mündliche Mitteilung einer Beratungsorganisation vom März 2005.216 Mündliche Mitteilung des KTK-Bundesverbandes. Auf Wunsch der

einzelnen Einrichtung kann auch eine Einzelzertifizierung vorge-nommen werden. Deren Kosten belaufen sich auf 2 500 bis 3 500Euro.

Page 229: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 219 – Drucksache 15/6014

lichen Kosten auf 370 Euro pro Einrichtung belaufen.Hochgerechnet auf 50 000 Einrichtungen ergäben sichjährliche Kosten von 19 Mio. Euro. In dieser Rechnungsind keine Zeitkosten für die Mitarbeiterinnen und Mitar-beiter in den Einrichtungen für die Qualitätsentwicklungenthalten.

Wie das KTK-Gütesiegel ist auch das Qualitätsmanage-ment der Arbeiterwohlfahrt an den Vorgaben der DIN ENISO 9001 : 2000 orientiert (AWO 2001; Brückers 2003).Das Qualitätsmanagementsystem beinhaltet u. a. die Aus-bildung von ausgewählten Mitarbeiterinnen und Mitar-beiter der AWO auf Kreisverbands- oder Bezirksver-bandsebene zu Qualitätsmanagementbeauftragten (QMB).Diese unterstützen die einzelnen Einrichtungen im loka-len Rahmen bei der Einführung der Qualitätsmanage-mentsysteme in Form von Klausurtagungen, Qualitätszir-keln und Arbeitsgruppen. Bei der Erstellung derQualitätshandbücher, die alle pädagogischen Prozesse er-fassen, ist jede Mitarbeiterin bzw. jeder Mitarbeiter durchdie Nutzung bestehender Strukturen eingebunden. DieErstellung des Handbuchs und die Implementierung derProzesse in den Einrichtungen mit anschließender Zertifi-zierung dauern ca. drei Jahre. Der ständige Prozess derQualitätsentwicklung und Qualitätssicherung setzt sichfort in den nach der Zertifizierung jährlichen Audits, diedurch die alle drei Jahre wiederholten externen Zertifizie-rungen ergänzt werden. Die Zertifizierungen erfolgen ineinem Verbundsystem (keine Einzelzertifizierung vonEinrichtungen). Dadurch werden – bei gleicher Vorberei-tung aller teilnehmenden Einrichtungen – Kosten ge-spart.217

Folgendes Szenarium kann als charakteristisch gelten:Das Qualitätsmanagementsystem wird in einem Verbundvon 75 Einrichtungen (z. B. auf Bezirksebene) einge-führt; es folgt nach drei Jahren eine Zertifizierung im Ver-bundsystem, die drei Jahre gültig ist. Jede dieser Einrich-tungen hat im Durchschnitt drei Gruppen. Die jährlichenKosten pro Gruppe belaufen sich nach AWO-Angabenauf ca. 180 Euro, also insgesamt auf 540 Euro pro Ein-richtung für den Prozess einschließlich der Zertifizierung.In diesem Betrag sind alle Kosten, mit Ausnahme derZeitkosten der Erzieherinnen und Erzieher in den Einrich-tungen, eingeschlossen. Hochgerechnet auf 50 000 Ein-richtungen in Deutschland würden sich jährlich Kostenvon 27 Mio. Euro ergeben.

Im Vergleich zu den indirekten Formen der Verbesserungder pädagogischen Prozessqualität durch verbesserteStrukturqualität erscheinen die Formen der direkten Ver-besserung der Prozessqualität durch „Im-Haus-Fortbil-dung“ im Rahmen der Nationalen Qualitätsinitiative so-wie der erwähnten Qualitätsmanagementverfahrenkostengünstiger. Dies dürfte auch zutreffen, wenn dieVerbesserungen an anderen Merkmalen der Strukturquali-tät, wie z. B. Gruppengrößen oder Zeiten für Vor- undNachbereitung der pädagogischen Arbeit bei den Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter ansetzen. Allerdings liegen

die Verbesserungsansätze auf unterschiedlichen Ebenenund sind insofern nicht direkt miteinander vergleichbar.Neben der fehlenden wissenschaftlichen empirischen Be-trachtung der verschiedenen Qualitätssysteme besteht einweiteres Problem in der fehlenden Vergleichbarkeit derAngebote. Insofern kann keine Kosten-Nutzen-Relationhergestellt werden.

Für alle hier vorgestellten Ansätze der Qualitätsverbesse-rung gilt, dass es in Deutschland keine gesicherte empiri-sche Evidenz für ihre konkrete Wirksamkeit im Hinblickauf verbesserte Prozessqualität oder günstigere Bildungs-ergebnisse bei den Kindern gibt. Dies gilt auch für dieQualitätsentwicklung im Rahmen der nationalen Qualitäts-initiative sowie für die verschiedenen sonstigen Qualitäts-managementsysteme. Die Tatsache, dass Studien zur Ef-fektivität der verschiedenen Ansätze, die auch alsGrundlage für Kosten-Nutzen-Abschätzungen dienenkönnten, bislang nicht vorliegen, verweist auf ein großesDesiderat.

Sowohl der quantitative Ausbau der Kindertagesbetreu-ung als auch die erforderlichen qualitativen Verbesserun-gen sind mit erheblichen Kosten für die öffentliche Handverbunden. Jedoch zeigen vorliegende Studien (Bock-Fa-mulla 2002; Büchel/Spieß u. a. 2002), dass Investitionenin Kindertageseinrichtungen mit einem hohen volkswirt-schaftlichen Nutzen verbunden sein können. Sofern dieInvestitionen in den Platzausbau zu einer Ausweitung derErwerbstätigkeit von Eltern führen, beläuft sich dervolkswirtschaftliche Nutzen auf 4 : 1 (Bock-Famulla2002). Das Verhältnis von Kosten und Erträgen wird starkbeeinflusst durch die Qualität der verfügbaren Bildungs-und Betreuungsangebote, indem die Erträge für die Kin-der mit höherem Qualitätsniveau der Angebote ansteigenund damit auch der langfristige volkswirtschaftliche Nut-zen (Expertise Bock-Famulla).

Zusammenfassung: Der quantitative Ausbau und die qua-litative Verbesserung des Früherziehungssystems sind un-übersehbar mit Mehrkosten für die öffentliche Hand ver-bunden. Allerdings relativieren sich diese stark, wennman einerseits den prognostizierten Rückgang der Kin-derzahlen berücksichtigt, der im Jahr 2010 in West-deutschland 15 Prozent gegenüber 2002 ausmacht, ande-rerseits eine leichte Vorverlegung des auch imeuropäischen Vergleich hohen durchschnittlichen Schul-eintrittalters um 6 Jahre von gegenwärtig gut 6 ½ Jahrenauf 6,0 Jahre in Ansatz bringt, ohne damit die Kindertages-einrichtungen zur Schule umzufunktionieren.

Die Schätzungen bei verschiedenen quantitativen Aus-bauszenarien ergeben unter den genannten Bedingungenfür Westdeutschland im Jahre 2010:

– Minimum-Ausbauszenarium: Bei gleicher Kindergar-tenbeteiligungsquote für die 4- bis unter 6-Jährigen,einer Anhebung der Beteiligungsquote bei den 3- bisunter 4-Jährigen von gegenwärtig 50 Prozent auf75 Prozent, einer Ausweitung von Ganztagsplätzen imKindergartenbereich von gegenwärtig 24 Prozent auf50 Prozent sowie einer Platzquote von 20 Prozent fürdie unter 3-Jährigen würden sich Mehrkosten der

217 Fachverband für Kinder- und Jugendhilfe der Arbeiterwohlfahrt imBezirk Mittelrhein e.V., Schumannstr. 4, 53721 Siegburg.

Page 230: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 220 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

öffentlichen Hand in Westdeutschland von 0,92Mrd. Euro ergeben. Die Summe liegt deutlich unterder 1,5 Mrd. Euro jährlichen Entlastung, die über dieHartz IV-Reform der kommunalen Ebene für den Aus-bau der Tagesbetreuung für Kinder im Rahmen desTagesbetreuungsausbaugesetzes zufließen soll.

– Mittleres Ausbauszenarium: Würde zusätzlich zu denAnnahmen des Minimum-Ausbauszenariums die Ein-führung eines Rechtsanspruchs auf einen Kindergar-tenplatz für die 2- bis unter 3-Jährigen angenommenund Platzkosten, die bei dieser Altersgruppe 150 Pro-zent der Kosten für einen Platz für 3- bis unter 6-Jäh-rige ausmachen, würden sich unter Annahme einerBeteiligungsquote der 2- bis unter 3-Jährigen von60 Prozent Mehrkosten von rund 1,7 Mrd. Euro für dieöffentliche Jugendhilfe ergeben. Dieser Betrag lägemit 200 Mio. Euro leicht über dem im Rahmen des Ta-gesbetreuungsausbaugesetzes angenommenen Entlas-tungseffekt von 1,5 Mrd. Euro.

– Maximum-Ausbauszenarium: Bei einem Rechtsan-spruch auf einen Kinderbetreuungsplatz von Geburt anund Beteiligungsquoten von 70 Prozent für die 2- bisunter 3-Jährigen, 50 Prozent für die 1- bis unter 2-Jäh-rigen sowie 5 Prozent für die unter 1-Jährigen (in An-lehnung an die faktische Nachfrage in Sachsen-Anhaltals Bundesland mit einem Rechtsanspruch auf Betreu-ungsangebote von Geburt an) würden sich Mehrkostenvon 2,9 Mrd. Euro für die öffentliche Jugendhilfe er-geben. Darin enthalten sind zugleich auch die175 Mio. Euro Mehrkosten für den Ausbau in Ost-deutschland (bei dem Minimum-Ausbauszenarium so-wie dem mittleren Ausbauszenarium würden in Ost-deutschland keine Zusatzkosten entstehen).

Die groben Kostenschätzungen für eine Verbesserung mitBlick auf die pädagogische Qualität ergeben folgendesBild; dabei ist zu beachten, dass die einzelnen Ansätzezur Qualitätsverbesserung nicht direkt vergleichbar sind:

– Bei einer Verbesserung der pädagogischen Qualitätdurch eine Überführung der gegenwärtigen Ausbil-dung von Erzieherinnen und Erzieher auf Fachhoch-schul- oder Universitätsniveau fallen Mehraufwen-dungen für die Ausbildung und möglicherweise auchfür eine höhere Vergütung des Personals an. DieMehraufwendungen bei den Gehältern für die öffentli-che Hand würden sich bei 10 000 höher eingruppier-ten akademischen Fachkräften ab 2010 pro Jahr (mitPreisen von heute) auf etwa 51 Mio. Euro belaufenund bei jeweils weiteren 10 000 neuen Kräften um dengleichen Betrag steigen. Bei angenommenen 50 000Ausgebildeten auf Hochschulniveau würden demnachim Jahr 2015 jährlich zusätzliche Personalkosten von255 Mio. Euro anfallen.

– Eine Verbesserung des Erzieher-Kind-Schlüssels imKindergartenbereich in Ostdeutschland auf das west-deutsche Niveau würde mit Mehraufwendungen von58 Mio. Euro für die öffentliche Jugendhilfe in Ost-deutschland verbunden sein (Minimum-Ausbauszena-rium). Eine Verbesserung des durchschnittlichen Er-

zieher-Kind-Schlüssels auf 1 : 10, entsprechendExpertenempfehlungen, würde Mehraufwendungender öffentlichen Jugendhilfe in Ost und West von ins-gesamt 1,9 Mrd. Euro nach sich ziehen, die bei einerschrittweisen Verbesserung entsprechend gestrecktwerden könnten.

– Wegen der fehlenden Vergleichbarkeit der Angebotein den unterschiedlichen QM-Systemen können andieser Stelle vorliegende Zahlen zu den Kosten nichtmiteinander vergleichen werden. Eine Qualitätsver-besserung nach dem Programm der Nationalen Quali-tätsinitiative des BMFSFJ dürfte bei Einbezug allerEinrichtungen mit Kosten von jährlich 15 Mio. Euroverbunden sein. Bei einer flächendeckenden Einfüh-rung von Qualitätsmanagementsystemen, wie sie ge-genwärtig von verschiedenen Trägern der freien Wohl-fahrtspflege praktiziert werden, würden jährlicheMehrkosten von etwa 20 Mio. bis 30 Mio. Euro anfal-len.

– Über die tatsächlichen Effekte der Verbesserung derProzessqualität bzw. von Bildungsergebnissen bei deneinzelnen Maßnahmen gibt es in Deutschland keinempirisch gesichertes Wissen. Entsprechende unab-hängige wissenschaftliche Untersuchungen sind drin-gend erforderlich.

– Kosten-Nutzen-Studien belegen den hohen volkswirt-schaftlichen Nutzen von Investitionen in die Tagesbe-treuung. Bei dadurch ermöglichter (oder erweiterter)elterlicher Erwerbstätigkeit wird ein volkswirtschaftli-cher Nutzen im Verhältnis zu den Kosten von 4 : 1 ge-schätzt. Bei einem höheren Qualitätsniveau der Bil-dungs- und Betreuungsangebote fallen die Erträge fürdie Kinder und damit der langfristige volkswirtschaft-liche Nutzen höher aus.

5.4 Übergänge zwischen Familie und Institutionen

5.4.1 Übergänge als biografisches ErfordernisDas Aufwachsen von Kindern enthält Diskontinuitätensowie unterschiedliche und ineinander übergehende Ent-wicklungsphasen. Hinzu kommt, dass gesellschaftlicheUmbrüche veränderte Bedingungen für das kindlicheAufwachsens bewirken. So werden Kinder in hohemMaße damit konfrontiert, Übergänge zwischen verschie-denen Institutionen der Bildung, Betreuung und Erzie-hung zu bewältigen; zugleich haben sie aufgrund vonVeränderungen innerhalb der Familienstrukturen ver-stärkt Wechselprozesse zu verkraften.

Welche Übergänge Kinder innerhalb der Bildungssys-teme genau zu bewältigen haben, hängt von den indivi-duellen Bildungsverläufen und Entscheidungen der Elternab. Ausgehend von einem breiten und regional teilweisenoch sehr unterschiedlichen Angebotsspektrum (früh-kindlicher) außerfamilialer Bildungsinstitutionen, liegt esim Ermessen der Eltern, welche spezifischen Bildungs-und Betreuungsformen gewählt werden. Bevor Kinderden für alle verpflichtenden Übergang in die Grundschulezu bewältigen haben, stehen ihnen bereits vielfältige Bil-

Page 231: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 221 – Drucksache 15/6014

dungsgelegenheiten zur Verfügung, die – abhängig vomregional unterschiedlichen Versorgungsgrad – als außer-familiale Gelegenheiten von Bildung und Betreuung inAnspruch genommen werden. Die jeweiligen Bedingun-gen der Übergänge und die damit verbundenen Anforde-rungen an das Kind und seine Eltern gestalten sich derneuen Situation entsprechend unterschiedlich.

Die Bewältigung von Übergängen stellt an die Kinder un-terschiedliche Anforderungen, die in Abhängigkeit vonden jeweiligen Bedingungen und Voraussetzungen ver-schiedene Bewältigungsstrategien einfordern. So sind dieindividuellen Bedürfnislagen für den Verlauf von Über-gängen bei einem Kind, das beispielsweise im Alter von1 Jahr den Übergang in eine Eltern-Kind-Gruppe zu be-wältigen hat und mit 3 Jahren in eine Kindertageseinrich-tung wechselt, bevor es mit 6 Jahren eingeschult wird, an-dere als die eines Kindes, das im Alter von 4 Jahren ausder familialen Betreuung in eine Kindertageseinrichtungwechselt. Sie unterscheiden sich wiederum von deneneines Kindes, welches mit dem Übergang in die Grund-schule erstmalig mit außerfamilialen Institutionen derBildung, Betreuung und Erziehung konfrontiert wird.Nahezu alle Kinder in Deutschland haben vor demSchuleintritt bereits einen Übergang in eine außerfami-liale Institution der Bildung, Betreuung und Erziehungbewältigt. Diese heterogenen Lebensverläufe stellen füralle an der Übergangsbewältigung Beteiligten unter-schiedliche Handlungsanforderungen dar.

Öffentliche Kinderbetreuungsangebote als institutionali-sierte Erziehungs- und Bildungskontexte weisen struktu-relle Unterschiede gegenüber der Familie auf (vgl. Kapi-tel 3). Familie zeichnet sich durch stark emotionalausgerichtete Beziehungen der Mitglieder zueinander ausund ist durch Einmaligkeit geprägt. Familie bringt indivi-dualisierte Beziehungen zwischen den Mitgliedern hervorund ermöglicht einen persönlichen Umgang mit dem ein-zelnen Kind. Die verlässliche Bindung als Voraussetzungfür Bildung und Erziehung ist hier besonders ausgeprägt.Den außerfamilialen Institutionen der Bildung, Betreuungund Erziehung sind jedoch universalistische Anforderun-gen einer Institution eigen. Hinzu kommt die Erfahrung,dass die Beziehung zu den in der Institution agierendenErwachsenen von anderer emotionaler Intensität ist alsdie zwischen den Familienmitgliedern. AußerfamilialenBildungs- und Erziehungseinrichtungen kommt insoferneine wesentliche sozialisatorische Funktion zu, indem zu-sätzlich zu familialen Bildungs- und Erziehungsprozessenwichtige Orientierungen und notwendige Verhaltensfor-men für ein erfolgreiches Agieren in außerfamilialen Zu-sammenhängen vermittelt werden (Viernickel/Lee 2004).

Übergänge als „kritische Lebensereignisse“ bergen so-wohl Potenziale und Chancen als auch Risiken in sich.Die Chancen liegen vor allem in neuen Impulsen für dieEntwicklung und Förderung von Kompetenzen. Hinsicht-lich der Risiken besteht die Gefahr, dass die Individuenan Grenzen ihrer Ressourcen zur Übergangsbewältigungstoßen (Filipp 1995; Montada 1995). Wie solche „kriti-schen Lebensereignisse“ bewältigt werden, hängt von derAuseinandersetzung mit den Anforderungen sowie der

Bearbeitung durch den Einzelnen ab: „Eine Erweiterungdes Verhaltenspotentials, Erweiterung des sozialen Net-zes und damit Erschließung von Ressourcen, eine Erhö-hung des Selbstwertgefühls und des Wohlbefindens kön-nen als erfolgreiche Reorganisation der Passung zwischendem einzelnen und seiner Umwelt beschrieben werden.Einschränkung von Verhalten, Verschlechterung von Be-ziehungen und Verringerung von sozialen Kontakten,Verringerung des Selbstwertgefühls und der psychischenund physischen Gesundheit auf der anderen Seite könnenals Fehlanpassung beschrieben werden“ (Griebel/Niesel2004b, S. 35).

Die Bewältigung von Übergängen bietet für das Kind diewichtige Chance des Wachstums und der konstruktivenWeiterentwicklung der Persönlichkeit in einem jeweilsneuen sozialen und kulturellen Kontext. Der Übergang ineine außerfamiliale Institution der Bildung, Betreuungund Erziehung führt zu grundlegenden Veränderungen,die auf drei Ebenen mit jeweils spezifischen Entwick-lungsaufgaben stattfinden: Ebene des Individuums,Ebene der Beziehung, Ebene der Lernumwelten (Griebel/Niesel 2004a).

Ebene des Individuums: Der Übergang zwischen unter-schiedlichen Bildungsorten führt zu einer neuen sozialenund psychischen Identität, z. B. in der Rollenveränderungvom Kindergartenkind zum Schulkind. Dieser Prozess isteinerseits gekennzeichnet durch Vorfreude, Neugier undStolz, andererseits durch Unsicherheit und Angst. Durchdie Bewältigung dieses Übergangs werden neue Verhal-tensweisen erworben, vielfältige Kulturtechniken ange-eignet sowie die Entwicklung zur Selbstständigkeit insge-samt gefördert.

Ebene der Beziehung: Mit dem Übergang in neue Bil-dungsorte nimmt das Kind sowohl zu anderen Kindernbzw. Mitschülerinnen und Mitschülern als auch zu denBetreuungspersonen bzw. dem Lehrpersonal Beziehun-gen auf. Bisher bestehende Beziehungen müssen teil-weise neu strukturiert, verändert oder auch abgebrochenwerden. Andere Beziehungen bleiben davon weitgehendunverändert bestehen (z. B. Nachbarschaftskontakte). Dieveränderte Rolle als Kindergartenkind bzw. Schulkind hatRückwirkungen auf die Familie: Bisherige Rollenver-ständnisse müssen geprüft und überarbeitet werden, fer-ner sind Rollenerwartungen und Rollensanktionen zu klä-ren.

Ebene der Lernumwelt: Bei den Prozessen von Übergän-gen müssen jeweils zwei Lebensbereiche integriert wer-den, d. h. die Familie und der entsprechende Bildungsort.Dabei muss das Kind sich mit veränderten Methoden desLernens, der Erziehung und der Wissensaneignung ausei-nandersetzen. Familiale Veränderungen, die zeitgleichmit einem Übergang passieren, können zudem als zusätz-liche Belastung auftreten (z. B. Geburt eines Geschwis-terkindes, Trennung der Eltern, Erwerbstätigkeit der El-tern).

Um Übergangsprozesse transparenter zu machen, die je-weiligen Anforderungen genauer beschreiben zu könnensowie Reaktionsweisen der Betroffenen zu verstehen und

Page 232: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 222 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

pädagogische Handlungsweisen abzuleiten, wurde dasTransitionsmodell entwickelt (Niesel 2004). Dieses Mo-dell erleichtert die Analyse von Anforderungen und er-möglicht ein zielgerichtetes Vorgehen bei der Entwick-lung pädagogischer Maßnahmen. Dabei sind zurOrientierung folgende Fragen von Bedeutung:

– „Welche Akteure sind in diesen Prozess involviert?

– Wer von den Akteuren ist der ‚Bewältiger‘, wer ist‚Moderierer‘?

– Was ist das Ziel des Übergangsprozesses?

– Welche Basiskompetenzen und welche übergangsspe-zifischen Kompetenzen müssen für eine erfolgreicheBewältigung vorhanden sein bzw. entwickelt werden?

– Finden Kommunikation und Partizipation im Sinn ei-nes ko-konstruktiven Prozesses statt?“ (Niesel 2004,S. 90).

Die Transition von der Familie in außerfamiliale Erfah-rungsräume und Bildungseinrichtungen ist zu differenzie-ren nach Akteuren, die den Übergang bewältigen und je-nen, die ihn moderieren. Die Bewältigung liegtmaßgeblich in der Verantwortung des jeweiligen Kindesund seiner Eltern, während für die Moderation die Erzie-herinnen und Erzieher sowie das soziale Netzwerk imUmfeld des Kindes, aber auch die Eltern verantwortlichsind. Insofern kommt den Eltern die Doppelrolle als Ak-teure und Moderatoren zu.

5.4.2 Übergang von Familie in außer-familiale Bildungseinrichtungen

Die Gestaltung des Übergangs in Tagespflege, Kinder-krippe oder Kindertageseinrichtung hat sich an denentwicklungsbedingten Kompetenzen des Kindes zu ori-entieren. Die Prozesse des Übergangs schließen entspre-chende Leistungen im Hinblick auf die Entwicklung im-mer mit ein. Im Alter von etwa 8 Monaten beispielsweisetritt das Kind in eine Lebensphase, die mit großen Diffe-renzierungsleistungen einhergeht. Es beginnt die Zeit desso genannten Fremdelns gegenüber Menschen, die nichtunmittelbare Bezugspersonen sind (wie Mutter, Vateroder Geschwister). Dieses Fremdeln hält etwa bis zum30. Lebensmonat an und stellt damit für den Eingewöh-nungsverlauf eine besondere Herausforderung dar.

Der Eintritt in eine Kindertageseinrichtung stellt an diebeteiligten Akteure u. a. folgende Anforderungen (Grie-bel/Niesel 1998, 2004a):

– Mit dem Übergang in eine Kindertageseinrichtungwird das Kind erstmalig mit komplexen Rollenerwar-tungen, sozialen Vergleichsprozessen und möglicher-weise rollenbezogenen Sanktionen konfrontiert. Diesemüssen ausgehalten und in den Entwurf der eigenenPersönlichkeit eingearbeitet werden.

– Mit dem Übergang in die Kindertageseinrichtungmuss das Kind Kontakt mit mehr als einer fremden er-wachsenen Person aufnehmen, wobei die bisherigenVorerfahrungen mit den bisher erlebten unmittelbaren

Bezugspersonen nur bedingt verwertbar sind. Die Kin-dertageseinrichtung ist ein Ort, der das Entstehen einereigenständigen sozialen Kinderwelt mit spezifischensozialen Beziehungen, Routinen und Sinnbezügen be-fördert.

– Mit der Teilhabe an der Gleichaltrigen-Gruppe sind andas Kind neue Anforderungen gestellt. Dabei geht esum Kommunikationsfähigkeit, den Aufbau von Ko-operationsbezügen, den Aufbau unterschiedlicher Be-ziehungen, die Einbindung in die Gruppenstruktur so-wie die Bewältigung von Aushandlungs- undKonfliktsituationen. Die dafür notwendigen Hand-lungskompetenzen können nicht als mitgebracht vo-rausgesetzt, sondern müssen im Prozess des Über-gangs angeeignet und erlernt werden.

Mit dem Erleben der Kindertageseinrichtung als einemneuen Lebenskontext muss das Kind sich mit der Situa-tion des Wechsels zwischen unterschiedlichen Umweltenauseinandersetzen und diese bewältigen. In diesem Zu-sammenhang muss es lernen, die jeweiligen kontextspezi-fisch erforderlichen Verhaltensanforderungen zu differen-zieren und entsprechend zu realisieren. Hinzu kommenErfahrungen des Verlustes hinsichtlich der reduziertenzeitlichen Verfügbarkeit der Eltern.

Der Übergang des Kindes in eine Kindertageseinrichtunggeht nicht selten mit dem beruflichen Wiedereinstieg derMutter bzw. des betreuenden Elternteils einher. Darausergeben sich zumeist zeitliche Begrenzungen für die Ge-staltung der Übergangsphase, die in Form von Kompetenzer-wartungen und Verhaltensanforderungen der Eltern andas Kind gerichtet werden. Darüber hinaus müssen auchdie Eltern den Eintritt des Kindes in den Kindergartenund die damit einhergehenden Veränderungen bewälti-gen, z. B. die Integration neuer Identitätsanteile (d. h. nunEltern eines Kindergartenkindes zu sein), die Neuorgani-sation des Familienalltags sowie die Veränderung der Be-ziehungsdynamik (Viernickel/Lee 2004).

(a) Übergänge in Kindertagespflege

Der Eintritt eines Kindes in eine Tagesbetreuung verlangtinsbesondere von den Kindern erhebliche Anpassungs-leistungen (neue Umgebung, neue Regeln und Verhal-tenserwartungen, neue Bezugspersonen). Insbesonderefür Kinder im Alter unter 3 Jahren stellen diese Anforde-rungen eine besonders große Herausforderung dar. FürSäuglinge und Kleinstkinder ist die Fürsorge andererMenschen in körperlicher und psychischer Hinsicht le-bensnotwendig.

Beim Übergang in eine Tagespflege lassen sich für denProzess der Eingewöhnung drei Phasen erkennen: die An-fangsphase, die Stabilisierungsphase und die Schluss-phase (Bensel 2005; Griebel/Niesel 2004b):

– In der ersten Phase kann das Kind in Anwesenheit ei-ner familiären Bezugsperson die unbekannte Umge-bung und unbekannte Person allmählich kennen ler-nen, sich mit den Besonderheiten der verändertenUmgebung vertraut machen und die bisher erlerntenRegeln und Orientierungen des familialen Tageslab-

Page 233: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 223 – Drucksache 15/6014

laufs auf Gültigkeit prüfen. Die Aufgabe der Tages-mutter in dieser Phase besteht darin, diese Kontaktauf-nahme zu ermöglichen und das Kind mit denBedingungen der neuen Umgebung vertraut zu ma-chen. Dabei muss die familiäre Bezugsperson sich all-mählich aus dem unmittelbaren Geschehen zurückzie-hen, jedoch im Hintergrund für das Kind nochverfügbar bleiben.

– In der Stabilisierungsphase, die durch kurze Abwesen-heit der Eltern gekennzeichnet ist, kann das Kindlernen, die Trennung auszuhalten und sich auf das er-weiterte Umfeld einzustellen. Dabei sollte – bei kurz-zeitigen Bewältigungsschwierigkeiten – ein Rückgriffauf elterliche Bezugspersonen möglich sein.

– Mit der abschließenden Phase wird das Aushalten derelterlichen Abwesenheit über den ganzen Tag reali-siert und zunächst noch eine Erreichbarkeit gesichert.Die Eingewöhnungszeit gilt als abgeschlossen, wenndas Kind die Tagesmutter als sichere Basis akzeptiertund in der Lage ist, sich in kritischen Situationen aufdiese zu beziehen. Damit geht eine hohe Anpassungs-leistung des Kindes einher, die zugleich als Entwick-lungsfortschritt wahrgenommen werden kann.

Von Bedeutung ist jedoch die Frage nach der Dauer derjeweiligen Phase, die beim einzelnen Kind unterschied-lich sein kann. Rituale sind dabei ein wesentliches Unter-stützungsmoment für die Bewältigung der neuen Heraus-forderung, indem sie Orientierung ermöglichen. Sonehmen Rituale des Abschieds und des Wiedersehensdem Kind die Angst vor Trennung und sind somit auchfür elterliche Loslösungsprozesse hilfreich.218

Grundlage für eine gesunde sozial-emotionale Entwick-lung ist hierbei der Aufbau einer Bindung zu einer Be-zugsperson, mit der das Kind die meiste Zeit verbringt(Viernickel/Sechtig 2005; Spangler/Zimmermann 1999;Bowlby 1975; vgl. Kapitel 3). Auf der Grundlage von zu-verlässigen Interaktionen mit der ersten Bindungspersonkann das Kind positive Interaktionserfahrungen zu weite-ren Personen aufbauen. Dabei kann von einem Bezie-hungsdreieck zwischen Kind, dessen vertrauter familialerBezugsperson (Elternteil) und der Fachkraft ausgegangenwerden. Grundannahme der Bindungstheorie ist eine ver-lässliche Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindernals Grundvorauszusetzung dafür, dass Kinder Übergängein neue (soziale) Umgebungen sicher und kompetent be-wältigen können, wobei die Eltern aktiv in die Bewälti-gung der Eingewöhnung einbezogen werden (Laewenu. a. 2000a, 2000b). Kindertageseinrichtungen könnendemnach ihrem Bildungsauftrag nur gerecht werden,wenn die Kinder sichere und tragbare Bindungen bzw.Beziehungen zu den Fachkräften, die in der Einrichtungtätig sind, hergestellt haben und wenn es ihnen gelungenist, sich in der Institution mit ihren definierten Regeln,Abläufen und Praktiken zuverlässig zu verorten (Liegle2002).

(b) Übergang von der Familie in Tageseinrichtungen für Kinder

Für einen gelingenden Übergang ist es notwendig, dasssich alle Beteiligten über die Bedeutung des Eintritts desKindes in die Tageseinrichtung verständigen. Im Zusam-menwirken aller Akteure kommen dabei der Familie undder Einrichtung unterschiedliche Verantwortlichkeiten zu.Während das Kind und die Eltern den Übergang aktiv be-wältigen müssen, übernimmt die Fachkraft eine moderie-rende Funktion für die Gestaltung des Übergangs. Auchdie Kinder der Gruppe sind als Akteure zu verstehen, dieden Übergang des neuen Gruppenmitglieds beeinflussen.

Der Verlauf der Übergangsphase ist in Deutschland empi-risch nur vereinzelt erforscht worden, so dass es bislangnoch wenige Ergebnisse gibt: Die Hälfte der Kontaktauf-nahmen zu anderen Kindern wird über das Beobachtenund Zuschauen realisiert (Schmidt-Denter 1985). Dabeikann eine Zeit der Anpassung bzw. Eingewöhnung mitfolgenden Phasen festgehalten werden (Haefele/Wolf-Filsinger 1986):

– Orientierungsphase: Die Kinder ziehen sich zurückund beobachten. Dabei werden die Räumlichkeitenund die Spielregeln des Kindergartens wahrgenom-men. Zu Hause verhält sich das Kind in dieser Phaseauffällig zurückgezogen mit verstärktem Wunsch nachEntspannung und Ruhe.

– Durchsetzungskrise: Im Zuge der Eingliederungsbe-mühungen kommt es zu ersten konflikthaften Interak-tionen und hoher affektiver Belastung. Zu Hause zeigtsich, dass Kinder unausgeglichen sind und sich ver-stärkt um die Aufmerksamkeit der Eltern bemühen.

– Gezielte Beziehungsaufnahme: Die Kinder streben esan, mit soziometrisch hochrangigen Kindern Kontaktaufzunehmen, um die bisher erreichte Position in derGruppe zu festigen und auszubauen. Zu Hause zeigtdas Kind dann oft psychophysische Erschöpfung.

– Normalisierungsphase: Die Eingewöhnung ist so weitfortgeschritten, dass im Verhalten der Kinder keine au-ßergewöhnliche Belastung mehr wahrzunehmen ist.Der Erschöpfungszustand zu Hause hält jedoch nochan.

Übergänge erfordern konzentrierte Lernprozesse und stel-len für die Betroffenen verdichtete Entwicklungsanforde-rungen dar. Übergänge sind als Schnittstelle von indivi-duellem Handlungs- und Bewältigungsvermögen sowiegesellschaftlichen Handlungsvorgaben und Anforderun-gen zu charakterisieren. Vor diesem Hintergrund gebendie Ergebnisse aktueller Untersuchungen zu denken, ausdenen hervorgeht, dass im Alltag die Gestaltung desÜbergangs eher sporadisch erfolgt, verlässliche Konzeptenicht als notwendige Voraussetzung anerkannt sind unddie Kommunikation zwischen Eltern und Erzieherinnenbzw. Erzieher als unzureichend eingeschätzt wird (Niesel/Griebel 1997).

Die bisherige Forschung zur Neustrukturierung und Neu-bewertung der Übergangsgestaltung zeigt drei Ansätzeauf:

218 Vgl. dazu die qualitative Orientierung zur Arbeit von Tagesmüttern(BMFSFJ 1996).

Page 234: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 224 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

(1) Lernprozessdiagnostik: Diese Methode konzentriertsich auf die Förderung der Selbstwirksamkeit des Kindesund seiner Kommunikationskompetenz. Ferner liegt derSchwerpunkt auf der Förderung der Kommunikation undKooperation zwischen den Erwachsenen, die das Kinddurch die Transition begleiten (Faust-Siehl u. a. 2001).

(2) Entwicklungsprofil zur Beobachtung und Dokumen-tation der Lernschritte: Dieses Einschätzungsverfahren infünf Schritten arbeitet mit dem Ziel, ein kompetenzorien-tiertes Bild vom Kind zu vermitteln. Auf dieser Grund-lage sind geeignete Schritte der Übergangsbewältigungabzuleiten: a) personale, soziale und emotionale Entwick-lung; b) Kommunikation, Sprache und Literatur; c) ma-thematische Grundbildung; d) Wissen und Weltverständ-nis; e) körperliche Entwicklung; f) kreative Entwicklung(Faust-Siehl u. a. 2001).

(3) Konzept zur Erfassung von Lerngeschichten: Nachdiesem Verständnis werden Bildungs- und Lerngeschich-ten von Kindern erhoben, um sie als Verfahren zur Doku-mentation und Förderung von individuellen Selbst-bildungsprozessen einzusetzen. Ausgehend von diesenindividuellen Entwicklungsdokumentationen lassen sichauch spezifische Übergangserfordernisse herausarbeiten(Leu 2005; May u. a. 2004; Carr 2001).

5.4.3 Übergang vom Kindergarten in die Schule

Zum Thema Übergang in die Grundschule werden in denBundesländern verstärkt bildungspolitische Reformstrate-gien entwickelt. Dabei wird im frühkindlichen Bereichder gesellschaftliche Auftrag um den Aspekt der Bildungneu akzentuiert, ferner kommt es zu einer Annäherungder Institutionen Kindertageseinrichtung und Schule, waswiederum eine Reflexion des Bildungsverständnisses derInstitution Schule auslöst.

(a) Bewältigungsstrategien der Akteure

Der Übergang in die Grundschule bedeutet für Kinderund Eltern Chance und Belastung. In diesem Zusammen-hang ist zu fragen: Was hat das jeweilige Kind in den Pro-zessen der früheren Übergänge gelernt bzw. auf welcheErfahrungen kann es zurückgreifen?

Auf der individuellen Ebene führt der Übergang in dieSchule zu Veränderungen der Identität (Wandel vom Kin-dergartenkind zum Schulkind). Der mit den Veränderun-gen einhergehende Kompetenzerwerb der Kinder wirdsichtbar, beispielsweise in einem größeren Verlangennach Selbstständigkeit. In diesem Zusammenhang mussauch das elterliche Selbstverständnis als Wechsel von El-tern eines Kindergartenkindes zu Eltern eines Schulkin-des neu erworben werden.

Auf der interaktionalen Ebene sind vor allem veränderteBeziehungsstrukturen zu bewältigen. Hier müssen so-wohl Beziehungsabbrüche (z. B. mit den Erzieherinnenund Erziehern) verarbeitet als auch der Aufbau neuer Be-ziehungen im neuen Lernumfeld geleistet werden. DasKind ist gefordert, sich mit der neuen Rolle des Schulkin-

des auseinanderzusetzen und diese in die interaktionalenProzesse einzuarbeiten.

Auf der kontextuellen Ebene muss die Integration unter-schiedlicher Lern- und Lebensbereiche (insbesondere Fa-milie und Schule) realisiert werden. Eine besondere He-rausforderung stellen hier die veränderten pädagogischenKonzeptionen und Arbeitsweisen vom Kindergarten zurSchule dar.219

(b) Rechts- und Strukturfragen als Grundlage des Verhältnisses zwischen den Bildungsinstitutionen

Parallel zu den biografisch und individuell relevantenAspekten der Bewältigung von Übergängen, sind die ge-setzlichen und strukturellen Rahmenbedingungen ein we-sentliches Steuermoment der Übergangsgestaltung, diejedoch in der derzeitigen Konstellation eher hinderlichsind (beispielsweise die unterschiedliche Zuordnung derZuständigkeit sowie die damit verbundenen Finanzierun-gen von Kindertageseinrichtungen und Grundschule). Diestrukturelle Zuordnung der Kindertageseinrichtungenüber das SGB VIII in die Zuständigkeit der kommunalenGebietskörperschaften und die pädagogischen Belangeder Schule als Sache der Länder hat insoweit Folgen, alsmit einer solchen Gliederung noch immer der Kindergar-ten als grundsätzlich privat verantworteter Bereich mitfürsorglicher Unterstützung des Staates vom öffentlichverantworteten und zur staatlichen Aufgabe erklärtenschulischen Bereich abgegrenzt wird.

Die Betreuung eines Kindes in einer Kindertageseinrich-tung beruht auf einer freiwilligen Entscheidung der El-tern. Insofern leitet sich auch der Auftrag vom Elternrechtab, in dem Eltern ihren Erziehungsauftrag für Teile desTages an die Institution der Kindertageseinrichtung dele-gieren. Diese Verantwortung der Eltern wird nicht zuletztmanifestiert über die Kostenbeteiligungspflicht der El-tern. Zugleich gibt es in Verbindung mit einer Kostenfrei-heit einen grundsätzlich zugewiesenen Bildungsauftragdes Staates, der über eine klar geregelte administrativeStruktur gewährleistet wird.

Die Kooperation von Jugendhilfe und Schule kann abernur erfolgreich sein, wenn förderliche Rahmenbedingun-gen auf örtlichen und überörtlichen Ebenen bereit gestelltwerden, beispielsweise der Aufbau kooperativer Arbeits-strukturen auf lokaler und regionaler Ebene, die Entwick-lung und Pflege kooperativer Arbeitsformen bzw. lokalerund regionaler Arbeitskreise, die gegenseitige Beteili-gung an Ausschusssitzungen und Kommunikationspro-zessen zwischen Schulbehörde und örtlicher Jugendhilfesowie den weiteren Akteuren auf örtlicher und regionalerEbene (Expertise Olk).

Als markanter Meilenstein der Kooperation sind die ge-meinsamen Beschlüsse der Jugendministerkonferenz(JMK) und der Kultusministerkonferenz (KMK) zu wer-

219 Die beschriebenen Anforderungen für die Bewältigung des Über-gangs in die Grundschule sind im Wesentlichen auch übertragbar aufSituationen von Kindern, die aus einer anderen außerfamilialen Be-treuungsform in die Grundschule wechseln.

Page 235: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 225 – Drucksache 15/6014

ten, bei denen unter anderem folgende Schwerpunkte ak-zentuiert werden (JMK/KMK 2004a):

– Kindertageseinrichtungen und Schulen sollen die pä-dagogischen Konzepte aufeinander abstimmen, umdie jeweiligen Potenziale und vorhandenen Kompe-tenzen auszuschöpfen.

– Der Fokus soll sich auf die Stärken der Kinder sowiedie Förderung der individuellen Fähigkeiten, Interes-sen und Kompetenzen richten.

– Die Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher anden Fachschulen bzw. Fachakademien soll verstärktFragen der frühkindlichen Bildungsprozesse vermit-teln.

– Vor dem Hintergrund der ausbildungsbedingten Unter-schiede von Erzieherinnen und Erzieher sowie Lehre-rinnen und Lehrer sind gemeinsame Fortbildungennotwendig, um wechselseitig Transparenz zwischenbeiden Tätigkeitsbereichen zu ermöglichen. Hier mussdie Zusammenarbeit der Fortbildungseinrichtungender Lehrerinnen und Lehrer mit den sozialpädagogi-schen Fortbildungsträgern intensiviert und ausgebautwerden.

– Der Übergang vom Kindergarten in die Grundschulemuss stärker als bisher Gegenstand der empirischenForschung werden.

Für eine Verbesserung des Übergangs vom Kindergartenzur Grundschule wird jedoch grundsätzlich keine zu-sätzliche Finanzierungsnotwendigkeit gesehen. Stattdes-sen wird in den einzelnen Landesschulgesetzen und Lan-desgesetzen zur Kindertagesbetreuung nur nahegelegt,durch Synergieeffekte personelle und sachliche Ressour-cen zu erschließen. Hinsichtlich der rechtlichen Grundla-gen wie auch aus finanzieller Sicht wird demnach keineUnterstützung bei der Gestaltung der Übergänge in Aus-sicht gestellt; somit ist aber Beliebigkeit vorprogrammiert(Diskowski 2004b).

Die Rahmenpläne und Bildungsprogramme der einzelnenLänder propagieren die Kooperationen der Bildungsinsti-tutionen. Insbesondere in den Konzeptionen des BerlinerBildungsprogramms, des Bayerischen Bildungs- und Er-ziehungsplans, im Programm für Bildung des LandesSachsen-Anhalt und im Bildungsplan des Landes Hessenwird die Übergangsgestaltung als Aufgabe für alle betei-ligten Fachkräfte thematisiert. Allerdings geschieht diesauch hier nicht mit der notwendigen Konsequenz, da we-der verpflichtende Kooperationen mit Gesetzesstatus ge-fordert werden noch der zusätzliche Aufwand finanziellberücksichtigt wird.

(c) Selbstverständnis der Bildungseinrichtungen

Im Hinblick auf das Konzept „Schulfähigkeit“ sind inden letzten Jahren grundlegende Wandlungen zu be-obachten. Die bisherige praktizierte Schuleingangsdiag-nostik entspricht nicht den aktuellen wissenschaftlichenErkenntnissen, führt ferner zu einseitigen Einschätzungenund wird der Komplexität der Übergangsanforderungennicht gerecht (Kammermeyer 2001). Seit den 1980er-Jah-ren erfährt das Verständnis, Schulfähigkeit unter der Pers-

pektive der Lebensumwelt des Kindes und ihren Wech-selwirkungen zu betrachten, weitreichende Akzeptanz(Nickel 1999), d. h. Schulfähigkeit entsteht im Zusam-menwirken von Kind, Familie, Kindergarten und Grund-schule (Kammermeyer 2004).

Die Grundschule hat demnach die Aufgabe, die Schulfä-higkeit mit den Kindern selbst zu erarbeiten (Faust-Siehlu. a. 2001). Insofern wird empfohlen, alle Kinder eines be-stimmten Alters in die Schule aufzunehmen, unabhängigvom Kriterium der Schulfähigkeit. Auch der bayerischeGrundschullehrplan sieht Schulfähigkeit nicht als Vorleis-tung des Kindes, sondern als gemeinsame Aufgabe alleran Bildung und Erziehung Beteiligten an. Ein solches Ver-ständnis aber verlangt den Abschied von (hochselektiven)Einschulungsverfahren, deren Ziel darin liegt, homogeneLerngruppen in der ersten Klasse zu erreichen. Die Schul-fähigkeit von Kindern sollte demnach zur gemeinsamenAufgabe der Kindertageseinrichtungen und Grundschulenwerden. Die Kooperation beider Institutionen muss im be-sonderen Maße darauf ausgerichtet sein, die Anschlussfä-higkeit beider Systeme im Interesse eines optimalenWechsels für die Kinder zu gewährleisten. Diese gemein-same Aufgabe ist nur mit und durch eine Einbindung derEltern in diesen Prozess zu erreichen.

Die „Schulfähigkeit“ kann den Status eines Kindes zu ei-nem bestimmten Zeitpunkt nicht wiedergeben, da Schul-fähigkeit als ein Konstrukt zu begreifen ist, das von allenBeteiligten (Kind, Eltern, vorschulische Einrichtung,Schule, Hort) in einem ko-konstruktiven und sinnstiften-den Prozess inhaltlich zu gestalten ist.

(d) Modellprojekte in den Bundesländern

Die Entwicklung tragfähiger Konzepte für einen systema-tisch begleiteten Übergang vom Kindergarten in dieGrundschule ist Schwerpunkt verschiedener Modellpro-jekte in unterschiedlichen Regionen Deutschlands. Soläuft an der Universität Bremen seit Mai 2003 das Projekt„Frühes Lernen – Kindergarten und Schule kooperieren“mit dem Ziel des Aufbaus von tragfähigen Arbeits- undKooperationsstrukturen im Kooperationsverbund, einerverstärkten Elternarbeit sowie der Abstimmung der in-haltlichen Arbeit zwischen Kindertageseinrichtungen undGrundschulen durch übergreifende Bildungspläne. DasInteresse ist gerichtet auf die Erarbeitung kindbezogenerBeschreibungsmodelle für Übergänge. Kernprojekt bildetdie Arbeit in vier Projektverbünden (zu denen jeweilsGrundschulen, Kindergärten/Kindertagesheime zählen),die wissenschaftlich begleitet werden. Diese Arbeit wirdunterstützt von einer Lenkungsgruppe, in der Behörden-vertreter/innen, Lehrerfortbildungsinstitute und die Uni-versität mitwirken.

Das bundesweite Forschungs- und Entwicklungsprojekt„ponte“ hat sich zum Ziel gesetzt, den Dialog zwischenPädagoginnen und Pädagogen in Kindergarten undGrundschule mit Hilfe von Moderatorinnen und Modera-toren zu intensivieren. Diese regional arbeitenden Perso-nen verstehen sich als Bindeglied zwischen beteiligtenKindergärten und Grundschulen sowie der universitärenProjektgruppe. Sie unterstützen die pädagogischen Fach-kräfte bei der Entwicklung spezifischer Curricula, erarbei-

Page 236: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 226 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

ten mit ihnen spezielle Förderkonzepte, unterstützen dieUmstrukturierung der Einrichtungen und bieten Fortbil-dungen an. Grundlage des Projektes ist ein Bildungsver-ständnis, das Kinder als Gestalter ihrer eigenen Lernsitua-tion begreift, die von Eltern und Fachkräften dabei zuunterstützen sind, sich die Dinge selbst anzueignen, sowieihr eigenes Denken und ihre Urteilskraft zu fördern.

Mit Beginn des Schuljahres 2004/2005 und einer geplan-ten Laufzeit von fünf Jahren startete das Projekt „KIDZ –Kindergarten der Zukunft“ in Bayern. Ziel des Projektsist eine frühe, individuelle Förderung von 3- bis unter6-jährigen Kindern, die an den persönlichen Vorerfahrun-gen und Begabungen des einzelnen Kindes anknüpft. In-halt der Modellgruppenarbeit (mit professionellem Team-Teaching) ist neben der Erarbeitung gemeinsamer päda-gogischer Konzepte zwischen Kindergarten und Grund-schule auch die Überprüfung und Erarbeitung eines Kon-zepts der Weiterqualifizierung und Nachqualifizierungfür das pädagogische Fachpersonal des Kindergartens so-wie für die Grundschullehrkräfte. Das Projekt wird wis-senschaftlich begleitet und die umgesetzten Maßnahmenentsprechend evaluiert.

Zusammenfassung: In der Bilanz lassen sich mit Blick aufdie Frage der Übergänge folgende Punkte festhalten:

– Die Bewältigung von Übergängen fordert nicht nur dieKompetenz des Kindes, sondern die des ganzen sozia-len Systems. Familie, Kindertageseinrichtung undSchule sind die Beteiligten im jeweiligen Übergangs-prozess. Dabei wird unterschieden nach denjenigen,die den Prozess bewältigen müssen (Kinder und El-tern) und jenen, die den Prozess moderieren (Fach-kräfte). Die Chancen für gelingende Übergänge sindgrößer, wenn die beteiligten Fachkräfte unter Einbe-ziehung der Eltern und der Kinder in einen ko-kon-struktiven Prozess miteinander treten und sich über dieInhalte, die Bedeutung und die Zielsetzungen verstän-digen. In diesem Verständnis soll die Realisierung ei-ner Erziehungspartnerschaft angestrebt werden.

– Frühkindliche Bildung und Schule sind in eine ge-meinsame lokale Verantwortung zu legen. Ausgehendvon den beschriebenen Problemen, die sich aus derstrukturellen und rechtlichen Beziehungsstruktur vonJugendhilfe und Schule ergeben, sollten kooperativeArbeitsstrukturen in Form von kontinuierlichen Ab-sprachen und Treffen in lokalen und regionalen Ar-beitskreisen aufgebaut werden. Eine erfolgreiche Koo-peration von Jugendhilfe und Schule bedarf derBereitstellung förderlicher Rahmenbedingungen so-wohl auf der Ebene der einzelnen Kooperationspartnerals auch auf den örtlichen und überörtlichen Ebenen.

– Übergänge sind Thema in Bildungsplänen der Bun-desländer. Mit Veränderungen der Altersgrenzen müs-sen Übergänge flexibler und individueller gestaltetwerden. Das Transitionsmodell hat Eingang in die Bil-dungs- und Erziehungspläne gefunden. In den Län-dern wird dabei auf eine starke und gleichwertigeZusammenarbeit von vorschulischen Bildungseinrich-tungen und Schulen verwiesen.

– Familienbildung gehört als Schnittstelle zu Kinderta-geseinrichtungen und Schulen in ein kohärentes Bil-dungssystem. Die mit dem Übergang verbundenenAnforderungen für Kinder und Eltern lassen sich ge-nau beschreiben und pädagogisch umsetzen. Eine amTransitionsansatz orientierte pädagogische Konzeptu-alisierung des Übergangs kann einen grundlegendenBeitrag zur Überwindung herkömmlicher Annahmenzur Schulfähigkeit leisten. Die Qualität der Beziehungdes Kindes zu seinen Eltern, Gleichaltrigen-Gruppenund insbesondere zu den pädagogischen Fachkräftenfindet dabei stärkere Berücksichtigung.

– Übergänge sind eine gemeinsame Aufgabe derBildungsinstitutionen Kindertageseinrichtung undSchule. Diese Aufgabe muss sich in der Struktur derAus- und Weiterbildung widerspiegeln. Die Realisie-rung gelingender Übergänge zwischen den Bildungs-institutionen setzt voraus, dass die beteiligten Fach-kräfte auf der Grundlage eines gemeinsamenBildungsverständnisses agieren. Dies lässt sich überdie Realisierung gemeinsamer Fort- und Weiterbil-dungsangebote gewährleisten und muss in den ent-sprechenden Angeboten berücksichtigt werden.

5.5 Qualitätssicherung und Steuerungs-systeme

Generell ist davon auszugehen, dass eine gute pädagogi-sche Qualität in der institutionellen Tagesbetreuung sichgleichermaßen positiv auf alle Kinder auswirkt. Darüberhinaus werden in einzelnen Aspekten besondere Effektefür Kinder aus benachteiligten Familien sichtbar, und um-fangreiche Förderprogramme für benachteiligte Kinderkönnen zusätzliche positive Auswirkungen nach sich zie-hen (Expertise Roßbach). Vor diesem Hintergrund ist esfolgerichtig, dass sich die öffentliche und fachliche Dis-kussion neben dem Platzausbau schwerpunktmäßig aufdie Frage der Sicherung und Steuerung pädagogischerQualität in Kindertageseinrichtungen sowie in der Kin-dertagespflege richtet. Es steht dabei außer Frage, dassdas gegenwärtige durchschnittliche Niveau pädagogi-scher Qualität nicht befriedigen kann, dass erheblicheStreuungen in der Qualität zu verzeichnen sind und dassnach internationalen Standards gute und sehr gute Quali-tät nur in einer Minderheit von Tageseinrichtungen undTagespflegestellen erreicht wird.

Die Qualitätsdiskussion in der frühen Bildung, Betreuungund Erziehung von Kindern hat in Deutschland in denletzten 10 Jahren einen starken Aufschwung erfahren.Andererseits werden nicht nur politisch, sondern auchfachlich zahlreiche Punkte nach wie vor kontrovers dis-kutiert. So wird darüber debattiert, was unter pädagogi-scher Qualität verstanden werden soll, wer legitimerWeise definiert, was Qualität ist und in welchen Verfah-ren dies geschieht (Diller u. a. 2005b). Ebenso gibt es un-terschiedliche Auffassungen darüber, wie Qualität festge-stellt, mit Erfolg entwickelt und auf einem zufriedenstellenden Niveau nicht nur im Durchschnitt, sondern inden einzelnen öffentlich verantworteten Bildungs-, Be-treuungs- und Erziehungsumwelten der Kinder gesichertwerden kann.

Page 237: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 227 – Drucksache 15/6014

Im Anschluss an vorliegende Forschungen und gegebene Praxisansätze können die folgenden Qualitätsbereiche unter-schieden werden (vgl. Abschnitt 5.3.3.4):

Orientierungsqualität: u. a. Curricula, Leitbilder, pädagogische Ansätze, Konzeptionen

Strukturqualität: u. a. Qualifikationen des pädagogischen Personals, Gruppengrößen, Erzieher-Kind-Schlüssel, räumlich-materiale Ausstattung

Prozessqualität: konkretes pädagogisches Handeln, Anregungen für das Kind in verschiedenen Bil-dungsbereichen, Interaktionen zwischen Erzieherinnen und Kindern bzw. Kindern untereinander

Bildungsergebnisse: u. a. im sprachlich-kognitiven Bereich und im sozialen Bereich

Management- und Organisati-onsqualität:

u. a. die gegebenen personalen und sächlichen Ressourcen zielorientiert und effizient einsetzen

Kontextqualität: u. a. Unterstützung durch Fachberatung, Fortbildung und andere interne und externe Systeme

Prinzipiell kann jedem dieser Bereiche ein eigener Stel-lenwert für Qualitätssicherung und Qualitätssteuerung zu-kommen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Qualitäts-bereiche auf unterschiedlichen Systemebenen liegen bzw.unterschiedlichen Systemebenen zugängig sind.

Zur Sicherung und Steuerung der pädagogischen Qualitätvon Kindertageseinrichtungen finden sich in Deutschlandsowohl Initiativen auf der Ebene der Politik und öffentli-chen Verwaltung als auch auf der Ebene der einzelnenEinrichtungen oder Organisationen. Die gegebenen Steu-erungsmöglichkeiten auf der Makrosystemebene liegenz. B. in den rechtlichen Vorgaben des Bundes und denAusführungsbestimmungen der Länder. Kommunale In-stanzen und die Wohlfahrtsverbände sind als Träger vonEinrichtungen für deren unmittelbare Steuerung auf derOrganisations- und Handlungsebene zuständig, unter Be-rücksichtigung der Bundes- und Ländervorgaben (Exper-tise Larrá).

5.5.1 Qualitätssicherung als inputorientierte Verwaltungssteuerung

Die öffentliche Steuerung von Bund und Ländern beziehtsich (neben der Mengensteuerung) in qualitativer Hin-sicht bisher in erster Linie auf Merkmale der Strukturqua-lität und neuerdings auch der Orientierungsqualität derpädagogischen Angebote. Weiterhin wird versucht, ver-änderte Finanzierungskonzepte als Steuerungsinstru-mente einzusetzen, deren Wirkungen allerdings strittigsind (Bock-Famulla 2004).

Bezogen auf die Inhalte der pädagogischen Arbeit bliebendie Steuerungsvorgaben auf der Makrosystemebene in derVergangenheit eher vage. Mit der Entwicklung von Bil-dungs- und Erziehungsplänen in den Bundesländern hateine neue Diskussion über die Verbindlichkeit von Bil-dungszielen und die Einführung von (evtl. national gülti-gen) Bildungsstandards begonnen (Diskowski u. a.2004a). Auf dem Hintergrund, dass in der Vielfalt und

Buntheit (bzw. auch Beliebigkeit) des Kindertageseinrich-tungsbereichs keine ausreichende Legitimation für eine zu-künftige Ressourcenbindung gesehen wird, bemühen sichdie Länder um gemeinsame Leitlinien für einen eigenstän-digen frühkindlichen Bildungsauftrag (JMK 2004).

Die Bildungs- und Erziehungspläne der Länder stellendabei einen Rahmen dar, der eine träger- und einrich-tungsspezifische Ausgestaltung von pädagogischen Kon-zeptionen ermöglicht, sollen aber auch dazu dienen, dassdie Bildungsprozesse in den Kindereinrichtungen „mehrTransparenz und Verbindlichkeit erlangen“ (Roth 2004,S. 72). Die Bildungspläne haben überwiegend den Cha-rakter von Empfehlungen und dürften allein vor diesemHintergrund nur eine begrenzte Steuerungswirkung ent-falten. Neben Regelungen zur Orientierungsqualität istdie inputorientierte Verwaltungssteuerung traditionell alsSteuerung über Merkmale der Strukturqualität ausgelegt.Es handelt sich hierbei um zum Teil stark kostenrelevanteBedingungen. Klassische Beispiele dieser Art sind Rege-lungen zur Ausbildung des pädagogischen Personals, zuGruppengrößen, Erzieher-Kind-Schlüsseln sowie zuräumlichen Gegebenheiten innen und außen. Darüber hi-naus wird über finanzielle Regelungen indirekt festgelegt,inwieweit Unterstützungssysteme durch Fachberatungund Fortbildungen (Kontextqualität) wie auch solche derManagement- und Orientierungsqualität in Anspruch ge-nommen werden können.

Es mag erstaunen, dass sich die gegenwärtige Reformde-batte zur Qualitätssicherung bzw. -entwicklung durchstaatliche Maßnahmen mit curricularen Rahmenplänenund einer Verbesserung der Ausbildung von Erzieherin-nen und Erziehern in einer deutlichen Selbstbegrenzungauf je ein Merkmal der Struktur- und Orientierungsquali-tät beschränkt. So bedeutsam beide Qualitätsmerkmalesind, handelt es sich dennoch um eine Engführung derDebatte, die in zweierlei Hinsicht einer Blickerweiterungbedarf. Zum einen gilt es weitere Merkmale der Struktur-qualität ins Auge zu fassen, um verbesserte Fördermög-

Page 238: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 228 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

lichkeiten für Kinder zu erreichen. Hierzu zählen z. B.kleinere Gruppen in den Einrichtungen, verbesserte Er-zieher-Kind-Schlüssel, oder auch mehr Vor- und Nachbe-reitungszeiten für das pädagogische Personal. Vorlie-gende Forschungen zeigen, dass es nicht die eine„Stellschraube“ gibt, um pädagogische Qualität zu ver-bessern bzw. zu steuern, vielmehr muss sich das Augen-merk in einem komplexen System auf die verschiedenenals bedeutsam erkannten Bedingungen gleichzeitig rich-ten.

Zum anderen geraten mit der ausschließlichen Betrach-tung von Merkmalen der Orientierungs- und Strukturqua-lität andere Qualitätskomponenten aus dem Blick. Diesgilt insbesondere für die Prozessqualität als das auf Bil-dung, Betreuung und Erziehung der Kinder konkret bezo-gene pädagogische Handeln in den Einrichtungen (wieauch in der Kindertagespflege) einerseits sowie im Hin-blick auf Bildungsergebnisse (Outcome) bei den Kindernandererseits. Obwohl beide Qualitätsbereiche durchaus inverlässlicher Form feststellbar wären, wie deutsche undausländische Untersuchungen zeigen, finden sie in dengegenwärtig praktizierten Ansätzen staatlicher Qualitäts-sicherung und Qualitätssteuerung (und auch in den meis-ten anderen aktuellen Reformansätzen zur Qualitätssiche-rung) keine bzw. keine hinreichende Beachtung.

Feststellungen der konkreten Prozessqualität und Erhe-bungen zu Bildungsergebnissen bei Kindern im Vorschul-alter sind der öffentlich verantworteten Qualitätssteue-rung im Früherziehungssystem bislang fremd. Diehypothetische Verbindung, dass über geeignete Input-merkmale der Struktur- und Orientierungsqualität gleich-sam automatisch ein hinreichend guter Output im Sinneguter Prozessqualität und angestrebte Outcomes im Sinneerwünschter Bildungsergebnisse bei den Kindern gesi-chert werden könnten, entbehrt der empirischen Grund-lage. Die Vernachlässigung, Prozessqualität und Outputder öffentlich verantworteten Kindertagesbetreuung inden Blick zu nehmen, mag insofern überraschen, als dieKommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsverein-fachung (KGST) bereits Anfang der 90er-Jahre des letz-ten Jahrhunderts gerade im Bereich der Jugendhilfemodellhafte Möglichkeiten für eine outputorientierteSteuerung sah (KGST 1993). Die Vernachlässigung desOutputs kann dabei nicht auf den Mangel an zuverlässi-gen Erfassungsmöglichkeiten zurückgeführt werden. Un-ter anderem stehen mit den Instrumenten der KES-Fami-lie (Tietze u. a. 2005a, b, d, e) Verfahren zur Erfassungder Prozessqualität in Kindertageseinrichtungen (undauch in der Kindertagespflege) zur Verfügung, die sozial-wissenschaftlichen Messkriterien genügen und auch in-ternational breite Anwendung finden.

5.5.2 Qualitätssicherung durch Qualitäts-management

Die unzureichende staatliche Qualitätssteuerung hat inder letzten Dekade zu großen Anstrengungen bei denfreien Trägern von Kindertageseinrichtungen geführt, pä-dagogische Qualität in ihren Einrichtungen zu entwickelnund zu sichern. Zu nennen sind hier neben der Entwick-

lung fachlich angemessener Steuerungsinstrumente durchBündelung von Trägeraufgaben in neuen administrativenStrukturen (Expertise Larrá) besonders die Einführungvon ursprünglich in der Industrie und anderen Dienstleis-tungsbereichen entwickelten Qualitätsmanagementver-fahren.220 Die Einführung geschah auch auf dem Hinter-grund sich verändernder sozialstaatlicher Strukturensowie unter dem Gesichtspunkt einer trägerspezifischenProfilschärfung der Einrichtungen in einer zunehmend er-warteten Konkurrenzsituation für das Kindergartenange-bot. Im Rahmen dieses Prozesses haben sich die Ver-bände der Freien Wohlfahrtspflege auf die Einführungvon Qualitätsmanagementsystemen geeinigt und be-reichsübergreifende Eckpunkte einer QM-Strategie fest-gelegt (BAGFW 2003a, 2003b). Die meisten Verfahrens-weisen wurden bereits in anderen Bereichen der sozialenArbeit eingesetzt. In der pädagogischen Praxis gibt es al-lerdings gegenüber diesen als zum Teil abstrakt und tech-nokratisch empfundenen Verfahren nicht nur Zustim-mung (Diller u. a. 2005b).

Diese Qualitätsmanagementverfahren basieren auf derGrundlage der DIN EN ISO 9000 : 2000 und des Total-Quality-Management und beanspruchen die Steuerung al-ler relevanten Prozesse und Wechselwirkungen innerhalbeines Systems. Im Rahmen dieses Verfahrens werden so-wohl Qualitätsziele und fachliche Standards definiert alsauch die dafür erforderlichen Zuständigkeiten, Verant-wortungsbereiche und Abläufe geregelt. Dabei ist nebender Qualitätssicherung auch eine systematische Weiter-entwicklung von Qualität intendiert. Die Qualitätsma-nagementsysteme geben keine inhaltlichen Kriterien zu„guter Qualität“ vor, wohl aber Parameter für die Quali-tätsbestimmung, z. B. die Berücksichtigung von neuestengesetzlichen und fachwissenschaftlichen Vorgaben sowiedie Erwartungen der Nutzer. Als zentrale Prinzipien sindweiterhin der effiziente Einsatz von Mitteln sowie dieFestlegung personeller Ressourcen zu berücksichtigen. Ineiner systematischen Evaluation der Ergebnisse werdenSchlussfolgerungen für die weitere Qualitätsentwicklunggezogen. Eine externe Evaluation ist über Zertifizierungdurch akkreditierte Prüfungsgesellschaften möglich, je-doch nicht verpflichtend (Diller 2004).

Die wesentlichen Schritte der oben genannten Verfahrenlassen sich in folgendem Ablauf auf der Handlungsebenedarstellen (Expertise Larrá):

(1) Festlegung der Ziele – Konzeptionsentwicklung,

(2) Erhebung und Berücksichtigung der Abnehmer-/‚Kunden‘-Perspektive,

(3) Erarbeitung von Maßnahmen zur Zielerreichung,

(4) Entwicklung von Standards (Kriterien zur Überprü-fung der Zielerreichung),

(5) Etablierung einer ständigen Überprüfungsroutine“.

220 Überblicke zu den vielfältigen Verfahren und Ansätzen finden sichbei Viernickel 2005; Irskens/Vogt 2000.

Page 239: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 229 – Drucksache 15/6014

Die Durchführung eines Qualitätsmanagementverfahrensist finanziell und personell nicht unaufwändig, erscheintjedoch aus Sicht der QM-Vertreter/innen als ein notwen-diger Schritt eines strukturellen Veränderungsprozesses,der sich langfristig auch als ökonomisch effektiv erwei-sen soll. In mehreren Wohlfahrtsverbänden (Arbeiter-wohlfahrt, Caritas und Diakonisches Werk) wurden fürdie Durchführung eines Qualitätsmanagementprozessesverschiedene Arbeitshilfen und Qualitätshandbücher alsVorlagen für die Einrichtungen entwickelt (Verband KTK2004; BETA 2002; AWO 2001). Gleichzeitig haben dieVerbände auf der Ebene der Bundesarbeitsgemeinschaftder Freien Wohlfahrtspflege die Grundanliegen zum Er-reichen ihrer spezifischen Dienstleistungsqualität sowiedie Anforderungen an die Prüfung von QM-Systemenfestgelegt (http://www.bagfw-qualitqet.de).

Die Zuständigkeiten und Aufgabenverteilungen werdenbei Qualitätsmanagementverfahren deutlich unterschie-den, und zwar zwischen jenen, die von den Mitarbeiter/innen in den Einrichtungen erfüllt werden müssen, und je-nen, die in den Verantwortungsbereich des Trägers fallen.„Die Mitarbeiterinnen haben die wichtige Aufgabe, dieDienstleistungsprozesse, d. h. die fachliche Arbeit mit El-tern und Kindern zu beschreiben, umzusetzen und zu eva-luieren. Der Träger hat – sehr verkürzt ausgedrückt – dieAufgabe des Controllings, d. h. der Steuerung und Mes-sung, ob die Einrichtung die Qualitätsziele umsetzenkann“ (Diller 2004). Diese klare Definition der Aufgabenund Zuständigkeiten wird u. a. als ein entscheidenderVorteil dieser Verfahren angesehen.

Einheitliche und vereinbarte Grundlagen mit methodischgesicherten Messstandards für eine flächendeckendeÜberprüfung der Prozess- und Ergebnisqualität von Kin-dertageseinrichtungen liegen in den QM-Verfahren bis-lang nicht vor. Sie würden die Voraussetzung für eineunabhängige Qualitätsüberprüfung und die Aufrecht-erhaltung eines hohen Qualitätsstandards darstellen.

Einigkeit im fachlichen und wissenschaftlichen Diskursbesteht darüber, dass unabhängige Qualitätssicherungs-verfahren notwendig sind. Über die Verfahren, über Re-gelungen der Zuständigkeiten und Kompetenzen gibt esin der Fachdiskussion jedoch kontroverse Positionen, dieweitere systematische Klärungen und Annäherungen er-forderlich erscheinen lassen.

5.5.3 Qualitätssicherung nach einheitlichen Kriterien

Für zukünftige Ansätze der Qualitätsverbesserung und-sicherung erscheint es sinnvoll, die prozessorientierteninternen Qualitätsentwicklungs- und Qualitätssicherungs-verfahren der Trägerorganisationen mit externer Quali-tätsfeststellung und -steuerung zu verknüpfen. Dabeisollten die pädagogischen Prozesse und die Bildungser-gebnisse systematisch in den Blick genommen werden.Dies erfordert eine Verständigung über geeignete Fest-stellungsverfahren zur Prozessqualität wie auch über not-wendige fachliche Anforderungen an solche Verfahren.Ebenso ist eine Verständigung über Standards erforder-lich, die nicht unterschritten werden dürfen (Mindeststan-

dards) bzw. über Standards, die nach vorliegendem Er-kenntnisstand als gute und anzustrebende Standardsgelten können.

Zur Qualitätssicherung gehören auch Bildungsstandsmes-sungen bei den Kindern, und zwar nicht erst am Ende derKindergartenzeit beim Übergang in die Grundschule, son-dern auch bei 3- bis 4-jährigen Kindern, um individuellauf Bildungsdefizite wie auch auf besondere Begabungenvon Kindern hinreichend früh pädagogisch angemessenreagieren zu können. Schließlich gehört zu einem umfas-senden Ansatz der Qualitätssicherung auch die Beachtungvon Auswirkungen auf Eltern, auf ihr Informations- undMitwirkungsbedürfnis, ihre Zufriedenheit sowie die Be-rücksichtigung ihrer Familienrhythmen (Arbeitszeiten).

Pädagogische Qualität (mit den verschiedenen Qualitäts-bereichen) ist für die aktuellen wie zukünftigen Bil-dungschancen des einzelnen Kindes von großer Be-deutung. Qualitätsverbesserung und Qualitätssicherungmüssen sich daher auf die einzelnen pädagogischen Um-welten beziehen, vor allem auf die öffentlich geförderteund verantwortete Kindertageseinrichtung bzw. die Ta-gespflegestelle, in die das einzelne Kind einbezogen ist.

Es erscheint wenig aussichtsreich, dass eine inputorien-tierte Qualitätssteuerung oder auch ein trägerimmanentesQualitätsentwicklungsverfahren allein, so notwendigbeide sind, jemals die Wirkung erreichen werden, um aufder Ebene der einzelnen Kindertageseinrichtung oder Ta-gespflegestelle pädagogische Qualität verlässlich zu er-fassen und zu dokumentieren. Vor dem Hintergrund derbegrenzten Tiefenwirkung staatlicher Top-down-Strate-gien und auch den Begrenzungen der Qualitätssteuerungim Rahmen trägerspezifischer Qualitätsmanagementan-sätze sollten daher verstärkt auch neue Strategien erprobtwerden. Dabei liegt es nahe, an Akkreditierungsverfahrenoder die Vergabe eines pädagogischen Gütesiegels durchunabhängige Fachagenturen zu denken (Tietze/Förster2005; Spieß/Tietze 2002), die auf der Basis zuverlässiger,bundeseinheitlicher Qualitätsfeststellungen unter Einbe-zug eines breiten Satzes abgestimmter Qualitätsmerkmaleerfolgt; dazu gehören insbesondere auch solche der Pro-zessqualität.

Von Qualitätsfeststellungsverfahren können qualitätssti-mulierende Effekte auf verschiedenen Ebenen erwartetwerden:

– sie liefern Eltern Entscheidungskriterien bei der Wahleiner Kindertageseinrichtung oder Tagespflegestelle;

– sie liefern Einrichtungen und Trägern Kenntnisse überden jeweils vor Ort erreichten Qualitätsstand und da-mit Grundlagen für gezielte Qualitätsverbesserungen;

– sie ermöglichen Qualitätsvergleiche und führen damitein qualitätsstimulierendes, wettbewerbliches Elementein;

– sie liefern die Basisinformationen für eine regelmä-ßige öffentliche Berichterstattung;

– sie können, besonders auch in Verbindung mit entspre-chenden Formen der öffentlichen Finanzierung, zu

Page 240: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 230 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

wirksamen Instrumenten der Qualitätssteuerung in öf-fentlicher Verantwortung ausgebaut werden (Kreyen-feld u. a. 2001).

Die große Bedeutung pädagogischer Qualität für die Bil-dung, Betreuung und Erziehung von Kindern im vorschu-lischen Alter erfordert es, solche und weitere Formen derQualitätssicherung verstärkt zu erproben und Qualitäts-feststellung systematisch mit Qualitätsentwicklung zuverbinden.

5.6 Zusammenfassung

Kinder in ihrer Lebensphase von der Geburt bis zumSchuleintritt werden schwerpunktmäßig zunächst in ihrenFamilien, dann aber auch in Tagespflegestellen und Kin-dertageseinrichtungen gebildet, betreut und erzogen. Anjedem dieser Orte hat das Kind als noch unmündiges Sub-jekt einen Anspruch auf bestmögliche Förderung. Damitist eine gesellschaftliche Verantwortung für das einzelneKind gegeben, die es wahrzunehmen gilt.

(1) Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass das Inter-aktionssystem Familie dazu in der Lage ist, dem Kind im1. Lebensjahr jene Möglichkeiten an Bildung, Betreuung-und Erziehung zur Verfügung zu stellen, die es braucht,um soziale Anschlussfähigkeit und kulturelle Teilhabefä-higkeit zu erwerben. Diese für die Kinder zentrale Famili-enumwelt bleibt erhalten, wenn zusätzlich öffentlich ver-antwortete Angebote der Bildung, Betreuung undErziehung in Anspruch genommen werden und dasPotenzial weiterer Lernwelten genutzt wird. Ab dem2. Lebensjahr, spätestens jedoch ab dem 3. Lebensjahrsollte das Kind die Möglichkeit erhalten, seinen Erfah-rungsraum durch regelmäßige soziale Kontakte zu ande-ren Erwachsenen und gleichaltrigen Kindern zu erwei-tern.

Die gesellschaftliche Verantwortung liegt zum einen inder finanziellen Absicherung der Familie, besonders im1. Lebensjahr des Kindes im Sinne der Vermeidung vonfinanziellen Einbrüchen im Vergleich zu der Situation vorder Geburt des Kindes. Sie besteht aber auch darin, dieEltern in ihrer Erziehungskompetenz für das frühe Kin-desalter zu stärken, ihnen diesbezügliche Elternbildungs-und Unterstützungsprogramme bereitzustellen, die zu ei-ner stärkeren Reflexion ihres Erziehungsverhaltens undgegebenenfalls auch zu einer Modifikation ihrer Erzie-hungspraktiken führen können. Dies gilt insbesondere fürEltern, die – vielfach bedingt durch ihre Lebenslage – zueher ungünstigen Erziehungs- und Interaktionsmusternneigen und ihren Kindern nicht im ausreichenden Maßeförderliche Bedingungen bieten können. Die gesellschaft-liche Verantwortung für junge Kinder und ihre Familienerfordert den systematischen Aufbau niedrigschwelligerUnterstützungssysteme der Elternbildung, die auch in derLage sind, spezielle Zielgruppen, wie z. B. Migrationsfa-milien, zu erreichen. Dabei sollte auch über zielgrup-penadäquate Anreizsysteme nachgedacht werden.

(2) Eine der Erweiterungsmöglichkeiten der Bildung, Be-treuung und Erziehung besonders für kleinere Kinder un-ter 3 Jahren stellt die Tagespflege dar. Sie hat darüber hi-

naus auch dort ihre Bedeutung, wo institutionelleAngebote für Kinder im Kindergartenalter zeitlich zuknapp ausgelegt sind oder nicht zum Alltagsrhythmusvon Familien passen. Die Tagespflege bildet allerdings inDeutschland ein auf weite Strecken hin unübersichtlichesSystem der Bildung, Betreuung und Erziehung von Kin-dern.

Eine gesellschaftliche Verantwortung wird gegenwärtignur für den kleineren Teil der „öffentlichen“ Tagespfle-geverhältnisse (vermittelt, beraten und meist auch mitfi-nanziert durch die öffentlichen Träger der Jugendhilfe)wahrgenommen. Die Mehrheit bilden „informelle“ Ta-gespflegeverhältnisse, deren Inanspruchnahme von denEltern allein organisiert, verantwortet und finanziert wird.Aufgrund der für die Eltern hohen Kosten wird Tages-pflege, öffentlich wie informell, vorwiegend von Besser-verdienenden in Anspruch genommen.

Die Tagespflege spielt mit einer geschätzten Versor-gungsquote von im Durchschnitt knapp 2 Prozent bei denunter 3-jährigen Kindern in Deutschland bislang nocheine untergeordnete Rolle im Gesamtsystem der Bildung,Betreuung und Erziehung im frühen Kindesalter. Im Hin-blick auf die bis zum Jahr 2010 vorgesehenen Ausbau-ziele der Bundesregierung müsste die Zahl der in West-deutschland vorhandenen öffentlichen Tagespflegeplätzeverdreifacht werden.

Dringend verbesserungsbedürftig erscheint auch die Qua-lität von zahlreichen Tagespflegeplätzen, die im Durch-schnitt nicht befriedigt und im Übrigen stark streut. Füreine nachhaltige Qualitätsverbesserung ist es erforderlich,im Hinblick auf Einkommen und soziale Absicherung ak-zeptable Rahmenbedingungen für Tagespflegepersonenzu schaffen und die informelle Tagespflege in eine öffent-liche zu überführen. Dazu sollte die Tagespflege, zumin-dest soweit sie einen bestimmten zeitlichen Umfang (vonz. B. 10 Stunden pro Woche) übersteigt, generell also abdem ersten Kind, erlaubnispflichtig werden. Des Weite-ren sollten von den öffentlichen Trägern der JugendhilfeEignungsprüfungen bei neuen Tagespflegestellen vorge-nommen werden, verbindliche Qualifizierungsangebotefür angehende Tagespflegepersonen vorgesehen und einewirksame Fach- und Praxisberatung aufgebaut werden.Ebenso gilt es, Netzwerke von Tagespflegestellen zu for-mieren, innerhalb derer auch erforderliche Vertretungenund die überindividuelle Kooperation mit Eltern und deninstitutionellen Formen der Tagesbetreuung von Kindernorganisiert werden können.

Auf mittlere Sicht bedarf es darüber hinaus der Entwick-lung eines Systems externer Qualitätsprüfung von Tages-pflegestellen, um die erreichte Qualität für Eltern, Trägerund Öffentlichkeit nach außen auszuweisen und zugleichdie Grundlage für ein langfristiges Qualitätsmonitoringim Tagespflegesystem zu schaffen.

(3) Beim System der institutionellen Bildung, Betreu-ung und Erziehung von Kindern in Kindertageseinrich-tungen von der Geburt bis zum Schuleintritt handelt essich um ein großes System. Mit rund 3,1 Mio. betreutenKindern liegt die Zahl in derselben Größenordnung wie

Page 241: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 231 – Drucksache 15/6014

die Anzahl der Grundschüler/innen in Deutschland(3,2 Mio.). Gleichwohl steht die institutionelle Kinderta-gesbetreuung wie die Tagespflege vor quantitativen undqualitativen Herausforderungen.

Die institutionelle Kindertagesbetreuung ist durch eineheterogene Trägerstruktur gekennzeichnet, wobei sichdeutliche Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutsch-land ergeben. Die Dominanz der freien Träger, insbeson-dere der kirchlichen Träger in Westdeutschland, hat inOstdeutschland keine Entsprechung; andererseits ist derAnteil der freien Träger in Gestalt nicht-kirchlicher Wohl-fahrtsorganisationen dort von 4 Prozent im Jahr 1991 aufrund 40 Prozent im Jahr 2002 stark angewachsen.

Unterschiede ergeben sich auch bei den Einrichtungsfor-men. In Westdeutschland ist der Kindergarten mit Kin-dern von 3 Jahren bis zum Schuleintritt die nach wie vordominierende Einrichtungsform (74 Prozent gegenübernur 5 Prozent in Ostdeutschland). In Ostdeutschland sinddagegen 80 Prozent aller Einrichtungen sog. Kombi-Ein-richtungen, in denen auch jüngere Kinder (unter 3 Jahren)und/oder Kinder im Schulalter (Hort) betreut werden; esgibt allerdings keine statistischen Daten über die Alters-zusammensetzung in den Gruppen.

Rund 20 Prozent aller Einrichtungen praktizieren die in-tegrative Förderung von als behindert anerkannten Kin-dern. Bei stark rückläufiger Zahl der sonderpädagogi-schen Kindertageseinrichtungen ist die integrativeErziehung damit zum Regelfall geworden.

Die individuellen Zugangschancen zur institutionellenBildung, Betreuung und Erziehung von Kindern im vor-schulischen Alter sind in Deutschland sehr unterschied-lich. Dies gilt insbesondere für die unter 3-jährigen Kin-der, bei denen in den östlichen Bundesländern mit einerVersorgungsquote von 37 Prozent und in den Stadtstaatenmit 26 Prozent eine um ein Vielfaches höhere Platz-chance besteht als in den westlichen Bundesländern mit2,4 Prozent. Im Langzeitvergleich der 12 Jahre von 1990bis 2002 hat sich diese Versorgungsquote in den westli-chen Flächenländern kaum verändert.

Von regionalen Gegebenheiten und dem Alter der Kinderabgesehen, sind es die Faktoren der Familiensituation(Erwerbsstatus, Alleinerziehendenstatus), die den Einbe-zug eines Kindes in eine Kindertageseinrichtung beein-flussen, ebenfalls aber auch das Einkommen der Elternund ihr Bildungsstatus, wobei bei höherem Bildungssta-tus und höherem Einkommen sowohl bei Kindern imKindergartenalter als auch bei unter 3 Jahre alten Kinderndie Wahrscheinlichkeit einer Beteiligung an einer institu-tionellen Bildung, Betreuung und Erziehung wächst. DieTatsache, dass auch rund 10 Prozent der 5- und 6-jährigenKinder nicht am Bildungsangebot des Kindergartens teil-nehmen und Migrantenkinder ebenfalls leicht unterreprä-sentiert sind, bedarf zukünftig entsprechender Anstren-gungen in der Praxis, um als sozial benachteiligterkennbare Gruppen von Kindern möglichst früh und um-fassend zu fördern.

Speziell in Westdeutschland bedarf die institutionelleKindertagesbetreuung des Platzausbaus und Platzum-

baus. Unter der Voraussetzung einer leichten Absenkungdes durchschnittlichen Schuleintrittsalters von gegenwär-tig gut 6½ Jahren auf 6,0 Jahre sowie im Zusammenhangder prognostizierten Schrumpfung der Altersjahrgängewerden in Westdeutschland bis zum Jahr 2010 rund650 000 Kindergartenplätze frei. Dem steht ein geschätz-ter Mehrbedarf von 80 000 Plätzen bei der Altersgruppeder 3- bis 4-jährigen Kinder gegenüber. Es gibt damit eingroßes Potenzial an Plätzen, das sowohl zur Ausweitungder Plätze für unter 3-jährige Kinder als auch zur Um-wandlung von rund 250 000 Halbtagsplätzen in Kinder-gärten in Ganztagsplätze genutzt werden kann.

Die Bedeutung pädagogischer Qualität in der institutio-nellen Bildung, Betreuung und Erziehung ist für die För-derung von Kindern unter 3 Jahren wie auch für Kinderim Kindergartenalter international gut untersucht, zumTeil auch in Deutschland. Positive Förderungseffekte sindim kognitiv-sprachlichen wie auch im sozialen Bereich,aber auch später bei den Schulleistungen in der Grund-schule nachweisbar. Die frühe Gruppenbetreuung ist zwarmit einem erhöhten Erkrankungsrisiko von Kindern ver-bunden; im Wesentlichen scheint es sich dabei um „vor-gezogene“ Erkrankungen zu handeln. Eine frühe Förde-rung in qualitativ guten Kindertageseinrichtungen ab dem3. Lebensjahr erweist sich im Hinblick auf die kognitiv-sprachliche Förderung gegenüber den anderen Formender Bildung, Betreuung und Erziehung als überlegen. Un-ter dem Gesichtspunkt der Förderung der Kinder solltedaher für alle Kinder diese Förderoption offen stehen.

Kinder haben es im Laufe ihrer vorschulischen Biografiemit verschiedenen Orten der Bildung, Betreuung und Er-ziehung zu tun, eine Situation, die mit vielfältigen Über-gängen verbunden ist. Eine besondere Rolle spielt hierbeider Übergang in die Grundschule. Die Bewältigung derÜbergänge ist dabei nicht nur eine Frage an die Kompe-tenz des Kindes, sondern genauso eine Herausforderungan das gesamte System. Die flexible und individuelle Ge-staltung von Übergängen, der Einbezug und die Zusam-menarbeit aller maßgeblichen pädagogischen Akteurewie Eltern, Erzieherinnen und Erzieher sowie Lehrerin-nen und Lehrer, sind wichtige Voraussetzungen dafür,dass das Kind die mit dem Übergang und der neuen Situ-ation verbundenen Anforderungen als bildende Heraus-forderung erfahren kann.

Für die nach wie vor erforderliche Verbesserung pädago-gischer Qualität in den Kindertageseinrichtungen gibt esvielfältige Ansatzpunkte. Die gegenwärtig in der Fachdis-kussion vorfindbare Konzentration auf Rahmenrichtlinienund Curricula als Merkmale der Orientierungsqualität so-wie auf die Verbesserung der Qualifikation des Personalsdurch eine Anhebung der Ausbildung auf Hochschulni-veau als Merkmal der Strukturqualität sind wichtigeSchritte in die richtige Richtung, stellen aber zugleich fürsich genommen eine Engführung dar; sie sind eine not-wendige, aber keine hinreichende Maßnahme zur Quali-tätsverbesserung. Nachhaltige Qualitätsverbesserungenbedürfen unterschiedlicher, zeitgleicher Ansätze. Insbe-sondere muss hierbei auch die pädagogische Prozessqua-lität im Sinne der von den Kindern konkret erfahrenen

Page 242: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 232 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Förderungsanregungen sowie der Output, also der Bil-dungs- und Entwicklungsstand von Kindern in den Blickgenommen werden.

Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung bilden vordiesem Hintergrund eine weitere fachliche und gesell-schaftliche Herausforderung. Sie dürften am ehestendurch eine Kombination von Ansätzen zu erreichen sein:durch eine politisch verantwortete Sicherung guter Input-bedingungen (Sicherung von fachlich begründeten Stan-dards der Struktur- und Orientierungsqualität) und durchdie Feststellung tatsächlich erreichter Prozessqualität;durch ein gezieltes Qualitätsmanagement auf Seiten derEinrichtungen und Träger sowie durch eine unabhängigeQualitätsprüfung nach übergreifenden, bundeseinheitli-chen Standards. Letzteres sollte mit Außenausweis der er-reichten Qualität verbunden sein und genutzt werden alsInformation für Eltern, die Wahlentscheidungen für ihreKinder treffen müssen, für das pädagogische Personalund für Träger als Grundlage für Verbesserungen, für dieöffentliche Jugendhilfe als Grundlage eines Qualitätsmo-nitorings sowie für die Öffentlichkeit zur Rechenschafts-legung.

Der quantitative Ausbau und die qualitative Verbesserungder institutionellen Bildung, Betreuung und Erziehungsind mit Mehrkosten für die öffentliche Hand verbunden.Diese hängen vom jeweils angenommenen Szenarium ab.Bei einem Minimum-Szenarium mit 50 Prozent Ganz-tagsplätzen im Kindergartenbereich und Plätzen für20 Prozent der unter 3-jährigen Kinder würden sich ab2010 geschätzte Mehrkosten von 0,92 Mrd. Euro erge-ben, bei einem Maximum-Szenarium, das den Rechtsan-spruch auf einen Platz von Geburt an vorsieht – und da-mit einen nachfrageorientierten Bedarf erfüllt –geschätzte Mehrkosten von 2,9 Mrd. Euro für die öffentli-che Jugendhilfe. Die Kostenschätzungen für Qualitätsver-besserungen variieren je nach Ansatzpunkt und schwan-ken zwischen etwa 20 Mio. Euro für Maßnahmen, diesich auf die Verbesserung der Prozessqualität und ein ge-zieltes Qualitätsmanagement richten, und Maßnahmenzur Verbesserung der Strukturqualität in Form eines güns-tigeren Erzieher-Kind-Schlüssels, die im zugrunde geleg-ten Szenarium mit Mehraufwendungen von bis zu1,9 Mrd. Euro pro Jahr anzusetzen wären.

Unter dem Strich bleibt jedoch festzuhalten: Kosten-Nut-zen-Studien belegen den hohen volkswirtschaftlichenNutzen von Investitionen in den Ausbau und die Qualitätdes Systems von Bildung, Betreuung und Erziehung fürKinder sowie in deren Förderung und Entwicklung. Vondaher lohnt es sich, die erforderlichen gesellschaftlichenRessourcen für die Bildung, Betreuung und Erziehungvon Kindern von Anfang an im frühen Kindesalter als Zu-kunftsinvestitionen zu mobilisieren.

6 Bildungsangebote im SchulalterGemäß § 84 Abs. 1 SGB VIII hat die Bundesregierung injeder Legislaturperiode dem Deutschen Bundestag unddem Bundesrat einen Bericht vorzulegen, der u. a. über„die Bestrebungen und Leistungen der Jugendhilfe“ Aus-kunft gibt. In Anbetracht dieser Ausgangslage waren die

bisherigen Kinder- und Jugendberichte immer auch mehroder minder deutlich Jugendhilfeberichte. Auch dieserBericht sieht sich dieser Tradition verpflichtet. Und den-noch setzt er zwei Akzente, die diesen Zugang etwas an-ders akzentuieren – diese seien zu Beginn dieses Kapitelsnochmals ausdrücklich genannt: Zum einen versucht erdie biografische Seite von Bildung, Betreuung und Erzie-hung und damit die reale Bildungsbiografie von Kindernund Jugendlichen hervorzuheben; und diese kann selbst-verständlich auch jenseits der Kinder- und Jugendhilfebzw. bei nur partieller Berührung mit ihren Angebotenverlaufen. Zum anderen versucht der Bericht ohne Ein-schränkungen die Vielfalt möglicher Orte und Gelegen-heiten von Bildung, Betreuung und Erziehung sichtbar zumachen und gezielt ins Blickfeld zu rücken; damit kommtdie Kinder- und Jugendhilfe zwar von ganz alleine insSpiel, jedoch umgeben von anderen Angeboten und Gele-genheiten.

Versucht man vor diesem Hintergrund die Bildungsange-bote im Schulalter zu identifizieren, so lassen sich drei„Sorten“ von Bildungsangeboten unterscheiden: die Kin-der- und Jugendhilfe, die Schule selbst sowie andere,nicht diesen beiden Akteursgruppen zuzurechnende Lern-welten, die auch privatgewerblich angeboten werden kön-nen. Diesen drei Bildungsorten und Lernwelten geht dasnachfolgende Kapitel jeweils gesondert nach (vgl. dieAbschnitte 6.1, 6.2 und 6.3). Da es nach Überzeugung derKommission eine entscheidende Zukunftsfrage sein wird,inwieweit es gelingt, die bislang eher separierten Ange-bote öffentlich verantworteter Bildung, Betreuung undErziehung in eine geregelte Kooperation zu überführen,in der die Angebote die in ihnen liegenden Möglichkeitenim Zusammenspiel besser entfalten können, stellt sichinsbesondere für das Verhältnis von Jugendhilfe undSchule die Frage, unter welchen Voraussetzungen diesesnicht immer unbelastete Verhältnis zu einer fruchtbarenKooperation weiterentwickelt werden kann; das setzt diegenaue Kenntnis der gegenwärtigen Gemeinsamkeitenund Unterschiede voraus (vgl. Abschnitt 6.4). Darauf auf-bauend lässt sich das gegenwärtige „Projekt Ganztags-schule“ als ein Versuch interpretieren, diese Kooperationvoranzutreiben, ein Versuch, der gegenwärtig von der Po-litik her auf unterschiedlichen Ebenen deutlichen Rü-ckenwind erfährt, der aber nicht vorschnell zur alleinigenoder eindeutig besten Variante der Kooperation stilisiertwerden sollte (vgl. Abschnitt 6.5).

Wenn nachfolgend die Kinder- und Jugendhilfe, entspre-chend dem Berichtsauftrag, einen gewissen Schwerpunkteinnimmt – vor allem im Verhältnis zur Schule –, so heißtdas nicht, dass hierbei die gesamte Kinder- und Jugend-hilfe thematisiert wird. Während das größte Arbeitsfeldder Kinder- und Jugendhilfe, die Kindertageseinrichtun-gen bis zum Beginn der Schulpflicht, im Kapitel 5 bereitsbehandelt worden ist, stehen von den anderen Arbeitsfel-dern nachfolgend lediglich die drei ausgewählten Berei-che der Kinder- und Jugendarbeit (vgl. Abschnitt 6.1.1),des Horts (vgl. Abschnitt 6.1.2) und der schulbezogenenJugendsozialarbeit (vgl. Abschnitt 6.1.3) im Mittelpunkt.Alle anderen Bereiche, beispielsweise die Hilfen zur Er-

Page 243: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 233 – Drucksache 15/6014

ziehung, das Jugendamt, die Jugendberufshilfe, werdendemgegenüber hier nicht eigens verfolgt.

Allein dieser Zuschnitt bedeutet, dass nur ein vergleichs-weise kleiner Ausschnitt der gesamten Kinder- und Ju-gendhilfe hier ins Blickfeld gerät. In Zahlen ausgedrückt:Während in der gesamten bundesdeutschen Kinder- undJugendhilfe gegenwärtig knapp 490 000 Personen fach-spezifisch erwerbstätig sind (ohne Verwaltungskräfteusw.) – allein rund 310 000 von ihnen in den Bereichender Tageseinrichtungen für Kinder, die bereits in Kapi-tel 5 behandelt worden sind –, können den hier zur De-batte stehenden Bereichen rund 70 000 Fachkräfte zuge-rechnet werden. Schon dies markiert ein Dilemma: dassin der Frage der künftigen Kooperation von Jugendhilfeund Schule nicht vorschnell eine Gleichheit der Ressour-cen unterstellt werden darf. Geht man davon aus, dass imallgemein bildenden Schulsystem einschließlich der Son-derschulen zurzeit ungefähr 676 000 Teil- und Vollzeit-Lehrkräfte beschäftigt sind (ohne stundenweise Beschäf-tigte), so heißt das, dass sich hier ein Personenpotenzialim Verhältnis von rund 1 : 10 gegenübersteht. Schon diesmacht deutlich, dass die Fragen einer möglichen Koope-ration vielschichtiger sind, als sie auf den ersten Blick er-scheinen mögen.

Der Kommission war es darüber hinaus wichtig, Lernortevon Kindern und Jugendlichen ins Blickfeld zu rücken,die bislang in entsprechenden Berichten wenig bis garkeine Aufmerksamkeit erlangt haben, sei es, weil sieübersehen, als irrelevant betrachtet wurden, sei es, weilsie als privatgewerblich in ihrer möglichen Wirkung un-terschätzt wurden. Die Kommission lässt sich in diesemPunkt jedoch von der Annahme leiten, dass nicht dieRechtsform darüber entscheidet, ob und inwieweit Lern-orte für Kinder und Jugendliche relevant sind. Deshalbwurden in diesen Bericht alle Bildungsorte und Lernwel-ten aufgenommen, von denen am ehesten angenommenwerden kann, dass sie für einen Teil der Kinder und Ju-gendlichen für das Aufwachsen von Belang sein können.Daraus ist zwar kein erschöpfender Katalog, wohl abereine exemplarische Topografie sonstiger Lernwelten ent-standen, die dafür sensibilisieren soll, dass alle bildungs-relevanten Bildungsorte und Lernwelten künftig einerverstärkten Beobachtung und Diskussion bedürfen, wennihre Bildungspotenziale besser ausgeschöpft werden sol-len.

6.1 Bildungsaufgaben der Kinder- und Jugendhilfe – Jugendarbeit, Hort und schulbezogene Jugendsozialarbeit zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Die erfolgreiche Bewältigung der Aufgabe, sich selbstzu anderen in Beziehung zu setzen, mit sich selbst um-gehen zu können und Vertrauen in das eigene Handelnund Denken, die eigene Meinung und Wirksamkeit zuentwickeln, wird zu einer zentralen Entwicklungsleis-tung im Lauf des Schulalters. Die damit verbundenenAnforderungen an Identitätsbildung und flexible Verän-derungsfähigkeit sind jedoch keineswegs auf diese Le-bensphase beschränkt, sondern gelten mit zunehmender

Bedeutung auch für Erwachsene, wollen sie in einer in-dividualisierten, pluralisierten und globalisierten Gesell-schaft und Arbeitswelt bestehen können. Diese objektivwichtiger werdenden Kompetenzen werden nach allem,was man derzeit weiß, überwiegend an nicht-schuli-schen Bildungsorten und Lernwelten erworben; die Ver-mittlung sozialer und personaler Kompetenzen wird inder Unterrichtsschule allenfalls am Rande tangiert. ImZuge gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse wer-den biografische Verläufe zunehmend durch Bildungs-verläufe geformt. „Zugespitzt kann man heute sagen:Der Zugang zu den Bildungseinrichtungen ist nicht al-lein ein Tor zu gesellschaftlicher Teilhabe, sondernselbst ein wesentlicher Bereich derselben“ (Baethge/Kupka 2004, S. 95). Das heißt: Die Bedeutung von Bil-dung – der Erwerb umfassender Kompetenzen ebensowie formaler Abschlüsse – steigt. Dies gilt sowohl imHinblick auf individuelle Chancengleichheit und gesell-schaftliche Teilhabe als auch gesellschaftlich im Hin-blick auf die Sicherung notwendiger Humanressourcen.Allerdings entfalten sich die individuellen Prozesse desKompetenzerwerbs sehr stark nach den Mustern sozia-ler Ungleichheit.

Aus den unter einer Bildungsperspektive rekonstruiertenVerläufen des Aufwachsens wurde deutlich (vgl. Kapi-tel 4), dass Angebote und Einrichtungen der Kinder- undJugendhilfe nicht unerheblich an den Bildungsverläufenvon Kindern und Jugendlichen im Schulalter beteiligtsind. Erkennbar wurden aber auch Konstellationen reali-sierter bzw. verhinderter Bildungsmöglichkeiten, die we-sentlich zum Gelingen oder zum Scheitern von Biogra-fien beitragen können. Zu untersuchen ist deshalb in einerDarstellung der Leistungen und der Bestrebungen derKinder- und Jugendhilfe, welche Bedeutung ihren Bil-dungsangeboten angesichts dieser Problematik zu-kommt. Inwieweit berücksichtigen die Angebote diesenBildungsbedarf, nehmen ihre konzeptionellen Entwürfehierauf Bezug und welche konkreten Handlungskonstel-lationen begünstigen die Aneignung dieser Kompeten-zen?

Auftrag und Anspruch der Kinder- und Jugendhilfe sindunstrittig. Sie soll und will zur Förderung der Persönlich-keitsentwicklung beitragen, also Bildungsprozesse initiie-ren und befördern. Die Kinder- und Jugendhilfe hat„durch geeignete Angebote dem Recht junger Menschenauf Förderung ihrer Entwicklung und auf Erziehung zueigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persön-lichkeiten“ (§ 1 Abs. 1 SGB VIII) Ausdruck zu verleihen.Sie soll junge Menschen in ihrer individuellen und sozia-len Entwicklung fördern, dazu beitragen, Benachteiligun-gen zu vermeiden oder abzubauen (§ 1 Abs. 3 Satz 1 SGBVIII), und positive Lebensbedingungen für junge Men-schen und ihre Familien sowie eine kinder- und familien-freundliche Umwelt erhalten oder schaffen (§ 1 Abs. 3Satz 4 SGB VIII). Alle Leistungen sollen interkulturellausgerichtet sein sowie Mädchen und Jungen in spezifi-scher Weise fördern (§ 9 Abs. 3 SGB VIII).

Allein die Reklamation oder Zuschreibung einer Bil-dungsaufgabe sagt zunächst noch nichts darüber aus, in-wieweit dieser Anspruch auch tatsächlich eingelöst wird

Page 244: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 234 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

bzw. unter gegebenen Bedingungen eingelöst werdenkann. Trägt der jeweilige Bildungsaspekt zur Breite undVielfalt des Kompetenzerwerbs bei und kann er ausglei-chend oder kompensierend fungieren in Bezug auf die un-gleichen sozialen Bildungschancen von Kindern und Ju-gendlichen?

Im gesamten Leistungsspektrum der Kinder- und Jugend-hilfe sind die Leistungen Jugendarbeit (§§ 11, 12 SGBVIII), Hort (§ 22 SGB VIII) und Jugendsozialarbeit (§ 13SGB VIII) diejenigen, die unmittelbar mit Bildungsauf-gaben im Zusammenhang stehen, allerdings auf jeweilsspezifische Zielgruppen sowie Bedarfs- und Interessenla-gen hin ausgerichtet sind. Sie werden im Folgendendaraufhin befragt, wie ihr Verhältnis zur Bildung zu be-stimmen ist, welchen Beitrag sie zur Bildung junger Men-schen leisten, auf welcher rechtlichen Grundlage, mitwelchen Konzeptionen, im Rahmen welcher organisatori-schen Merkmale, mit welcher Ausstattung und welcheninhaltlichen Schwerpunkten dies geschieht.

Die nachfolgenden Abschnitte untersuchen deshalbexemplarisch für die Kinder- und Jugendhilfe, die Ju-gendarbeit, die Horte und die schulbezogene Jugendso-zialarbeit als Bildungsorte daraufhin, welchen Beitrag sieleisten können mit Blick auf die individuellen und gesell-schaftlichen Anforderungen, Bildung in einem umfassen-den Sinne und unter dem Gesichtspunkt der sozialenChancengerechtigkeit neu zu definieren, gesellschaftlichanders zu gewichten und zu organisieren.

In einem ersten Schritt wird jeweils gefragt, welche ge-setzlichen Aufträge und Aufgabenstellungen, welchekonzeptionellen Ansprüche in den Bereichen selbst undwelche gesellschaftlichen Erwartungen diese Leistungs-bereiche kennzeichnen. Welche Ziele, Ansprüche undSchwerpunkte sind charakteristisch für diesen Bildungs-bereich? Welche Bedeutung kommt ihrem Bildungspro-gramm hinsichtlich der subjektiven Aufgabe zu, sich imRahmen der Weltbezüge Kompetenzen anzueignen undLeben zu lernen?

Die institutionelle Struktur dieses Handlungsfeldes, alsoseine rechtlichen, finanziellen und personellen Rahmen-bedingungen und seine charakteristischen Organisations-merkmale, sind ein zweiter Bezugspunkt zur Darstellungder Bildungsrealität. Denn Bildung realisiert sich immerunter spezifischen Rahmenbedingungen, die sich nebenden Zielen und Ansprüchen der unmittelbar agierendenPersonen als ein eigenes Moment der Bildungssituationerweisen. Inwieweit stellen diese Potenziale oder Schwä-chen dar im Hinblick auf die Aufgabenstellung, breitenKompetenzerwerb für viele Kinder und Jugendliche zuermöglichen?

Drittens können Bildungsprogramme nur genutzt undwirksam gemacht werden, wenn eine gewisse Struktur-qualität gegeben ist. Daten zu Einrichtungs- und Platz-zahlen, Personalschlüssel, sozialräumlicher Versorgungs-dichte und die Höhe der Pro-Kopf-Förderung sinddeshalb wichtige Bezugsgrößen dafür, ob das Bildungs-angebot vorhanden und für die Adressaten erreichbar ist.

Viertens und nicht zuletzt sind Bildungsangebote auchunter dem Aspekt zu beurteilen, ob und wie sie sich imDenken und Handeln der Adressaten wiederfinden. Aller-dings ist die Datenlage hierzu insgesamt mehr als unzu-länglich. Auf Bildungsleistungen kann angesichts der em-pirischen Ausgangslage überwiegend nur auf Umwegengeschlossen werden, indem auf Nutzungsdaten zurückge-griffen wird oder Einzelstudien zur biografischen Bedeut-samkeit herangezogen werden.

6.1.1 Jugendarbeit

Jugendarbeit ist einer der Leistungsbereiche der Kinder-und Jugendhilfe, der, sowohl vom Selbstverständnis alsauch vom gesetzlichen Auftrag her betrachtet, unmittel-bar mit Bildung zusammenhängt. Wenn man von Jugend-arbeit redet, muss man von Anfang an im Blick behalten,dass es hierbei im Kern um zwei gänzlich unterschiedli-che Organisationsformen handelt: auf der einen Seite dietraditionsreiche Form der ehrenamtlich organisierten Ju-gendarbeit in Jugendverbänden, auf der anderen Seite dasseit den 1970er-Jahren stark ausgebaute Netz der beruf-lich organisierten Jugendarbeit, die häufig an der Formder „offenen Jugendarbeit“ festgemacht, aber keineswegs– wie oft fälschlicherweise angenommen – überwiegendoder gar ausschließlich in kommunaler Trägerschaft an-geboten wird.

6.1.1.1 Bildungsauftrag und Bildungsansprüche

(a) Bildung in der gesetzlichen Aufgaben-beschreibung der Jugendarbeit

Folgt man dem Kinder- und Jugendhilfegesetz, so hat dieJugendarbeit einen eindeutigen Bildungsauftrag. Es istunmittelbare Aufgabe der Jugendarbeit, die Entwicklungjunger Menschen zu fördern, indem die erforderlichenAngebote der Jugendarbeit zur Verfügung gestellt wer-den. „Jugendarbeit ist damit Teil einer staatlichen Förde-rung, die auf die Sicherung ausreichender Rahmenbedin-gungen für ein gelingendes Aufwachsen abzielt“ (Münderu. a. 1998, S. 163). Anknüpfend an ihre Interessen sollendiese Angebote von Kindern und Jugendlichen mitbe-stimmt und mitgestaltet werden. Sie sollen zur Selbstbe-stimmung befähigen, zur gesellschaftlichen Mitverant-wortung und zu sozialem Engagement hinführen (§ 11Abs. 1 SGB VIII). Außerdem soll Jugendarbeit darauf ab-zielen, positive Lebensbedingungen für junge Menschenherzustellen; sie soll sich interkulturell ausrichten sowieMädchen und Jungen in spezifischer Weise fördern(Rückbezug auf § 1 Abs. 3 Nr. 3 und 4 und § 9 Abs. 3SGB VIII).

Zusammengefasst besteht der gesetzliche Auftrag darin,die Entwicklung junger Menschen durch Angebote zufördern, die sich, kleinräumig und lebensweltorientiertausgerichtet, an der Gestaltung des Alltags junger Men-schen beteiligen. Diese gesetzliche Ziel- und Aufgaben-formulierung skizziert die wesentlichen Merkmale einerbildungsorientierten Jugendarbeit (Sturzenhecker 2004,S. 151):

Page 245: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 235 – Drucksache 15/6014

– Der Angebotscharakter als Voraussetzung für die Ent-wicklung eigenständiger Selbstbestimmung wird her-vorgehoben;

– Die Interessenorientierung bezieht sich ebenso auf dieInhalte der Jugendarbeit wie auf ihre Umsetzungdurch Mitbestimmung und Mitgestaltung.

– Mit dem Gleichklang von Selbstbestimmung und ge-sellschaftlicher Mitverantwortung werden „klassischeFormulierungen eines emanzipatorischen Bildungs-konzepts aufgegriffen“ (Sturzenhecker 2004, S. 152).

Folgt man dem Gesetz, so sollen diese allgemeinen Ziel-setzungen anhand folgender Schwerpunkte bearbeitetwerden (vgl. § 11 Abs. 3 SGB VIII):

– außerschulische Jugendbildung mit allgemeiner politi-scher, sozialer, gesundheitlicher, kultureller, natur-kundlicher und technischer Bildung,

– Jugendarbeit in Sport, Spiel und Geselligkeit,

– arbeits-, schul- und familienbezogene Jugendarbeit,

– internationale Jugendarbeit,

– Kinder- und Jugenderholung,

– Jugendberatung.

Mit diesen Schwerpunkten hat der Gesetzgeber die als an-erkannt geltenden Bereiche benannt, in denen Jugendar-beitspraxis stattfindet. Dieser Katalog stellt allerdingskeinen abschließenden Kanon vergleichbar mit schuli-schen Lehrplänen dar. Er verdeutlicht aber den breitenund umfangreichen Bildungsauftrag, der der rechtlichenAufgabenbeschreibung der Jugendarbeit zugrunde liegt.

Mit dem Schwerpunkt der schulbezogenen Jugendarbeit(§ 11 Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII) wird auf Angebote der Ju-gendarbeit Bezug genommen, die außerhalb des Unter-richts projektbezogene Bildungs- bzw. Freizeitangeboteo.Ä. in der Schule bereithalten (Münder u. a. 1998,S. 166). „Mit dem Begriff ‚außerschulisch’ wird sowohlauf einen institutionellen Bezugsrahmen abgestellt alsauch klargestellt, dass Bildung nicht allein das Privilegder Schule ist“ (ebd.). Das heißt, an dieser Stelle werdender Jugendarbeit über den allgemeinen Bildungsauftraghinaus unmittelbar eine Bildungsfunktion und ein Bezugzur Schule zugewiesen. Ihr Bildungsauftrag ist von dem-jenigen der Schule jedoch unterscheidbar und insofern ei-genständig (ebd., S. 164; Wiesner u. a. 2000, S. 167).

Der bundesrechtliche Rahmen wird in einigen Bundeslän-dern durch landesgesetzliche Regelungen, die als Ausfüh-rungsbestimmungen bestehen, ausgefüllt. Sie nehmen un-mittelbar Bezug auf § 11 SGB VIII, indem sie die dortformulierten Ziele aufgreifen und überwiegend in dieserallgemeinen Form belassen. Der Bildungsauftrag der Ju-gendarbeit wird auch hier im Wesentlichen darin gesehen,zu Eigenverantwortlichkeit, gesellschaftlichem und poli-tischem Handeln zu befähigen. So definiert z. B. dasLand Baden-Württemberg den Begriff der „außerschuli-schen Jugendbildung“ in seinem „Jugendbildungsgesetz“folgendermaßen: „Die außerschulische Jugendbildung istein eigenständiger und gleichberechtigter Teil des gesam-

ten Bildungswesens (§ 1 Abs. 1 JBG 1996) mit den Prin-zipien Freiwilligkeit, Vielfalt der Zielgruppen und Le-benswelt- und Bedürfnisorientierung, deren Aufgabenund Ziele für die Jugendarbeit in § 11 SGB VIII formu-liert sind“ (Landtag von Baden-Württemberg, Drs. 13/3365, S. 3).

Ebenso finden sich die Schwerpunkte der Jugendarbeit(§ 11 Abs. 3 SGB VIII) im Großen und Ganzen in denAusführungsbestimmungen der Länder wieder, entwederals Förderschwerpunkte oder als Maßnahmenkategorien.Einige Regelungen ergänzen diese oder setzen andere in-haltliche Akzente mit Themen wie „Ökologie“, „Toleranzgegenüber anderen Kulturen“, „Kritikfähigkeit“, „Krea-tivität“ oder „Engagement für Frieden und Gewaltfrei-heit“. Insgesamt fokussieren sowohl das Bundesgesetz alsauch die Landesausführungsgesetze den Bildungsauftragauf Förderung der Persönlichkeitsentwicklung mit demZiel, zu Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Teil-habe zu befähigen. Diese wird verstanden als sozialesEngagement, Mitbestimmung und Mitgestaltung desGemeinwesens. Ausgehend von diesen Bildungszielenerweist sich die „Befähigung zur Teilnahme an Prozessender politischen Willensbildung, Interessenartikulationund Entscheidungsfindung“ (Scherr 2004, S. 167) alsKern- und Querschnittsaufgabe für alle Bereiche der Ju-gendarbeit.

(b) Konzeptionelle Entwürfe von Bildung

Historisch betrachtet wird spätestens mit der so genann-ten „Erklärung von St. Martin“ im Jahr 1962 Bildung zueinem Kernpunkt des Selbstverständnisses der Jugendar-beit. Diese Erklärung gilt insofern als Wendepunkt in derprogrammatischen Diskussion der Jugendverbände, alssie die so genannte „vergesellschaftete Jugendarbeit“ alsneues Leitbild hervorgebracht hat. Nicht mehr das „auto-nome Jugendreich“ in der Tradition der Jugendbewegungwird angestrebt, sondern die Jugendverbände „sehen ihrAufgabenfeld im außerschulischen Erziehungs- und Bil-dungsbereich. Sie erfüllen bewusst eine ergänzende Er-ziehungsfunktion neben Elternhaus und Schule“ (Deut-scher Bundesjugendring 1962, zit. n. Münchmeier 1991,S. 90). Theoretisch-konzeptionell wird dieses Selbstver-ständnis aufgegriffen und ausbuchstabiert unter der Fra-gestellung, was Jugendarbeit ist (Müller u. a. 1964).Diese „Vier Versuche einer Theorie der Jugendarbeit“können aus heutiger Sicht als ein Beleg für eine „genuineBildungstradition“ (Scherr 2002, S. 98) angesehen wer-den.

Jugendarbeit sieht sich allerdings häufig wechselnden ju-gendpolitischen Erwartungen, Funktionszuschreibungenund Themenkonjunkturen ausgesetzt, z. B. der Vermei-dung sozialer Abweichung, der Gewährleistung von Er-ziehungs- und Betreuungsaufgaben oder der Darbietungkonsumeristischer Dienstleistungen (Sturzenhecker 2004;Hornstein 2004; Scherr 2002). Diese Zuschreibungenbringen Jugendarbeit regelmäßig in Legitimations- undBegründungszwänge gegenüber den öffentlichen Zuwen-dungsgebern, so dass ihre „eigentlichen“ Aufgaben, dieBeförderung von Selbstbestimmung und Verantwortung

Page 246: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 236 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

von Kindern und Jugendlichen, leicht in den Hintergrundgeraten bzw. nicht überzeugend dargestellt werden kön-nen. Ihr traditioneller Kern, konzentriert um die Ideenvon Emanzipation und politischer Bildung, wurde des-halb häufig durch Konzepte verdeckt, die einen anderenkategorialen Bezugsrahmen formulieren. Konzepte derLebensbewältigung, der Sozialraumorientierung, der An-eignung, der Kulturarbeit und der Beziehungsarbeit set-zen nicht in erster Linie bildungstheoretisch begründeteAkzente. Angesichts einer solchen Situation mag es nichtsonderlich überraschen, wenn der aktuellen Jugendarbeits-praxis eine gewisse Bildungsignoranz bescheinigt wird(Sturzenhecker 2004, S. 153). Die ihr eigenen Traditions-linien sowie aktuelle Theorieentwürfe verdeutlichen al-lerdings, dass trotz unterschiedlicher Begrifflichkeitenund zeitweiliger anderer Akzentsetzungen Bildungspro-zesse letztlich im Zentrum der Jugendarbeit stehen.

Die begrifflichen Korrelate einer solchen bildungstheore-tisch orientierten Konzeptionalisierung von Jugendarbeitsind „Aneignung“, „Anerkennung“ und „Subjektorientie-rung“ (Sturzenhecker 2002; Scherr 1997). Zur Subjektbil-dung in einem emanzipatorischen Sinne ist die Herausbil-dung von sozialer Anerkennung notwendig, damitSelbstachtung, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmungerreicht werden. Auch Mädchen- und Jungenarbeit basie-ren auf der Bildungsidee selbst bestimmter Entwicklungvon Geschlechtsidentität in Freiräumen, die traditionelleRollenmuster überschreiten helfen (Graff 2004). Bildungwird verstanden als Selbstbildung von Subjekten; sie be-deutet, „die emotionalen Tiefendimensionen von Lebens-sinn und Identität zu berücksichtigen“ (Scherr 2003,S. 99).

Übergeordnetes Ziel ist die Handlungsfähigkeit des Sub-jekts und, damit verbunden, Lebensbewältigung (Lindner2003; Münchmeier 2003), wobei es darum geht, „dassMenschen Möglichkeiten finden, sich in ihren gegebenen– und vielleicht zu verändernden – Verhältnissen als Sub-jekte ihres Lebens zu erfahren“ (Thiersch 2002, S. 67).Jugendarbeit orientiert sich deshalb zum einen an indivi-duellen Erfahrungen und Erwartungen, zum anderen anden (kollektiven) Lebenslagen junger Menschen. Sie be-gleitet gewissermaßen die Jugendphase als einen persona-len, sozialen, zuweilen auch sozialräumlichen Prozess derBewältigung, also des allmählichen Selbst-Werdens. Mitdem Konzept der Aneignung wird herausgearbeitet, dassder sozialräumliche Lebensort als Lern- und Bildungsortgenutzt werden kann, der anders als formale Bildungsin-stitutionen zur eigentätigen Auseinandersetzung auffor-dern kann (Deinet 2002, 1999).

Zusammengefasst dreht sich der aktuelle konzeptionelleDiskurs um eine Figur von Bildung als subjektiver An-eignung, als eigensinnigem Prozess. Damit wird eine Dif-ferenz betont zu einer Vorstellung von Bildung als Wis-senserwerb in formalen Organisationen, als Erwerblediglich kognitiver und technisch-instrumenteller Kom-petenzen. Bildung ist demgegenüber dem Prozess derPersönlichkeitsentwicklung immanent, der u. a. durch Ju-gendarbeit befördert werden kann. Ziel dieser Förderungist die Befähigung zu selbst bestimmter Lebensführungund zu sozialer Eingebundenheit und Verantwortung.

Ausgangspunkt ist der junge Mensch in seinen Verhält-nissen, seinen jeweils individuellen Lebensbedingungen.Diese sollen durch Bildung als Vermittlung von Selbst-achtung und Reflexion erkannt und verändert werden.Bildung vollzieht sich im Wesentlichen als aktiver Pro-zess der Aneignung und der Auseinandersetzung, derSelbsttätigkeit im Kontext unmittelbarer Erfahrung.Durch personale Beziehungen, durch Gelegenheitsstruk-turen und Freiräume werden Bildungsprozesse herausge-fordert und unterstützt.

Deutlich wird damit, dass Jugendarbeit – gemessen an ih-ren Selbstansprüchen und ihrer gesetzlichen Grundlage –unmittelbar an einer Idee von Bildung ausgerichtet ist, diedem Prozess der als Emanzipation gedachten Subjektwer-dung in sozialen und gesellschaftlichen Bezügen gilt. Ju-gendarbeit hat eine Bildungsfunktion außerhalb derSchule, mit einem eigenständigen und auf einem breitenBildungsverständnis basierenden Auftrag, mit eigenenMethoden und Inhalten. Nicht zu verkennen ist aller-dings, dass trotz dieser eindeutigen „Auftragslage“ in denzurückliegenden Jahrzehnten häufig auch andere konzep-tionelle Diskurse und Selbstthematisierungen die Jugend-arbeit prägten, die, allgemein gesprochen, den Dienstleis-tungscharakter im Kontext sozialer Infrastrukturen undBedarfslagen hervorgehoben haben. Dabei entwickeltesich eine Jugend(förder)politik und in der Folge eine Ju-gendarbeitspraxis, die häufig sozialpädagogische Hilfenfür Benachteiligte und spezifische Präventionsleistungengegenüber der allgemeinen Förderung der Persönlich-keitsentwicklung stärker in den Vordergrund rückte.

Bildung gehört jedoch, anders als andere Themen, zumunabdingbaren Kern der Jugendarbeit. In der aktuellenSituation, in der öffentliche Aufgabenzuschreibung undLeistungserwartung zumindest den Worten nach mit demtraditionellen Selbstverständnis der Jugendarbeit und ih-rer eigentlichen Aufgabenstellung zusammenfallen, stelltsich für sie deshalb die Aufgabe, sich ihrer eigenen Bil-dungsaufgaben zu vergewissern, sich neu zu positionie-ren und ihr konzeptionelles Profil zu entwickeln, das denaktuellen Anforderungen gerecht wird. Wesentliche Mar-kierungspunkte eines solchen Bildungsprofils lassen sichin erster Linie in den Dimensionen der sozialen und derpersonalen Weltbezüge festmachen (vgl. Kapitel 2).

6.1.1.2 Organisatorische RahmenbedingungenDie spezifischen institutionellen Merkmale eines Feldesnehmen als Kontext- und Inputvariable wesentlich Ein-fluss auf die Gestaltbarkeit und die Effekte von Bildungs-situationen. Hierzu gehören die verantwortlichen Akteure(Träger) ebenso wie die einzelnen Bildungsorte (Einrich-tungen), aber auch die rechtlichen Rahmenbedingungen,die über die Organisationsziele hinaus den Handlungsrah-men abstecken, sowie die finanzielle und personelle Aus-stattung. Dies gilt auch für die Jugendarbeit.

(a) Träger- und Einrichtungsstrukturen

Wie die Kinder- und Jugendhilfe insgesamt, so ist auchdie Jugendarbeit plural organisiert und spiegelt damit dieBreite der gesellschaftlichen Zivilakteure wieder. Ver-schiedene Träger, Institutionen, Organisationen und Ein-

Page 247: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 237 – Drucksache 15/6014

richtungen der Jugendarbeit bieten Bildungsorte undLernwelten, die sich in der inhaltlich-weltanschaulichenEinbindung und der damit gegebenenfalls verbundenennormativen Ausrichtung der Bildungsangebote genausounterscheiden können wie in der räumlichen Reichweiteder Institutionen und Träger. Diese reichen von örtlichen,häufig selbst organisierten Initiativen bis hin zu bundes-weit agierenden Akteuren. Jugendverbänden, Jugend-gruppen und Jugendinitiativen sowie Jugendringen wirdin dem Trägerspektrum der Jugendarbeit außerdem einegewisse hervorgehobene Bedeutung zugeschrieben (§ 12SGB VIII), weil sie „wie kaum ein anderer Zusammen-schluss von jungen Menschen selbst organisiert sind –und in denen die inhaltliche Arbeit von diesen entschei-dend geprägt wird“ (Münder 1998, S. 168).

Diese Vielfalt ist ein wesentliches Gestaltungsprinzip ins-besondere der Jugendarbeit, weil sie, eingebunden in einebedarfsorientierte Planung, dem Wunsch- und Wahlrechtder Adressaten und dem Selbstorganisationsanspruch jun-ger Menschen Ausdruck verleiht (§ 3 Abs. 1 und § 5 SGBVIII). Insoweit ist sie erforderlich für eine adressaten-bzw. lebenslagenbezogene Angebotsstruktur für Kinderund Jugendliche (Bissinger u. a. 2002, S. 11).

Ein typisches, vor allem im Vergleich zur Schule wich-tiges Organisationsmerkmal ist die Bedeutung der freienTräger. Den Trägern der freien Jugendhilfe (Kirchen,Wohlfahrtsverbänden, Jugendverbänden, Initiativen) stehtein Vorrang gegenüber den öffentlichen zu (vgl. § 3 Abs. 2in Verbindung mit § 4 Abs. 1 und 2 SGB VIII), der ein in-haltlich-weltanschaulich plurales Spektrum von Program-men befördern sowie insbesondere auch lokale Initiativenermöglichen soll. Diese Trägerstruktur findet ihren Nie-derschlag in der Angebotsstruktur der Jugendarbeit und inihrer personellen Ausstattung (vgl. Tab. A-6.1 und A-6.2im Anhang).221

Rund 80 Prozent aller öffentlich geförderten Maßnahmenwerden durch freie Träger durchgeführt, die gut drei Vier-tel aller Teilnehmer/innen erreichen (vgl. Tab. A-6.1 imAnhang). Im Ost-West-Vergleich wird deutlich, dass beider Durchführung öffentlich geförderter Maßnahmen dieGewichtung öffentlicher und freier Träger zumindest an-nähernd übereinstimmt. Doch schon bezogen auf das Bin-nenspektrum der freien Träger zeigen sich erhebliche

Differenzen. Da Jugendverbände in den neuen Bundes-ländern nicht in gleicher Breite Fuß fassen konnten wie inden alten Bundesländern, haben sie dort als Träger vonMaßnahmen einen deutlich geringeren Stellenwert. Dem-gegenüber sind sonstige freie Träger wesentlich stärkerverbreitet.

Wechselt man die Perspektive auf die Ebene von Einrich-tungen und tätigen Personen, so ist für Westdeutschlandanzunehmen, dass jeweils rund 55 Prozent den freien Trä-gern zuzuordnen sind (vgl. Tab. A-6.1 im Anhang). Fürden Osten Deutschlands liegt der Anteil der freien Trägerweitaus höher. Knapp 70 Prozent der Einrichtungen sindin freier Trägerschaft, und drei von vier Beschäftigten ar-beiten in diesen Einrichtungen (75 Prozent). Ähnlich wieschon bei den durchgeführten Maßnahmen zeigen sich imOst-West-Vergleich erhebliche Unterschiede beim Bin-nenspektrum der freien Träger. Zu nennen sind beispiels-weise

– zum einen die weitaus geringere Bedeutung sowohlder evangelischen als auch der katholischen Kirche so-wie der entsprechenden Wohlfahrtsverbände im OstenDeutschlands,

– zum anderen eine erheblich größere Bedeutung vonEinrichtungen wie Beschäftigten in Trägerschaft desParitätischen Wohlfahrtsverbandes.

Es wird somit offensichtlich, dass sich in den neuen Län-dern – bezogen auf die Kinder- und Jugendarbeit – eineTrägerlandschaft herausgebildet hat, die sich bis zuletztim Gegensatz zum Westen Deutschlands durch kleinereInitiativen und Organisationen abseits der in den altenLändern etablierten Strukturen kennzeichnen lässt.

Dieser allgemeine Befund gilt bezogen auf einzelne Ein-richtungsarten nur mit Einschränkungen bzw. Differen-zierungen (vgl. Tab. A-6.3 im Anhang). So befanden sichim Jahr 2000 43 Prozent der Jugendzentren im Westen inöffentlicher Trägerschaft (Santen 2003, S. 294). Ende2002 waren es laut amtlicher Kinder- und Jugendhilfesta-tistik rund 47 Prozent. Gleichzeitig ist auch bei dieser An-gebotsform eine selbst organisierte Form durch jungeMenschen zu verzeichnen. Immerhin 4 Prozent der Ein-richtungen im Westen und 9 Prozent im Osten wurden imJahr 2000 ohne weiteren Träger selbst verwaltet (vgl.Tab. A-6.3 im Anhang).222

Die Einrichtungen der Jugendarbeit sind institutionali-sierte Bildungsorte. Sie lassen sich nach Einrichtungsar-ten und Bundesländern unterscheiden (vgl. Tab. A-6.4 imAnhang). Die Einrichtungen der Jugendarbeit, zu denenu. a. Jugendfreizeitzentren, Initiativen der mobilen Ju-gendarbeit und pädagogisch betreute Spielplätze gehören,bieten sehr unterschiedliche Rahmungen und Gelegenhei-ten für Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen.Sie erfüllen nicht nur verschiedene Funktionen, sondernunterscheiden sich auch durch ihre räumliche Reichweite(lokal kleinräumig bis überregional) und durch die zeitli-che Strukturierung des Angebots (täglich am Ort oder am

221 Wie bei vielen Bereichen der Statistik gilt auch für die Jugendarbeit,dass es weder eine eindeutige Klarheit noch eine erkennbare Einig-keit darüber gibt, was statistisch genau der Jugendarbeit zugerechnetwerden soll. So kann man unschwer, je nach Standpunkt und Interes-se, die Jugendarbeit nach unten oder nach oben „schönrechnen“. Not-wendig ist es daher, sich Klarheit darüber zu verschaffen, was beiempirischen Analysen jeweils einbezogen wurde und was nicht.Nachfolgend haben wir uns von dem Gedanken leiten lassen, dassvor allem jene Einrichtungsarten und Angebotsformen einbezogenwerden sollen, die in einem elementaren Sinne und nicht nur aus-nahmsweise Bildungsangebote für Kinder und Jugendliche unterbrei-ten. Jugendräume ohne Personal und Jugendzeltplätze fallen dement-sprechend – sosehr sie auch zu relevanten Orten der SelbstgesellungJugendlicher werden können – ebenso heraus wie Jugendherbergen,die ihre Räume in erster Linie kostengünstig zur Verfügung stellen.An den Rändern haben solche Grenzziehungen immer etwas tenden-ziell Willkürliches. 222 Zur Kinder- und Jugendhilfestatistik vgl. Glossar im Anhang.

Page 248: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 238 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Wochenende bzw. in den Ferienzeiten). Die damit indi-rekt verknüpfte thematische und methodische Ausgestal-tung ist eher von der Alters- oder Adressatengruppe ab-hängig als vom Einrichtungstyp.

Einrichtungen der offenen Jugendarbeit sind der häufigsteEinrichtungstypus; die Hälfte davon sind jedoch Einrich-tungen ohne angestelltes Fachpersonal. Als lokale Ein-richtungen der offenen Jugendarbeit bieten sie ein Raum-,Freizeit- und Bildungsprogramm für Kinder und Jugend-liche des jeweiligen sozialräumlichen Umfeldes an.Durchschnittlich steht für je 1 000 der 10- bis 25-Jährigeneine Einrichtung der offenen Jugendarbeit zur Verfügung,allerdings mit deutlichen Unterschieden zwischen Ostund West bzw. zwischen Städten und Landkreisen. Wäh-rend es im Jahr 2000 in den ostdeutschen Städten für780 Jugendliche dieser Altersgruppe eine Einrichtunggab, mussten sich 1 210 junge Menschen in den westdeut-schen Städten mit einer Einrichtung begnügen, und in denLandkreisen Ostdeutschlands lag dieser Wert gar bei nur364, in den westdeutschen Landkreisen hingegen bei1 336 jungen Menschen, so dass diese am schlechtestenausgestattet sind (Santen 2003). Diese ungleiche Vertei-lung dürfte in einem engen Zusammenhang stehen mitdem Verbreitungsgrad und der Dynamik von Jugendver-bänden.

Rückt man innerhalb der Kinder- und Jugendarbeit insti-tutionalisierte Bildungsangebote genauer ins Blickfeld,dann gehören hierzu auch ganz offenkundig die Jugend-bildungsstätten. Diese zeichnen sich insbesondere durchein eigenes Programm aus, das sich u. a. in Form vonKursen, Seminaren, Tagungen oder Lehrgängen an Ju-gendliche und junge Erwachsene, häufig vor allem an dasehrenamtliches Personal der Jugendarbeit wendet. InRelation zu den Kindern und Jugendlichen in Ost- undWestdeutschland kann für beide Landesteile bei der Ein-richtungsdichte und dem Beschäftigungsvolumen einähnliches quantitatives Niveau vermutet werden. Aller-dings ist für Westdeutschland seit Beginn der 1990er-Jahre ein kontinuierlicher Personalrückgang von 4 200Beschäftigten im Jahr 1990 auf zuletzt 2 800 im Jahr2002 festzustellen, was einem Rückgang von 33 Prozententspricht (Peter 2004).

(b) Organisationsmerkmale und rechtliche Rahmenbedingungen

Die Kinder- und Jugendarbeit hat zwar von der rechtli-chen Seite her eindeutig einen Bildungsauftrag zu erfül-len. Dennoch unterscheiden sich die organisatorischenAusgangsbedingungen – etwa im Vergleich zur Schule –in so vielen Punkten, dass es sinnvoll und notwendig ist,die spezifischen Organisationsmerkmale der Kinder- undJugendarbeit zu kennzeichnen. Folgende organisatorischeMerkmale können im Hinblick auf die Bildungsaufgabender Kinder- und Jugendarbeit als besonders bedeutsamherausgestellt werden: Jugendarbeit unterliegt zwar deröffentlichen Verantwortung – eine bedarfsgerechte Aus-stattung mit Angeboten ist eine öffentliche Aufgabe –,aber die Aufgabenerfüllung folgt nicht dem Prinzip derStaatlichkeit, sondern dem der freien und privaten Träger-

schaft. Dies bedeutet, dass den Trägern der freien Jugend-hilfe ein hohes Maß an Eigenständigkeit z. B. in der in-haltlichen Schwerpunktsetzung und der Ausgestaltungihrer Angebote zusteht. Das Verhältnis von öffentlichenzu freien Trägern wird gestaltet durch Kooperation, fach-politische Aushandlung und Abstimmung; es ist nichthierarchisch organisiert.

Der Bedarf für Art und Umfang des Angebots wird im so-zialen Nahraum der Kinder und Jugendlichen ermitteltund kommunalpolitisch, unter Berücksichtigung der je-weiligen finanziellen Leistungsfähigkeit, entschieden.Dies führt dazu, dass Struktur und Umfang des Angebotssehr unterschiedlich sind. Kommunale Verantwortung istzwar wichtig für die Einbindung in das sozialräumlicheBezugssystem der Adressaten/Adressatinnen, unterstelltaber fachliche Standards, die leitend sind hinsichtlich trä-gerinterner und lokalpolitischer Prioritätensetzung. Diebeobachtbaren qualitativen Unterschiede und die zumTeil erheblichen quantitativen Ungleichverteilungen derAngebote der Jugendarbeit sind aber nicht nur auf unter-schiedliche lokale Bedarfe zurückzuführen, sondern auchAusdruck unsachgemäß genutzter Entscheidungsspiel-räume.

Einrichtungen, Dienste und Maßnahmen der Jugendarbeitsind Teil einer als erforderlich geltenden Infrastruktur so-zialer Dienstleistungen zur Förderung der Entwicklungjunger Menschen. Dieser Dienstleistungscharakter be-gründet die bedarfsorientierte Angebotsform der Jugend-arbeit und impliziert, dass über Art und Umfang der Inan-spruchnahme die Adressatinnen und Adressaten auffreiwilliger Basis entscheiden. Ein organisatorischesÄquivalent zur Schulpflicht ist der Jugendarbeit wesens-fremd.

Die Organisationskultur der Jugendarbeit ist partikularis-tisch ausgerichtet. Sie entwickelt ihre Leistungen lebens-weltorientiert, d. h. Interessen, Bedürfnisse und Problemeder beteiligten örtlichen Adressaten haben unmittelbarEinfluss auf Themen und Inhalte der Angebote.

Erhebliche Bereiche der pädagogischen Praxis werdennicht durch professionelle Fachkräfte realisiert, wobei hierzwischen der fast ausschließlich ehrenamtlich getragenenArbeit der Jugendverbände und der mit professionellenFachkräften ausgestatteten Jugendarbeit in Jugendfreizeit-stätten und Häusern der offenen Tür in kommunaler oderfreier Trägerschaft zu unterscheiden ist.

Hervorzuheben ist das besondere Verhältnis zwischen derInstitution und ihren Adressaten/Adressatinnen. Es kannin weiten Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe, insbe-sondere aber in der Jugendarbeit, rechtlich durch dieAdressaten/Adressatinnen gestaltet werden, bzw. hängt esvon diesen ab, inwiefern sie auf entsprechende Angeboteund Leistungen eingehen (Expertise Füssel/Münder,S. 37223). Außerdem haben sie Beteiligungsrechte; Kinder

223 In dieser Zitierweise werden die Expertisen angegeben, die für den12. Kinder- und Jugendbericht erstellt wurden (vgl. die Auflistung imAnhang). Die Seitenzahlen beziehen sich auf die eingereichten Ma-nuskripte, d. h. dass sie nicht mit den Seitenzahlen der Expertisen inden vier für Herbst 2005 zur Veröffentlichung vorgesehenen Bändenübereinstimmen.

Page 249: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 239 – Drucksache 15/6014

und Jugendliche sind an Entscheidungen zu beteiligen(§ 8 SGB VIII), und die Angebote der Jugendarbeit sollenvon ihnen mitbestimmt werden (§ 11 SGB VIII).

Entscheidend ist, dass die Umsetzung der bundesrechtli-chen Vorgaben faktisch kommunale Angelegenheit ist.Die kommunalen Gebietskörperschaften sind mit dermaßgeblichen Finanzierungskompetenz für die Jugendar-beit ausgestattet. Der Bedeutung der Gestaltung des so-zialen Nahraums von Kindern und Jugendlichen wirdhiermit Rechnung getragen. Dies äußert sich auch in einerBesonderheit der Kommunalverwaltung: der besonderenVerfasstheit des kommunalen Jugendhilfeausschusses.Dort sollen politische, also auch finanzpolitische Ent-scheidungen unter maßgeblicher Beteiligung von freienTrägern und kompetenten Bürgerinnen und Bürgern ge-troffen werden. Diese Form der Einbindung von Betroffe-nen bzw. verantwortlichen Trägern in den kommunalpoli-tischen Raum soll die partizipativen Elemente bzw. dielebensweltliche Ein- und Rückbindung der konzeptionel-len und finanziellen Ausgestaltung des Angebotsspek-trums stärken (Pitschas 2002, S. 224).

Nicht zuletzt ist auch für die Jugendarbeit als eine Formder personenbezogenen Dienstleistung eine besondereAnspruchs- und Verpflichtungsstruktur der Leistungsträ-ger kennzeichnend. „Das KJHG im SGB VIII kennt eineVielzahl individueller, subjektiver Rechtsansprüche, de-ren Rechtsanspruchscharakter unterschiedlich ist. Kinder,Jugendliche und ihre Familien haben demnach verschie-dene Ansprüche, für deren Erfüllung die Träger der öf-fentlichen Jugendhilfe verpflichtet sind“ (ExpertiseMünder/Füssel, S. 21). Im Hinblick auf die Jugendarbeitbedeutet dies, dass der öffentliche Träger verpflichtet ist,die Angebote zur Verfügung zu stellen. Jugendarbeit isteine „Soll-Leistung“. „Das bedeutet, dass im Regelfalldie Leistung zu erbringen ist und nur im atypischen Falldavon abgesehen werden kann, wobei für diesen Fallzwingend eine Begründung vorliegen muss“ (ebd., S. 22).

(c) Finanzielle Ausstattung

Während die Schule grundsätzlich kostenfrei ist, gilt fürdie Kinder- und Jugendhilfe und insbesondere für die Ju-gendarbeit grundsätzlich die (pauschalierte) Kostenbetei-ligung (Expertise Münder/Füssel, S. 37f.). Die reinenAusgaben der öffentlichen Hand für die Kinder- und Ju-gendarbeit betrugen 2002 knapp 1,46 Mrd. Euro. In kei-nem Jahr zuvor seit Inkrafttreten des Kinder- und Jugend-hilfegesetzes im Jahr 1990 wurde so viel Geld für dieKinder- und Jugendarbeit ausgegeben. Mit den Ergebnis-sen für das Jahr 2003 könnte sich allerdings eine Trend-wende zumindest andeuten, beträgt doch das Volumenhier nur noch 1,39 Mrd. Euro. Das sind knapp 5 Prozentweniger als im Vorjahr. Erstmals seit Inkrafttreten desSGB VIII wurde 2003 mit 6,7 Prozent weniger als7 Prozent des gesamten Finanzvolumens der Kinder- undJugendhilfe für die Jugendarbeit aufgewendet. Hierbei istanzunehmen, dass von dem öffentlichen Fördervolumenfür die Jugendarbeit schätzungsweise rund drei Viertelvon kommunaler Seite, der Rest von Bund und Ländernerbracht werden.

Ins Verhältnis gesetzt zur relevanten Bevölkerungsgruppeder 6- bis unter 18-Jährigen, bedeutet dies, dass für Maß-nahmen bzw. für Personal und Einrichtungen in den west-lichen Bundesländern 119 Euro, in den östlichen 131Euro öffentliche Fördermittel gemäß §§ 11 und 12 SGBVIII pro Heranwachsender/Heranwachsendem und Jahrfür die außerschulische Jugendbildung aufgewendet wur-den.224 Dabei muss man allerdings zwei Dinge beachten:Zum einen sind in diesen Zahlen die Ausgaben für alleVarianten der Jugendarbeit enthalten, so dass der in derPraxis erhebliche Unterschied des Kostenaufwands fürdie mit Fachkräften ausgestattete offene Jugendarbeit ge-genüber der am Ort ganz überwiegend mit ehrenamtli-chen Kräften organisierten Jugendverbandsarbeit dadurchnicht sichtbar wird. Zum anderen muss aber auch beach-tet werden, dass hier nur die öffentlichen Mittel einge-rechnet sind, die haushaltstechnisch für die Jugendarbeitim Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe aufgewendetwerden, während andere Mittel – etwa solche der Bun-desagentur für Arbeit zur Personalförderung – hier nichtenthalten sind (vgl. Tab. 6.1). Die Art und der Umfangder staatlichen Zuwendungen können als ein wesentlichesSteuerungsmedium der öffentlichen Hand hinsichtlich derStrukturqualität außerschulischer Bildungsangebote an-gesehen werden. An die Finanzierungen werden häufigInhalte und Ziele geknüpft, wodurch unter Umständenbereits Vorentscheidungen über die in Frage kommendenTräger verbunden sind. Mit der Trägerauswahl kann wie-derum Einfluss genommen werden auf die Ausgestaltungder Beziehungen zwischen Trägern und Adressaten, daTräger z. B. milieuspezifisch, weltanschaulich ausgerich-tet oder sozialraumdifferenziert Adressaten rekrutieren(Bissinger u. a. 2002).

Einzelne Bereiche der Jugendarbeit werden, wie bereitsangedeutet, jedoch nur marginal öffentlich finanziert. Soerhielten 2001 beispielsweise 11 Prozent der Jugendver-bände für die Jugendarbeit vor Ort überhaupt keine öf-fentlichen Mittel, 13 Prozent weniger als 500 Euro undweitere 5 Prozent wurden lediglich im Rahmen der Ar-beitsmarktförderung finanziell unterstützt (Santen 2003,S. 292). Van Santen errechnet eine durchschnittlicheHaushaltshöhe bei Jugendverbänden pro Jahr von rund20 000 Euro, mit großen Unterschieden zwischen Maxi-mum und Minimum (ebd., S. 141). Die öffentlichen Zu-schüsse für Bildungsmaßnahmen, die teilnehmerbezogenberechnet werden, decken zwischen 35 Prozent und50 Prozent der tatsächlich anfallenden Kosten.225 Diesewerden im Wesentlichen durch Mitglieds- und Teilneh-merbeiträge, aber auch durch Eigenmittel des Trägersoder durch Spenden erbracht.

224 Die hier gezeigten Ost-West-Unterschiede resultieren nicht zuletztaus den erheblichen demografischen Brüchen in Ostdeutschland.Wählt man eine etwas andere Altersgruppe als Bezugsgröße, z. B.die 6- bis unter 21-Jährigen, so heben sich diese Disparitäten weitge-hend auf. Pro 6- bis unter 21-Jährigen werden in Westdeutschland96 Euro und in Ostdeutschland 95 Euro seitens der „öffentlichenHand“ aufgewendet.

225 Vgl. Bayerischer Jugendring, eigene Berechnungen.

Page 250: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 240 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Ta b e l l e 6.1

Entwicklung der Ausgaben für die Kinder- und Jugendarbeit nach Bundesländern (1995, 1999, 2003; Angaben in 1 000 Euro, falls nicht anders angegeben)1

1 Westdeutschland (einschließlich Berlin); Ostdeutschland (ohne Berlin); SH: Schleswig-Holstein; HH: Hamburg; NI: Niedersachsen; HB: Bre-men; NW: Nordrhein-Westfalen; HE: Hessen; RP: Rheinland-Pfalz; BW: Baden-Württemberg; BY: Bayern; SL: Saarland; BE: Berlin; BB: Bran-denburg; MV: Mecklenburg-Vorpommern; SN: Sachsen; ST: Sachsen-Anhalt; TH: Thüringen.

2 Die Angaben in dieser Spalte enthalten neben den addierten unter „BMFSFJ“ Länderdaten auch die Mittel des Bundes.3 Die Ausweisung der öffentlichen Ausgaben für die Kinder- und Jugendarbeit, relativiert auf eine Bevölkerungsgruppe, ist insbesondere durch die

„demografischen Brüche“ in Ostdeutschland mit Schwierigkeiten verbunden. Je nachdem, welche Altersgruppe man aus Sicht einer bildungsbe-zogenen Kinder- und Jugendarbeit nachvollziehbar zugrunde legt, stellen sich die Unterschiede in Ost- und Westdeutschland anders dar. Um die-ses transparent zu machen, werden die Angaben zu den finanziellen Aufwendungen auf drei unterschiedliche mögliche Altersgruppen bezogen.Dies sind im Einzelnen die 6- bis unter 21-Jährigen (a), die 6- bis unter 18-Jährigen (b) sowie die 9- bis unter 18-Jährigen (c).

4 Für das Jahr 2003 werden für Bayern 120 Mio. Euro ausgewiesen. Dies würde einen Rückgang der Ausgaben von 42 Mio. Euro bedeuten. Re-cherchen des Bayerischen Jugendrings und der Dortmunder Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik haben allerdings ergeben, dass derRückgang der nachgewiesenen Ausgaben wahrscheinlich auf Veränderungen im Erhebungsverfahren zurückzuführen ist. In den Zeitreihen fürDeutschland und Westdeutschland wurde keine Bereinigung vorgenommen, da die Darstellung einer Zeitreihe ansonsten nicht mehr möglich ge-wesen wäre.

Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 13, Reihe 6.4 Ausgaben der öffentlichen Jugendhilfe, Stuttgart, verschiedene Jahrgänge, ab 2002 Ar-beitsunterlagen des StBA, Berechnungen der Dortmunder Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik

Jahr 1995 1999 2003

Veränderung zwischen 1995 und 20031

Relative Pro-Kopf-Ausgabe im Jahr 2003 (in €)3

absolut in % (a) 6–21

(b) 6–18

(c) 9–18

Deutschland2 1 301 845 1 356 972 1 387 141 85 296 6,6 104 132 170

West 957 595 1 051 748 1 080 625 123 030 12,8 96 119 157

Ost 259 074 235 023 195 402 – 63 672 – 24,6 95 131 158

BW 109 485 135 747 159 544 50 059 45,7 88 110 145

BY 149 839 163 259 /4 – 29 827 – 19,9 58 73 96

BE 79 594 105 503 87 886 8 292 10,4 185 243 311

BB 36 759 40 383 40 439 3 680 10 99 136 164

HB 11 391 11 622 15 063 3 672 32,2 157 201 265

HH 26 877 30 988 35 356 8 479 31,5 150 191 253

HE 123 340 115 523 131 808 8 468 6,9 138 172 227

MV 26 041 32 216 26 104 63 0,2 92 128 153

NI 122 096 129 014 136 715 14 619 12 102 126 166

NW 239 475 255 950 278 890 39 415 16,5 93 115 151

RP 40 947 44 861 49 952 9 005 22 73 91 119

SL 9 813 11 632 14 844 5 031 51,3 89 111 144

SN 119 861 72 758 59 652 – 60 209 – 50,2 96 132 160

ST 43 215 44 580 36 114 – 7 101 – 16,4 95 130 157

SH 44 739 47 649 50 555 5 816 13 110 135 179

TH 33 198 45 085 33 092 – 106 – 0,3 93 128 155

BMFSFJ 85 175 70 201 111 114 25 939 30,5 8 11 14

Page 251: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 241 – Drucksache 15/6014

Insgesamt wird deutlich, dass die finanzielle Organisationund die Ausstattung der Jugendarbeit, wenn man so will:das Wohl und Wehe der Jugendarbeit, in erheblichemMaße von der Finanzierungskompetenz und dem Vermö-gen der einzelnen Kommune und dem Verhalten der ein-zelnen Träger der Jugendarbeit abhängen.

(d) Personal

Im Gesamtsystem der Kinder- und Jugendhilfe hat die Ju-gendarbeit – auch wenn sie sich vom Grundsatz her aufalle Kinder und Jugendlichen bezieht –, gemessen an derFinanz- und Personalausstattung, mit knapp 7 Prozent derAusgaben und 6 Prozent des Personals einen eher margi-nalen Stellenwert. Laut der Kinder- und Jugendhilfestatis-tik im Rahmen der Bildungsarbeit im engeren Sinne wa-ren Ende 2002 rund 34 100 Personen auf nicht ganz22 800 Vollzeitstellen in Einrichtungen der Jugendarbeitbeschäftigt. Die Relation zwischen der Anzahl der Kinderund Jugendlichen im Alter von 6 bis unter 18 Jahren undden Vollzeitstellen ergibt für diesen Zeitpunkt eine rech-nerische Jugendarbeits-Personalquote von 549 : 1 inWestdeutschland (einschließlich Berlin) und 236 : 1 inden östlichen Bundesländern.226

Blickt man zurück auf die 1980er- und die 1990er-Jahre,so waren diese Zeitspannen durch eine stetige Expansionder Kinder- und Jugendarbeit gekennzeichnet. Zwischen-zeitlich zeichnet sich allerdings eine neue Entwicklungab. Der Trend zum Ausbau von Personal und Einrichtun-gen der Jugendarbeit hat sich zwischen 1998 und 2002anscheinend umgekehrt. So ist zwar bundesweit die An-zahl der Einrichtungen zwischen 1998 und 2002 bei etwa10 400 stehen geblieben; die Anzahl der Beschäftigten indiesen Einrichtungen hat sich in derselben Zeit jedochdeutlich verringert.227 Ende 2002 wurden in diesen Ein-richtungen zuletzt etwa 10 Prozent weniger Beschäftigtegezählt als noch vier Jahre zuvor; umgerechnet in Voll-zeitstellen entspricht dies einem Rückgang von über16 Prozent bzw. von rund 27 400 auf 22 800 Stellen.

Gemessen am Anteil des Personals mit Hochschulab-schluss weist die Jugendarbeit im Vergleich zu anderenArbeitsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe mit38 Prozent einen relativ hohen Akademisierungsgrad undmit rund 29 Prozent auch einen hohen Professionalisie-rungsgrad auf. Zudem ist die Jugendarbeit in Relation zuanderen Leistungsbereichen der Kinder- und Jugendhilfeein etwas weniger stark ausgeprägtes Beschäftigungsfeldvon Frauen, wenngleich auch hier – anders als noch inden 1970er-Jahren – die Frauen die Mehrheit des Perso-nals bilden (vgl. Tab. A-6.5 im Anhang). 2002 lag ihr An-teil bei nahezu 55 Prozent im Westen, im Vergleich zuüber 85 Prozent in der gesamten Kinder- und Jugendhilfe.

Zwar gilt für die Jugendarbeit wie für alle Leistungsberei-che der Kinder- und Jugendhilfe, dass sie – insbesonderein Westdeutschland – in den letzten 20 Jahren insgesamteinen Schub der Verfachlichung, der Akademisierung undder Professionalisierung erfahren hat. Die bloße quantita-tive Zunahme des Personals ist allerdings im Wesentli-chen auf den Ausbau der offenen Einrichtungsangebote– sowohl in öffentlicher als auch in freier Trägerschaft –zurückzuführen. Hierbei darf jedoch nicht übersehen wer-den, dass auch in diesem Bereich die Mehrzahl des Perso-nals – inzwischen auch in Ostdeutschland – bei freienTrägern beschäftigt ist (vgl. Tab. A-6.5 und A-6.6 im An-hang).

Nicht nur die einzelnen Aufgabenfelder der Jugendar-beit sind sehr unterschiedlich mit Personal ausgestattet,sondern es gibt auch eine regional höchst ungleiche Ver-teilung des Personals, worauf die z. T. erheblichen Un-terschiede zwischen einzelnen Jugendamtsbezirken hin-weisen. Von allen Jugendringen und Jugendverbändenauf kommunaler Ebene ist die Hälfte mit hauptberufli-chem Personal ausgestattet (Santen 2003, S. 70). Aller-dings befindet sich hiervon gerade in den östlichenBundesländern ein erheblicher Anteil in befristeten Be-schäftigungsverhältnissen, in der Regel auf der Basisvon Fördermitteln der Bundesagentur für Arbeit (ebd.,S. 72).

6.1.1.3 Bildungsprogramme und Bildungs-leistungen der Jugendarbeit

Jugendarbeit umfasst ein ebenso breites Spektrum vonTrägern, Einrichtungen und Aktivitätsformen wie vonThemen. Sie konkretisiert sich als ein Angebot, das maß-geblich durch die lebensweltlichen Interessen der Adres-saten/Adressatinnen gefüllt wird, und agiert maßgeblichim Sinne einer Bildungsgelegenheit. Insofern ist sie keineInstitution, in der Fächer oder Bildungspläne das Angebotstrukturieren und Leistungen entsprechend erfassbar wer-den. In der ihr eigenen schwach strukturierten Organisati-onsform ist Jugendarbeit notwendigerweise offen gegen-über einer Vielzahl von Themen und Methoden. Ihrthematisches Bildungsprogramm lässt sich deshalb nurbehelfsmäßig darstellen, indem die wesentlichen Hand-lungsfelder sowie die Art und der Umfang der Nutzungdurch die Adressaten/Adressatinnen charakterisiert wer-den.

(a) Bildungsaufgaben und Handlungsfelder

Eine gewisse Annäherung an die Bildungsthemen bietetdie Kinder- und Jugendhilfestatistik. Die dort als Förder-schwerpunkte228 benannten Aufgaben der außerschuli-schen Jugendbildung umfassen sportliche, politische, so-ziale, gesundheitliche, kulturelle, naturkundliche undtechnische Bildungsthemen oder Bildungsschwerpunkte,die wiederum in einer Vielzahl von Methoden und Ar-beitsformen vermittelt bzw. von den Adressaten/Adressa-

226 Diese Relation verdeutlicht die Dichte des potenziellen Kinder- undJugendhilfeangebots; zur tatsächlichen Belastung des Personals – imSinne eines Kind-Fachkraft-Schlüssels in der Praxis – wird hiernichts ausgesagt.

227 Im Unterschied zu anderen Berechnungen im Kontext der Jugendar-beit wurden hier nur die Einrichtungen zugrunde gelegt, bei denen ineinem elementaren Sinne auch eigene Bildungsangebote vorauszu-setzen sind.

228 Kulturelle Jugend(bildungs)arbeit, außerschulische Jugendbildungs-arbeit, Mitarbeiterausbildung und Mitarbeiterfortbildung, internatio-nale Jugendarbeit, freizeitbezogene, offene Jugendarbeit, Jugendver-bandsarbeit, mobile Jugendarbeit, Jugendberatung, Spielplatzwesen.

Page 252: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 242 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

tinnen selbst entwickelt werden. Sie lassen sich in der Re-gel nicht allein einer Angebots- oder Maßnahmenformzuordnen. So ist Mitarbeiterausbildung zwar ein eigenerBildungsschwerpunkt mit der Aufgabe, ehrenamtlicheFachkräfte für die Jugendarbeit durch die Vermittlungvon Wissen und Kompetenzen zu qualifizieren, die fürGruppenleitungsaufgaben bzw. Funktionsübernahme inder Organisation wichtig sind. Thematisch betrachtet be-handeln diese Maßnahmen, je nach Organisationshinter-grund, jedoch ebenso religiöse wie politische, technischeund ökologische Themen.

Ein weiteres Ordnungsschema der Bildungsthemen undder inhaltlichen Schwerpunkte der Jugendarbeit er-schließt sich über die Darstellung ihrer wesentlichenHandlungsfelder, in denen mit bestimmten Akzenten Bil-dungsthemen realisiert werden. Mit Blick auf eine Bil-dungsberichterstattung über den informellen und non-for-malen Bildungsbereich unterscheiden Rauschenbach u. a.(2004) verbandliche und offene Jugendarbeit, Jugendkul-turarbeit und Jugendarbeit im Sport.

Verbandliche und offene Jugendarbeit: AußerschulischeJugendarbeit lässt sich zunächst unterscheiden in verband-liche und offene Jugendarbeit. Jugendorganisationen (Ju-gendverbände und örtliche Jugendinitiativen) und ihre Zu-sammenschlüsse, die Jugendringe auf den jeweiligenföderalen Ebenen, sind die Träger dieser Jugendarbeit,deren Angebote sich vom Grundsatz her an Mitgliederrichten, ohne allerdings den Mitgliederbegriff allzu engauszulegen. Unterschieden werden können diese Jugend-verbände gemäß ihren Organisationszielen und -zwe-cken in Freizeit-, Sport- und Naturschutzverbände,Hilfsorganisationen sowie politische und konfessionelleJugendorganisationen (Düx 2000). Für Heranwachsendeerfüllen sie insgesamt Funktionen als soziale und kultu-relle Bildungsorte, als Foren der Auseinandersetzung mitSinn- und Wertfragen, als Unterstützungsstrukturen zurBewältigung der alltäglichen Lebensführung, aber auchals Räume der Begegnung und der Geselligkeit (Gängler/Winter 1991, S. 220). Ihre Bildungsarbeit wird gerahmtdurch Charakteristika, die in unterschiedlicher Ausprä-gung als diesen Jugendorganisationen gemeinsam angese-hen werden: Freiwilligkeit der Teilnahme und der Mitar-beit, Milieunähe, Traditions- und Wertgebundenheit,Selbstorganisation und Mitbestimmung, Ehrenamtlich-keit, vereinsmäßige Organisationsstrukturen und ebensol-che Finanzierung, Beanspruchung eines jugendpolitischenMandats, Gleichaltrigen-Gruppe als zentrale Gesellungs-und Arbeitsform (Thole 2000, S. 125). Als solchermaßenspezifische Bildungsorte befördern Jugendverbände ins-besondere handlungs- und erfahrungsorientiertes Lernen.

Von der verbandlichen Jugendarbeit unterscheidet sichdie offene Jugendarbeit im Wesentlichen dadurch, dasssich ihre Angebote nicht ausschließlich oder in erster Li-nie an Mitglieder richten. Ihre Angebote finden überwie-gend statt in Einrichtungen wie Häusern der offenen Tür,Jugendfreizeiteinrichtungen oder Jugendtreffs, die ihreProgramme und Maßnahmen stadtteil- bzw. sozialraum-orientiert ausrichten. Im Unterschied zur Jugendver-bandsarbeit wird dieses Handlungsfeld ganz überwiegenddurch beruflich tätige Fachkräfte gestaltet.

Konzepte und Angebotsformen der offenen Jugendarbeitdifferieren je nach sozialräumlichem Bezugsfeld der Ein-richtung. In Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbe-darf beispielsweise sind diese Einrichtungen wichtigeTreff- und Anlaufstellen für sozial benachteiligte Kinderund Jugendliche, so dass hier häufig Beratungs- und Un-terstützungsleistungen zum Programm gehören. Diesestehen insbesondere auch im Vordergrund der mobilenJugendarbeit als aufsuchender Arbeitsform der offenenJugendarbeit, die an informellen Orten wie Straßencli-quen auf der Basis persönlicher, professioneller Bezie-hungen und Gespräche Gelegenheitsstrukturen für Selbst-bildungsprozesse entwickelt. Zur offenen Jugendarbeitzählen auch die Maßnahmen der Stadtranderholung, dieim Rahmen von Ferienprogrammen altersgemäße Frei-zeit- und Bildungsthemen darbieten.

Kinder- und Jugendkulturarbeit: Kinder und Jugendlichefinden in ihrem Alltag nicht nur Angebote der so genann-ten Hochkultur sowie Angebote kulturell orientierterLern- und Erlebnisorte vor. Kulturelle Jugendbildung istvielmehr auch ein wichtiger Bildungsschwerpunkt der Ju-gendarbeit als außerschulischer Jugendbildung. Sie trägtdazu bei, Ichstärke, Selbstwirksamkeit, soziale Sensibili-tät und ästhetische Expressivität zu entwickeln (Lindner2004).

Als Handlungsfeld institutionalisiert werden unter demDach der Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung(BKJ) Verbände, Organisationen und Träger zusammen-gefasst, die als Fachverbände alle Kultursparten (Theater,Musik, Literatur, Medien, Bildende Kunst) repräsentie-ren. Ihre Angebote reichen über den Bereich der Kinder-und Jugendhilfe mit den sie kennzeichnenden Organisati-onsmerkmalen hinaus und zeigen Verbindungen undÜberschneidungen vor allem zum Bereich der Kultur-und Bildungspolitik. Die kulturpädagogischen Einrich-tungen sind Kindermuseen, Musikschulen, Jugendkunst-schulen, Medienwerkstätten, theaterpädagogische Zen-tren und ähnliche Einrichtungen. Jugendkunstschulensind die häufigste Einrichtungsform.229 Kulturelle Ju-gendbildung ist darüber hinaus ein Bildungsthema der Ju-gendarbeit insgesamt, das in allen Handlungsfeldern vonBedeutung ist und integriert in den jeweiligen Aktivitäts-formen stattfindet. Insofern ist Kinder- und Jugendkultur-arbeit ein „offen-vielfältiges System von Erfahrungsor-ten, Bildungsinhalten und Beziehungsformen im Umgangmit symbolischen Formen und experimentellen Lebens-stilen“ (Zacharias 2001, S. 137).

Jugendarbeit im Sport – sportliche Jugendbildung: Sportist, wie schon in Abschnitt 4.5 dargestellt, die wesentlicheFreizeitbetätigung von Kindern und Jugendlichen in orga-nisierten, vereinsmäßigen wie in offenen, eher jugendkul-turell szeneorientierten Formen und Sportarten. Die Ent-wicklung im Sport zeichnet sich durch Differenzierungund ständige Innovation in der Synthese von Bewegungund Jugendkultur sowie in Bezug zum Lebensstil aus.Trendsportarten wie beispielsweise Streetball sind im Un-terschied zum „klassischen“ Sport neue Kombinationen

229 Zwei von drei kulturpädagogischen Angeboten werden z. B. in Nord-rhein-Westfalen von Jugendkunstschulen realisiert (Landesvereini-gung Kulturelle Jugendarbeit NRW e.V. 2001, S. 51).

Page 253: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 243 – Drucksache 15/6014

zwischen Jugendkultur und Sport (Rittner 2004). Vor die-sem Hintergrund und im Kontext außerschulischer Ju-gendbildung sind sportliche Betätigung und Engagementin Sportvereinen wesentlich breiter angelegt als Leis-tungs- und Wettkampfsport.

Dem Sport wird insgesamt eine maßgebliche Bildungs-wirksamkeit zugesprochen, die zunächst die unmittelbarkörperbezogenen Kompetenzen (Körpererfahrung, -ästhe-tik, -ausdruck), aber auch nicht unmittelbar sportbezo-gene Kompetenzen im sozialen, politischen und kogniti-ven Bereich einschließt (Teamfähigkeit, Selbstvertrauen,Selbstorganisation, Verantwortungsfähigkeit; Keiner/Vagt2003). Träger des Sports im außerschulischen Bereich fürKinder und Jugendliche sind sehr unterschiedliche Orga-nisationen. Die Sportjugend als eigene Jugendstrukturund als Jugendorganisation ist Träger der Jugendarbeit.Ihre Maßnahmen, die über das Sportfachliche hinausge-hen, finden im Rahmen der Jugendarbeit statt und geltenals außerschulische Jugendbildung. Außerdem verfolgenweitere Jugendverbände unmittelbar sportbezogene bzw.körperbezogene Aktivitäten, z. B. Bergsteigen oderRettungsschwimmen. In der offenen Jugendarbeit gehö-ren sportliche Angebote zu einem eher szeneorientierten,jugendkulturell ausgerichteten Maßnahmenprofil (z. B.Streetball-Turniere, Mitternachts-Basketball), oder siesind Bestandteil erlebnispädagogischer Unternehmungenzur Entwicklung von Selbsterfahrung und Gruppenbezie-hungen (z. B. Wildwasserfahren, Höhlenwanderungen)im Rahmen von Ferien- und Freizeitprogrammen.

(b) Umfang des Bildungsangebots und seine Nutzung

Die insgesamt unbefriedigende Datenlage zur Jugendar-beit erlaubt es derzeit nicht, zu Bildungsleistungen desSystems der Jugendarbeit als Ganzes empirisch gesi-cherte Aussagen zu treffen (Rauschenbach u. a. 2004).Insbesondere zum Kompetenzerwerb bzw. zu Bildungser-gebnissen kann kaum auf Untersuchungen zurückgegrif-fen werden.230 Im Folgenden werden deshalb Nutzungs-daten herangezogen, die die Inanspruchnahme derJugendarbeit beschreiben. Diese Nutzungsdaten können,anders als im Fall der Schule, jedoch durchaus als Aus-druck der Relevanz der Angebote aus der Adressatensichtangesehen werden. Da alle Angebote der Jugendarbeitvon den Kindern und Jugendlichen freiwillig, in ihrerFreizeit, neben anderen Betätigungen und mit diversenMotiven wahrgenommen werden, geben Nutzungsdatendeutliche Hinweise auf die Akzeptanz des Angebots beiden Kindern und Jugendlichen und auf den Stellenwert inihrem Alltag.

Fragt man nach Nutzung und Inanspruchnahme organi-sierter Freizeit- und Bildungsangebote, nach Aktivitätenjunger Menschen neben der Schule, dann muss man zu-nächst einmal mehrere Unterscheidungen im Auge behal-ten, um nicht – wie das in der Jugendforschung nicht sel-

ten der Fall ist – alles unkontrolliert miteinander zuvermengen.231 Zu unterscheiden ist/sind:

(1) Aktivitäten, aktives Mitmachen in außerschulischenAngeboten je nachdem, ob es sich um organisierte Frei-zeitangebote ganz allgemein handelt oder aber um Ju-gendarbeit im Sinne des SGB VIII;

(2) die Nutzung von Angeboten der Jugendarbeit jenachdem, ob sie in bloßer, durchaus regelmäßiger Teil-nahme erfolgt oder aber im Status der Mitgliedschaft, dieihrerseits nicht unbedingt etwas über den Intensitätsgradeiner Teilnahme aussagt (und oft auch an ein Mindestaltergekoppelt ist);

(3) die Inanspruchnahme und die Nutzung durch Ju-gendliche je nachdem, ob es sich vorzugsweise um einkonsumierendes Mitmachen, also um Teilnahme, oderaber um ein aktives, Verantwortung übernehmendes En-gagement, also etwa um ein Ehrenamt, handelt.

Auch wenn diese Anteile noch nichts über die Intensitätder Teilnahme aussagen, so kommen doch beide Befra-gungen des Freiwilligensurvey zu Anteilen, die deutlichüber 70 Prozent liegen; allerdings wird hier sehr unspezi-fisch nach „Aktivität“ in vergleichsweise weit gefasstenSegmenten gefragt. Die PISA-Studie 2000 mit 62 Prozent„Aktiven“ unter den 15-Jährigen richtet das Augenmerkhingegen konkret auf eine Aktivität in bestimmten Verei-nen und Gruppen. Der DJI-Jugendsurvey schließlich fragtnach einer Mitgliedschaft in verschiedenen Organisatio-nen und kommt 2003 für die 16- bis 20-Jährigen noch zueinem Mitgliederanteil von 59 Prozent unter Einbezie-hung der Sportvereine bzw. von 33 Prozent ohne denSport. Differenziert man diese Aktivitäten nach Art undTypus, so nimmt der Sport eine entscheidende Rolle unterden Aktivitäten der 12- bis 15-Jährigen ein (vgl.Tab. 6.2). 232

Ta b e l l e 6 . 2

Aktive Mitwirkung von Kindern und Jugendlichen in Vereinen und Jugendorganisationen

(2003; in Prozent)

Quelle: Jugendsurvey 2003

230 Gegenwärtig laufende Studien an den Universitäten Berlin (FU),Dortmund (zusammen mit dem DJI, München) und Dresden könnendieses Defizit in absehbarer Zeit vielleicht etwas reduzieren. Aller-dings liegen derzeit noch keine Ergebnisse vor.

231 Gleichwohl ist zu beachten, dass die Ergebnisse von Studien auf-grund völlig disparater Fragestellungen nicht immer eine analytischesaubere Trennung erlauben.

232 Zum Freiwilligensurvey und zum DJI-Jugendsurvey vgl. Glossar.

Aktive Mitwirkung im/in …12- bis 15-Jährige

männlich weiblich

Sportverein 64,6 50,5

Kirche/kirchlicher Jugendgruppe 20,9 24,8

Heimatverein 10,8 8,4

Politischer Jugendorganisation 1,4 1,5

Sonstiger Jugendgruppe 6,1 8,4

Anderem Verein 11,4 14,4

Page 254: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 244 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Gefragt nach ihrer aktiven Mitwirkung in einer Organisa-tion waren fast 65 Prozent der Jungen und 50 Prozent derMädchen im Sport, 21 Prozent der Jungen und 25 Prozentder Mädchen in kirchlichen Jugendgruppen sowie immer-hin 11 Prozent der Jungen und 8 Prozent der Mädchen ineinem Heimatverein aktiv. In der Mitgliedschaft in einerJugendorganisation drückt sich prinzipiell eine andereNutzungsform der Jugendarbeit aus, wobei Mitglied-schaft wiederum unterschiedliche Nutzungsformen undBetätigungs- bzw. Bildungsbereiche umfassen kann.Hierbei kann zwischen Konsumenten, „Stammkunden“und den Mitgliedern im eigentlichen Sinne unterschiedenwerden, die in bestimmten regelmäßigen Formen (z. B.2 bis 4 Stunden pro Woche) über eine längere Zeitspanneteilnehmen (Gängler 2002).

Angesichts diverser Erhebungsprobleme233 können ledig-lich folgende Trends zum quantitativen Umfang von Mit-gliedschaften genannt werden: Den ersten Platz nehmenin allen repräsentativen Kindheits- und Jugendstudienwiederum die Sportvereine ein. Insgesamt ist anzuneh-men, dass zwischen 30 Prozent der 10- bis 13-Jährigen(Strozda/Zinnecker 1996, S. 71) und 40 Prozent der15- bis 17-Jährigen nach Befunden der Shell-Studie 2000Mitglied in Sportvereinen waren (Fischer 2000, S. 276).Laut den Daten der PISA-Studie ergibt sich ein Anteilvon 54 Prozent der Jungen und 47 Prozent der Mädchenin der 9. Klasse, die in einem Sportverein aktiv sind (Rau-schenbach 2003, S. 56). Der erste Kinder- und Jugend-sportbericht kommt mit Daten aus Nordrhein-Westfalenzu einem Anteil von 53 Prozent Jungen und 40 ProzentMädchen in Sportvereinen (Gogoll u. a. 2003, S. 154).

Zählt man die Mitgliedschaften in Sportvereinen nichtmit, sind zusammengefasst knapp ein Fünftel der 15- bis17-Jährigen in Jugendorganisationen eingebunden (Fischer2000, Shell-Studie 2000). Auch die Shell-Studie 2002 er-mittelte einen Anteil von 19 Prozent der 12- bis 25-Jähri-gen, die in Jugendorganisationen und Jugendgruppen ak-tiv sind. Der Anteil der 15- bis 17-Jährigen wird in dieserUntersuchung mit 25 Prozent beziffert. Die Sekundärana-lyse der PISA-Daten weist mit einem Anteil von insge-samt knapp 30 Prozent der 15-jährigen Schülerinnen undSchüler als Mitgliedern in Jugendorganisationen für dieseAltersgruppe ein ähnliches Ergebnis aus (Rauschenbachu. a. 2004, S. 240). Im aktuellen DJI-Jugendsurvey wurdeein Organisationsgrad in Verbänden und Vereinen (ohneSportvereine) von immerhin 33 Prozent bei den 16- bis20-Jährigen ermittelt. In der Summe heißt das, dass im-merhin rund 20 bis 30 Prozent – je nach Alter und Befra-gung – die Angebote der Jugendorganisationen und Ju-gendgruppen zeitweise genutzt haben oder noch nutzen,

und dies ohne das „Zugpferd“ Sport. Das ist viel und we-nig zugleich: wenig, gemessen an der Anzahl der Kinder,die durch die Schule erreicht werden, viel, gemessen andem Umstand, dass es sich um ein freiwilliges Angebot inKonkurrenz zu vielen anderen Freizeitmöglichkeiten han-delt. Zumindest gibt es insoweit keinerlei Hinweise da-rauf, dass die außerschulische Jugendarbeit dabei wäre, indie Bedeutungslosigkeit zu versinken.

Einen anderen Blick auf die Frage der Teilnahme wirftdie Statistik der Kinder- und Jugendhilfe. Die dort erfass-ten Daten geben die Anzahl der Maßnahmen, die öffent-lich gefördert werden, und diejenige der Teilnehmerinnenund Teilnehmer wieder.234 Sie erfassen somit nicht dieWirklichkeit der Jugendarbeit jenseits geförderter Maß-nahmen, also vor allem die gewöhnliche, wöchentlicheJugendarbeit in den Gruppen vor Ort (vgl. Tab. 6.3).

Ta b e l l e 6 . 3

Entwicklung von öffentlich geförderten Maßnahmen sowie Teilnehmer/innen in der Jugendarbeit,

1992 bis 2000

Quelle: Rauschenbach u. a. 2004, S. 224

Bezogen auf die Bevölkerungsgruppe der 6- bis unter18-Jährigen lassen diese Daten erkennen, dass sich zwi-schen 1992 und 2000 die Anzahl der Maßnahmen von124 auf 107 je 10 000 Personen dieser Altersgruppe redu-ziert hat, während der Teilnehmerquotient mit 42 pro 100in etwa gleich geblieben ist.

Der Bereich der offenen Jugendarbeit als jener Form, dieüberwiegend in Jugendfreizeitstätten mit hauptberufli-chem Personal erbracht wird, ist unter quantitativen Ge-sichtspunkten – speziell in Bezug auf die Nutzung durchdie Adressaten/Adressatinnen – kaum untersucht. Die je-weiligen Einrichtungen unterscheiden sich, da überwie-gend auf ihr unmittelbares sozialräumliches Umfeld aus-gerichtet, sehr deutlich nach Art und Umfang der

233 Mitgliedslisten erfassen mangels eines einheitlichen Mitgliedsbe-griffs verschiedene Nutzungsformen. Bei Surveydaten ist das Pro-blem der Zählung von Mehrfachmitgliedschaften nicht auszuschlie-ßen; aber auch die Tatsache, dass Jugendliche, insbesondere Kinder,nicht immer wissen, ob und bei welcher Organisation sie Mitgliedsind, ist hierbei zu beachten. Außerdem operieren Erhebungen mitunterschiedlichen Organisationssortierungen, die systematische Ver-gleiche der Einzelergebnisse verhindern. Folglich gibt es sehr weitdifferierende Angaben zur Mitgliedschaft von Kindern und Jugendli-chen in Jugend- und Sportorganisationen.

234 Zu berücksichtigen ist allerdings, dass diese Statistik auf Teilnahme-Fällen basiert, d. h. ein Jugendlicher, der mehrere Maßnahmen be-sucht, wird entsprechend oft als Fall gezählt. Damit macht die Statis-tik keine Aussage darüber, wie die Inanspruchnahme der Jugendar-beit pro Jugendlicher/Jugendlichem aussieht; auch der BegriffTeilnehmer/in ist insofern unpräzise. Unter Berücksichtigung dieserEinschränkungen können an den Daten der Kinder- und Jugendhilfeinsbesondere zeitliche Veränderungen und der Statistik immanenteVerschiebungen bzw. Relationen verdeutlicht werden.

Maßnah-men Teilnehmer/innen

insgesamt insgesamt Frauen (in %)

1992 127 915 4 308 121 46,4

1996 130 372 4 671 921 48,0

2000 116 643 4 547 306 47,9

Veränderung – 8,8 % 5,6 %

Page 255: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 245 – Drucksache 15/6014

Adressatengruppen, und sie arbeiten unter sehr verschie-denen Rahmenbedingungen (Einrichtungsgröße und Per-sonalausstattung), so dass diese Faktoren jeweils in Be-zug zu Nutzungsdaten gesetzt werden müssen.

Da kaum eine der repräsentativen JugendbefragungenDaten zum Besuch von Jugendfreizeitstätten erhebt, exis-tieren auch nur wenige gesicherte Aussagen aus der Nut-zerperspektive. In der Shell-Studie 1997 geben46 Prozent der 12- bis 25-Jährigen an, in der Freizeitüberhaupt einmal ein Jugendzentrum besucht zu haben;als häufige Besucher bezeichnen sich immerhin16 Prozent der Befragten. Die Anteile liegen zwischen70 Prozent (der 15-jährigen Jungen) und 18 Prozent (der24-jährigen Frauen) (Jugendwerk der Deutschen Shell1997). Das heißt, der Nutzungsgrad ist nicht nur von derAngebotsstruktur abhängig, sondern auch vom Alter undvom Geschlecht (Santen 2003, S. 304). Aktuellere Datenliegen auf der Basis des neuen DJI-Jugendsurvey aus demJahr 2003 vor. Demnach haben 45 Prozent der 12- bis15-Jährigen schon einmal ein Jugendzentrum besucht;unter den 16- bis 21-Jährigen waren dies 58 Prozent. Da-bei finden sich keine bedeutsamen geschlechtsspezifi-schen Unterschiede, sehr wohl aber Differenzen in Bezugauf Bildungsstand und Migrationshintergrund.

Eine etwas andere Perspektive nimmt das Berichtswesenzur offenen Kinder- und Jugendarbeit in Nordrhein-West-falen ein. Gefragt wird hier nach Stammbesucherinnenund -besuchern, also nach den jungen Menschen, die dieAngebote der offenen Kinder- und Jugendarbeit regelmä-ßig nutzen. Entsprechend müssen die Werte niedriger aus-fallen als z. B. in der Shell-Studie. Insgesamt ist für dasJahr 2002 anzunehmen, dass gut 5 Prozent der 6- bis 21-Jährigen in Nordrhein-Westfalen Stammbesucherinnenund -besucher in entsprechenden Einrichtungen sind (Mi-nisterium für Schule, Jugend und Kinder des Landes Nord-rhein-Westfalen [MSJK] 2004, S. 51); nicht berücksich-tigt sind hierbei die sporadischen Nutzer und Nutzerinnendes alltäglichen Angebotsspektrums sowie die Besucherund Besucherinnen der besonderen Veranstaltungen.

Der Umfang der Teilnahme an der Jugendverbandsarbeitist über Surveydaten noch schwieriger zu erheben. Bezo-gen auf die Aktivität in Jugendverbänden, wie den Pfad-findern oder den kirchlichen Jugendgruppen, gaben in derShell-Studie 2000 zwischen 10 Prozent und 15 Prozentder 15- bis 17-Jährigen eine Teilnahme an. Diese Quotesinkt mit dem Übergang in die Volljährigkeit (vgl. Abb.A-6.1 im Anhang).

Jenseits der allgemeinen Übersichten über die Nutzungvon Angeboten der organisierten Freizeit und der Kinder-und Jugendarbeit sind Differenzierungen und Disparitä-ten von Belang. Nachfolgend sollen fünf Aspekte verfolgtwerden: (1) Alter, (2) Geschlecht, (3) Migration, (4) Bil-dungshintergrund; als weitere Dimension soll dann ab-schließend (5) das ehrenamtliche Engagement ins Blick-feld gerückt werden.

(1) Alter: Jugendarbeit wendet sich ihrem Anspruchund ihrem Auftrag nach an alle jungen Menschen im Al-ter von 6 bis 27 Jahren. Ein freiwilliges Angebot kann

diesen Anspruch allerdings nur vom Grundsatz her ein-halten; die tatsächliche Inanspruchnahme unterliegt un-terschiedlichen Einflussvariablen. Bei einer altersmäßi-gen Differenzierung nach Merkmalen der Nutzer undNutzerinnen zeigen sich einige Nutzungsmuster. Über dieNutzung der Angebote der Jugendarbeit durch Kinder imGrundschulalter lässt sich anhand vorliegender Surveyda-ten relativ wenig sagen, da die meisten dieser Erhebungenfrühestens mit dem zehnten Lebensjahr beginnen. Den-noch gibt es einige Hinweise: Laut Kinder- und Jugend-sportbericht sind Kinder im Alter von 4 bis 12 Jahren biszu 70 Prozent ehemalige oder aktuelle Mitglieder inSportvereinen (Schmidt 2003, S. 113); im DJI-Kinderpa-nel finden sich, wie in Abschnitt 4.5 gezeigt, im Vor- undGrundschulalter eine mit dem Alter steigende Teilnahmean Aktivitäten in Vereinen oder anderen festen Gruppenvon 50 Prozent bis 70 Prozent (vgl. auch Abb. 4.4).235

Auch im Jugendalter bleiben die Sportvereine die wich-tigsten zentralen Organisationen für Aktivitäten und Mit-gliedschaften (Rauschenbach 2003, S. 56). Tabelle 6.2zeigt – neben den Differenzen der unterschiedlichen Stu-dien – nicht unerhebliche altersspezifische Unterschiedemit Blick auf die Anteile an Aktiven bzw. Mitgliedern.Die Ergebnisse verschiedener Jugendstudien weisendabei insgesamt darauf hin, dass der Aktivitäts- bzw.Organisationsgrad der Jugendlichen in Jugendgruppenund -organisationen in der Altersphase der Volljährigkeitinsgesamt eher abnimmt.

Die Altersstruktur bei der Teilnahme an der Jugendarbeitim engeren Sinne kann dagegen nur annähernd bestimmtwerden. Tendenziell nimmt der Anteil der Jugendlichen,die ein Jugendzentrum besuchen, ab dem Alter von 15 bis16 Jahren ab (vgl. Abb. A-6.2 im Anhang). Und so findetsich auch im Rahmen der Jugendverbandsarbeit (am Bei-spiel kirchlicher Jugendgruppen und anderer Jugendver-bände) spätestens mit dem Erreichen der Volljährigkeitein deutlicher Rückgang der Mitgliedschaften (vgl. Abb.A-6.1 im Anhang).

Aussagen über die Altersverteilung der unter 14-jährigenTeilnehmer/innen bei der Kinder- und Jugendarbeit fin-den sich in den Surveys hingegen kaum. Infolgedessenkann der Anteil der Jugendarbeit, der sich auf Arbeit mitKindern bezieht, nur annähernd anhand einiger Einzelbe-funde illustriert werden. So ermittelte die Teilnehmer/in-nen-Befragung der Landesvereinigung Kulturelle Jugend-arbeit NRW e.V. 2001, dass sich fast ein Viertel allerProgrammangebote an die Altersgruppe der 6- bis 13-Jäh-rigen wendet. Die im Rahmen der Dortmunder Jugendar-beitsstudie befragten Fachkräfte vermittelten den Ein-druck eines deutlichen Übergewichts der Arbeit mitKindern in den Einrichtungen der Jugendarbeit(Rauschenbach u. a. 2000, S. 240).

Für das Land Nordrhein-Westfalen kann nach Ergebnis-sen des bereits erwähnten landesweiten Berichtswesensinsgesamt von der Annahme ausgegangen werden, dassknapp 28 Prozent der Stammbesucherinnen und -besu-

235 Zum DJI-Kinderpanel vgl. Glossar.

Page 256: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 246 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

cher in Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendar-beit zwischen 6 und 11 Jahre alt sind; weitere 26 Prozentsind der Altersgruppe der 12- bis 15-Jährigen zuzurech-nen (MSJK 2004, S. 50). Für Baden-Württemberg kommteine Studie der Arbeitsgemeinschaft der Jugendfreizeit-stätten in Baden-Württemberg (AGJF 2003) zu dem Er-gebnis, dass von den befragten 1 000 Einrichtungen42 Prozent mit Kindern unter 12 Jahren arbeiten. Zwarsind die beiden Datenquellen aus Nordrhein-Westfalenund Baden-Württemberg nicht unmittelbar miteinandervergleichbar; gleichwohl deutet sich im Ländervergleicheine unterschiedliche Schwerpunktsetzung in Bezug aufdie Arbeit mit Kindern auf diesem Feld zumindest an.

(2) Geschlecht: Deutliche geschlechtsspezifische Un-terschiede zeigen sich bei den Aktivitäten und Mitglied-schaften von Jungen und Mädchen, wenn man zwischenden Organisationen und Verbänden differenziert. So sindMädchen häufiger Mitglied in Musikvereinen, Chörenund kirchlichen Jugendgruppen, Jungen dagegen öfterMitglied in Sportvereinen, Rettungsdiensten sowie ande-ren Vereinen und Jugendgruppen. Angebote der Kinder-und Jugendkulturarbeit scheinen von Mädchen und Jun-gen zu gleichen Anteilen genutzt zu werden, allerdingsmit unterschiedlichen inhaltlichen Prioritäten. Laut der14. Shell-Jugendstudie ist im Wesentlichen ein Ge-schlechtereffekt bei der Vertretung in Vereinen (Musik,Sport, Kultur) zu verzeichnen. In diesen Organisationensind Mädchen zu 45 Prozent, Jungen dagegen zu59 Prozent engagiert. In Jugendorganisationen zeigt sichein Verhältnis von 24 Prozent Mädchen zu 26 ProzentJungen, in kirchlichen Gruppen von 20 Prozent Mädchenzu 18 Prozent Jungen (Deutsche Shell 2002, S. 206).

Die Daten der Kinder- und Jugendhilfe-Statistik zeigenfür die erfasste Kinder- und Jugendarbeit keine nennens-werten Nutzungsunterschiede zwischen weiblichen undmännlichen Teilnehmern. Der niedrigste Anteil an Mäd-chen liegt bei knapp 47 Prozent bei den Maßnahmen zurinternationalen Jugendarbeit in den alten Bundesländern(Santen 2003, S. 289). Insgesamt sind Mädchen durch-schnittlich zu 44 Prozent in der Mitgliedschaft von Ju-gendverbänden repräsentiert (ebd., S. 302), in ehrenamtli-chen Funktionen zu 45 Prozent.

Geschlecht in Kombination mit dem Alter führt hingegenzu deutlicheren Differenzen. Mädchen besuchen mit zu-nehmendem Alter seltener ein Jugendzentrum als Jungen.Im Alter von 12 Jahren sind sie noch mit einem Anteilvon 50 Prozent gegenüber den Jungen vertreten; anschlie-ßend entwickelt sich die Differenz zu den Jungen. Dergrößte Abstand – 40 Prozent weiblich und 60 Prozentmännlich – besteht bei den 18-Jährigen (Santen 2003,S. 304).

(3) Migrationshintergrund: Mit Blick auf Kinder undJugendliche mit Migrationshintergrund als Nutzerinnenund Nutzer von Einrichtungen offener Jugendarbeit zeigtsich in der Dortmunder Studie, dass diese zwar insgesamtnicht signifikant häufiger Jugendzentren nutzen als deut-sche, aber innerhalb dieser Gruppe die männlichen Ju-gendlichen deutlich überwiegen (Züchner 2003, S. 54). Inder Kinder- und Jugendkulturarbeit in Nordrhein-Westfa-

len weisen 17 Prozent der Teilnehmer und Teilnehmerin-nen einen Migrationshintergrund auf. Betrachtet man dieSituation der offenen Kinder- und Jugendarbeit in Nord-rhein-Westfalen, dann wird deutlich, dass etwa37 Prozent der Stammbesucherinnen und -besucher inden entsprechenden Einrichtungen einen Migrationshin-tergrund aufweisen. Führt man sich vor Augen, dass inder Altersgruppe der 6- bis 21-Jährigen in Nordrhein-Westfalen knapp 14 Prozent in der Statistik als nicht-deutsch geführt werden, so belegt dies bei allen Ungenau-igkeiten aufgrund der Änderungen beim Staatsangehörig-keitsrecht die erhöhte Bedeutung der offenen Kinder- undJugendarbeit gerade für diese Gruppe junger Menschen(ausführlicher MSJK 2004, S. 32ff.).

Auch die Daten des neuen DJI-Jugendsurvey bieten einähnliches Bild. Während die Angebote der Jugendver-bände unterdurchschnittlich von Kindern mit Migrations-hintergrund genutzt werden, ist dies bei Jugendzentrenund Jugendfreizeitstätten nicht der Fall. Ihnen gelingt esoffenbar weitaus besser, diese Kinder und Jugendlichenzu integrieren (vgl. Abb. 6.1). Wenn man die Teilnahmeallerdings noch einmal nach Geschlecht und Migrationdifferenziert, legen die Daten des DJI-Jugendsurveys2003 den Schluss nahe, dass es in der Altersgruppe der12- bis 15-Jährigen insbesondere die Jungen sind, die dieAngebote wahrnehmen, während Mädchen sich in diesemAlter häufiger aus der Jugendarbeit zurückziehen – einTrend, der sich auch bei den 16- bis 20-jährigen Migran-tinnen bestätigt.

In der Summe ergeben sich somit zwei wichtige Befunde:erstens, dass Jugendarbeit ein wichtiges Integrationsange-bot für Jugendliche mit Migrationshintergrund ist, undzweitens, dass die offenen Jugendfreizeiteinrichtungenweitaus besser als die Jugendverbände in der Lage – oderwillens – sind, diese Jugendlichen anzusprechen.

(4) Bildungshintergrund: Angebote der Jugendarbeitscheinen in vielen Bereichen überproportional häufig vonSchülerinnen und Schülern wahrgenommen zu werden,die das Gymnasium besuchen. Das gilt in dieser Allge-meinheit sicher nicht für die Besucherinnen und Besuchervon Jugendzentren, auch nicht für alle Jugendverbände,sofern sie, wie beispielsweise Sportvereine, milieuspezi-fisch ausgerichtet sind. Durchschnittszahlen belegen aberauch für diesen außerschulischen Bildungsbereich denZusammenhang von Herkunftsmilieu und Teilhabe amorganisierten Vereinssport. Sport, vor allem der organi-sierte Vereinssport, ist weitgehend eine Sache der Mittel-und Oberschicht. In der ersten Kinder- und Jugendsport-studie waren 62 Prozent aller Jungen an Gymnasien imSportverein, aber nur 18 Prozent der Mädchen an Haupt-schulen (Hartmann-Tews/Luetkens 2003, S. 307). Eineähnliche Verteilung zeigt sich auch im DJI-Jugendsurvey2003; danach sind je 65 Prozent der Schüler/innen desGymnasiums im Sportverein aktiv, aber nur 48 Prozentder Hauptschüler/innen (vgl. Abb. 6.2).

Differenziert man diese Befunde nach dem Geschlechtder sportlich Aktiven in den unterschiedlichen Schulfor-men, so findet sich mit 36 Prozent der niedrigste Anteilsportlich Aktiver bei den Hauptschülerinnen und mit69 Prozent der höchste Anteil bei den Gymnasiasten.

Page 257: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 247 – Drucksache 15/6014

A b b i l d u n g 6.1

Anteil der 12- bis 15-Jährigen, die Angebote von Jugendzentren und Jugendverbänden wahrgenommen haben (2003; in Prozent)

Quelle: Auswertung des DJI-Jugendsurvey 2003; Auswertungen für den Zwölften Kinder- und Jugendbericht

A b b i l d u n g 6.2

Aktivität/Mitgliedschaft der 12- bis 15-Jährigen im Sportverein nach Schulform (2003; in Prozent)

Quelle: DJI-Jugendsurvey 2003; Auswertungen für den Zwölften Kinder- und Jugendbericht

28,7 29,7

45,6 45,9

20,4

17,3

48,1

42,9

0

10

20

30

40

50

60

Jugendverband, Jungen Jugendverband, Mädchen Jugendzentrum, Jungen Jugendzentrum, Mädchen

ohne Migrationshintergrund mit Migrationshintergrund

65,1

54,7

48,3

48,3

0 10 20 30 40 50 60 70

Gymnasium

Realschule

Hauptschule

Gesamtschule

Page 258: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 248 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Einerseits kann vermutet werden, dass die im Vergleichzu Berufstätigen oder Auszubildenden größeren zeitli-chen Spielräume von Schülerinnen und Schülern in Kom-bination mit der in vielen Organisationen geltendenAltersbegrenzung zur Übernahme verantwortlicher Funk-tionen fast automatisch die Konzentration auf Jugendli-che in den oberen Gymnasialklassen fördert. Andererseitszeigt aber auch der Freiwilligensurvey 2004, dass „Viel-beschäftigte“ auch diejenigen sind, die sich zusätzlichnoch vielfältig engagieren. Dies könnte darauf hindeuten,dass Selbstbestätigung und die Erfahrung von Selbstwirk-samkeit die individuelle Bereitschaft zum Engagementeher verstärken, während äußere Faktoren, wie disponibleZeit, demgegenüber weniger entscheidend sind.

(5) Ehrenamtliches Engagement: Freiwilliges, ehren-amtliches Engagement stellt eine besondere Form vonBildungsangebot dar, die in der Jugendarbeit – und nichtnur hier – einen wichtigen Stellenwert besitzt. Spätestenshier verlassen die Jugendlichen ihre Rolle als Konsumen-ten von Angeboten der Jugendarbeit und werden selbst zuKo-Produzenten. Diese Form der Jugendarbeitsnutzunggilt insbesondere für die zahlreichen Jugendverbände, de-ren gruppenbezogene Arbeit am Ort nach wie vor ganzüberwiegend von Ehrenamtlichen betrieben wird. DieseForm der Mitarbeit stellt nicht nur eine zentrale Grundvo-raussetzung für die Gewährleistung des Angebots dar;vielmehr erwerben junge Menschen in diesem Engage-ment zugleich selbst Kompetenzen, die für ihre eigeneberufliche Entwicklung, für den Erwerb von Schlüssel-kompetenzen, aber auch für die Persönlichkeitsentwick-lung und für ihre zivilgesellschaftliche Stellung erhebli-che Relevanz haben. Zum Gesamtfeld ehrenamtlichenEngagements junger Menschen gibt es allerdings – ähn-lich wie bei der Mitgliedschaft – höchst unterschiedlicheDaten (vgl. Tab. 6.4).

Ta b e l l e 6.4

Ehrenamtliches Engagement von Jugendlichen in aus-gewählten Studien nach Altersgruppen

(in Prozent)

Quelle: in Anlehnung an Santen 2005a

So kommen je nach Fragestellung und Untersuchungs-richtung sehr unterschiedliche Quoten von ehrenamtlich/freiwillig Engagierten zustande. In den aufgeführten Stu-dien reicht die Fragestellung von freiwilligem – auchkurzzeitigerem – Engagement (Freiwilligensurvey) bis

hin zur Ausübung eines (Ehren-)Amtes in einer festen Or-ganisation wie z. B. einem Jugendverband.

Gut belegt ist die Tatsache, dass Jugendliche im Vergleichzu anderen Altersgruppen in der Bevölkerung nicht weni-ger engagiert sind; von einer schwindenden Bereitschaftjunger Menschen hierzu kann keine Rede sein. Der Frei-willigensurvey ermittelte sowohl 1999 als auch 2004 mit37 Prozent den höchsten Anteil ehrenamtlich Engagierterin der Altersgruppe der 14- bis 21-Jährigen, und 15 Pro-zent aller jungen Menschen dieser Altersgruppe betätigtensich sogar mehrmals in der Woche ehrenamtlich. Unterden Ehrenamtlichen dieses Alters sind 88 Prozent Schüle-rinnen und Schüler. Jugendliches Engagement ist über-wiegend angesiedelt in Vereinen (49 Prozent) und Verbän-den, Gewerkschaften, Parteien und Kirchen (24 Prozent;BMFSFJ 2002b; Picot 2000), aber auch in Formen derSelbstorganisation und der Selbsthilfe (11 Prozent). DieDortmunder Jugendarbeitsstudie ermittelte einen wö-chentlichen Zeitaufwand der freiwilligen Mitarbeit in Ju-gendorganisationen von rund 8 Stunden; andere Angabenbeziffern diesen mit 2 bis 6 Stunden. Als Hauptbetäti-gungsfelder werden die Arbeit mit Kinder- und Jugend-gruppen, die Ferienbetreuung, Organisation und Gremien-arbeit genannt (Rauschenbach u. a. 2000, S. 198). Vondiesen Engagierten hat die Mehrzahl mit 48 Prozent dasAbitur, 20 Prozent haben einen Hauptschulabschluss,17 Prozent einen Realschulabschluss und 16 Prozent dieFachhochschulreife (ebd., S. 199). Damit ist auch beimehrenamtlichen Engagement eine bildungsspezifischeKomponente zu erkennen (vgl. Abb. 6.3).

A b b i l d u n g 6 . 3

Anteil der aktuell ehrenamtlich/freiwillig engagierten 14- bis 20-jährigen Schülerinnen und Schüler nach

Schulform (2004; in Prozent)

Quelle: Freiwilligensurvey 2004; Auswertungen für den Zwölften Kin-der- und Jugendbericht durch das DJI

Studien 14–17 Jahre

18–20 Jahre

DJI-Jugendsurvey 1997 / 12Freiwilligensurvey 1999 37 40Shellstudie 2000 / 12SOEP 2001 / 24Zeitbudgetstudie 2001/02 25 35Allbus 2002 / 58DJI-Jugendsurvey 2003 / 14Freiwilligensurvey 2004 37 40

23,4

36,9

46,0 54,0

63,1

76,6

0 20 40 60 80 100

Hauptschule

Realschule

Gymnasium

aktuell ehrenamtl./freiw. engagiert

nicht ehrenamtl./freiw. engagiert

Page 259: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 249 – Drucksache 15/6014

Auch wenn das Durchschnittsalter bei Haupt- und Real-schülern/innen in diesem Fall etwa eineinhalb Jahre unterdem der Gymnasiasten/Gymnasiastinnen liegt und vondaher grundsätzlich eine leichte Altersverzerrung zu ver-muten ist, zeigt sich im Ergebnis ein deutlich stärkeresEngagement von Abiturientinnen und Abiturienten auchdann, wenn man sich lediglich die Gruppe der 19- bis 24-Jährigen anschaut, die die Schule schon verlassen haben.In dieser Altersgruppe sind mit einem Anteil von über40 Prozent ebenfalls deutlich mehr junge Erwachsene mitAbitur ehrenamtlich tätig als solche mit Realschul- bzw.Hauptschulabschluss.

Zusammenfassung: Schwerpunktmäßig wird in den Ju-gendverbänden musisch-ästhetische, politische, sportli-che und technisch-handwerkliche Bildung angeboten(Lüders/Behr 2002). Dieses Angebot erreicht, als Ganzesbetrachtet, einen deutlichen Anteil junger Menschen.Fasst man die unterschiedlichen Nutzungsdaten zusam-men, so wird deutlich – wenn man den organisiertenSport einbezieht –, dass ungefähr jeder zweite zwischendem 12. und dem 21. Lebensjahr mindestens gelegent-lich, häufig aber auch über eine längere Zeitspanne inirgendeiner Weise mit der Jugendarbeit in Kontakt kam,als Besucherin oder Besucher von Jugendfreizeiteinrich-tungen, als Mitglied oder Ehrenamtliche/r in Jugend- undSportorganisationen. Allerdings sind die Formen, die In-tensität, die Dauer und damit die Möglichkeiten desKompetenzerwerbs sehr unterschiedlich ausgeprägt. DieDifferenz zwischen gelegentlichen und regelmäßigenNutzerinnen/Nutzern kann zwischen 88 Prozent und15 Prozent liegen (Züchner 2003, S. 51).

Außerdem zeigen sich deutliche Nutzungsunterschiedemit Blick auf Alter, Geschlecht sowie Migrations- undBildungshintergrund der Zielgruppe. Zum einen scheinenJugendverbände eine Angebotsform zu sein, die eher Ju-gendliche im Alter zwischen 15 und 18 Jahren anspricht,insbesondere dann, wenn sie keinen Migrationshinter-grund haben und ein Gymnasium besuchen. Zum anderenwurde aus der Analyse der Angebotsstruktur der offenenJugendarbeit aber auch deutlich, dass ein erheblicher Teildieser Einrichtungen auch jüngere Altersgruppen er-reicht. Ein Geschlechtereffekt scheint hingegen am deut-lichsten in Kombination mit dem Lebensalter zum Tragenzu kommen; hierbei zeigt sich wieder einmal, dass jungeFrauen – vor allem solche mit Migrationshintergrund –sich im Jugendalter relativ schnell aus der Jugendarbeitzurückziehen. Darüber hinaus spielt die offene Jugendar-beit für Kinder und Jugendliche mit Migrationshinter-grund eine wichtige und zugleich weitaus bedeutsamereRolle als die Jugendverbandsarbeit. Und zu dem Zusam-menhang von Bildungshintergrund und selbst aktivieren-den Bildungsgelegenheiten der Jugendarbeit in Form eh-renamtlichen Engagements kann folgende Annahme alsplausibel gelten: Freiwilliges Engagement in der Jugend-arbeit ist als eine besondere Bildungsform überwiegendein Betätigungsfeld von Jugendlichen mit höherer Schul-bildung.

(c) Bildungsleistungen

Geht man von inhaltlich-thematischen Merkmalen derunterschiedlichen Bildungsangebote und ihrer Nutzungs-häufigkeit aus, so stehen in der Jugendarbeit die Bereicheder sportlichen, der kulturellen, der weltanschaulichenund der politisch-sozialen Bildung im Vordergrund. Ju-gendarbeit bewegt sich mit ihren Angeboten, so kannman folgern, überwiegend im Kontext sozialer und sub-jektiver Weltbezüge, wenngleich fachliche Themen imengeren Sinne – etwa vor dem Hintergrund ökologischerFragestellungen oder an Medien ausgerichteter Interes-sen – Bildungsprozesse ebenso inhaltlich füllen können.Unter Kompetenzgesichtspunkten steht folglich die Ver-mittlung sozialer und personaler Kompetenz in allen An-gebotsformen im Vordergrund, obwohl – je nach Angebotund Jugendverband – auch instrumentelle und kognitiveKompetenzen gefördert werden.

Alle Einschätzungen zu Bildungsleistungen oder Effektengelten allerdings unter dem Vorbehalt, dass es keine annä-hernd vergleichbaren Aussagen über die Bildungsleistun-gen, wie sie etwa die PISA-Untersuchung ermittelt hat,für außerschulische Bildungsangebote gibt. Aus den (we-nigen) biografischen bzw. qualitativen Studien (vgl. Ka-pitel 4) wird allerdings erkennbar, dass aus der Sicht derbeteiligten Kinder und Jugendlichen Bildungseffekte vorallem als personale und soziale Kompetenzen gedeutetwerden. Erworben werden diese anscheinend relativ un-abhängig und zusätzlich zu den verbands- und/oder fach-spezifischen Themen und Gegenständen, die für dieunterschiedlichen Handlungsfelder der Jugendarbeitkennzeichnend sind. So gelten Sport und Bewegungheute als bedeutsam für Identitätsbildung und Selbstbe-hauptung (Rittner 2004). Und als Bildungseffekte derKinder- und Jugendkulturarbeit werden Ich-Stärke, Er-fahrungen der Selbstwirksamkeit und soziale Sensibilitätgenannt (Lindner 2004). Genauso betonen die ehemali-gen Mitglieder eines Naturschutzverbandes, dass ihrEngagement ihnen neben fachspezifischem Wissen vorallem Selbstkompetenzen, Selbstwirksamkeitsüberzeu-gungen und Selbstbewusstsein vermittelt habe (Fischer2001).

Offensichtlich werden Bildungsangebote, selbst wenn sie,von außen betrachtet, ein eindeutig inhaltliches Profilaufweisen, wie z. B. sportliche oder kulturelle Bildung,nicht nur – womöglich nicht einmal vorrangig – themen-bezogen aufgesucht. Die Gründe für die Teilnahme anAngeboten der Jugendarbeit liegen mehrheitlich darin,mit Freunden Spaß zu haben und sich mit Gruppen undCliquen zu treffen. Neben dem Freizeitverhalten derFreunde kommt der räumlichen Nähe der Angebote eineSchlüsselrolle für die Teilnahme zu (Rauschenbach u. a.2000, S. 307).

Das Angebots- oder Bildungsprogramm, die behaupteteoder zugeschriebene Leistung sind nicht zwangsläufigidentisch mit dem individuellen Ertrag dieses Bildungs-bereichs. Grundsätzlich ist bei einer Bilanzierung der Bil-dungsleistungen deshalb danach zu fragen, welche Be-deutung die Adressatinnen und Adressaten selbst diesen

Page 260: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 250 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

zumessen, wie sie die Angebote definieren und in ihremSinne nutzen (Rauschenbach u. a. 2004, S. 241).

Ansatzweise untersucht und belegt ist diese möglicheDifferenz zwischen tatsächlicher subjektiver Aneignungund erhoffter Wirkung im Hinblick auf freiwilliges En-gagement. Die Nutzungsform der Jugendarbeit gilt einer-seits als besondere Leistung, insofern bereits unter quan-titativen Gesichtspunkten hierdurch ein bedeutendergesellschaftlicher Mehrwert erzeugt wird.236 Das Inte-resse junger Menschen daran, sich zu engagieren, ist an-dererseits weder von solchen Motiven gekennzeichnet,noch richtet es sich maßgeblich nach den Funktionserfor-dernissen der Organisationen, in denen sie sich engagie-ren. Ihre Motive und ihre subjektiven Effekte bestehenaus einer Mischung aus Geselligkeit, Spaß, Selbstbestim-mung, Anerkennung, persönlichkeitsbildender Selbster-fahrung, selbst bestimmter Hilfeleistung, Suche nach For-men sozialen Umgangs und gesellschaftlicher Teilhabe.Die Vermittlung der Erfahrung von Selbstwirksamkeitund Einzigartigkeit steht in direktem Zusammenhang mitder Bereitschaft, sich zu engagieren (Keupp 2000, S. 51).

Verallgemeinert kann man festhalten, dass sich Bildungs-leistungen offenkundig nicht in erster Linie an Program-men und Angeboten festmachen lassen, sondern maßgeb-lich von der subjektiven Bedeutung und Aneignungbestimmt werden. So könnte es sich erklären, dass auf in-haltlich-thematisch sehr unterschiedlich ausgerichtetenHandlungsfeldern ähnliche Bildungseffekte zu beobach-ten sind. Es sind vermutlich eher die spezifischen Merk-male möglicher selbstaktiver Bildungsgelegenheiten annon-formalen Bildungsorten, die ein Bildungsprofil derJugendarbeit erkennen lassen, als die ihr eigenen The-men, Inhalte und Kompetenzen.

Jugendarbeit als Bildungsort ist gekennzeichnet durcheine ihr eigene Aneignungs- und Vermittlungsstruktur,die Bildungsprozesse unterschiedlichster Art unter spezi-fischen nicht-schulischen bzw. non-formalen Praxisbe-dingungen ermöglicht und fördert. Als ineinander grei-fende Struktur von Aneignung und Vermittlungunterstützt und erfordert sie eine Form oder ein Musterpädagogischen Handelns, das den Erwerb und den Ver-lauf von Bildungsprozessen gegenüber anderen Bildungs-bereichen profiliert. Auf der Handlungsebene führt dieseStruktur die Ebene des Subjekts als Ko-Konstrukteur,oder besser: als Ko-Produzent, sowie die intentionale undinstitutionell-organisatorische Ebene zusammen. DieseStruktur unterliegt historischen Veränderungen, Anpas-sungen und Umdeutungen237 und ist gleichzeitig nichtlosgelöst von aktuellen Rahmenbedingungen der Organi-sationen und den Lebenslagen junger Menschen zu be-trachten. Aktuell kann auf der Basis des in den vorherigenAbschnitten Dargestellten diese Struktur von Aneignungund Vermittlung für Bildungsprozesse in der Jugendarbeit

folgendermaßen charakterisiert werden (Rauschenbachu. a. 2004, S. 24):

– Freiwilligkeit und Dienstleistung: Hauptmotiv fürTeilnahme, Mitmachen und Engagement in den Ju-gendverbänden ist jugendkulturelle Geselligkeit; Ver-pflichtungen bestehen überwiegend als Selbstver-pflichtung der Adressaten. Auf dieser Basis bauen dasInteresse an Teilhabe und die Wahrnehmung von Ver-antwortung auf. Ergänzt und unterstützt werden An-eignungsmotive und Vermittlungsformen durch die in-stitutionelle Organisation von Mitbestimmung undVerantwortungsübernahme mit der Leitidee des sozia-len und politischen Engagements.

– Selbst organisierte Kleingruppe und Freundesgruppe:Die Gesellungsform der Kleingruppe mit mehr oderweniger Gleichaltrigen und Gleichgesinnten ist derwesentliche Ausgangs- und Bezugspunkt für die Aus-einandersetzung mit dem Verhältnis zu sich selbst undzum sozialen Umfeld sowie für die Erfahrungen undReflexionen über Wirkungen des eigenen Handelns.

– Freiräume: Freiräume im wörtlichen wie im übertra-genen Sinne sind Voraussetzung wie Ergebnis von An-eignung. Bildung ereignet sich über Aneignung undGestaltung von Räumen, die Aneignung vorsehen,also pädagogisch gestaltet sind. Bildung als Aneig-nung von Räumen geschieht aber auch in Räumen, dieungeplante Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeitenzulassen, also Freiräume sind.

– (Jugend-)Kulturelle Praxis: Jugendkultur ist wesentli-ches Element von Freizeitverhalten und Freizeitgestal-tung. Sie ermöglicht Selbstausdruck, stellt Identitäts-muster zur Verfügung und vermittelt die Idee vonEinzigartigkeit und Zugehörigkeit gleichermaßen. Ju-gendkulturelle Praxis, z. B. Körper- und Sportkultur,durchdringt in dieser Funktion anders lautende Orga-nisationszwecke. Als Medium der Bildung dient ju-gendkulturelle Praxis als ästhetisch-lebensbezogenesMaterial für eine Kultivierung des Alltags (Fuchs2002, S. 110).

– Erfahrungslernen: Aneignung und Vermittlung in non-formalen Bildungsorten, wie sie die außerschulischeJugendbildung bereithält, fördern die lernende Verar-beitung von Wirkungserfahrungen. Lernen ist nichtMittel zum Zweck, sondern dient der besseren Lösungeiner Aufgabe, einer Situationsanforderung, eines rea-len Lebensproblems (Dohmen 2001). Damit kommenin der Jugendarbeit weit mehr als in der Schule Ele-mente des lebensweltlichen Lernens, der konkretenVerantwortungsübernahme und der Konfrontation mitSituationen, die Ernstcharakter haben, zum Tragen.

– Diskursivität: Aneignung und Vermittlung ereignensich durch Prozesse des Aushandelns auf der Basispersönlicher Beziehungen. Diese Prozesse sind grund-sätzlich ergebnisoffen; sie basieren auf der Gewäh-rung von Akzeptanz, Stärkung von Selbstwertgefühlund Respekt gegenüber Dritten (Sturzenhecker 2002).Dazu gehört auch eine offenere und bewusstere Ausei-nandersetzung mit Werten, Anschauungen, Einstellun-gen usw.

236 Bei einer geschätzten durchschnittlichen Arbeitszeit von vier Stun-den würden zehn Ehrenamtliche einer Vollzeitstelle in der Jugendar-beit entsprechen (Rauschenbach u. a. 2000).

237 Wie untrennbar letztlich Inhalt und Form miteinander verbundensind, zeigt Sielert (1991, S. 520) in seiner historischen Darstellungder Arbeitsformen der Jugendarbeit.

Page 261: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 251 – Drucksache 15/6014

– Institutionalisiertes Generationenverhältnis: Aneig-nung und Vermittlung über die Begegnung mit Älterenund Erwachsenen als Zeitgenossen, nicht als Instruk-toren, regen zur Auseinandersetzung mit verschiede-nen Lebensentwürfen an und ermöglichen eine kriti-sche Auseinandersetzung mit Erwachsenen sowie dieErprobung verschiedener Rollen- und Verhaltensmus-ter (Gängler 2002).

Zusammengefasst liegen die Stärken dieser Aneignungs-und Vermittlungsstruktur dort, wo es um offene Prozessegeht, wo die Motivationskraft der freien Entscheidungund die interessengeleitete Anstrengung als Bestandteilevon Selbstkompetenz ausreichend tragfähig sind, um Er-gebnisse zu erzielen. Die Stärken zeigen sich im Beson-deren, wenn es um Entwicklung und Förderung individu-eller Einzigartigkeit geht. Grenzen und Schwächenwerden sichtbar bei solchen Bildungsaufgaben, deren Er-gebnisse und Zwecke standardisiert sind, für deren Bear-beitung über Erfahrung und konkrete Anschauung hinausAbstraktion und Reflexion Voraussetzung sind.

6.1.1.4 Stärken und Schwächen der Jugend-arbeit unter der Perspektive von Bildungsleistungen

Eine Gesamteinschätzung zum Stellenwert der Jugendar-beit für die Ausgestaltung von gelingenden Bildungsbio-grafien kann auf der Basis des vorher Ausgeführten we-der eindeutig noch abschließend getroffen werden. Dieshängt ganz wesentlich mit dem unbefriedigenden Er-kenntnisstand und der unzureichenden Forschung in die-sem Themenbereich zusammen. Betrachtet man vomGrundsatz her die potenzielle Leistungsfähigkeit der Ju-gendarbeit, dann lassen sich derzeit folgende vorsichtigeSchlussfolgerungen ziehen.

Jugendarbeit stellt ihren Bildungsanspruch zu Recht. So-wohl konzeptionell als auch rechtlich betrachtet hat sie ei-genständige Bildungsaufgaben. Sie soll mit ihren Ange-boten die Aufgabe erfüllen, Persönlichkeitsentwicklungzu fördern. Trotz unterschiedlichster inhaltlich-themati-scher Angebote und Trägerstrukturen sowie Einrich-tungsformen zeichnet sich ein Bildungsprofil ab, dasdurch den Erwerb sozialer und personaler Kompetenzengekennzeichnet ist. Die Besonderheit der Jugendarbeit alseines non-formalen Bildungsorts liegt in einer spezifi-schen Aneignungs- und Vermittlungsstruktur, die siemaßgeblich von anderen Bildungsorten unterscheidet undihr Potenzial im Hinblick auf soziale und personale Kom-petenzvermittlung begründet. Allerdings ist Jugendarbeitüber ihre Bildungskonzepte und ihre gesetzlichen Aufga-benbestimmungen nicht ausreichend definiert und gesell-schaftlich nicht so akzeptiert, dass eine sozialpolitischeInpflichtnahme mit anderen Aufträgen ohne Gefährdungder eigenen Handlungsvoraussetzungen abgewiesen wer-den könnte bzw. unabhängig davon ein eigenständigesBildungsprogramm für alle Beteiligten erkennbar prakti-ziert werden könnte.

Trotzdem ist nicht zu verkennen, dass Jugendarbeit, so-weit diese Verallgemeinerung auf der Basis der zur Verfü-gung stehenden selektiven Daten zulässig ist, für nicht

wenige junge Menschen wichtige Bildungs- und Lern-möglichkeiten zur Verfügung stellt. Allerdings zeigensich hier auch deutliche Schwachpunkte. Die Inanspruch-nahme ist genauso wie das Angebot sehr unterschiedlich;besondere Adressatengruppen haben geringere Chancen,das Bildungsangebot der Jugendarbeit für sich zu nutzen.Die vorherrschende nachfrageorientierte Angebotsformder Jugendarbeit korrigiert von sich aus soziale Ungleich-heitsstrukturen nicht, sondern setzt diese tendenziell fort.Hier einen gezielten Ausgleich zu schaffen, erfordert ins-besondere professionelle Handlungskompetenz.

Einerseits ist Jugendarbeit im Wesentlichen so organi-siert, dass sie lebensweltnah auf Problem- und Interessen-lagen ihrer Adressaten eingehen kann; darin liegt eine ih-rer besonderen Stärken. Andererseits hat dies eineUneinheitlichkeit bzw. Vielfältigkeit zur Folge, die sichnach innen als Zufälligkeit und nach außen als Undurch-schaubarkeit, namentlich gegenüber formalen Bildungs-systemen, aber auch gegenüber den Adressatinnen undAdressaten, äußern kann.

Gemessen an der Finanz- und Personalausstattung, demGrad der Verbindlichkeit der Förderung, der Quote derVersorgung mit Angeboten und Einrichtungen, ist Ju-gendarbeit schwach institutionalisiert und in diesemSinne als ein eher marginaler Bestandteil des Bildungs-systems anzusehen. Gleichwohl sind einige dieser institu-tionell-organisatorischen Merkmale zugleich wichtigeGelingensbedingungen für Bildungsprozesse und -leis-tungen, die die Jugendarbeit kennzeichnen.

Weitgehend ungeklärt ist, welche individuellen Effekteoder Erfolge die Jugendarbeit als Bildung tatsächlich er-zielt. Abgesehen von Nutzungsdaten und Mitgliedersta-tistiken liegen über die personenbezogene Nutzung derJugendarbeit keine repräsentativen, verallgemeinerbarenempirischen Studien vor; dementsprechend kann es auchkeine Wirkungsdaten geben. Methodisch abgesicherteund weiterentwickelte Evaluationsstudien der Jugendar-beit – analog zu PISA – sind darüber hinaus dringend ge-boten.

Fragt man abschließend, welche Aspekte einer Weiterent-wicklung der Jugendarbeit als Bildungsangebot im Vor-dergrund stehen, können folgende Punkte festgehaltenwerden:

– Notwendig erscheint, den eigenständigen Bildungs-auftrag der Jugendarbeit aufrechtzuerhalten und offen-siv darzustellen. Damit verbunden ist allerdings dieHerausforderung, die Praxiskonzepte deutlicher undbewusster als bisher im Hinblick auf konkrete Bil-dungsziele und -aufgaben zu präzisieren.

– Hier gilt es, die besonderen Stärken, die Jugendarbeitoffensichtlich bei der Vermittlung sozialer und perso-naler Kompetenzen entwickeln kann, auf jeweils kon-krete Adressatengruppen und Handlungssituationenhin zu präzisieren. Unter dieser Voraussetzung er-scheint es auf jeden Fall angezeigt, sich konkret derAufgabe anzunehmen, die Möglichkeiten und Gren-zen der eigenständigen Bildungsarbeit im Rahmen for-maler Bildungsinstitutionen zu erproben.

Page 262: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 252 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

– Angesichts der Differenziertheit des Systems derJugendarbeit und vorhandener Disparitäten in der An-gebots- und Infrastruktur liegt eine Weiterentwick-lungsperspektive der Jugendarbeit und ihrer Bildungs-leistungen im Wesentlichen darin, kleinräumigdifferenzierte, passgenaue Angebote zu entwickeln,die den örtlichen Bedarf und die vorhandenen Gege-benheiten zum Ausgangspunkt nehmen. Das kann al-lerdings nur dann gelingen, wenn entsprechende Pla-nungskenntnisse vorhanden sind und auch konsequentin diese Richtung umgesetzt werden. Hier muss dieJugendarbeit selbst auch verstärkt Forschungsbedarfanmelden und dessen Befriedigung aktiv unterstützen.

– Nicht zu verkennen ist schließlich, dass sich im Hin-blick auf bestimmte Adressatengruppen vor dem Hin-tergrund ihrer Lebenslagen neue Bildungsaufgabenstellen, auf die Jugendarbeit mit ihrem typischen Hand-lungsrepertoire nur unzureichend vorbereitet ist. Sozeigt sich eine erhebliche Diskrepanz zwischen dembreiten Bedarf an verlässlicher Betreuung am Nachmit-tag im Schulalter und den bisher vorhandenen Mög-lichkeiten und Leistungen der Jugendarbeit. Als ver-gleichsweise ungeklärt, aber trotzdem dringlich, stelltsich die Aufgabe, gerade die besonderen Potenziale derBildungsarbeit für solche Kinder und Jugendliche zuerschließen, die zu den so genannten Risikogruppendes formalen Bildungssystems zählen. Hier solltenüber die bisherigen Praxisansätze neue Mischformenformaler Bildung und typischer Bildungsangebote derJugendarbeit (z. B. im Rahmen von Ferienprogram-men für bestimmte Schülergruppen) entwickelt wer-den. Dabei werden sich auch Teile der Jugendarbeit,insbesondere die offene, hauptberufliche Jugendarbeit,der Kooperation mit der Schule nicht entziehen kön-nen.

6.1.2 Der Hort238

Die geläufigste Bezeichnung für ein außerschulisches, imRahmen der Kinder- und Jugendhilfe verankertes Angebotfür Kinder vom Schuleintritt bis zum Alter von etwa14 Jahren ist der Hort. Mit diesem Begriff wird in der Bun-desrepublik Deutschland eine Vielzahl unterschiedlicherOrganisationsformen zusammengefasst, z. B. Kinderhort,Hort an der Schule, Schulkinderhaus, Schülerladen, Hort-gruppen oder -plätze in Kindertageseinrichtungen, Schul-hort. Bei all diesen Organisationsformen handelt es sichum regelmäßige Angebote mit schulergänzendem Charak-ter, die seit einiger Zeit auch in der Organisationshoheitdes Schulwesens entstanden sind. Daneben haben sichneue Angebotsformen für Schulkinder in unterschiedli-cher Trägerschaft entwickelt mit verschiedenen Zeitseg-menten und Leistungsangeboten, wie z. B. pädagogischerMittagstisch, Hausaufgabenhilfe u. a., die meist in Betreu-ungslücken ihren Ausgangspunkt haben (Pelzer 1999).

Geschichtlich betrachtet sind Tageseinrichtungen für Kin-der zum Schutz und zur Betreuung von Kindern entstan-den, deren Eltern aufgrund von Erwerbstätigkeit oder we-gen anderer Gründe nicht für sie sorgen konnten. Auchbeim Hort kann die fürsorgerische Betonung seiner Funk-tion und seiner Aufgaben als Institution zur Versorgungvon Kindern arbeitender Eltern, insbesondere arbeitenderMütter, aus der Geschichte hergeleitet werden (Jordan/Sengling 1992, S, 137; Deutscher Verein 2002, S. 473f.).Allerdings wurde schon der erste deutsche Kinderhort(1872) gegründet, um „Kinder im schulpflichtigen Alterzu erziehen und zu bilden unter Berücksichtigung dessen,was sie zu ihrer altersgemäßen Entwicklung brauchen“(Sozialpädagogisches Institut Nordrhein-Westfalen [SPINRW] 1989, S. 7).

Die DDR beschritt andere Wege. Horte wurden dort flä-chendeckend und faktisch für alle Kinder bis etwa10 Jahre angeboten, damit möglichst viele Frauen berufs-tätig sein und die Kinder betreut wissen konnten, und derHort wurde schon zu Beginn der 1950er-Jahre vollständigin das Bildungswesen integriert. Die BRD setzte dagegendie fürsorgerische Tradition fort. Der Hort diente als Aus-fallbürge für arbeitende Eltern. Er wurde z. T. als Einzel-fallhilfe eingesetzt und sozial negativ bewertet (Münderu. a. 1998, S. 100). Sein Angebot richtete sich an Kinderin „besonderen Lebenssituationen“, um „Verwahrlosungvorzubeugen“ und Heimeinweisung zu vermeiden (SPINRW 1989, S. 5). Entsprechend gering war die Anzahlder zur Verfügung gestellten Plätze. Sie dienten als Not-versorgung und standen vorwiegend in Städten und In-dustriezentren zur Verfügung.

Doch in den 1980er-Jahren kündigte sich in der BRD einAkzeptanzwandel an. Verbunden war diese Entwicklungim Hort mit der Zuschreibung eines eigenständigen Erzie-hungs- und Bildungsauftrags neben Elternhaus undSchule: „Der Hort hat nach Auffassung der Jugendminis-ter und -senatoren einen gegenüber der Schule eigenstän-digen Erziehungs- und Bildungsauftrag. Er soll den Kin-dern entsprechend ihrer jeweiligen LebenssituationMöglichkeiten und Anreize zur Entwicklung ihrer gesam-ten Persönlichkeit bieten“ (Konferenz der Jugendminister1987, S. 1f.). Ab 1990 wurde der Hort im damals neuenKinder- und Jugendhilferecht als einerseits familiener-gänzende, andererseits eigenständige pädagogische Ein-richtung zur Betreuung, Bildung und Erziehung von Kin-dern anerkannt (Bundesminister für Frauen und Jugend1991, S. 19 und 51).

Die Zuordnung der Horte zur Kinder- und Jugendhilfeweist sie – wie alle Tageseinrichtungen – als Teil der öf-fentlichen Fürsorge aus (Bundesverfassungsgericht1998239). Seit dem Inkrafttreten des Tagesbetreuungsaus-baugesetzes (TAG) zum 1. Januar 2005, ist die Bezeich-nung Hort aus dem Bundesgesetz verschwunden.240 Nachrund 15 Jahren Anerkennung der Institution durch ihreausdrückliche Erwähnung firmiert er nun als Tagesein-

238 Der Text basiert auf einer Expertise von Roger Prott für diesen Be-richt (siehe Anhang).

239 BVerfG, 1 BvR 178/97 vom 10. März 1998, Absatz-Nr. (1–60), http://www.bverfg.de/

240 Zum Tagesbetreuungsausbaugesetz vgl. Glossar.

Page 263: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 253 – Drucksache 15/6014

richtung für Kinder im schulpflichtigen Alter. Darunterwerden die verschiedenen Organisationsformen zusam-mengefasst, z. B. die eigenständige Institution Hort oderFormen des Verbunds mit Kindergarten und/oder Krippe,je nach den regionalen Traditionen und aktueller Sozial-politik.

6.1.2.1 Bildungsauftrag und Bildungskonzepte des Horts

(a) Der gesetzliche Auftrag des Horts

Horte gehören in der Bundesrepublik Deutschland übli-cherweise zum System der Kinder- und Jugendhilfe.Selbst wenn sie räumlich in oder an Schulen angesiedeltsind, werden sie rechtlich meist241 als Einrichtung organi-siert, die die Vorgaben des SGB VIII und der sie konkreti-sierenden Ländergesetze erfüllen müssen. Horte dienender Förderung von Schulkindern bzw. ihrer Entwicklungzu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Per-sönlichkeiten.

Die Regelungen des SGB VIII lassen auch in der aktuel-len Fassung erkennen, dass die Versorgung und die Be-treuung von Kindern, „deren Wohl nicht gesichert ist“und „deren Eltern eine Ausbildung oder Erwerbstätigkeitaufnehmen“, Vorrang vor den Aufgaben der Erziehungund der Bildung genießen (§ 24a Abs. 4 SGB VIII). DerHort ist demnach schon vom rechtlichen Rahmen hernicht unbedingt als Angebot für alle Kinder der betreffen-den Altersgruppe vorgesehen.

Der Auftrag zur Förderung von Kindern in Tageseinrich-tungen gemäß § 22 Abs. 3 SGB VIII umfasst Erziehung,Bildung und Betreuung des Kindes; bis Ende 2004 lautetedie Reihenfolge Betreuung, Bildung und Erziehung (§ 22Abs. 2 Satz 1 SGB VIII, alte Fassung). Diese Reihenfolgefindet sich ebenfalls in den Regelungen von 10 der 16Bundesländer. Fast alle Länder regeln die Angelegenhei-ten der Kindertageseinrichtungen/Horte durch Gesetz;nur Bayern und Hessen bedienen sich des Instruments derVerordnung. Die Länderregelungen folgen den Bundes-vorgaben im Wesentlichen, ergänzen sie jedoch mitunterum spezifische Aufgaben oder Themen für die pädagogi-sche Arbeit, beispielsweise Hausaufgabenbetreuung(Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt),Umgang mit neuen Medien (Bayern), Außenkontakte(Thüringen).

Im Gegensatz zur Schule erfüllen die Einrichtungen derJugendhilfe einen von den Elternrechten abgeleitetenAuftrag (zur Bildung und Erziehung von Kindern). Hortehaben einen familienergänzenden Auftrag (§ 22 Abs. 2SGB VIII). „Dies bedeutet u. a., dass der Hort neben demElternhaus und der Schule die Aufgabe hat, den Kindernsoziale Lernerfahrungen zu vermitteln, ihnen Entfal-tungs- und Spielraum zu gewähren, ihre Möglichkeiten

zur Freizeitgestaltung zu erweitern, ihnen für ihre schuli-sche Situation die notwendigen sozialpädagogischen Hil-fen zu geben und die Kinder mit besonderen Bedürfnissenentsprechend zu fördern“ (Konferenz der Jugendminister1987, S. 1f.).

Der familienergänzende Auftrag verpflichtet die Trägerund die Einrichtungen der Jugendhilfe dazu, die Grund-richtung der elterlichen Erziehung (§ 9 SGB VIII) und dieKontinuität der Erziehung zu wahren (§ 22a Abs. 2), ent-sprechend dem Wunsch- und Wahlrecht der Eltern einplurales Angebot bereitzustellen (§ 5) und die Erzie-hungsberechtigten an Entscheidungen und wesentlichenAngelegenheiten zu beteiligen (§ 22a Abs. 3). Der (neue)§ 22a Abs. 1 SGB VIII verpflichtet Träger und Einrich-tungen zum Einsatz einer pädagogischen Konzeption „alsGrundlage für die Erfüllung des Förderauftrages“.

Das Hortangebot soll sich pädagogisch und organisato-risch an den Bedürfnissen der Kinder und ihrer Familienorientieren (§ 22a Abs. 3 SGB VIII), insbesondere Elterndarin unterstützen, Erwerbstätigkeit und Kindererziehungzu vereinbaren (§ 22 Abs. 2), wozu für die Altersgruppeder schulpflichtigen Kinder „Betreuungsmöglichkeiten inden Ferienzeiten“ zählen (§ 22a Abs. 3). Ein – quantita-tiv – bedarfsgerechtes (hier: quantitatives) Angebot istvorzuhalten (§ 24 SGB VIII). Die Länder Brandenburg,Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen ge-währen für Kinder unterschiedlicher Altersstufen einenPlatzanspruch.

Erziehung, Bildung und Betreuung machen zusammenden (sozialpädagogischen) Bildungsauftrag der Tagesein-richtungen für Kinder aus (Bundesministerium für Fami-lie, Senioren, Frauen und Jugend/Deutsches Jugendinstitut[BMFSFJ/DJI] 2004, S. 30). Der Bildungsauftrag derHorte ist schwierig abstrakt zu fassen. Praktikabler (undanschaulicher) als der Versuch einer dezidierten Defini-tion von Bildungsaufgaben im Hort ist der Weg über eineBenennung der verschiedenen Aufgaben, die ein Hort zurUnterstützung von Kindern erbringen muss. Horte (wiealle Tageseinrichtungen) sollen

– Pädagogik und Organisation an den Bedürfnissen derKinder und ihrer Familien orientieren (§ 22a Abs. 3SGB VIII),

– die Kinder ihrem Entwicklungsstand entsprechend be-teiligen,

– ihre wachsenden Bedürfnisse und Fähigkeiten zu selbst-ständigem, verantwortungsbewusstem Handeln be-rücksichtigen,

– Gleichberechtigung zwischen Jungen und Mädchenfördern und

– Benachteiligungen abbauen (§§ 8, 9 SGB VIII).

(b) Bildungskonzepte des Horts

Drei konstitutive Elemente finden sich in den Aufgaben-beschreibungen für den Hort: Er soll für eine (gesunde)Mittagsmahlzeit sorgen, eine Hausaufgabenbetreuung an-bieten und zur Freizeitgestaltung von Kindern beitragen

241 Als Ausnahme hiervon sei der Freistaat Thüringen erwähnt, wo alleGrundschulen Horte einrichten müssen; daneben können auch in derJugendhilfe Horte angeboten werden (§ 25a AG SGB VIII vom12. Januar 1993).

Page 264: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 254 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

(SPI NRW 1989 und Bundesarbeitsgemeinschaft der Lan-desjugendämter [BAG LJÄ] 1996, S. 3). Gemäß demfachlichen Auftrag sollen diese Aufgaben unter Erzie-hungs-, Bildungs- und Betreuungsaspekten gestaltetwerden, d. h. z. B. dass die Mahlzeit nicht nur der Nah-rungsaufnahme (Versorgung) dienen, sondern auch wün-schenswerte kulturelle, soziale und kognitive Erfahrun-gen ermöglichen soll.

Unter der Überschrift „Bildung ist mehr als Lernen“ führtdie Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe (AGJ) insgesamt15 Aspekte von Bildung auf, die auf Tageseinrichtungenals Anforderungskatalog bzw. Aufgabenzuschreibung an-gewandt werden können. Die folgende Auswahl nennt ei-nige Punkte, die besonders auf Hortkinder zutreffen:

– die Fähigkeit des Kindes unterstützen, mit Belastun-gen, Übergängen, Veränderungen und Krisen so um-zugehen, dass es darin Herausforderungen erblicktund Kräfte mobilisiert;

– den Erwerb von Lernkompetenzen und die Organisa-tion von Lernprozessen unterstützen;

– Körpererfahrung und den Zusammenhang von Bewe-gung, Wahrnehmung und Denkentwicklung unterstüt-zen;

– Weiterentwicklung und Stärkung von Aufmerksam-keit, Konzentration, Gedächtnis, Kreativität, Problem-löse- und Orientierungsfähigkeit (unterstützen);

– Kompetenz im Umgang mit Medien und neuen Tech-nologien (unterstützen);

– Übernahme von Verantwortung für das eigene Han-deln und für Angelegenheiten der Gruppe (unterstüt-zen) (AGJ 2003, S. 12).

Als Tageseinrichtung für Kinder im Rahmen der Kinder-und Jugendhilfe stellt der Hort einen Ort non-formalerBildung dar, der jedoch einen hohen Anteil informellerBildungsprozesse bereithält (vgl. Abschnitt 2.4). Im Zu-sammenspiel unterschiedlicher Bildungssettings und Bil-dungsprozesse als gleichrangiger Beiträge zur Persönlich-keitsentwicklung sieht die Hortpädagogik ihrenSchwerpunkt darin, Kinder als Akteure ihres Bildungs-und Entwicklungsprozesses zu verstehen und einzubezie-hen. Durch die Aufwertung von Settings, die weniger for-malisierte Lernprozesse für Kinder und Jugendliche alsBeitrag zur Bildung ermöglichen, gewinnt die Einschät-zung an Bedeutung, dass die Interessen der Kinder undihrer Lebenswelt grundlegend für die Planung bzw.Durchführung eben dieser Angebote sein müssen.242

Unter dem Stichwort „Öffnung des Horts“ als einem we-sentlichen pädagogischen Prinzip versammelt sich einganzes Bündel von Aufgaben für das Fachpersonal. Öff-nung ist dabei Ziel, Methode und Arbeitsprinzip zugleich.Dabei geht es nicht nur darum, die Außenwelt innerhalb

der Institution abzubilden oder nachzustellen, sondernauch darum, sich so zu organisieren, dass der Hort vonaußen nach innen bzw. von innen nach außen durchlässigwird, beides als selbstverständliche Elemente des Alltagsund nicht nur ausnahmsweise gestattet (Berry/Pesch2000, S. 259ff.). Öffnung des Horts soll Freundschaftenzwischen angemeldeten und nicht angemeldeten Kindernzulassen und fördern, Besuche in anderen Organisationenund Institutionen (z. B. Vereinen, Büchereien, Musik-schulen) arrangieren, Menschen aus der Umgebung derEinrichtung in die pädagogische Arbeit einbeziehen undKindern die Erkundung der Umgebung gestatten. Im Zu-sammenhang mit der aktuellen Bildungsdebatte wurdendiese Anforderungen aus veränderter Perspektive bestä-tigt, denn durch Öffnung sollen „Selbstbildungsprozesseder Kinder unterstützt werden“ (Jampert u. a. 2003,S. 110).

6.1.2.2 Institutionelle Struktur und Organisationsmerkmale

Gemeinsames organisatorisches Merkmal aller Horte inder Kinder- und Jugendhilfe ist die obligatorische Be-triebserlaubnis nach § 45 SGB VIII; im Zweifel lässt sichdaran erkennen, ob eine Einrichtung zur Jugendhilfe oderzur Schule gehört.243 Die Betriebserlaubnis wird erteilt,wenn bestimmte – von Land zu Land variierende – Rah-menbedingungen (Bau, Ausstattung, Personal, Sicher-heitsvorschriften u. Ä.) erfüllt werden und wenn die Ein-richtungen sowohl durch die Regelmäßigkeit desAngebots als auch durch ein pädagogisches Konzept denNachweis erbringen, dass sie nicht bloß der Unterbrin-gung oder Verwahrung von Kindern dienen, sondern viel-mehr deren Entwicklung fördern (Münder u. a. 2003,S. 231ff.). Die Freiwilligkeit des Hortbesuchs geht einhermit einer vertraglichen Regelung (Betreuungsvertrag)zwischen den Personensorgeberechtigten und dem Trägerder Einrichtung über den Umfang (zeitliche Dauer), denInhalt der Leistungen (Mittagessen, pädagogisches Kon-zept) und die Kosten (Beitrag der Eltern, Verfahren). DerHortbesuch des Kindes erfolgt danach verbindlich und re-gelmäßig.

Der Hort als Einrichtung für schulpflichtige Kinder legtdie nach dem Bundesgesetz vorgesehene Altersspanneder Nutzer/innen auf Kinder zwischen dem 6. und dem14. Lebensjahr fest. Bayern und Schleswig-Holstein ge-hen in „begründeten Fällen“ darüber hinaus; Baden-Württemberg spricht im Kindergartengesetz von Plätzenfür „schulpflichtige Kinder“. Alle anderen Bundesländerbieten Plätze für Kinder im Grundschulalter an, das be-deutet, je nach Schulrecht, längstens einschließlich derJahrgangsstufe 6.

(a) Platzangebot und Versorgungsquoten

Bedarfsprüfungen und Dringlichkeitsregelungen sind un-trügliche Zeichen dafür, dass die Nachfrage das Angebot

242 Vgl. hierzu die Strukturmaximen der Kinder- und Jugendhilfe, insbe-sondere Alltagsorientierung in institutionellen Settings, Partizipationund Lebensweltorientierung (Bundesministerium für Jugend, Fami-lie, Frauen, Gesundheit [BMJFFG] 1990, S. 85ff.).

243 Privatgewerblich geführte Horte (wenige) ergänzen das Gesamtange-bot. Sie unterliegen ebenfalls der Erlaubnispflicht.

Page 265: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 255 – Drucksache 15/6014

übersteigt. Dies ist in allen westlichen Flächenländern so,trotz leichtem Anstieg des Platzangebots seit 1994 (vgl.Tab. A-6.7 im Anhang). Die durchschnittliche Versor-gung lag dort 2002 bei 6 Prozent gegenüber 68 Prozent inden östlichen Flächenländern und 43 Prozent in denStadtstaaten. Einige westliche Bundesländer bieten fürweniger als 6 Prozent der Schulkinder Plätze an, währendeinige östliche Bundesländer den Durchschnittswert fürdie neuen Bundesländer um bis zu 10 Prozent überstei-gen. Die vorliegenden Daten schließen Plätze an Schul-horten in den angegebenen Bundesländern ein.

(b) Einrichtungsarten und Träger

Die meisten Plätze für Schulkinder im Rahmen der Kin-der- und Jugendhilfe werden nach wie vor in eigenständi-gen Einrichtungen oder Gruppen angeboten, die nur vonKindern dieser Altersstufe besucht werden. Das gilt füröstliche Flächenländer (83 Prozent) ebenso wie für west-liche Flächenländer (69 Prozent) und die Stadtstaaten(66 Prozent). Plätze für Hortkinder in altersgemischtenGruppen haben in den Stadtstaaten deutlich (um knapp8 Prozent) und in den westlichen Flächenländern leicht(um rund 3 Prozent) zugenommen (vgl. Tab. A-6.8 imAnhang).244 Darin spiegelt sich auch die altersbezogeneFlexibilisierung des Platzangebots in Kindertageseinrich-tungen in den entsprechenden Regionen wieder.

Die in den anderen Bereichen der Kinder- und Jugend-hilfe überwiegende plurale Trägerlandschaft findet sichim Hort nicht in der Breite wieder. Es überwiegen insge-samt mit rund 65 Prozent Einrichtungen in öffentlicherTrägerschaft (vgl. Tab. A-6.9 im Anhang). Der Anteil deröffentlichen Träger liegt in den neuen Bundesländern ent-sprechend der dortigen Tradition noch deutlich höher.Unter den freien Trägern (36 Prozent) rangiert die Kate-gorie „Sonstige juristische Personen, andere Vereinigun-gen“ an erster Stelle; darunter fallen vor allem Elterniniti-ativen und andere kleinere Vereine in den altenBundesländern, die oftmals Angebote für Schulkinder or-ganisieren (z. B. die Mittagsversorgung). In einzelnenwestlichen Bundesländern liegt der Anteil kirchlicherTräger über 30 Prozent. Die insgesamt geringere Beteili-gung der freien Träger an den Angeboten für Schulkinderhängt vermutlich auch mit der Geschichte des Horts alsFürsorgeeinrichtung und mit den bisherigen familienpoli-tischen Positionen der Trägerorganisationen zusammen.

(c) Öffnungszeiten und Personal

Die Regelungen zu den Öffnungszeiten in den Ländernsind höchst unterschiedlich. Horte sollen mindestens vierStunden geöffnet sein (Brandenburg), bis längstens19.30 Uhr – auf Antrag ausnahmsweise auch länger (Ber-lin) –, vor Schulbeginn öffnen, die Öffnungszeiten an derErwerbstätigkeit der Eltern orientieren (Schleswig-Hol-stein) und in den Ferien zehn Stunden öffnen (Sachsen-

Anhalt).245 Bundesweit gesehen passen die angebotenenÖffnungszeiten nicht zu allen Bedarfslagen der Elternund der Kinder. Vor allem im Westen brauchen Elternhäufig zusätzliche private Betreuungsarrangements, weildie Öffnungszeiten der institutionellen Angebote nichtausreichen oder nicht flexibel genug sind. Eine aktuelleUmfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammer-tags (DIHK 2005) zeigt, dass z. B. über die Hälfte der be-fragten Einrichtungen in den Schulferien (ganz oder teil-weise) nicht geöffnet hat.

Auch wenn die Quote der Versorgung mit Hortplätzen imBundesdurchschnitt nicht als sonderlich günstig bezeich-net werden kann – allein durch das gut ausgebaute Hortan-gebot in den ostdeutschen Bundesländern wird die Lageoptisch etwas verbessert –, geben bundesweit doch im-merhin fast 26 000 Personen an, fachspezifisch überwie-gend in der Horterziehung tätig zu sein (vgl. Tab. 6.5); da-bei handelt es sich allein um Fachpersonal (also ohne„technisches“ Personal). Zu diesen knapp 26 000 Personenmüssen dann ungefähr noch einmal knapp 6 000 Personenhinzugezählt werden, die im Rahmen „altersgemischterGruppen“ ebenfalls zeitweise in der Horterziehung wir-ken. Unter dem Strich heißt das, dass rund 32 000 Perso-nen in der Horterziehung fachlich tätig sind.

Im Hinblick auf die Bildungsleistungen des Horts sindvor allem die berufliche Qualifikation und die Zusam-mensetzung des Personals von Interesse. Die Hauptbe-rufsgruppe sind auch im Hort nach wie vor in Ost undWest Erzieherinnen und Erzieher, wobei Letztere im Hortetwas häufiger auftauchen als in den anderen Altersberei-chen der Kinderbetreuung. Von den anderen Berufsgrup-pen sind noch die Akademiker und Akademikerinnen so-wie die Kinderpflegerinnen in einer beachtenswertenGröße – vor allem in den westlichen Flächenländern –mit rund 9 Prozent bzw. 10 Prozent vertreten. Insoweit istder Hort im Vergleich zum Kindergarten etwas „männli-cher“ und „akademischer“. Das Verhältnis der in Hortentätigen Personen zur Anzahl der verfügbaren Plätze laglaut Kinder- und Jugendhilfestatistik im Jahr 2002 bun-desweit im Durchschnitt bei insgesamt 11 Plätzen pro tä-tige Person bzw., richtiger, pro Vollzeitstelle im Gruppen-dienst.

(d) Finanzierung

Angaben über die Höhe der Ausgaben für Plätze fürSchulkinder in Einrichtungen der Kinder- und Jugend-hilfe stehen in der amtlichen Statistik nicht zur Verfü-gung, da nur die Gesamtausgaben für alle Angebote aus-gewiesen werden.246 Eine vorsichtige Schätzung der

244 In dieser Statistik nicht enthalten sind Angaben über die Betreuungvon Schulkindern bei Tagesmüttern. Nach Schätzung des DJI werden55 000 Kinder im Schulalter von Tagespflegepersonen (auch ergän-zend zum Hort) betreut (BMFSFJ/DJI 2004, S. 68).

245 Eine Zusammenstellung der Regelungen zu den Öffnungszeiten (wieauch zu Gruppengröße und Personalausstattung) in den Bundeslän-dern wird regelmäßig durch die Kommission Kindertagesstätten derObersten Landesjugendbehörden aktualisiert (www.mbjs.branden-burg.de). Diese Angaben lassen jedoch keine Aussagen über die rea-len örtlichen Bedingungen zu.

246 Die Ausweisung der Ausgaben für die Angebote einzelner Alters-gruppen ist nicht möglich, weil viele Einrichtungen Plätze für mehre-re Altersgruppen bereitstellen, was eine direkte Zuordnung der Aus-gaben für die Infrastruktur vereitelt.

Page 266: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 256 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Ta b e l l e 6.5

Tätige Personen in Tageseinrichtungen für Kinder mit der überwiegenden Tätigkeit Horterziehung1 nach Berufsbildungsabschluss (Deutschland, westliche und östliche Flächenländer

sowie Stadtstaaten; 31. Dezember 2002)

1 Ohne das Personal in Schulhorten in Berlin und Thüringen. Ebenso ist das Personal von alterserweiterten Gruppen, in denen auch Schulkinder be-treut werden, nicht in den Zahlen enthalten.

2 Aufgrund der geringen Anzahl (= 57) werden Personen mit Ausbildung in den Bereichen Verwaltung und Büro sowie Hauswirtschaft nicht aufge-führt.

3 Akademiker/innen sind Dipl.-Sozialpädagogen/-innen (FH), Dipl.-Sozialarbeiter/innen (FH), Dipl.-Pädagogen/-innen (Universität, Dipl.-Sozial-pädagogen/-innen (Universität), Dipl.-Heilpädagogen/-innen (FH), Lehrer/innen oder Akademiker/innen mit einem anderweitigen abgeschlosse-nen Studium.

Quelle: Statistisches Bundesamt: Fachserie 13, Reihe 6.3.1., Bonn 2002; eigene Berechnungen

Anzahl der tätigen

Personen insgesamt

darunter (in Prozent von insgesamt):2

Akade-miker/innen3

Erzieher/innen,

Heilpäda-gogen/innen

Kinderpfle-ger/innen,

Assistenten/innen im

Sozialwesen

sonstige Sozial- und Erziehungs-

berufe

Praktikan-ten/innen im Aner-

kennungs-jahr

ohne abge-schl. Aus-bildung

Deutschlandinsgesamt 25 753 6,9 76,9 5,8 3,2 4,7 2,2

Westliche Flächenländer 14 074 9,2 67,3 10,0 3,2 7,3 2,8

Östliche Flächenländer 8 537 3,3 92,6 0,4 2,5 0,4 0,7

Stadtstaaten 3 142 6,7 77,6 1,8 5,4 4,6 3,4

Höhe des Kostenvolumens ist allerdings über durch-schnittliche Platzkosten möglich. In einigen Bundeslän-dern werden die Betriebskosten flächendeckend für ein-zelne Angebotsformen erfasst und ausgewertet. Aufdieser Basis können Kosten für einen landesspezifischenDurchschnittsplatz bestimmt werden. Die durchschnittli-chen Nettoausgaben der öffentlichen Hand (ohne Eltern-beiträge und Trägeranteile) belaufen sich in den westli-chen Ländern auf rund 4 500 Euro und in den östlichenLändern auf rund 2 500 Euro jährlich.

Mit diesen Werten können dann anhand der ausgewiese-nen verfügbaren Plätze Hochrechnungen vorgenommenwerden. Dabei ergibt sich, dass in Deutschland jährlichschätzungsweise 1,3 bis 1,5 Mrd. Euro für Plätze fürSchulkinder in Einrichtungen der Kinder- und Jugend-hilfe von der öffentlichen Hand aufgewendet werden(ohne die Schulhorte in Berlin und Thüringen). Das sindetwa 15 Prozent der öffentlichen Gesamtausgaben fürTageseinrichtungen für Kinder. In den westlichen Län-dern liegen die Ausgaben vermutlich bei rund 700 Mio.Euro, in den östlichen Flächenländern bei 400 Mio. Euround in den Stadtstaaten bei 250 Mio. Euro. Allein dieseGrößenordnungen machen deutlich, dass der Hort einnicht unerhebliches Potenzial an Finanzmitteln in eineWeiterentwicklung der Bildungs-, Betreuungs- und Er-ziehungsangebote einzubringen hätte.

Die individuellen Kosten für die Eltern sind abhängig vonder vertraglich vereinbarten Anwesenheitszeit und davon,wie die Kosten für den Betrieb der Einrichtungen auf dieEltern umgelegt werden. In allen Bundesländern werdenfür den Besuch von Kindertageseinrichtungen Elternbei-träge erhoben. Zwingend ist dies nach Bundesrecht nicht:„Für die Inanspruchnahme von Angeboten ... der Förde-rung von Kindern in Tageseinrichtungen nach §§ 22, 24können Teilnahmebeiträge oder Gebühren festgesetztwerden“ (§ 90 Abs. 1 SGB VIII).

Üblich sind Gebührenstaffeln für festgelegte Einkom-mensgruppen; darüber hinaus können die Jugendämterdie Beiträge vollständig übernehmen oder erlassen. DieRegelungen sind so vielfältig, dass sie hier nicht im Ein-zelnen wiedergegeben werden können. Die Höhe der El-ternbeiträge regelt auch die Nachfrage nach Plätzen undbeeinflusst so die Nutzerstruktur in den Einrichtungen,vor allem im unmittelbaren Vergleich mit dem kosten-freien Angebot im Rahmen von Schule. Die Landesregie-rung in Berlin z. B. verlagert das Hortangebot an dieGrundschulen, die ihrerseits grundsätzlich bis 2006 alsverlässliche Halbtagsschulen angeboten werden. Das An-gebot der Schulen ist kostenfrei; wird zusätzlich das of-fene Freizeitangebot wahrgenommen, fallen Beiträge an,die für das „Spätmodul (16 bis 18 Uhr)“ nochmals erhöhtwerden (Kita- und Tagespflegekostenbeteiligungsgesetz[KTKGB] Berlin 2004).

Page 267: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 257 – Drucksache 15/6014

6.1.2.3 Bildungsangebot und Bildungs-leistungen in der Horterziehung

(a) Bedarf und Inanspruchnahme

Allein die durchschnittliche Versorgungsquote von6 Prozent in westlichen Flächenstaaten weist auf dierandständige Bedeutung von Horten bei der Versorgungvon Schulkindern in den alten Bundesländern hin. Hiersind die meisten der Eltern und Kinder auf private Lösun-gen in der Familie und deren erweitertem Umfeld ange-wiesen. So nehmen bis zu 10 Prozent der Eltern der 8- bis9-jährigen Schulkinder nach Daten des DJI-Kinderpa-nels247 ein zusätzliches Angebot der Nachmittagsbetreu-ung in Anspruch; auch dies deutet auf ein defizitäres An-gebot hin.

Die Kinder, die Horte im Westen besuchen, leben eher instädtischen Gegenden; ihre Eltern sind eher unverheiratetund/oder alleinerziehend, ihre Mütter sind meist berufstä-tig, und sie sind häufiger Einzelkinder (Kreyenfeld 2004;Blanke 2005). Die Inanspruchnahme des Horts im Westenist bei der vorhandenen Mangelsituation stark durch dieAufnahmekriterien der einzelnen Kommunen gesteuert.Aus den Ergebnissen des DJI-Kinderpanels geht darüberhinaus hervor (Blanke 2005), dass

– insgesamt Kinder aus Akademikerfamilien häufigerim Hort sind als Kinder von Nichtakademikern;

– je mehr Geschwister im Haushalt leben, desto seltenerein Kind den Hort besucht;

– die befragten 8- bis 9-jährigen Hortkinder zu30 Prozent in belasteten Regionen wohnen;

– Geschlecht und Migrationshintergrund weder im Os-ten noch im Westen für den Hortbesuch eine Rollespielen.

Untersuchungen aus einzelnen Städten zeigen jedoch,dass Kinder ohne deutschen Pass in ausgewählten Stadt-vierteln im Vergleich zur örtlichen Versorgungsquote zueinem höheren Anteil einen Hort besuchen (Berg u. a.2000). Insoweit könnte sich eine doppelte Versorgungs-funktion für den Hort andeuten: eine sozialpolitischeFunktion für Kinder aus benachteiligten Familien undeine Betreuungsfunktion für berufstätige Eltern mitHochschulabschluss.

In einigen östlichen Bundesländern kann aufgrund desgeltenden Rechtsanspruchs für Schulkinder vermutetwerden, dass die Versorgungsquote annähernd dem tat-sächlichen Bedarf entspricht, der allerdings durch Bei-tragsfreiheit bei den Angeboten noch höher ausfallenkönnte. Darüber hinaus ist der Bedarf in den einzelnenAltersjahrgängen unterschiedlich; die Nachfrage ist dem-nach über die Altersjahrgänge hinweg nicht gleichmäßig.Dies lässt sich z. B. an den Besuchsquoten in Sachsen-Anhalt verdeutlichen. Dort besuchten 2004 – trotz beste-hendem Rechtsanspruch – rund 45 Prozent der Kinderzwischen sechs und zehn Jahren einen Hort. Bei der Inan-

spruchnahme der Horte durch die verschiedenen Alters-jahrgänge ist eine stetige Abnahme nach Klassenstufenerkennbar. In der ersten Klasse besuchten noch60 Prozent der Kinder einen Hort; bis zur vierten Klassewar dieser Anteil auf 16 Prozent gesunken. Ähnlicheszeigt sich anhand des DJI-Kinderpanels auch für denHortbesuch in den westlichen Bundesländern. So besu-chen von den Schulkindern 14 Prozent der ersten,18 Prozent der zweiten, 11 Prozent der dritten und nurnoch 7 Prozent bzw. 5 Prozent der vierten und der höhe-ren Klassen in den alten Bundesländern einen Hort.248

Dies spricht dafür, dass auch bei häufigen Bedarfsplanun-gen nicht von einer gleich bleibenden hohen Nachfragebei 6- bis 14-jährigen Kindern auszugehen ist.

Neben dem Hort gibt es auch andere altersspezifische An-gebote für Kinder. Hierzu gehören etwa Angebote undLeistungen der Kinder- und Jugendhilfe, die im Gegen-satz zu den offenen Formen ein hohes Maß an Verbind-lichkeit erfordern, das weit über die Verpflichtungendurch einen Betreuungsvertrag in den Tageseinrichtungenhinausgeht, wie dies z. B. beim Besuch einer Tages-gruppe (§ 32 SGB VIII) oder bei der sozialen Gruppenar-beit der Fall ist (§ 29 SGB VIII). Beide Angebote gehörenzu den Hilfen zur Erziehung (§ 27ff. SGB VIII) und set-zen zwingend ein so genanntes „Hilfeplanverfahren“ vo-raus. Daneben haben sich in den letzten Jahren zwischenHorten und den offenen Angeboten der Kinder- undJugendhilfe viele kombinierte Formen entwickelt, beidenen beispielsweise pädagogische Mittagstische in Hor-ten angeboten werden (etwa: Hamburg) oder Horterzie-hung im Jugendhaus organisiert wird (Jampert u. a. 2003,S. 109ff.).

(b) Bildungsleistung: Hausaufgabenbetreuung

Zu den praktischen Aufgaben der Horte gehört seit je dieUnterstützung der Kinder bei der Fertigung von Hausauf-gaben. Dies ist in einigen Landesgesetzen ausdrücklichfixiert (so in Bremen, Mecklenburg-Vorpommern undSachsen-Anhalt). Hier steht die Aufgabe des Horts auf-grund seiner familienergänzenden (Ersatz-)Funktion fürLeistungen, die ansonsten die Eltern erbringen müssen.Damit erscheint es so, als habe der Hort in der Kinder-und Jugendhilfe einen schulergänzenden Auftrag.249 „Indem täglichen Kampf mit den Hausaufgaben verschleißennicht nur die Kräfte der Erzieher. Ihre wichtigen sozialpä-dagogischen Aufgaben werden nicht nur immer wiederzurückgestellt; ihre Lösung wird durch die Schulstressat-mosphäre nicht selten gefährdet“ (Schmidt 1978, S. 26f.).

Doch der Hort ist als Bildungseinrichtung der Schule we-der nach- noch untergeordnet, was dennoch zu immerwiederkehrenden Diskussionen führt. „Nach den Erfah-

247 Zum DJI-Kinderpanel vgl. Glossar.

248 In den neuen Bundesländern sinken nach den Daten des DJI-Kinder-panels die Werte von 74 Prozent in der ersten Klasse, über je54 Prozent in der zweiten und der dritten auf 49 Prozent in der vier-ten Klasse.

249 Das traf in dieser Konsequenz nicht einmal zu Zeiten des Jugend-wohlfahrtsgesetzes (JWG) zu, aus dem die beiden folgenden Zitatestammen, die zeigen sollen, wie alt das Problem und die „objektiveLage“ sind.

Page 268: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 258 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

rungen der Hortpädagogen gehen die Erwartungen derSchulpädagogen und auch mancher Eltern häufig darüberhinaus, so dass neben der Schulaufgabenhilfe z. B. auchdas Durchführen von Übungsaufgaben gefordert wird.Hier entstehen Konflikte, weil die Erzieherinnen und Er-zieher diese Erwartungen aufgrund ihres eigenen pädago-gischen Auftrages in vollem Umfang nicht erfüllen kön-nen“ (Konferenz der Jugendminister 1987, S. 2ff.).

In der Konsequenz kann es deshalb weder um eine Negie-rung der Hausaufgaben als Aufgabe für das Fachpersonalder Horte gehen noch um die Übernahme schulischerMaßstäbe. Der Hort muss Kinder bei der Bewältigung ih-rer Lebenssituation unterstützen und eine kindgemäßeLernsituation schaffen. Dazu soll er sein sozialpädagogi-sches Instrumentarium einsetzen und die Stärken seinesKonzepts gleichberechtigt mit der Schule ausspielen.

(c) Qualitätsentwicklungsverfahren im Hort

Bundes- oder länderweite Erhebungen über den Stand derQualität und die Praxis in Horten sind nicht bekannt. Re-formprozesse in der Praxis wurden in der Vergangenheitweniger unter dem Stichwort Qualität subsumiert dennals selbstverständlicher Anteil an der konzeptionellenEntwicklung angesehen und durchgeführt. Die Bundes-länder trugen verschiedentlich durch Modellprojekte zurQualitätsentwicklung des (pädagogischen) Angebots derHorte bei.250 So war Qualitätsentwicklung einerseits stetspräsenter Anspruch der Praxis, andererseits nicht umfas-send und systematisch angelegt. Die Diskussion der letz-ten Jahre rückte dagegen stärker die Sicherung von Quali-tät in den Mittelpunkt. Diesen Prozess unterstützen diegroßen Trägerverbände mit unterschiedlichen Qualitäts-managementsystemen (vgl. Kapitel 5). Im Rahmen desProjektverbunds „Nationale Qualitätsinitiative im Systemder Tageseinrichtungen für Kinder“ befasste sich dasTeilprojekt „Qualität für Schulkinder in Tageseinrichtun-gen (QUAST)“ mit der Aufgabe, einen Kriterienkatalogsowie ein internes und ein externes Evaluationsverfahrenzu entwickeln.251 Zwischen 1999 und 2003 wurden damitdie Voraussetzungen für umfassende Qualitätsuntersu-chungen im Hort erarbeitet (Strätz 2003). Der inzwischenveröffentlichte Kriterienkatalog ist in fünf Qualitätsberei-che gegliedert, von denen zwei, nämlich Orientierungs-und Prozessqualität, die pädagogischen Interaktionen undihren Handlungsrahmen direkt betreffen, während diedrei anderen Qualitätsbereiche, Struktur-, Entwicklungs-und Ergebnisqualität, die Voraussetzungen und die Be-gleitumstände der Horte analysieren, bewerten und entwi-ckeln helfen.

Mit der Betonung auf Bildung werden fünf maßgeblicheAspekte aufgezählt, die für Kinder im Schulalter arran-giert werden müssen. Es sind dies:

– genügend Zeit (zur rechten Zeit) für ungestörte (Ei-gen-)Aktivitäten,

– erwachsene Partner/innen,

– Wahlmöglichkeiten passend zu den Fähigkeiten, Inte-ressen, Begabungen und Lebensbedingungen,

– Anregungsreiche und altersspezifische Lernarrange-ments,

– Gleichaltrige.

Die Aufgaben der sozialpädagogischen Fachkräfte wer-den vor allem darin gesehen, offene Lernarrangements zugestalten, zu begleiten und Kinder aktiv daran zu beteili-gen, eine offene Lernatmosphäre zu entwickeln, Exper-tinnen und Experten von außerhalb zu beteiligen, alsFachkraft die Rolle der Prozessmoderation zu überneh-men und selbst zur lernenden Person zu werden sowiesich dabei als Berater/in zu verstehen (Strätz 2003, S. 33).

Ein Hort in guter Qualität bietet Kindern (Möglichkeit zu)Bildung im Sinne eines Beitrags zur Entwicklung vonAutonomie in Situationen alltäglichen Lebens, die durchErwerb von Kompetenzen möglich wird. Ein guter Hort

– unterstützt Kinder in der Bewältigung aktueller undzukünftiger Anforderungen, auch gegenüber derSchule und in Kooperation mit ihr;

– nutzt die komplexen Gelegenheiten im Alltag der Kin-der zu umfassenden Lernerfahrungen und Entwick-lungsanreizen;

– unterscheidet hierbei nicht grundsätzlich zwischen hö-herwertigen und weniger wichtigen Gelegenheiten;

– konzipiert seine Angebote mit Blick auf die Förderungder Interessen und der Begabungen sowie auf den Be-darf der Kinder;

– enthält sich weitgehend normativer Bewertungenkindlicher Bildung/Entwicklung;

– beteiligt Kinder, Eltern und andere Personen, koope-riert mit Institutionen und Organisationen;

– hat stets die Zeit danach im Auge.

Hortpädagogik muss Kinder auch dazu befähigen, zumin-dest dazu beitragen, dass sie ohne Unterstützung durchdas institutionelle Angebot auskommen. Aus der Ausei-nandersetzung mit den Anforderungen der Lebensweltder Kinder erhalten die sozialpädagogischen Fachkräfteihre Themen, Anregungen und Herausforderungen. Prak-tisch muss gewährleistet werden, dass

– Mädchen und Jungen im Hort die Möglichkeit haben,sich spontan mit anderen (drinnen oder draußen) zutreffen,

– lebenspraktische Erfahrungen sammeln können und

– ihre (soziale und räumliche) Umgebung kennen ler-nen, selbstständig erkunden und erweitern können(BAG LJÄ 1996, S. 2f).252

250 Z. B. Brandenburg „Hortkonzepte aus Brandenburg“, Nordrhein-Westfalen „Schulkinderhort“, Sachsen „Mit Kindern Hort machen“.

251 Zur Nationalen Qualitätsinitiative vgl. Glossar.252 Ein differenzierterer Leitfragenkatalog findet sich in Berry/Pesch

2000, S. 235ff.

Page 269: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 259 – Drucksache 15/6014

In dieser Aufgabenbeschreibung wird der eigenständigesozialpädagogische Auftrag von Horten in der Kinder-und Jugendhilfe deutlich (ebd. 1996, S. 4).

6.1.2.4 Stärken und Schwächen der Hort-erziehung unter der Perspektive von Bildungsleistungen

Die Praxis in den Horten ist vielfältig. Aus ihr kann ver-mutlich ein idealer Hort konstruiert werden. Was man je-doch nicht findet, ist eine schlüssige (theoretische) Kon-zeption der Hortpädagogik, die sowohl die Entwicklungvon Kindern über eine Zeitspanne von vier, sechs odermehr Lebensjahren im Blick hat als auch die Chancenund Möglichkeiten dieser speziellen Institution der Kin-der- und Jugendhilfe im Verhältnis zu anderen (Bildungs-)Institutionen – besonders zur Familie – sieht sowie Ant-worten darauf bereithält, wie der Anspruch auf Verbin-dung von Erziehung, Bildung und Betreuung pädago-gisch-praktisch eingelöst werden kann (BMFSFJ/DJI2004, S. 45). Wohl wurden in der Vergangenheit Teilkon-zepte entwickelt, doch kann nicht von einem allgemeinanerkannten zusammenhängenden pädagogisch-konzepti-onellen Konzept für den Hort gesprochen werden, weilentweder die Verbreitung räumlich nur begrenzt253 blieboder sich die Entwicklung auf wenige (wenngleich wich-tige) thematische Schwerpunkte konzentrierte254 oder, wieneuerdings unter Qualitätsaspekten, die Beurteilung er-reichter Qualität und die Entwicklung geeigneter Instru-mente dazu im Vordergrund standen (Strätz 2003)..Trotzdieser Einschätzung der Gesamtsituation stellen die Kri-terien des Projekts „QUAST“ das zurzeit sicherlich um-fassendste Konzept außerschulischer Erziehung, Bildungund Betreuung dar; zumindest lässt sich aus dem Kriteri-enkatalog ein solches Konzept ableiten.255

Aufgrund unterschiedlicher Voraussetzungen in den Bun-desländern und fehlender Erhebungen ist die Datenlagenicht ausreichend, das Gesamtangebot an Horten in seinerStrukturqualität beurteilen zu können. Zu den Schwächendes Horts – wie aller Tageseinrichtungen – kann sicher-lich gezählt werden, dass es bundesweit kein einheitlichesVerständnis für zureichende oder gar gute Rahmenbedin-gungen wie Erzieher-Kind-Relation, räumliche und sons-tige materielle Voraussetzungen, notwendige Qualifika-tion des Personals u. Ä. gibt.

(a) Pädagogischer Auftrag und Arbeitsansätze

Der sozialpädagogische Auftrag des Horts ist eine gesetz-lich fixierte Handlungsgrundlage für die dort tätigen sozi-alpädagogischen Fachkräfte, d. h. die grundsätzliche Ak-zeptanz und die Legitimation dieser Institution mitsamtihrer Aufgabenzuschreibung befinden sich auf hohemVerpflichtungsniveau. Als eine Schwäche dieses Auftrags

kann die umgangssprachliche Ungenauigkeit in der Ver-wendung der Begriffe Erziehung, Bildung und Betreuunggesehen werden, die dem Hort nicht ursächlich anzulas-ten ist, jedoch auf die Akzeptanz der Angebote zurück-wirkt. Wenn von Bildung gesprochen wird, dann meist inder an Schule angelehnten Definition, die den spezifi-schen Bildungsauftrag der Jugendhilfe nicht angemessenberücksichtigt (vgl. Kapitel 2).

Ambivalente Auswirkungen hat die Ableitung des gesell-schaftlichen Auftrags aus den Elternrechten im Gegensatzzu dem originären Erziehungs- und Bildungsauftrag derSchule. Einerseits klingt die Bezeichnung „abgeleiteterAuftrag“ wie „Auftrag zweiter Klasse“, andererseits ver-weist die Bezeichnung auf die enge Beziehung zwischenElternhaus und Hort bzw. Eltern und Fachpersonal. Es istweithin unstrittig, dass die besten Entwicklungschancenfür ein Kind nur durch eine gemeinsame und aufeinanderabgestimmte Erziehungsleistung von Eltern und Fachper-sonal gewahrt werden können, so wie es als Auftrag desHorts formuliert ist.

Der Hort kommt dem Anliegen des Bundesjugendkurato-riums nach‚ Bildungsprozesse nicht ausschließlich (odervordergründig) unter dem Gesichtspunkt ihrer Zweckmä-ßigkeit und ihrer Verwertbarkeit zu konzipieren (Bundes-jugendkuratorium 2001, S. 14). Eine Stärke des Horts istes, dass er sich mit seinem eigenen gesetzlichen Auftraggegen eine Unterordnung unter schulische Anforderun-gen wehren kann. Seine Schwäche ist, dass er sich dage-gen wehren muss. Für die eigenständigen, auf informelleBildungsprozesse gerichteten Bildungsleistungen bietensich im Hort gute Möglichkeiten. Die Zielsetzungen derAngebote können sich an den individuellen Interessen,Begabungen und Bedürfnissen der Kinder ausrichten. Da-bei schafft eine bewusst konzipierte weitgehende Beteili-gung der Kinder bei der Entwicklung der Angebote eineigenständiges Lernfeld und bietet meist völlig neue Er-fahrungen für Kinder, Fachkräfte, Eltern und Träger.

Im direkten Vergleich mit Schule und ihren Anforderun-gen kann der Hort auf seine Stärken vertrauen. Er trägthäufig gerade durch Vermeidung schulischer Vermitt-lungsformen auf indirektem Weg zu Schulerfolgen derKinder bei, indem er mit seinem eigenen Repertoirebeispielsweise zur Entwicklung und zur Stärkungallgemeiner Kompetenzen wie Konzentrationsfähigkeit,Selbstbewusstsein, Angenommensein/Integration undKontaktfähigkeit beiträgt. Schulisch nützliches Wissenwird in Horten eher handlungsbezogen aufgegriffen. Ge-meinsame Aktivitäten außerhalb des Horts erweiternWissen und Erfahrungen der Kinder in vielfältiger Weisemit dem Effekt, dass auch die Kinder Kompetenzen er-langen können, denen die schulischen Methoden nichtliegen. Auf den sozialpädagogisch gebahnten Vermitt-lungswegen können manche Kinder viel für ihren Schul-erfolg profitieren (Konferenz der Jugendminister 1987).

(b) Anerkennung des Horts als Bildungseinrichtung

Der Hort existiert seit mehr als 130 Jahren mit dem selbstgewählten Anspruch, zur Bildung und zur Erziehung derKinder beizutragen. Zwischen dem eigenen Bildungsan-

253 Vgl. z. B. Freinet-Pädagogik in den Horten der Stadt Wiesbaden.254 Arbeiten des SPI in Nordrhein-Westfalen und Projekt „Mit Kindern

Hort machen“ in Sachsen.255 Mit dem Schwerpunkt Bildung wird in Hessen zurzeit ein Programm

erarbeitet, das für die Altersspanne von 0 bis 16 Jahren vermutlichebenfalls Teile eines solchen Konzepts enthalten wird.

Page 270: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 260 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

spruch und der Einlösung klafft eine Lücke von mehr als100 Jahren. Die gesellschaftliche Anerkennung des Hortsin der Bundesrepublik Deutschland ist dementsprechendfragil. Wesentliche Gründe für Akzeptanz und Anerken-nung des Horts liegen in seinem pädagogischen Ansatzund seinen sozialpädagogischen Methoden. Die Öffnungdes Horts ist hier ein wesentliches Element der Beschrei-bung zeitgemäßer Hortpädagogik. Öffnung wiederumheißt nichts anderes, als die Grenzen der Institution auf-zubrechen und lebensweltliche Elemente hineinzuholen.Damit wird für gute Pädagogik im Hort ein Merkmalkonstitutiv, das im Grunde seine Existenz zu überwindensucht.

In der Vergangenheit nahmen einige Eltern der in denwestlichen Bundesländern durchschnittlich ohnehin nurkleinen Nutzergruppe das Hortangebot für ihr Kind nurdeshalb wahr, weil andere Möglichkeiten ihnen bloß aus-nahmsweise zur Verfügung standen oder teurer waren.Andere Eltern älterer Hortkinder wünschten dagegen wei-terhin feste Betreuungsangebote für ihr Kind (Verbind-lichkeit, Struktur und Aufsicht). Der ausdrücklicheWunsch nach einem hohen Maß an Betreuung mag in be-stimmten Fällen dem individuellen Bedürfnis des Kindesentsprechen, so wie auch das Fachpersonal feststellenkann, dass sogar manche Jugendliche im Hort verbleibensollten (Jampert u. a. 2003, S. 103). Das trifft auch vor al-lem auf die Kinder und Jugendlichen zu, deren Lebens-lage und/oder individuelle Entwicklung den Hort als stüt-zende Institution notwendig macht. Für den Hort alsInstitution hat das Konsequenzen: Er wird so auf nur eineseiner drei Funktionen reduziert, und dies ist diejenige,die im allgemeinen Verständnis von Bildung mit diesernichts zu tun hat.

Dass Bildung, Betreuung und Erziehung drei Seiten einerMedaille sein sollen, ist nicht nur ein logisches Problem.Erschwert wird das Verständnis für die umfassenden (Bil-dungs-)Leistungen der Tageseinrichtungen für Kinderund hierbei insbesondere des Horts in Konkurrenz zurSchule durch die weite Verwendung des Begriffs Betreu-ung auch durch offizielle Stellen. „Erwerbstätigkeit derEltern, unregelmäßige Schulzeiten und fehlende Ganz-tagsangebote in Schulen lassen den Bedarf an Hortplätzenoder sonstigen Betreuungsangeboten steigen“ (Bundes-ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend[BMFSFJ] 2000b, S. 13).

(c) Erweitertes Bildungsangebot durch den sozialpädagogischen Ansatz

Die Entwicklung eines Gesamtkonzepts für Bildung, Be-treuung und Erziehung von Kindern im Grundschulaltererscheint für den Hort und den sozialpädagogischen An-satz der Bildung ganz elementar. Zu Beginn der 1980er-Jahre wurde zur Veränderung der damaligen Realität pos-tuliert: „Kinder brauchen Horte“ (Briel/Mörsberger1984). Später wurde gefragt: „Welche Horte brauchenKinder?“ (Berry/Pesch 2000). Sowohl die Aussage alsauch die Frage spiegeln die Realität der alten BRD wie-der. In der DDR wären sie wenig sinnvoll gewesen, denn

nahezu alle Kinder besuchten mindestens in den erstenKlassen der Grundschule diese Bildungseinrichtung. Aus-sage und Frage unterstellen in ihrer Formulierung, dassalle Kinder der entsprechenden Altersgruppe Horte brau-chen. Diese Position kann heute auch durch den gesell-schaftlichen Wandel begründet werden.256 Es wird aller-dings nirgendwo belegt, welche Kinder zu welchenKonditionen welche Horte brauchen. Als gesichert hinge-gen gilt, dass alle Kinder von sozialpädagogischen Ange-boten profitieren können. Diese müssen jedoch nicht aus-schließlich durch die Institution Hort vorgehalten werden.Vielmehr steht hierfür eine Vielfalt von Institutionen be-reit. Nimmt man hinzu, dass auch Schule grundsätzlich inder Lage ist, sozialpädagogische Angebote an Kinder zuunterbreiten, und gut beraten wäre, sich in ihrer Metho-dik/Didaktik mindestens an sozialpädagogische Arbeits-weisen anzulehnen, wird deutlich, dass Kinder eine be-stimmte Qualität von Bildungsangeboten (Form undInhalt) benötigen.

Kinder brauchen Bildungsangebote, die über die üblichenLehrpläne hinausgehen (Rauschenbach u. a. 2004, S. 8ff.)und ohne Benotung/Bewertung zur Verfügung gestelltwerden. Durch sozialpädagogische Methoden werdenUnterrichtsinhalte auch auf anderen Wegen vermittelt, sodass Kinder zusätzliche Lern- und Verhaltensmöglichkei-ten erhalten (Kahl 2004). Durch die Einbeziehung der In-teressen und Wünsche der Kinder werden unter Umstän-den gänzlich andere Themen und Inhalte zum Gegenstandder Bildung (Sächsisches Landesamt für Familie und So-ziales 2001, S. 152ff.). Das Projekt „Lebenswelten alsLernwelten“ des DJI untersuchte das „Freizeitlernen“ vonKindern der Schuljahrgänge 4 bis 6 und fand Wege zurWeiterentwicklung der Schulpädagogik sowie für einebesser am Kind orientierte Ergänzung schulischer und au-ßerschulischer Bildungsangebote (Furtner-Kallmünzeru. a. 2002).

(d) Die Zukunft des Horts

Schon in der Vergangenheit konnte der Hort nur mitMühe den Stellenwert seines eigenständigen Angebotsfür Kinder zwischen Mittagessen, Hausaufgaben undFreizeit (außerhalb von Institutionen) verdeutlichen.Auch die Anerkennung des speziellen Zugangs der Hort-pädagogik zu den Kindern (und in der Folge die Anerken-nung des Erziehungs- und Bildungsauftrags des Horts)konnte nichts daran ändern, dass die Erziehungspraxis ineinem engen zeitlichen Rahmen erfolgte und die Mög-lichkeiten zur Gestaltung des Angebots recht begrenztwaren. In dem Moment, da Schule zeitlich expandiert,müssen die Möglichkeiten des Horts weiter eingeschränktwerden, es sei denn, dieses Angebot bliebe vom zeitli-chen Umfang her unangetastet und verschöbe sich inZeitblöcke, die bisher zur freien Verfügung der Kinderstanden oder/und der familialen Sphäre zuzurechnen wa-ren.

256 „Alle Kinder benötigen vielmehr für ihre Entwicklung ein Netz vonPersonen und Einrichtungen“ (Strätz u. a. 2003, S. 22).

Page 271: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 261 – Drucksache 15/6014

Mindestens zwei Probleme erwachsen daraus:

– Es gibt pädagogische Angebote vor und nach der Zeit-grenze eines Ganztagsangebots. Können sie miteinan-der verbunden werden? Diese Modularisierung struk-turiert nicht nur den Tagesablauf in den Einrichtungen,sondern bewertet auch die einzelnen Zeitabschnitteunterschiedlich. Sie wird damit zu einer wichtigenRahmenbedingung der Horte, denn sie beeinflusst dieGrenzen und Möglichkeiten der Angebote wie auchdie Zusammensetzung der Kindergruppen. Vor 16 Uhrsehen die sozialen Beziehungen in den Horten andersaus als danach.

– Unter dem Aspekt von Bildung, Betreuung und Erzie-hung stellt sich für die Zeit der nachschulischen Be-treuung dasselbe Problem wie bislang für den Hort alsGanzes. Können diese Module als non-formale Bil-dung gewertet werden, oder findet hier nur eine Be-treuung im Übergang zwischen den erweiterten Insti-tutionen formaler Bildung und dem Elternhaus statt?

In der gegenwärtigen Situation darf ebenfalls nicht über-sehen werden, dass der geplante Ausbau der Ganztags-schule in mehreren Bundesländern bisher nicht in räum-licher und konzeptioneller Abstimmung mit dembestehenden Hortangebot erfolgt. Es besteht die Gefahr,dass mit einer willkürlichen Schließung von Horten An-gebotslücken entstehen, die die Ganztagsschule wederräumlich noch inhaltlich zeitnah ausgleichen kann. So er-scheint eine Transformation des Konzepts Hort nur ansolchen Orten sinnvoll und legitim, wo im Rahmen ganz-tägiger Schulangebote neue Formen entstehen und damitdieselben Kinder ein verlässliches und qualifiziertes Al-ternativangebot vorfinden.

Im Angebot der gebundenen Ganztagsschule, das z. B. inBerlin ebenfalls ausgeweitet werden soll, wird die Tren-nung zwischen dem Angebot für alle Kinder unter demDach des formalen Bildungsangebots und dem Zusatzmo-dul „Spätbetreuung“ noch deutlicher sichtbar. Egal, wieSchule die Zeit zwischen Schulbeginn und -ende struktu-riert und welchen pädagogischen Ansatz sie anwendet,werden Unterricht, Mittagessen und Freizeit-/Entspan-nungsaktivitäten dort für alle Kinder organisiert. Nach16 Uhr wird mit den Kindern oder für sie Freizeit gestal-tet. Dabei bleibt die Frage offen, welcher Bildungsstatusdiesen späteren Zeitmodulen eingeräumt bzw. ob ihnenüberhaupt ein solcher zugebilligt wird.257

Der spezielle gesellschaftliche Auftrag des Horts gibt vor,dass die dortigen (Freizeit-)Angebote – im Sinne schul-freier Zeit – als Bildungsangebote zu konzipieren sind. Esist von einer Koexistenz verschiedener Freizeitangebotefür Kinder in Trägerschaft der öffentlichen und der freienJugendhilfe sowie des Schulwesens und darüber hinausvon Angeboten privater Anbieter auszugehen. Die Ko-operation zwischen den unterschiedlichen Bildungsin-stanzen für Kinder (im Wesentlichen im Grundschulalter)wird von vielen Seiten gefordert (Jugend- und Kultusmi-

nisterkonferenz [JMK/KMK] 2004b) und auch praktischerprobt. Die Zusammenarbeit zwischen Schule und Ju-gendhilfe stellt somit eine Notwendigkeit im Hinblick aufdie Ziele und die Zielgruppe der Bildungsangebote dar.Es sind jedoch auch gänzlich neue Organisationsformendenkbar.

Die Anerkennung des Horts als Bildungsort könnte dasZeichen für das nahe Ende dieser Institution gewesensein. Die Wertschätzung der dort geleisteten Bildungsar-beit hat zumindest das Erfordernis verdeutlicht, die Vor-teile und Stärken des Hortangebots in ein erweitertes Bil-dungsangebot im Umfeld des formalen BildungsortsSchule zu übertragen. Die Konzeptidee Hort sollte inso-weit nicht als überholt angesehen werden. Auf ihrer Basisscheint der Hort am ehesten geeignet, einer neu gestalte-ten Bildungsinstitution Schule die für ihre Zukunftsfähig-keit notwendige Qualität und Flexibilität zu sichern,selbst wenn dies am Ende nur um den Preis der eigenenAuflösung als eigenständige organisatorische Einheit undpädagogische Einrichtung zu erreichen wäre. Einiges ein-zubringen hätte der Hort auf jeden Fall, nämlich Kompe-tenzen, Konzepte, Fachkräfte, Finanzen und Gebäude.

6.1.3 Schulbezogene Jugendsozialarbeit

Jugendsozialarbeit als Leistungsbereich der Kinder- undJugendhilfe (§ 13 SGB VIII) umfasst schulbezogene undberufsbezogene Leistungen. Im Folgenden ist, entspre-chend dem Auftrag und dem Aufbau dieses Berichts, le-diglich die schulbezogene Jugendsozialarbeit Gegenstandder Betrachtung. Die Begriffe zur Beschreibung diesesAufgabenbereichs sind vielfältig und je nach konzeptio-neller Ausrichtung verschieden. So werden für die unter-schiedlichen Aufgabenprofile Begriffe wie Schulsozialar-beit, Schul-Soziale Arbeit (Schilling 2004, S. 115ff.),Schuljugendarbeit (Sächsisches Landesprogramm), sozi-ale Arbeit an Schulen, schulbezogene Jugendsozialarbeit,schulbezogene Jugendhilfe (Prüß 2004, S. 110ff.) oderSozialarbeit an Schulen verwendet. Allen alternativenBezeichnungen ist dabei die kritische und/oder präzisie-rende Bezugnahme auf das klassische Konzept der einzel-schulischen „Schulsozialarbeit“ gemein. Im Weiterenwird der Begriff „schulbezogene Jugendsozialarbeit“ alsOberbegriff für alle Kooperationsformen im Rahmen die-ser spezifischen Schnittstelle der Kooperation von Ju-gendhilfe und Schule verwendet.

In einer ganzheitlichen und lebensweltorientierten Kin-der- und Jugendhilfe kommt der Jugendsozialarbeit einezentrale Rolle bei der Vermittlung von Schlüsselqualifi-kationen als Voraussetzung erfolgreicher individuellerund gesellschaftlicher Integration zu. Diese Funktion istumso gewichtiger, je mehr sich die Komplexität der Bil-dungsvoraussetzungen und -ansprüche an die nachwach-sende Generation verdichtet und die klassischen Soziali-sationsinstanzen Familie und Schule zur Sicherung ihrereigenen Erziehungs- und Bildungsziele zwingend auf Un-terstützung durch außerfamiliäre und außerschulische In-stanzen angewiesen sind. Hier kommt der Kinder- undJugendhilfe eine eigene Sozialisationsfunktion zu, die in257 In Analogie betrifft dieses Problem auch die Zeit vor Schulbeginn.

Page 272: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 262 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

der Jugendsozialarbeit mit dem für sie spezifischen Erzie-hungs- und Bildungsverständnis auszufüllen ist.

Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, mitwelchem Bildungsverständnis in der Jugendsozialarbeitdie Umsetzung der Leitziele „Chancengerechtigkeit“ und„erfolgreiche gesellschaftliche Teilhabe junger Men-schen“ verfolgt wird. Auf welche schulischen Funktions-probleme und Defizite reagiert die schulbezogene Jugend-sozialarbeit dabei? Und welche besonderen Leistungen,welche umfassenden Hilfen für eine gelingende Integra-tion bietet sie jungen Menschen in ihrer Rolle als Schüler/innen an?

6.1.3.1 Bildungsauftrag und Bildungsansprüche

(a) Das Bildungsverständnis der Jugendsozialarbeit

Jugendsozialarbeit nimmt in der Regel ein ganzheitlichesund umfassendes Bildungsverständnis für sich in An-spruch. Sie sieht sich dem Prinzip verpflichtet, Zugängezu Bildung unabhängig von Geschlecht sowie sozialerund nationaler Herkunft zu eröffnen. Bildung wird dabeials ein umfassender Prozess mit dem Ziel begriffen, Ju-gendliche bei der Entfaltung ihrer Leistungspotenziale so-wie bei der Problemlösung und der Beziehungsgestaltungzu unterstützen. Im Unterschied zu anderen bildungsbe-zogenen Segmenten der Kinder- und Jugendhilfe ver-knüpft die schulbezogene Jugendsozialarbeit den lebens-weltorientierten Ansatz zur Förderung personaler undkommunikativer Kompetenzen dabei auch mit eigenenformalen Lernsettings, sperrt sich also gegen eine reinkomplementäre, Schule bloß ergänzende Bildungsfunk-tion (vgl. Kapitel 2).258 Eine derart umfassend verstan-dene Bildung könne dann aber, so heißt es, auch nur imZusammenwirken der verschiedenen Bildungsformen –der formalen Bildung in Schule und Ausbildung, der non-formalen Bildung u. a. vermittels freiwilliger Angebote inder Jugendarbeit sowie informellen Lernens – realisiertwerden.259 Erforderlich sei daher, dass diese Bildungsfor-men künftig strukturell und sachlich aufeinander bezogenwerden. Die Angebote der Jugendsozialarbeit sollenhierzu einen wesentlichen Beitrag leisten.

Die Leistungen der Jugendsozialarbeit sollen umfassendangelegt sein. Insbesondere werden neben Maßnahmenzur Sicherung des Schulerfolgs und zur Vorbereitung aufAusbildung und Beruf auch besondere Sozialisationshil-fen angeboten. Die Zielgruppen sind hauptsächlichbenachteiligte Jugendliche, die aus individuellen oder so-zialen Gründen in ihren gesellschaftlichen Teilhabemög-lichkeiten eingeschränkt sind. Jugendsozialarbeit hilftschulmüden Jugendlichen (Michel 2005), Ausbildungs-

abbrechern und Ausbildungsabbrecherinnen sowie Ju-gendlichen ohne Schul- und Ausbildungsabschluss. Sieversucht, Anschlüsse an Schule und Ausbildung wieder-herzustellen, und führt im Verbund mit den formalen Bil-dungssystemen eigenständige und sozialpädagogisch be-gleitete Schul- und Berufsausbildungen durch.

Schulbezogene Jugendsozialarbeit als Leistung der Kin-der- und Jugendhilfe in der Schule soll dazu beitragen,Schulerfolg von Jugendlichen mit individuellen Proble-men oder in sozial benachteiligten Lebenslagen zu er-möglichen. Einige auch im internationalen Vergleich sig-nifikante Problemkonstellationen sind

– der konstant hohe Anteil von Jugendlichen ohneSchulabschluss mit gegenwärtig rund 9 Prozent einesAltersjahrgangs, was einer Zahl von 80 000 bis 86 000Jugendlichen pro Jahr entspricht (Avenarius u. a.2003, S. 316);

– schwierige Lernausgangsbedingungen vieler Jugendli-cher mit Migrationshintergrund; ihr Anteil an denWiederholern einer Klassenstufe ist sowohl im Grund-schul- als auch im Sekundar I-Bereich erheblich höherals der aus Familien ohne Migrationshintergrund(Avenarius u. a. 2003, S. 172; Krohne u. a. 2004,S. 385), sie verlassen die Schule doppelt so häufigohne Schulabschluss und sind in der Gruppe deraktiven Schulverweigerer/innen auch bei gleicherSchulform überrepräsentiert (Schreiber-Kittl/Schröpfer2002, S. 104);

– das Problemfeld „Schulmüdigkeit und Schulabsentis-mus“, das von der Schule selbst lange nicht in seinendramatischen Konsequenzen für Bildungskarrierenund berufliche Integration wahrgenommen wurde.Hier sind 2 Prozent regelmäßige und weitere 2 ProzentGelegenheitsschwänzer/innen zu vermuten, mehrheit-lich in der Altersgruppe der 12- bis 16-Jährigen(Thimm 2002, S. 10). Zu diesen Schätzungen müsstedann noch die allerdings quantitativ schwer zu erfas-sende passive Schulverweigerung, etwa in Form ärzt-lich attestierten und von Eltern entschuldigten Fehlensohne realen Krankheitshintergrund sowie rein physi-scher Anwesenheit im Unterricht bei psychischer „in-nerer Emigration“ hinzugezählt werden, da auch dieseVerhaltensmuster den Schulerfolg ernsthaft in Fragestellen.

Dies alles zusammengenommen heißt, dass vermutlichdeutlich mehr als jedes vierte Kind irgendwelche Pro-bleme, also Schwierigkeiten mit der Schule im Laufe sei-ner Schulzeit hat. Klaus-Jürgen Tillmann schätzt unterHinzunahme der Rückstellungen bei der Einschulung undSonderschulüberweisungen sogar, dass „mehr als40 Prozent unserer Schülerinnen und Schüler zwischender 1. und 10. Klasse mindestens einmal die Erfahrungmachen, von ihrer Lerngruppe aufgrund angeblich man-gelnder Fähigkeiten ausgeschlossen zu werden“(Tillmann 2004, S. 39).

Diese Problemkonstellationen markieren nicht zuletzt sys-temische Defizite der traditionellen Halbtagsschule, vorallem auch hinsichtlich ihrer sozialen Selektivität. So kul-

258 Zur Ausführung der genannten vier Kompetenzdimensionen vgl.Rauschenbach/Otto (2004).

259 Vgl. hierzu das Positionspapier der BAG Jugendsozialarbeit „Ju-gendsozialarbeit – Bildung – Schule: Zum Selbstverständnis der Ju-gendsozialarbeit im Kontext der Entwicklung von Ganztagsschule“,beschlossen am 17. Februar 2005. Ungeachtet der Zentrierung aufdas Thema Ganztagsschule wird hier das der Jugendsozialarbeit zu-grunde liegende Bildungsverständnis auch im breiteren Zusammen-hang deutlich.

Page 273: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 263 – Drucksache 15/6014

minieren die Probleme der aktiven Schulverweigerung,des „Sitzenbleibens“ und der Bildungsbenachteiligungvon Kindern aus Familien mit Migrationshintergrund na-mentlich in den Haupt-, Förder- und Sonderschulen. Bei-spielsweise bleibt mehr als ein Drittel der Hauptschüler/innen während der Schulzeit sitzen, gegenüber 10 Prozentder Gymnasiasten/Gymnasiastinnen. Diese Befunde un-terstreichen noch einmal die These, dass die frühe Ein-gangsselektivität des viergliedrigen260 bundesdeutschenSchulsystems die Nachteile von leistungsschwächerenSchülern und Schülerinnen eben nicht ausgleicht, sondernverschärft (Rauschenbach/Otto 2004, S. 12).

Weitere systemisch begründete Defizite des Schulsystemsergeben sich aus seinem Zuschnitt als reine „Unterrichts-schule“, die weder organisatorisch noch im Hinblick aufdie Qualifikation ihres pädagogischen Personals daraufausgerichtet ist, mit Schwierigkeiten vielfältiger Art, dieJugendliche mit der Schule haben (z. B. Stressbelastun-gen) und die Schule mit Jugendlichen hat (Gewalt, Van-dalismus, aggressives Verhalten usw.; vgl. Kapitel 4),adäquat und professionell zu reagieren. Dem steht zumeinen die in Deutschland vielfach einseitig fachdidaktischausgerichtete Lehrer/innenausbildung entgegen, zum an-deren aber auch die professionalistische „Monokultur“ andeutschen Schulen, die im Unterschied etwa zu skandina-vischen Ländern kaum ein Arbeiten in multiprofessionellzusammengesetzten Teams kennt. Hier zeigt sich, dasseine auf schulische Bildung zentrierte Ausrichtung ohnedie Elementare „Betreuung“ und „Erziehung“ (vgl. dazudie Einleitung dieses Berichts) für diese Personengruppenzu kurz greift.

Diese systemisch begründeten Funktionsdefizite des bun-desdeutschen Schulsystems drohen die schulbezogene Ju-gendsozialarbeit immer wieder in eine „Lückenbüßer-funktion“ hinein zu drängen, in der es dann schnell umschulisch definierte Probleme mit Kindern und Jugendli-chen geht; Schullaufbahnsicherung sollte für Jugendsozi-alarbeit aber immer im Kontext der Unterstützung bei derindividuellen Lebensführung und -planung stehen. Ju-gendsozialarbeit ist dabei im Wesentlichen im Über-gangsfeld von Schule und Beruf angesiedelt, sie ist aufdiesen Übergang spezialisiert und gestaltet ihn mit; so-ziale und berufliche Integration sind dabei gleichberech-tigte Ziele, die sich gegenseitig bedingen.261 Die schul-bezogene Jugendsozialarbeit soll eine Brücken- undVermittlerfunktion einnehmen: Sie ist auf Schule als Sys-tem formaler Bildung bezogen und bietet selbst formale

Angebote (z. B. Trainingskurse, Projekte) sowie infor-melle Lernmöglichkeiten an (z. B. Begegnungsmöglich-keiten, Freizeitgestaltung an Schule).

Gerade die präventive Arbeit mit Jugendlichen, die sichder Beschulung zeitweise oder dauerhaft entziehen, stellteine besondere Herausforderung für die schulbezogeneJugendsozialarbeit dar und wird von der Schule mittler-weile auch vermehrt als ein herausgehobenes Problem be-nannt, für dessen Lösung sie sich Unterstützung bei derJugendsozialarbeit erhofft. Entsprechend sind in den letz-ten Jahren gezielt Länderprogramme zur Förderungschulmüder Jugendlicher entstanden.262

(b) Gesetzliche Aufgabenbeschreibung von Jugendsozialarbeit

Der gesetzliche Auftrag der Jugendsozialarbeit ist in § 13SGB VIII formuliert.263 Dort wird durch die Hervorhe-bung der sozialen Benachteiligung auf gesellschaftlicheund mit dem Topos ‚Beeinträchtigung‘ auf individuell be-gründete Ursachen abgehoben. Beide Merkmalsdimensio-nen treten selten isoliert voneinander auf, sondern bildenvielfach eine komplexe Gemengelage. Insofern sind inBezug auf die Adressaten/Adressatinnen von Jugendsozi-alarbeit individuelle und sozialstrukturelle Momente zubeachten: Zielgruppen sind u. a. Haupt- und Sonderschü-ler/innen mit schlechtem oder gar keinem Abschluss,Schul- und Ausbildungsabbrecher/innen, Jugendlicheohne Ausbildung und Arbeit, Jugendliche mit Sozialisa-tionsdefiziten, mit abweichenden Karrieren oder Sucht-problemen, „lernbehinderte“ Jugendliche, junge Men-schen mit Migrationshintergrund, junge Menschen insozialen Brennpunkten sowie von erhöhter Arbeitslosig-keit betroffene Mädchen und junge Frauen. Aus diesenLebenslagen resultiert ein erhöhter personenbezogenerUnterstützungsbedarf und damit für die Jugendsozialar-beit der besondere Auftrag, durch gezielte, individuelle,bedarfsorientierte und sozialräumlich ausgerichtete Ange-bote Hilfen zur Überwindung der jeweiligen individuellenNot- und Krisensituation zu leisten.

Dieses Verständnis ordnet Jugendsozialarbeit ein zwi-schen den allgemeinen Angeboten der Jugendarbeit undden hochindividuellen Leistungen, beispielsweise durchfamilienbezogene Erziehungshilfen (Münder/Schruth2002, S. 129f.). Dabei unterscheidet sich Jugendsozialar-beit von der Jugendarbeit vom gesetzlichen Auftrag her

260 Der Sonderschulbereich wird in der hierzulande üblichen Rede vom„dreigliedrigen“ Schulsystem einfach ausgeblendet.

261 In der berufsbezogenen Jugendsozialarbeit zeigt sich dieserAnspruch durch den am Subjekt orientierten Handlungsansatz. Sowerden in der Jugendberufshilfe Konzepte und Methoden wie indivi-duelle Förderplanung, gründliche Analyse der Stärken und Kompe-tenzen (Potenzialanalyse, Assessmentverfahren), Modularisierungder Qualifizierungsinhalte im Rahmen eines modernen Berufskon-zepts (Individualisierung und Differenzierung der beruflichen Bil-dung), kontinuierliche Bildungsbegleitung durch Case-Managementsowie der Berufs- und Lebensplanung angewendet (Bothmer/Fülbier2001, S. 505ff.).

262 Beispielhaft genannt sei das gleichnamige Schulmüden-Projekt desnordrhein-westfälischen Jugendministeriums (Hofmann-Lun/Kra-heck 2004). Hierbei wurde erfolgreich erprobt, die Kompetenz derJugendsozialarbeit bei der Förderung schulmüder Jugendlicher zunutzen, ohne die Schulen aus ihrer Verantwortung zu entlassen. Überdas BMBF gefördert wird seit 2002 das Projekt „Netzwerk Präven-tion von Schulmüdigkeit und Schulverweigerung“, welches Praxis-beispiele in diesem Handlungsfeld systematisch erfasst, dokumen-tiert und ein Netzwerk organisiert (www.dji.de/schulmuedigkeit).

263 „Jungen Menschen, die zum Ausgleich sozialer Benachteiligungenoder zur Überwindung individueller Beeinträchtigungen in erhöhtemMaße auf Unterstützung angewiesen sind, sollen im Rahmen der Ju-gendhilfe sozialpädagogische Hilfen angeboten werden, die ihreschulische und berufliche Ausbildung, Eingliederung in die Arbeits-welt und ihre soziale Integration fördern“ (§ 13 Abs. 1 SGB VIII).

Page 274: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 264 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

gesehen dadurch, dass sie sich mit besonderen personen-bezogenen Angeboten an solche junge Menschen richtet,die für ihre berufliche und soziale Integration in erhöhtemMaße auf Unterstützung angewiesen sind und deshalb be-sonderer Förderungs- und Vermittlungsangebote bedür-fen. Der primär durch Einzelfallhilfe bestimmten Ange-botsform der Jugendsozialarbeit steht die auf das Erlebnisin der Gruppe ausgerichtete Jugend(bildungs)arbeit ge-genüber. Von den Hilfen zur Erziehung unterscheidet sichJugendsozialarbeit dadurch, dass sie die Gründe für dieUnterstützung weniger im individuellen erzieherischenBedarf, als vielmehr gesellschaftlich bedingt interpretiert.

Im § 13 SGB VIII werden sozialpädagogische Hilfen mitdem Ziel der sozialen Integration gesetzlich beschrieben,die in der Jugendsozialarbeit als personenbezogene Hil-fen – wie Beratungsangebote, Sprachförderung, Maßnah-men der Jugendberufshilfe (berufsvorbereitende Maßnah-men, ausbildungsbegleitende Hilfen, Berufsausbildung inaußerbetrieblichen Einrichtungen, Qualifizierungs- undBeschäftigungsangebote, vgl. § 13 Abs. 2), Angebote dergeschlechtsspezifischen Förderung oder als Maßnahmendes Jugendwohnens (vgl. § 13 Abs. 3) – zum Einsatzkommen. Der Schwerpunkt der im strengen Sinne ausbil-dungbezogenen Funktionen liegt somit im Schnittstellen-bereich Schule/Beruf, während in der schulbezogenen Ju-gendsozialarbeit im Bereich der allgemein bildendenSchulen Sozialisations- und Bildungsfunktionen eher einKontinuum bilden, das sich gesetzlich nicht sinnvoll auf-trennen lässt. Die Frage nach dem Bildungsauftrag derschulbezogenen Jugendsozialarbeit muss daher fachlich-pädagogisch beantwortet werden; der gesetzliche Rah-men ist im Hinblick auf die Wahrnehmung dieses Bil-dungsauftrags weit genug gefasst.

Das eigentliche Problem ist dann auch ganz anders gela-gert: Die für die Jugendsozialarbeit insgesamt typischeAufsplittung von Träger- und Finanzierungsstrukturen er-laubt derzeit keine konsistente gesetzliche Regulierungdieses Arbeitsfeldes. So sind keineswegs alle an Schuletätigen sozialen Fachkräfte zugleich auch institutionellund rechtlich der Kinder- und Jugendhilfe zugeordnet;beispielsweise wird die klassische Schulsozialarbeit nichtselten direkt von der kommunalen Schulbehörde getragenund bezahlt, und auch über die Kultusministerien gere-gelte Finanzierungen und Trägerschaften kommen durch-aus vor. In der berufsbezogenen Jugendsozialarbeit, dieaber nicht Gegenstand dieser Ausführungen ist, kommtnoch die Arbeitsverwaltung als weiterer Akteur hinzu,der die Kinder- und die Jugendhilfe mit Blick auf Finan-zierungsvolumen und Einfluss deutlich an Bedeutungübertrifft. In dieser zersplitterten Regulationsstrukturwird die für das deutsche öffentliche Bildungs- und Erzie-hungswesen typische mangelnde Differenzierung vonProfession und Institution sichtbar: Die professionalisti-schen „Monokulturen“ in den voneinander getrennten In-stitutionen Schule (Schulpädagogik) und Kinder- und Ju-gendhilfe (Sozialpädagogik und Erzieher/innen) haben zueiner nur mangelhaften Ausprägung multiprofessionellorganisierter und dennoch gesetzlich klar geregelter Tä-tigkeitsfelder geführt. Die Ausdifferenzierung eines inte-grierten schulbezogenen Dienstleistungssegmentes im

Bereich der sozialen Arbeit mit klarer institutioneller An-bindung an die Kinder- und Jugendhilfe bleibt somitebenso ein Desiderat wie die Schaffung eines einheitli-chen schulgesetzlichen Handlungsrahmens für dieses Tä-tigkeitsfeld; hier wären eindeutig die Länder und die Kul-tusministerkonferenz (KMK) gefordert. Dieser erweitertegesetzliche Handlungsrahmen müsste dann die erwähnteLücke von Sozialisations- und Bildungsfunktionen derschulbezogenen Jugendsozialarbeit reflektieren und einedem entsprechende interinstitutionelle „Kooperation aufAugenhöhe“ ermöglichen.

(c) Konzeptionelle Positionen

Gegenwärtig ist ein enger Zusammenhang zwischen einerbegriffsstrategischen und einer konzeptionellen Positio-nierung zu beobachten. Dabei wird als schulbezogene Ju-gendsozialarbeit eine „fundamentale Leistung der Ju-gendhilfe zur Lebensbewältigung auch am Ort Schule“verstanden (Prüß 2004, S. 110ff.). „Diese Leistungenkönnen sowohl präventiver, ergänzender, unterstützenderals auch interventiver Art sein“ (ebd.). Sie haben keineReparaturfunktion, sondern sind Unterstützungsangebotefür die Entwicklung junger Menschen am Ort Schule.Nach dieser Position werden mit dem Begriff „schulbezo-gene Jugendhilfe“ alle entsprechenden Jugendhilfeange-bote nach § 11 (Jugendarbeit), § 13 (Jugendsozialarbeit),§ 24 (Tageseinrichtungen für schulpflichtige Kinder) so-wie komplementäre Betreuungsangebote (verlässlicheHalbtagsgrundschule, Nachmittagsangebote etc.) erfasst(Prüß 2004).

In einer anderen Position wird Schulsozialarbeit als Bau-stein an der Spitze einer Pyramide, die den Aufbau sozial-räumlicher und kommunaler Jugendförderungsstrukturendemonstriert, gesehen (Maykus 2004, S. 183ff.). Je brei-ter die Basis an infrastrukturell organisierten Leistungenund Angeboten von

– Familie, Schule, Bildung (Ebene A: LebensweltlicheBedingungen und soziale Leistungen),

– Jugendarbeit, Kultur-, Freizeit-, Bildungseinrichtun-gen, Familienbildung (Ebene B: Sozialräumliche Ju-gendhilfeinfrastruktur),

– Grundschule, Kindergarten, Jugendverbände, Kon-zepte offener Ganztagsschule (Ebene C: Beratung,Entlastung, Lernen, Unterstützung durch Kooperationvon Jugendhilfe und Schule) und

– Jugendsozialarbeit, Jugendberufshilfe, erzieherischeHilfen (Ebene D: Begleitung und Hilfe in Einzelfäl-len)

ist, umso flacher kann die an der Schule verankerte undinstitutionalisierte Sozialarbeit durch schulisch integrierteJugendarbeit und Jugendsozialarbeit sein (Ebene E)(Maykus 2004, Schaubild S. 186). Diese Darstellung ver-mittelt, dass schulbezogene Jugendsozialarbeit letztend-lich nur im Ganzen der Jugendhilfeperspektive erfolg-reich wirken kann und positioniert dieses spezifischeArbeitsfeld im allgemeinen Kontext der Kooperation vonJugendhilfe und Schule. Die Metapher der Pyramide ver-

Page 275: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 265 – Drucksache 15/6014

deutlicht dabei die gesellschaftlichen und institutionell-pädagogischen Voraussetzungen einer erfolgreichen undeng fokussierbaren schulbezogenen Jugendsozialarbeit.

Während diese Dimensionierung der jugendhilfebezoge-nen Voraussetzungen einer effektiven schulbezogenen Ju-gendsozialarbeit hier übernommen wird, kann einer Be-griffsstrategie, die „Schulsozialarbeit“ zum Oberbegrifffür alle Formen schulbezogener Jugendsozialarbeit hochstilisiert – oder diesen Begriff synonym mit dem Termi-nus „Kooperation von Jugendhilfe und Schule“ insgesamtsetzt –, nicht gefolgt werden. Nicht jede interinstitutio-nelle Kooperationsform ist im Kontext der Jugendsozial-arbeit situiert und nicht jede konzeptionelle Manifestationvon Jugendsozialarbeit versteht sich im Sinne der klassi-schen, einzelschulisch verorteten Schulsozialarbeit.

Bolay u. a. (2005) gehen einen Schritt weiter und definie-ren Strukturen und Arbeitsfelder der schulbezogenen Ju-gendsozialarbeit, die sie mit dem Begriff Schulsozialar-beit gleichsetzen und die sie zudem nur bei Einhaltungbestimmter institutioneller und professionsbezogener Be-dingungen angewendet sehen möchten.264 Die von diesenAutoren und Autorinnen skizzierte Breite des Angebots-spektrums schulbezogener Jugendsozialarbeit korrespon-diert mit den von Maykus mit der Metapher der Pyramideveranschaulichten Voraussetzungen: So können die Auf-gabenfelder der schulbezogenen Jugendsozialarbeit imKontext einer funktionierenden regionalen Jugendhil-festruktur enger gefasst werden, als dies beim Fehlen ent-sprechend vernetzter Helfersysteme der Fall ist.

Im Unterschied zu Bolay u. a. (2005) wird in diesem Be-richtskontext der Begriff der Schulsozialarbeit allerdingszugleich enger und weiter gefasst: Zum einen wird er derKategorie „schulbezogene Jugendsozialarbeit“ zugeord-

net, zum anderen stärker deskriptiv verwendet. DassSchulsozialarbeit dienst- und fachaufsichtlich der Kinder-und Jugendhilfe zuzuordnen und von hochschulqualifi-zierten Fachkräften auf der Basis eines zwischen Jugend-hilfeträger und Schule abgestimmten pädagogischenKonzepts zu erbringen ist, beschreibt eher präskriptiveOrientierungen als die Wirklichkeit der schulbezogenenJugendsozialarbeit. Es erscheint aber begriffsstrategischwenig sinnvoll, von einer derart emphatisch gefasstenDefinition auszugehen und damit soziale Arbeit an derSchule, die beispielsweise von Erziehern und Erzieherin-nen an Grundschulen geleistet wird, nicht bei der Jugend-hilfe, sondern der kommunalen Schulbehörde verankertist und/oder der Schulleitung untersteht, im Rahmen die-ses Konzepts nicht mehr in den Blick zu nehmen, da da-mit ein nicht unbeachtlicher Teil der sozialen Arbeit ander Schule bereits definitorisch ausgeblendet würde. Indiesem Sinne wird hier eine weiter gefasste Begriffsstra-tegie gewählt.

Die begriffsstrategische Einordnung von „Schulsozialar-beit“ in die umfassendere Kategorie „schulbezogene Ju-gendsozialarbeit“ begründet sich durch aktuelle Verände-rungen im Feld: „Schulsozialarbeit“ unterscheidet sichdabei in der Praxis von ähnlich klingenden, aber wohl-überlegt sprachlich abgegrenzten Arbeitsformen nichtdurch die Einhaltung von Qualitätsstandards, sondernvielmehr durch ihren „stationären“ Charakter, mithindurch die konkrete Verortung des Arbeitsplatzes der sozi-alen Fachkräfte an der Einzelschule. Die pädagogischeBegründung für dieses Setting hebt auf die dadurch gege-bene Möglichkeit des kontinuierlichen Beziehungsauf-baus mit vor allem „schwierigen“ Schülern/innen ab, derim Rahmen mobiler und befristet-projektorientierter Al-ternativkonzepte nicht zu leisten sei. Die Kontroversezwischen dem „ambulant-mobilen“ und dem „einzelschu-lisch-stationären“ Pol schulbezogener Jugendsozialarbeitwird auch innerhalb der Jugendhilfe in teilweiser großerSchärfe ausgetragen, wobei sich die mobilen Konzeptemehr und mehr vom Begriff „Schulsozialarbeit“ verab-schieden und die eingangs erwähnten Alternativbezeich-nungen kreieren. Nicht zuletzt aus diesem Akzeptanzver-lust auf der Projektebene erscheint die Verwendung desTerminus „Schulsozialarbeit“ als Oberbegriff für diesedurchaus divergenten Formen schulbezogener Jugendso-zialarbeit wenig zielführend, da nicht hinreichend kon-textsensibel.

In einem eng geführten Verständnis wird die Zielgruppeder schulbezogenen Jugendsozialarbeit gemäß § 13 SGBVIII ausschließlich auf individuell beeinträchtigte und so-zial benachteiligte Schüler/innen eingegrenzt. Hier stehtdie im Fachdiskurs häufig hervorgehobene Stärke von Ju-gendsozialarbeit – ihre bedarfsorientierte, einzelfallbezo-gene Bearbeitung von abweichendem und schulstören-dem Verhalten in Form der Beratung von Schülern/innensowie deren Eltern bei individuellen Problemen, Hilfenbei Lern- und Leistungsschwierigkeiten und beim Über-gang von der Schule in die Ausbildung oder in den Beruf– im Vordergrund. Schulbezogene Jugendsozialarbeit fin-det in diesem Verständnis einzelfallbezogen als „Sozialar-beit in Schulen“ (Rademacker 2002) statt.

264 „Schulsozialarbeit ist ein Leistungsangebot der Jugendhilfe in derSchule, das, entlang einer mehr oder weniger ausgefeilten konzeptio-nellen Abstimmung zwischen Schule und Jugendhilfe, durch sozial-pädagogische Fachkräfte mit Hochschulqualifikation erbracht wird,die dienstrechtlich nicht der Schulleitung unterstehen, sondern bei ei-nem schulexternen freien oder öffentlichen Träger der Jugendhilfeangestellt sind. Schulsozialarbeit wendet sich an verschiedene Adres-saten im Schulalltag: an die Primäradressaten, die Schülerinnen undSchüler, an die schulpädagogischen Fachkräfte, an Eltern und an Per-sonen und Institutionen des schulischen Umfeldes (u. a. auch Jugend-hilfe). Fünf zentrale Handlungsebenen von Schulsozialarbeit, die inder Praxis in verschiedensten Mischungsverhältnissen realisiert wer-den, lassen sich empirisch als Kern der Arbeit herauskristallisieren:(1) die Einzelfallunterstützung für belastete und belastende Schüler/innen, teilweise gekoppelt mit den Möglichkeiten Sozialer Gruppen-arbeit, (2) offene und projektförmige Angebote für (potentiell) alleSchüler/innen mit erzieherischen, sozialisatorischen und bildungs-spezifischen Zielsetzungen, (3) Formen der Beratung für und mitSchüler/innen, Lehrer/innen und Schulleitung sowie Eltern, (4) Ge-meinwesenbezug und Vernetzung mit der regionalen Jugendhilfe so-wie (5) ihre Rolle als Ko-Akteur in der Schulentwicklung (Bolay2003, S. 82f.). Obwohl im Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII)rechtssystematisch der Jugendsozialarbeit (§ 13) zugeordnet, istSchulsozialarbeit also fachlich wesentlich komplexer verortet, hattendenziell die Versäulungen der Jugendhilfe überschritten und ori-entiert sich – den komplexen Bewältigungsanforderungen der schu-lisch vergesellschafteten Lebenslage der Jugendlichen folgend (Oele-rich 1996) – im Handlungsauftrag eher generalistisch dennspezialistisch“ (Bolay u. a. 2005, S. 1f.).

Page 276: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 266 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Über dieses Denken der Individualförderung hinaus – undsomit in einem offeneren Verständnis –, schließt schulbe-zogene Jugendsozialarbeit in jüngster Zeit dann zumin-dest auf konzeptioneller Ebene aber auch tendenziell alleSchüler/innen einer Schule mit ein. Hier werden Schnitt-stellen zu außerunterrichtlichen Angeboten in Form vonJugendbildung, Freizeit-, Sport- und Kulturangeboten alsgrundsätzlich offenen Angeboten bewusst gelegt (in An-lehnung an § 11 SGB VIII), und es wird somit nicht an ei-nem reinen Benachteiligtenprogramm festgehalten.

Aufgrund systematischer Analysen wächst die Einschät-zung, dass „sich inzwischen im „Mainstream“ der sozial-pädagogischen Fachdebatte ein fachliches Verständnisdurchgesetzt (hat), das einen breiteren Problem- und Auf-gabenzuschnitt (…) propagiert und sich als ‚integrierterAnsatz’ bezeichnen ließe“ (Expertise Olk, S. 28ff.).265

Dieses Verständnis greift das Konzept einer offensivenund lebensweltorientierten Sozialpädagogik auf, das ein-zelfall- und gruppenbezogene Probleminterventionen mitoffenen, präventiv ausgerichteten Freizeit-, Betreuungs-und Beratungsangeboten systematisch verknüpft. Dierechtlichen Grundlagen sind somit sowohl der § 11 (Ju-gendarbeit), der § 13 (Jugendsozialarbeit), der § 14 (er-zieherischer Kinder- und Jugendschutz) als auch über ihreBeratungsleistungen in Erziehungsfragen der § 16 (allge-meine Förderung der Erziehung in Familien) sowie der§ 24 SGB VIII in Form der Betreuung schulpflichtigerKinder im Rahmen der Ganztagsangebote, jeweils er-gänzt und konkretisiert durch die länderspezifischen Aus-führungsgesetze zum Kinder- und Jugendhilfegesetz(SGB VIII). Somit ist schulbezogene Jugendsozialarbeitein eigenständiges Dienstleistungsangebot der Jugend-hilfe am Ort Schule, das sowohl für das System Schule,für Schüler/innen und Eltern als auch für Lehrkräfte spe-zifische Hilfen anbietet und vielfältige Entwicklungspro-zesse unterstützt. Entscheidend für das Angebot der Hil-fen ist nicht mehr lediglich die individuelle Problemlage(wie in § 13 SGB VIII gefordert), sondern die Lebenslage„Schüler/in-Sein“ vor dem Hintergrund gruppen- und mi-lieuspezifischer Ressourcen und Kompetenzen (Oelerich1996). Somit kommt der schulbezogenen Jugendsozialar-beit in ihrem integrativen Ansatz eine Vermittlungs- undVernetzungsfunktion zu, die sie unter systematischen Ge-sichtspunkten als ein zentrales Aufgabengebiet der Ju-gendhilfe allgemein ausweist – wenn auch mit spezifi-scher Akzentuierung als Jugendsozialarbeit. Dieserintegrative Ansatz richtet sich grundsätzlich an den allge-meinen Zielen und Aufgaben der Jugendhilfe aus undleistet über Jugendsozialarbeit hinaus auch Jugendarbeit,erzieherischen Kinder- und Jugendschutz, bietet Betreu-ungsangebote für schulpflichtige Kinder (im Rahmen derGanztagsbetreuung, ohne das klassische Hort-Angebot)

und nimmt die in § 81 SGB VIII geforderte Kooperationvon Jugendhilfe mit anderen Stellen und öffentlichen Ein-richtungen wahr – insbesondere mit der Schule und derSchulverwaltung.266

Dieses integrative Aufgabenspektrum fällt nicht mehrzwangsläufig mit dem Setting der klassischen, einzel-schulisch verorteten „Schulsozialarbeit“ zusammen, son-dern erlaubt und ermöglicht in seiner entspezialisiertenCharakteristik auch ganz andere, z. B. mobile und befris-tet-projektorientierte Arbeitsformen. Es ist, wie bereitsbetont, von daher angezeigt, sich von der klassischen„Schulsozialarbeit“ als dem Oberbegriff für diese unter-schiedlichen Formen schulbezogener Jugendsozialarbeitzu verabschieden.

Es fällt auf, dass in den skizzierten Typologisierungenund Dimensionierungen schulbezogener Jugendsozialar-beit eine genuine Bildungsfunktion nicht explizit artiku-liert wird; am ehesten lässt hierfür noch der integrativeAnsatz mit seiner Betonung der Angebotsgestaltung füralle Schüler/innen – jenseits eines spezifischen Benach-teiligtenprogramms – Raum. Daraus kann aber nicht ge-schlossen werden, dass die schulbezogene Jugendsozial-arbeit keine Bildungsfunktionen wahrnehmen würde,vielmehr sind diese, wie bereits mehrfach betont, in ei-nem Kontinuum zu sozialisationsbezogenen Aufgabenangesiedelt. Erst an der Schnittstelle Schule/Beruf – vorallem in der Zusammenarbeit mit den beruflichen Schu-len – wird dann der genuine Bildungscharakter der Ju-gendsozialarbeit auch schon auf den ersten Blick erkenn-bar. Eine klare Konturierung von Bildungsfunktionen imBereich der klassischen Einzelfallarbeit wäre im Kontextder individuellen Bildungsplanung – auch unterhalb derSchwelle bereits eingeleiteter „Hilfen zur Erziehung“ –möglich und denkbar. Modelle und Ansätze hierfür fin-den sich derzeit vor allem im Bereich der Prävention vonSchulmüdigkeit (Michel 2005) und ließen sich im Kernsicherlich auch bei anders gelagerten Problemkonstellati-onen anwenden. Um hier zu infrastrukturellen Lösungenzu kommen, wären allerdings Schulen zu entsprechendeneinzelfallbezogenen Kooperationen mit der Jugendsozial-arbeit von den Ländern gesetzlich zu verpflichten undentsprechende Ressourcen bereit zu stellen.

6.1.3.2 Institutionelle Struktur und Organisa-tionsmerkmale schulbezogener Jugendsozialarbeit

(a) Rechtliche Rahmenbedingungen

Schulbezogene Jugendsozialarbeit hat in ihrer wechsel-haften Entwicklung immer erfahren müssen, dass sie fürjeweils aktuelle bildungs- und jugendhilfepolitische Ziel-

265 Trotz dieser fachlich-methodischen Festlegung unterscheidet Olk(Expertise, S. 16ff.) drei Hauptformen von „Spielarten und Varian-ten“ der Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule mit ihren jeeigenen Zielsetzungen und Inhalten: (1) Die Kooperation der örtli-chen Jugendhilfe (Jugendamt, Hilfen zur Erziehung, dem Allgemei-nen Sozialen Dienst [ASD] und weiterer Fachdienste) mit Schule. (2)Die Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule in Projekten derSchulsozialarbeit. (3) Die Kooperation zwischen der außerschuli-schen Jugendarbeit und Schule.

266 Mit Blick auf diesen weiten, integrativ ausgerichteten Ansatz hinktdie derzeitige Praxis der Projekte von schulbezogener Jugendsozial-arbeit vielfach der Konzeptentwicklung hinterher. Allerdings habensich viele einschlägige Projekte in den letzten Jahren dem integrati-ven Ansatz geöffnet, wurden hierzu dabei vor allem aufgrund ihreserweiterten Handlungsverständnisses von Problemverursachung undErfordernissen der Kompetenzvermittlung als auch durch gesell-schaftliche Anforderungen an ganztägige Angebote motiviert.

Page 277: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 267 – Drucksache 15/6014

setzungen instrumentalisiert wurde. Als Manövrierfeldfür kurzfristige opportunistische Prioritätensetzungen,insbesondere in der Bildungs- und Jugendhilfepolitik derBundesländer, als auch unter dem unmittelbaren Eindruckakuter Problem- und Notlagen vor Ort, haben sich spezi-elle Förderprogramme entwickelt, die aufgrund ihrer un-terschiedlichen Zielsetzungen und Begrifflichkeiten nichtzu einem einheitlichen Verständnis von schulbezogenerJugendsozialarbeit hinführten. Alle entsprechenden För-derprogramme verorten sich rechtlich auf den bereits ge-nannten §§ 11, 13, 14 und 81 SGB VIII sowie den ent-sprechenden Landesausführungsgesetzen zum SGB VIII.Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl landesrechtlicherRichtlinien/Förderprogramme und Erlasse sowie kor-respondierender Schulgesetze.267 Dabei muss jedoch eineUngleichzeitigkeit von Praxisentwicklung einerseits undRechtslogik andererseits konstatiert werden: „Der Über-blick über die Ausführungsgesetze sowie Erlasse, Richt-linien und Förderprogramme zur Kooperation von Ju-gendhilfe und Schule belegt zwar eine Fülle vonorganisatorisch-strukturellen Regelungen, verweist je-doch auf ein Defizit an inhaltlich-konzeptionellen Hin-weisen zur Präzisierung und Profilschärfung schulbezo-gener Angebote der Jugendhilfe“ (Hartnuß/Maykus2004b, S. 570).

Hartnuß/Maykus (2000, S. 325 f., 2004b, S. 587) plädie-ren vor diesem Hintergrund der unzureichenden klarenRegelungen für eine Präzisierung und Neuverortung derschulbezogenen Angebote in Form einer eigenständigenAngebotsform im SGB VIII, die eine Entsprechung derPraxislogik und Interventionsorientierung darstellt.Hierzu wird von ihnen der Vorschlag einer Neufassungdes § 13a („Schulbezogene sozialpädagogische Hilfenund Angebote“) mit entsprechenden Folgeänderungen fürdie bisherigen §§ 11 und 13 SGB VIII in die Diskussiongebracht.

(b) Personal

Über die Kinder- und Jugendhilfestatistik werden allevier Jahre auch die Einrichtungen der Kinder- und Ju-gendhilfe und der dort tätigen Personen erfasst, derenhauptsächliche Tätigkeit die schulbezogene Jugendsozial-arbeit ist (zu den nachfolgenden Befunden in diesem Ab-schnitt vgl. Tab. A-6.10 im Anhang). Demnach ergab sichEnde 2002 eine Anzahl von 1 385 der in diesem Arbeits-feld tätigen Personen (1998: 755). Die größte Ausweitungan Stellenkontingenten vollzog sich in der Zeitspanne von1998 bis 2002 bei den Einrichtungen der Jugendsozialar-beit gemäß § 13 SGB VIII, nämlich von 48 auf 479 Per-sonalstellen. Dies zeigt die wachsende Bedeutung der Ju-gendsozialarbeit in der Lösung von Konflikten und derindividuellen Stärkung von Schülern und Schülerinnen.Auch die Zahl der Mitarbeiter/innen bei Trägern derfreien Jugendhilfe (Geschäftsstellen) verdoppelte sichvon 75 auf 185 Personalstellen, während sie sich bei den

Jugendämtern nur geringfügig von 256 auf 295 Stellen er-höhte.

So erfreulich diese Stellenausweitung ist, so zeigen dieabsoluten Zahlen in Anbetracht der Größe des Schulsys-tems aber doch auch, wie unzureichend die infrastruktu-relle Versorgung der Schulen insgesamt mit Jugendsozial-arbeit nach wie vor ist. Darüber hinaus geht dieStellenausweitung mit einem Trend von Vollzeit- zu Teil-zeitstellen und zu Nebentätigkeiten einher; dabei hat sichvor allem der Anteil an Teilzeitstellen in den neuen Län-dern von 1998 bis 2002 von 41 Prozent auf 52 Prozentsprunghaft erhöht, wobei dort allerdings Nebentätigkeitennoch keine Rolle spielten und somit der Anteil an Voll-zeitstellen mit 48 Prozent im Jahr 2002 immer noch deut-lich über dem Vergleichswert für die alten Länder(42 Prozent) lag. In letzteren wurden zu diesem Zeitpunktbereits 14 Prozent (1998: 10 Prozent) der in der schulbe-zogenen Jugendsozialarbeit tätigen Personen im Rahmeneiner Nebentätigkeit beschäftigt.

Entsprechend der Förderbedingungen spiegelt sich auchdie Zahl der in Schulen tätigen Jugendsozialarbeiter/in-nen in den einzelnen Bundesländern wieder. So führtNordrhein-Westfalen mit 22 Prozent (299 Stellen) dieSpitze der erfassten 1 385 Personalstellen gemäß der Kin-der- und Jugendhilfestatistik (2002) an, gefolgt von Ba-den-Württemberg mit 16 Prozent (223 Stellen), Mecklen-burg-Vorpommern mit 15 Prozent (202 Stellen) undHessen mit 10 Prozent (141 Stellen).

Die Kinder- und Jugendhilfestatistik 2002 weist auch dieStellung der erfassten Fachkräfte in diesem Bereich aus.Demnach waren 63 Prozent (877 Personen) unbefristet,27 Prozent (369 Personen) in einem befristeten Arbeits-verhältnis beschäftigt. Hierbei weisen die neuen Bundes-länder den höchsten Prozentanteil an befristeten Stellenauf, was offensichtlich auf die verbreitete Förderungdurch arbeitsmarktpolitische Programme hinweist (Bran-denburg: 42 Prozent; Sachsen: 45 Prozent; Sachsen-An-halt: 87 Prozent).

In Bezug auf die Entwicklung der Personalstruktur imBereich der schulbezogenen Jugendsozialarbeit ist zwi-schen 1998 und 2002 in den alten wie auch in den neuenBundesländern ein durchgehender Trend zur weiterenVerfachlichung und Verberuflichung zu konstatieren.Hingegen stagnierte im Berichtszeitraum der Trend zurProfessionalisierung im Westen (63 Prozent), während erim Osten Deutschlands noch anstieg und 2002 bei57 Prozent lag. Einen leichten Abwärtstrend verzeichneninsbesondere die alten Länder im Bereich der Akademi-sierung: Hier sank der Index um fünf Prozentpunkte auf68 Prozent; in den neuen Ländern sank er nur ganz leichtvon 64,4 auf 63,2 Prozent. Es ist daher vor allem dieseDimension der Personalstrukturentwicklung, die künftiggenauer beobachtet werden muss.

Während in den alten Ländern im Jahr 2002 55 Prozentder Fachkräfte eine sozialpädagogische/sozialarbeiteri-sche Ausbildung auf Fachhochschul-Niveau hatten unddiesem Wert ein Erzieher/innenanteil von 12 Prozentgegenübersteht, bilden in den neuen Ländern die Er-

267 Eine umfassende Darstellung der bundeslandspezifischen Erlasse/Förderprogramme/Richtlinien, der Landesausführungsgesetze SGBVIII sowie der Schulgesetze zur Kooperation von Jugendhilfe undSchule liefern Hartnuß/Maykus (2004b, S. 578ff.).

Page 278: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 268 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

zieher/innen mit 33 Prozent die stärkste Gruppe (Personalmit dem Berufsabschluss Sozialpädagogik/-arbeit: 30 Pro-zent).

Nach wie vor sind zwei Drittel bis drei Viertel der Fach-kräfte im Bereich der schulbezogenen Jugendsozialarbeitweiblichen Geschlechts; während sich der Männeranteilin Westdeutschland zwischen 1998 und 2002 von28 Prozent auf 32 Prozent erhöhte, ging er in Ostdeutsch-land sogar noch weiter zurück und lag Ende 2002 mit16 Prozent nur noch halb so hoch wie im Westen. DieseEntwicklung könnte sich als problematisch erweisen, dain der schulbezogenen Jugendsozialarbeit das Arbeiten ingemischtgeschlechtlichen Teams einen wichtigen Quali-tätsstandard darstellt, der so nicht gesichert bzw. erreichtwerden kann.

(c) Träger und Einrichtungen

Schulbezogene Jugendsozialarbeit kann organisatorischTeil des Schulsystems sein oder sich in öffentlicher bzw.freier Trägerschaft befinden. Ist sie in das Schulsystemintegriert (insbesondere bei den ganztägigen Gesamtschu-len) und damit in die Schulhierarchie eingebunden, so un-terliegt sie der Dienst- und Fachaufsicht durch die Schul-leitung. Diese Einordnung kann zu einer starkenVereinnahmung durch die Schule und in der Folge zu ei-ner einseitigen Unterordnung unter die Interessen undVersorgungsbedarfe der Schule führen. Dies befördertden Verlust sozialpädagogischer Freiheitsgrade undHandlungsräume. Schutz vor einer zu engen Einbindungder schulbezogenen Jugendsozialarbeit in das administra-tive System der Schule bietet demgegenüber die Träger-schaft und die gemeinsame Dienst- und Fachaufsicht inZuständigkeit der Jugendhilfe. Diese Trägerform wirdderzeit als die effektivste angesehen (Expertise Merchel)und sichert beiden Institutionen ihre jeweils eigene Fach-lichkeit.

Die Kinder- und Jugendhilfestatistik zeigt hinsichtlichdes Trägerbezugs im Bereich der schulbezogenen Ju-gendsozialarbeit ein differenziertes Bild: Bundesweit wa-ren Ende 2002 im Zuständigkeitsbereich der Kinder- undJugendhilfe 1 385 Personen (1 036 Vollzeitäquivalente,VZÄ268) mit der „hauptsächlichen Tätigkeit Schulsozial-arbeit“ 269 tätig; Ende 1998 waren es erst 755 (604 VZÄ).Mit diesem starken Wachstum der Beschäftigung gingeine deutliche Verschiebung in den Trägerstrukturen ein-her: So sank der Anteil der bei einem öffentlichen TrägerBeschäftigten von 50 Prozent im Jahr 1998 auf 39 Pro-

zent in 2002; der Anteil der privaten Träger wuchs in die-sem Zeitraum von 50 Prozent auf 61 Prozent an.

21 Prozent der in der schulbezogenen Jugendsozialarbeittätigen Fachkräfte waren beim Jugendamt und etwas über1 Prozent bei Gemeinden ohne Jugendamt beschäftigt,13 Prozent bei den Geschäftsstellen eines Trägers derfreien Jugendhilfe. Die weiteren Einrichtungen, in denenschulbezogene Jugendsozialarbeit stattfindet, sind nichtnach dem öffentlichen oder freigemeinnützigen Status,sondern nach dem Aufgabenprofil des Trägers geordnet.So waren weitere 35 Prozent der Beschäftigten in Ein-richtungen der Jugendsozialarbeit nach § 13 SGB VIII,15 Prozent in Jugendfreizeiteinrichtungen/Jugendzentren,7 Prozent in Einrichtungen der mobilen Jugendarbeit und8 Prozent in verschiedenen Typen von Beratungsstellentätig.270 Hierbei ist zu berücksichtigen, dass über dieseErhebung nur dem SGB VIII zuzuordnende Einrichtun-gen erfasst sind, nicht jedoch die Schulen (Fördervereine)bzw. die kommunalen Schulbehörden als Träger von Pro-jekten schulbezogener Jugendsozialarbeit.

Zur Optimierung der Zusammenarbeit bedarf es – unab-hängig von der konkreten Trägerschaft und Finanzie-rungsstruktur – gerade aufgrund des entspezialisierten,und somit für schulische Instrumentalisierungsversuchebesonders anfälligen Aufgabenprofils klarer Regelungenund Absprachen in Form von Kooperationsverträgen und-vereinbarungen. Solche Verträge dienen einer verbindli-chen, dauerhaften, gleichberechtigten, vertrauensvollenund partnerschaftlichen Zusammenarbeit. Sie legen diejeweiligen Aufgabenbereiche und Zuständigkeiten so-wohl zwischen den Institutionen als auch innerhalb vonSchule fest.271

(d) Finanzielle Organisation und Ausstattung

Der Anspruch der schulbezogenen Jugendsozialarbeit lei-tet sich aus ihrem Verständnis als Leistung für Problemju-gendliche ab, deren schulischer Bildungserfolg gefährdetist. Entsprechend stark ist der Bezug auf den örtlichenTräger der öffentlichen Jugendhilfe, also Kommune oderLandkreis, und somit auf den § 13 SBG VIII. In der Kin-der- und Jugendhilfestatistik werden die Ausgaben für dieschulbezogene Jugendsozialarbeit nicht als Einzelposi-tion ausgewiesen, sondern nur die Sammelposition ge-mäß § 13 SGB VIII. Hiernach stagniert der Anteil derkommunalen Ausgaben für Jugendsozialarbeit seit Jahrenbundesweit bei ca. 1,2 Prozent – dies entspricht 238 Mio.Euro pro Jahr – innerhalb des Haushaltstitels der Kinder-und Jugendhilfe (Rauschenbach u. a. 2004, S. 285). Mitumgerechnet 20 Euro pro 15- bis unter 27-Jährige imbundesweiten Durchschnitt – bei z. T. großen Unterschie-den zwischen den Bundesländern – deutet dies auf einegewisse Randständigkeit der Jugendsozialarbeit hin (ebd.,S. 286). Dabei lässt sich der für die schulbezogene Ju-

268 Diese Vollzeitfälle errechnen sich aus dem Stundenvolumen aller tä-tigen Personen in diesem Bereich, dividiert durch 38,5 (Westdeutsch-land) bzw. 40 (Ostdeutschland).

269 Die Angaben basieren auf der Selbstauskunft hinsichtlich des Kriteri-ums „hauptsächliche Tätigkeit Schulsozialarbeit“. Dabei handelt essich aber keineswegs nur um Personen mit festem Arbeitsplatz in derSchule, sondern z. B. auch um Jugendarbeiter/-innen, die hauptsäch-lich schulbezogene Angebote durchführen, was – je nach gewählterDefinition und Typologie (siehe oben) – nicht unbedingt unter denBegriff „Schulsozialarbeit“ eingeordnet wird. Auch hier zeigt sichfolglich wieder der irreführende Charakter dieser (Selbst-)Bezeich-nung.

270 Alle Daten sind errechnet aus der oben genannten Kinder- und Ju-gendhilfestatistik 2002, Fachserie 13, Tab. 8.1.

271 Vgl. beispielhaft den „Leitfaden zur Erstellung einer Kooperations-vereinbarung zwischen Jugendhilfe und Schule“ der BayerischenStaatsregierung in Renges/Lerch-Wolfrum (2004, S. 35ff.).

Page 279: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 269 – Drucksache 15/6014

gendsozialarbeit relevante Anteil aufgrund fehlender In-dikatoren nicht ermitteln. Zu bedenken ist jedoch, dassdie Finanzierung der Maßnahmen der Jugendsozialarbeitaus dem SGB VIII nur einen geringen Förderanteil aus-macht; insbesondere der große Bereich der Jugendberufs-hilfe wird vorrangig und in erheblichem Umfang aus Mit-teln der örtlichen Arbeitsagenturen sowie der Sozialämter(ARGEn) gefördert.

Aber auch die schulbezogene Jugendsozialarbeit ist imHinblick auf die Finanzierung ein typisches Patchwork-Konstrukt. Wesentliche Finanzierungsanteile für die ent-sprechenden Projekte und Arbeitsansätze werden überverschiedene Landesjugendplanprogramme (z. B. in Nord-rhein-Westfalen zu schul- und berufsbezogenen Angebo-ten der Jugendsozialarbeit), insbesondere aber über spezi-elle Landesförderprogramme/Richtlinien bereitgestellt,so etwa

– in Baden-Württemberg: Ansatz 1999 z. B. 6,5 Mio.DM für drei Jahre, 2003: über 300 Schulen mit Schul-sozialarbeitern und Schulsozialarbeiterinnen mit stei-gender Tendenz (Miehle-Fregien/Pchalek 2004,S. 617);

– in Bayern: Zielvorstellung 2003 bis 2012: bis zu 350sozialpädagogische Fachkräfte an bis zu 500 Schulen(Lerch-Wolfrum 2004, S. 639);

– in Berlin über den Förderschwerpunkt „Schulstatio-nen“ (2,2 Mio. Euro für 30 Schulstationen seit 2001)(Lütke 2004, S. 644);

– in Hamburg über das Projekt PROREGIO – RegionaleKooperation von Jugendhilfe und Schule;

– in Mecklenburg-Vorpommern über die „Landesinitia-tive Jugend- und Schulsozialarbeit“ (188 geförderteMitarbeiter/innen Mitte 2002) (Binder 2004, S. 712);

– über das Landesprogramm Schuljugendarbeit in Sach-sen (1,5 Mio. Euro jährlich für 412 Projekte bei maxi-mal 17.895 Euro pro Projekt und Jahr) (Wiere 2004,S. 790).

Insbesondere in den neuen Bundesländern werden zuwei-len Beschäftigte noch im Rahmen von ABM-/SAM-Finanzierungen seitens der Arbeitsagentur sowie durchMittel des Europäischen Sozialfonds gefördert.

6.1.3.3 Bildungsleistungen(a) Zum Stand der Wirkungsforschung im Bereich

der schulbezogenen Jugendsozialarbeit

Eine aussagekräftige Evaluation der spezifischen Bil-dungsleistungen schulbezogener Jugendsozialarbeit fin-det in Deutschland bislang nicht statt. So kommen auchdie Autoren des einzigen aktuellen Überblicksartikelszum Thema „Qualitätsstandards, Qualitätsentwicklungund Selbstevaluation“ (Speck/Olk 2004) zu dem Resultat,dass vor allem zur Ergebnisqualität der schulbezogenenJugendsozialarbeit derzeit „trotz zahlreicher wissen-schaftlicher Begleitforschungen und Evaluationen … nurwenig fundierte Erkenntnisse“ vorliegen (ebd., S. 948).Der Schwerpunkt entsprechender Diskurse liegt fast

durchgängig auf der Fixierung von Standards zur Koope-rationsgüte zwischen Jugendsozialarbeit und Schule, ins-besondere im Hinblick auf die einzelschulisch verorteteklassische Schulsozialarbeit, sowie auf der Konzeptquali-tät der letzteren (Spiegel 2004).

Evaluation wird dabei durchgängig im Sinne von Selbst-evaluation thematisiert, damit aber auch verkürzt. InSelbstevaluationen wird beispielsweise ein Feedback vonSchüler/innen, Lehrkräften und der Schulleitung im Hin-blick auf deren Zufriedenheit mit der schulbezogenen Ju-gendsozialarbeit eingeholt, während allerdings schon inden Kooperationsvereinbarungen zwischen Jugendhilfe-träger und Schule versäumt wird, „Ziele und Bewertungs-maßstäbe für den Erfolg der Zusammenarbeit zu verein-baren“ (Rademacker 2005, S. 116 f.), was in der Folgedann auch in der Selbstevaluation nicht mehr aufgegriffenwird. „Für die Kooperation (…) könnten solche Zieleetwa in der Verbesserung des regelmäßigen Schulbesuchssowie in der Senkung der Quoten von Schullaufbahn-wechseln und Abgängen ohne Abschluss liegen“ (ebd.).

Während es hierzu derzeit keine verlässlichen Daten gibtund – nach übereinstimmender Auskunft von Expertenund Expertinnen – auch keine aktuellen Forschungsan-strengungen zu existieren scheinen, sind von dem amDeutschen Jugendinstitut derzeit durchgeführten „Über-gangspanel“ (vgl. www.dji.de) zumindest indirekte Auf-schlüsse zu bildungsbezogenen Effekten schulbezogenerJugendsozialarbeit zu erwarten. In den forschungsleiten-den Fragestellungen des Übergangspanels wird neben derBewertung der Förderangebote durch die Jugendlichenauch die Ermittlung der Entfaltung personaler Kompeten-zen reflektiert. Der Fokus dieser Forschungen tangiertzwar die schulbezogene Jugendsozialarbeit, liegt aberdennoch klar im Bereich der Berufsfindung und wird da-her nicht weiter vertieft.

Die Ermittlung von Bildungsleistungen der schulbezoge-nen Jugendsozialarbeit ist im Kontext der Wirkungsfor-schung im strengen Sinn kaum möglich. Bildung ist im-mer auch Selbstbildung, d. h. eine subjektive Leistung,die sich biografisch-kumulativ aufbaut und keinem ein-zelnen Lernort kausal zurechenbar ist. Auch PISA undIGLU messen lediglich den Kompetenzstand von Kin-dern und Jugendlichen eines bestimmten Alters bzw. ei-ner bestimmten Klassenstufe, ohne Aussagen darübertreffen zu können oder zu wollen, inwiefern die erworbe-nen Kompetenzen dem Schulsystem als spezifische Bil-dungsleistungen zuzuordnen sind.

Aber auch eine vorsichtigere, nichtkausale Interpretationvon Korrelationen – beispielsweise zum Vergleich deramtlich festgestellten Schulpflichtverletzungen in Haupt-schulen (a) mit und (b) ohne Unterstützung durch schul-bezogene Jugendsozialarbeit – scheitert auf der Ebene desGesamtsystems an Definitions- und Interpretationspro-blemen, was am Beispiel Schulabsentismus gezeigt wer-den kann: „In Deutschland gibt es keine bundesweitrepräsentativen Untersuchungen oder vollständige Statis-tiken zum Umfang von Schulversäumnissen schulpflich-tiger Schüler/innen. Zahlen zur An- und Abwesenheitwerden bisher nicht bzw. nur vereinzelt systematisch er-

Page 280: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 270 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

fasst und ausgewertet. Entsprechende Statistiken sindaufgrund des unterschiedlichen bzw. nicht eindeutig defi-nierten Verständnisses von Schulversäumnismerkmalenmeist nicht vergleichbar. Ab wann ein Schüler oder eineSchülerin als ‚Schulpflichtverletzer‘ gilt, wird in den bis-her durchgeführten Untersuchungen zur Problematik vonSchulmüdigkeit und Schulverweigerung unterschiedlichgehandhabt. Der Ermessensspielraum, wann und vonwem ein Fernbleiben vom Unterricht als Schwänzen oderVerweigerung definiert wird, wird in der Praxis von Lehr-kräften und Schulleitern unterschiedlich ausgefüllt“(Braun 2004, S. 17). Nicht nur in diesem Bereich existie-ren demnach valide Referenzdaten zur indirekten Ermitt-lung von Bildungseffekten schulbezogener Jugendsozial-arbeit, nur auf regionaler Ebene und nur im Rahmen vonForschungsprojekten (ebd., S. 17 f.), nicht aber auf amts-bzw. schulstatistischer Basis oder gar im Rahmen einerbundesweit einheitlichen bildungsbezogenen Sozialbe-richterstattung.

Während somit schon zunächst einfach erscheinende Wir-kungsbestimmungen der schulbezogenen Jugendsozialar-beit sich bei näherem Hinsehen auf der Ebene des Ge-samtsystems als derzeit nicht realisierbar erweisen – wasz. T. auch das Fehlen entsprechender Forschungsanstren-gungen mit erklärt –, kompliziert sich die Bestimmungspezifischer Bildungseffekte infolge der durch den insti-tutionellen Auftrag vorgegebenen und auch das Bildungs-verständnis prägenden allgemeinen Zielbestimmungen:

– Förderung der individuellen und der sozialen Entwick-lung mit dem Ziel des Aufbaus einer eigenständigenund emanzipierten Persönlichkeit;

– Abbau von Benachteiligungen in Erziehungs- und Bil-dungsprozessen zur Herstellung von Chancengerech-tigkeit und der Vermittlung von Integrationserfolgen;

– positive Lebensbedingungen an und in der Schuledurch deren Mitgestaltung als einem Lebens- und Er-fahrungsraum erhalten bzw. herstellen.

Nur die zweite der genannten Zieldimensionen ließe sichvielleicht über den Aufbau einer elaborierten nationalenbildungsbezogenen Berichterstattung mittelfristig indika-torisieren, wobei auch damit die Zuordnung von Bil-dungseffekten zu den Aktivitäten der schulbezogenenJugendsozialarbeit noch nicht geleistet wäre. Demgegen-über verweist die erstgenannte Zieldimension auf dasKontinuum von Sozialisation und (Selbst-)Bildung undwirft dementsprechend bereits begriffliche Abgrenzungs-fragen auf; Referenzdaten für eine Wirkungsforschungauf der Ebene des Gesamtsystems könnten hier wohl nurim Rahmen eines Bildungspanels beschafft werden. Diedritte Zieldimension betrifft Fragen der Schulentwicklungund müsste unter Heranziehung dieses Forschungskon-textes mit Bildungsleistungen der schulbezogenen Ju-gendsozialarbeit in Zusammenhang gebracht werden.

Eine seriöse Evaluation von Bildungsleistungen derschulbezogenen Jugendsozialarbeit wird umso kompli-zierter, je stärker sich in diesem Feld der integrative An-satz durchsetzt. So unterscheidet Michel (2005) in Anleh-nung an Caplan (1964) am Beispiel des Themas

Schulmüdigkeit drei Ebenen präventiven Handelns derschulbezogenen Jugendsozialarbeit, wobei jede eine an-dere Definition von Bildungsleistungen verlangt. „Prä-vention kann als ‚vorbeugendes Eingreifen‘ zu unter-schiedlichen Zeitpunkten verstanden werden. PrimärePrävention zielt hierbei darauf ab, das erstmalige Auftre-ten des Phänomens zu verhindern, was – übertragen aufdas Thema Schulmüdigkeit – eine Maßnahme wäre, diealle Kinder im Kindergarten bzw. zu Beginn der Grund-schule beträfe, unabhängig davon, welche Dispositionendie Einzelnen mitbrächten. Die sekundäre Prävention be-müht sich um ‚frühzeitiges Erkennen … mit dem Zielrechtzeitiger und wirkungsvoller Behandlung, um vorunkalkulierbaren Folgen zu schützen‘. Es liegen erste An-zeichen von Schulmüdigkeit vor und können bearbeitetund bewältigt werden, um eine Verfestigung der Verhal-tensweisen zu verhindern. Bereits entstandene Manifesta-tionen werden mittels der tertiären Form bearbeitet(Dorsch 1994, S. 585f.). Hier ansetzende Förderstrategienkonzentrieren sich auf die Behebung bereits entstandenerVerfestigungen und das Verhindern von weiteren Proble-men und Folgeschäden. In vielen Zusammenhängen wirddie tertiäre Form (bereits) als Intervention bezeichnet“(Michel 2005, S. 13).

Ist der Präventionserfolg als „Nicht-Eintreten eines Ereig-nisses“ ohnehin schwer messbar, so werden diese Pro-bleme im integrativen Ansatz mit seiner Einbeziehungder primären Prävention methodisch fast unlösbar, dahierbei die Frage, welcher Symptombildung (z. B. Ver-haltensauffälligkeit, Lernstörung, Schulabsentismus) ei-gentlich vorgebeugt werden soll, nicht mehr sinnvoll spe-zifiziert werden kann.

(b) Umfang des Bildungsangebots und seiner Nutzung

Empirische Daten zur Verbreitung und zum Bedarf vonAngeboten der schulbezogenen Jugendsozialarbeit sowiezur Nutzerperspektive sind insbesondere im Rahmen wis-senschaftlich begleiteter Landesprogramme erhoben wor-den. Diese Daten sind selektiv und nicht verallgemeiner-bar, liefern aber erste Anhaltspunkte zur quantitativenErfassung des Handlungsfeldes „schulbezogene Jugend-sozialarbeit“.

Die Daten zeigen, dass rund 5 Prozent bis 8 Prozent derSchüler/innen schulbezogene Jugendsozialarbeit in An-spruch nehmen. Hierbei steht die Kontakthäufigkeit inAbhängigkeit vom Klassenklima: Schüler/innen, die sichwohl fühlen, nutzen häufiger die Angebote als jene, dieweniger gern zur Schule gehen. Dieses paradoxe Phäno-men bezeichnet Bolay (2004, S. 1016) als „doppelteRandständigkeit“ bestimmter Gruppen: Jene, die auf-grund ihrer defizitären Situation gezielte Unterstützungeher benötigen, nehmen diese weniger in Anspruch als in-tegriertere Jugendliche. Randständigkeit in der Schuleführt auch zur Randständigkeit in der Nutzung der Ange-bote von schulbezogener Jugendsozialarbeit.

Das Nutzungsverhalten ist zudem erwartungsgemäßschulformspezifisch unterschiedlich ausgeprägt. So nut-zen nach eigenen Angaben 13 Prozent der 12- bis 15-jäh-rigen Schüler/innen in Sonder- und Förderschulen die

Page 281: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 271 – Drucksache 15/6014

Angebote der schulbezogenen Jugendsozialarbeit, gegen-über 9 Prozent der Gesamtschüler/innen, 7 Prozent derHauptschüler/innen, 5 Prozent der Realschüler/innen undnur noch 3 Prozent der Gymnasiasten/innen (Daten desDJI-Jugendsurvey 2003; Gaiser u. a. 2005). In diesenZahlen spiegelt sich natürlich auch die unterschiedlicheAusstattung der Schulformen mit entsprechenden Ange-boten, was wiederum auf die bereits thematisierte hohesoziale Selektivität des viergliedrigen deutschen Schul-systems mit entsprechend kulminierenden Problemkon-stellationen vor allem im Bereich der Gesamt-, Haupt-und Sonderschulen zurückzuführen ist.

Fazit: Die Bedeutung der schulbezogenen Jugendsozial-arbeit für die Schule und damit für das Erlangen einerganzheitlich orientierten Bildung, Förderung und Betreu-ung durch die Schule ist vielfach betont worden. Erzie-hung und Bildung junger Menschen verstärkt als gemein-same Aufgabe integrativ zu begreifen und in engerZusammenarbeit solche Bedingungen zu gestalten, die al-len Kindern und Jugendlichen optimale Bildungs- undPartizipationschancen bieten, ist das Anliegen aller ein-schlägigen Verlautbarungen der letzten Jahre. Ein umfas-sendes Bildungsverständnis erfordert die Einbeziehungund die wechselseitige Ergänzung aller Bildungsorte und-institutionen – ein Wechselwirkungsprozess, der alle Be-teiligten vor systemische Veränderungen mit oft ungewis-sem Ausgang stellt. Ganzheitliche Bildung mit dem Zielder Persönlichkeitsentwicklung setzt professions- und ko-operationsbezogene Zusammenarbeit auf allen Ebenenvoraus.

Die schulbezogene Jugendsozialarbeit muss sich – wieandere Segmente der Kinder- und Jugendhilfe auch – indiesem veränderten bildungspolitischen Kontext neu ver-orten; sie wird sich dabei immer weniger auf ihre „Kern-kompetenz“ der Einzelfallberatung und -betreuung be-grenzen können. Die in Deutschland im internationalenVergleich sehr strikte Kopplung von sozialer Herkunftund Bildungsbeteiligung stellt nicht nur Schule, sondernauch Jugendsozialarbeit vor erhebliche Herausforderun-gen. Der Vergleich mit der in diesem Zusammenhang vielzitierten PISA-Studie zeigt, dass gerade die dabei gut ab-schneidenden skandinavischen Länder den Schwerpunktauf eine intensive und multiprofessionelle individuelleFörderung für alle Kinder und Jugendlichen am OrtSchule legen, anstatt – wie in Deutschland – vorrangigauf Strategien der „Benachteiligtenförderung“ und derGemeinwesenarbeit in „sozialen Brennpunkten“ zu set-zen. Die nach wie vor nötigen unterstützenden einzelfall-und zielgruppenspezifischen Interventionen müssen inpädagogischer Hinsicht verstärkt in systemischen Kontex-ten und bildungsbezogen reflektiert werden; zudem wirdeine gewisse Entspezialisierung von Angebotsformenund Methoden mit fließenden Grenzen zur offenen Ju-gendarbeit unumgänglich und ja auch schon vielfach indie Tat umgesetzt. Und schließlich wachsen der schulbe-zogenen Jugendsozialarbeit weitere Vernetzungsaufgabenim Hinblick auf Schule und nahräumlich präsente Helfer-systeme zu.

Dieses vieldimensionale Anspruchsprofil ist dabei Stärkeund Schwäche zugleich. Es setzt einerseits hohe Anforde-rungen an die Fachkräfte in Richtung Professionalisie-rung, Akademisierung und Verfachlichung und kann an-dererseits nur in rechtlich und finanziell klar geregeltenund Ressourcenbündelung ermöglichenden Trägerkon-texten realisiert werden. Insofern vor allem Letzteres der-zeit nicht gegeben ist, droht die Vieldimensionalität desAnspruchsprofils zur Vagheit zu werden, was in der tägli-chen Arbeit mit dem formal-hierarchisch organisiertenSchulsystem der seit Jahrzehnten konstatierten Instru-mentalisierung der schulbezogenen Jugendsozialarbeitdurch Schule immer wieder erneut Tür und Tor öffnet.

Ein weiteres Desiderat im Bereich der (schulbezogenen)Jugendsozialarbeit betrifft die Kontexte von Qualitätssi-cherung, Evaluation und Qualitätsentwicklung; dies giltbekanntlich in gleicher Weise für andere Segmente derKinder- und Jugendhilfe. Auch hier erweisen sich diezersplitterten und unüberschaubaren Träger- und Finan-zierungskontexte als durchaus hinderlich. Die Ausdiffe-renzierung eines institutionell klar definierten schulbezo-genen Dienstleistungssegmentes im Kontext der Kinder-und Jugendhilfe mit tragfähigen Schnittstellen zu anderenInstitutionen und Leistungsbereichen (z. B. Arbeitsver-waltung, Sozialhilfe) erscheint im Hinblick auf die Wei-terentwicklung der schulbezogenen Jugendsozialarbeitdaher besonders wünschenswert und dringlich. Nur sokönnen die pädagogisch vielfältigen und im Hinblick aufHandlungs- und Interventionsebenen vieldimensionalenBildungsleistungen der schulbezogenen Jugendsozialar-beit in eine infrastrukturelle Entwicklungs- und Koopera-tionsperspektive mit dem System Schule eingebrachtwerden, ohne darauf reduziert zu werden.

6.2 Schule als formaler Bildungsort

Schule als formaler Bildungsort war in ihrer Entwick-lungsgeschichte – im Unterschied zur Jugendhilfe – stetsmit einem Bildungsanspruch verknüpft. Bereits lange vorder allmählichen Durchsetzung der Schulpflicht im19. Jahrhundert wurden in den bildungstheoretischen Re-flexionen etwa von Comenius oder Humboldt program-matische Konturen für ein schulisches Allgemeinbil-dungskonzept formuliert. Im 17. Jahrhundert forderteJohann Amos Comenius, alle Schüler und Schülerinnensollen alles allseitig gründlich lernen (Tenorth 2004b,S. 169). Wilhelm von Humboldt formulierte Anfang des19. Jahrhunderts die Idee einer allgemeinen Bildung, dieauf die höchste und proportionierlichste Ausbildung allerKräfte des Menschen zu einem Ganzen zielt und die füralle Individuen einen gleichen Bildungsgang konstruiert(Humboldt 1809/1964, S. 175). Orientiert an dieser Bil-dungsidee wurde von ihm eine einheitliche Bildungsorga-nisation vorgeschlagen, die entlang des biografischenLernprozesses von Kindern und Jugendlichen nur dreiStadien des Unterrichts kannte, nämlich Elementarunter-richt, Schulunterricht, Universitätsunterricht, nicht aberungleichwertige Bildungsgänge nebeneinander (Tenorth1988, S. 125).

Page 282: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 272 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Die Ideen Humboldts haben zwar die bildungstheoreti-sche Diskussion in Deutschland bis heute entscheidendbeeinflusst (Klafki 1991). Die aktuelle schulpolitischeRealität, geprägt von einer drei- bis fünfgliedrigen Schul-struktur in der Sekundarstufe I, ist jedoch, trotz der enor-men Expansion des Besuchs höherer Bildungsgänge inden vergangenen drei Jahrzehnten, immer noch eherdurch ständische Elemente charakterisiert, was sich ins-besondere anhand der Selektion der Schüler/innen nachsozialer Schicht zeigt. Das deutsche Schulsystem ist auchheute noch im Wesentlichen ein Halbtagsschulsystem, je-doch jüngeren Datums. In der Phase ihrer Etablierung im19. Jahrhundert war die Schule eine traditionelle Ganz-tagsschule, in der der Unterricht auf den Vormittag undden Nachmittag verteilt war und von einer zweistündigenMittagspause, die die Schüler/innen zumeist im Kreis derFamilie verbrachten, unterbrochen wurde (Ludwig 2004,S. 210). Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wandeltesich diese ganztägige Schule zunächst im höheren Schul-wesen und dann im Volksschulwesen zu einer Halbtags-schule (Expertise Beutel).

Im Gefolge der öffentlichen Rezeption der Befunde inter-nationaler Leistungsvergleichsstudien ist in die schulpoli-tischen Debatten eine erstaunliche Dynamik gekommen.Fragen der Verbesserung von schulischer Chancengleich-heit sowie der Einführung von stärker integriertenBildungsgängen werden erneut breit diskutiert. Die Ein-führung von mehr Ganztagsschulen löst keine bildungs-politischen Glaubenskriege mehr aus. Zudem wurde Ein-vernehmen zwischen den Bundesländern im Hinblick aufdie Einführung von Bildungsstandards in zentralen schu-lischen Fächern erzielt. Damit wurden zugleich die Vo-raussetzungen für neue Formen schulischer Output-Evaluation geschaffen.

Vor diesem Hintergrund stellen sich drei Fragen:

– Welche Bildungsansprüche wurden im Hinblick aufden Bildungsort Schule in schulgesetzlichen Regelun-gen und bildungspolitischen Dokumenten sowie in bil-dungstheoretischen Diskussionen formuliert und inwelchem Verhältnis stehen diese zum Anspruch desBildungskonzepts dieses Kinder- und Jugendberichts?

– Wie ist das Schulsystem in Deutschland strukturellund organisatorisch verfasst sowie personell und fi-nanziell ausgestattet und welche Barrieren bzw. An-schlussmöglichkeiten gibt es für eine stärkere Koope-ration von Schule und Jugendhilfe?

– Inwieweit wird das deutsche Schulsystem in seinenBildungsleistungen den Ansprüchen der Herstellungvon Chancengleichheit und einer umfassenden Allge-meinbildung einschließlich einer stärkeren Öffnungder Schule hin zur Lebenswelt gerecht?

Abschließend wird eine Bilanz zu den Reformnotwendig-keiten des deutschen Schulsystems unter der Perspektivevon Ganztagsbildung gezogen.

6.2.1 Bildungsansprüche an Schule(a) Bildungsansprüche an Schule in

Schulverfassungen und Lehrplänen

Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wirdzwar anders als etwa in der Menschenrechtscharta derVereinten Nationen von 1948 oder in der EU-Charta von2000 ein Recht auf Bildung nicht explizit genannt (Le-schinsky 2003, S. 150). Dennoch lässt sich aus der Kom-bination der Grundgesetzartikel 2 und 3 ein Recht aufeine chancengerechte Bildung für Kinder und Jugendli-che in Deutschland unabhängig von Geschlecht, regiona-ler Herkunft oder religiöser bzw. politischer Anschauungherleiten. Außerdem ist im Grundgesetz nicht nur die fö-derale Struktur der staatlichen Schulaufsicht, sondernauch der schulische Bildungs- und Erziehungsauftrag desStaates geregelt, der dem elterlichen Erziehungsrechtgleichgestellt ist und der das Ziel hat, neben der Vermitt-lung von Wissensstoff den einzelnen Schüler bzw. dieeinzelne Schülerin zu einem selbstverantwortlichen Mit-glied der Gesellschaft heranzubilden (Avenarius/Heckel2000).

Weitere Bildungsansprüche an Schule und Unterrichtwerden in zwölf Bundesländern anhand von Verfassun-gen sowie in vier Bundesländern anhand von schulgesetz-lichen Regelungen festgelegt. Die Formulierungen derschulischen Bildungsziele in den Verfassungen sind beigrundsätzlichen Übereinstimmungen jedoch nicht ein-heitlich. Je nach politischem und weltanschaulichem Pro-fil sowie dem Zeitpunkt der Entstehung der Vorschriftenstehen verschiedene Akzente im Vordergrund (ebd. 2000,S. 68). Im Jahr 1973 haben die Kultusminister in einer Er-klärung die inhaltlich übereinstimmenden Bildungszielein neun Punkten zusammengefasst: Die Schule soll Wis-sen, Fertigkeiten und Fähigkeiten vermitteln, zu selbst-ständigem kritischem Urteil, eigenverantwortlichem Han-deln und schöpferischer Tätigkeit befähigen, zu Freiheitund Demokratie sowie zur Toleranz, Achtung vor derWürde des anderen Menschen und Respekt vor anderenÜberzeugungen erziehen, friedliche Gesinnung im Geistder Völkerverständigung wecken, ethische Normen sowiekulturelle und religiöse Werte verständlich machen, dieBereitschaft zu sozialem Handeln und politischer Verant-wortung fördern, zur Wahrnehmung von Rechten undPflichten in der Gesellschaft anhalten und über die Bedin-gungen der Arbeitswelt orientieren (Avenarius 2001,S. 26).

Während in dieser Erklärung der Kultusministerkonfe-renz (KMK) gleichsam ein bildungspolitscher Minimal-konsens über Grundwerte vor allem im Hinblick auf diesoziopolitischen Bildungsansprüche an Schule formuliertwurde, werden die Bildungsziele für einzelne Fächer, Fä-cherkombinationen und Lernbereiche der verschiedenenSchulstufen und Schulformen in den Lehrplänen bzw.Rahmenrichtlinien der einzelnen Bundesländer geregelt.Derzeit gibt es nach grober Schätzung mehr als 2 500 ak-tuell gültige Lehrpläne in Deutschland (Avenarius u. a.2003, S. 105). Ebenso unübersichtlich und uneinheitlichsind auch die Stundentafeln in den verschiedenen Bun-desländern, die den zeitlichen Rahmen für die Angebotein den einzelnen Unterrichtsfächern festlegen. Dabei

Page 283: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 273 – Drucksache 15/6014

schwankt etwa das Stundenvolumen für das Fach Deutschin der Sekundarstufe I am zeitlichen Gesamtvolumen füralle Unterrichtsfächer zwischen 17 Prozent und 21 Pro-zent (ebd., S. 98). Außerdem fällt bei der Analyse derStundentafeln für die verschiedenen Schulformen der Se-kundarstufe I auf, dass den schulischen Angeboten fürden Bereich der musisch-ästhetischen und politischenBildung im Gesamtspektrum der Stundentafeln nach wievor eine nur randständige Bedeutung zukommt (ebd.,S. 94ff).

In jüngster Zeit hat die Kultusministerkonferenz in Reak-tion auf den „PISA-Schock“ es sich zur Aufgabe ge-macht, oberhalb der Vielfalt divergierender Lehrpläneeinheitliche nationale Bildungsstandards zu formulieren,um so die Vergleichbarkeit schulischer Abschlüsse, dieDurchlässigkeit des Schulsystems sowie die interne undexterne Evaluation der Qualität im Bildungssystem si-chern zu können. Dazu werden in den nächsten JahrenStandards für den mittleren Schulabschluss in den Fä-chern Deutsch, Mathematik und erste Fremdsprache so-wie für den Grundschulbereich nach Jahrgangsstufe 4,ferner den Hauptschulabschluss nach Jahrgangsstufe 9entwickelt. In Anlehnung an ein Verständnis von Grund-bildung, wie es etwa der PISA-Studie zugrunde liegt,greifen Bildungsstandards allgemeine Bildungsziele aufund legen fest, welche Kompetenzen Schüler/innen bis zueiner bestimmten Jahrgangsstufe an wesentlichen Inhal-ten erworben haben sollen (ebd., S. 5f.). Im Unterschiedzu Lehrplänen und Schulbüchern, die bislang den Unter-richt steuern, ohne dass deren Wirkungen im Hinblick aufden Lernerfolg der Schüler/innen überprüft werden konn-ten (Rauin u. a. 1996), erhofft man sich dadurch, zumin-dest das Erreichen von Basisfähigkeiten bei Schülern undSchülerinnen in zentralen schulischen Fächern jeweils amEnde einzelner schulischer Karriereschritte empirischfeststellen zu können.

Waren somit die bildungspolitischen Konsensbemühun-gen der Kultusministerkonferenz Anfang der 1970er-Jahre vor allem durch die Intention bestimmt, in den Zei-ten erhitzter gesellschaftspolitischer Debatten über dieZiele und Wertorientierungen von Schule so etwas wie ei-nen normativen Minimalkonsens für die Bestimmungschulischer Bildung zu finden, so ist die aktuelle Diskus-sion der Kultusministerkonferenz um Bildungsstandardsvon einem Bildungsverständnis geprägt, das nach Mess-barkeit und Vergleichbarkeit von schulischer Bildungfragt und auf die Sicherung von sprachlichen sowiemathematisch-naturwissenschaftlichen Grundqualifikati-onen bei allen Schülern und Schülerinnen zielt.

(b) Bildungstheoretische Anforderungen an schulische Allgemeinbildung

Bildungsansprüche an Schule werden nicht nur in bil-dungspolitischen Dokumenten und Beschlüssen, sondernauf einer grundlagenorientierten Ebene auch in den bil-dungstheoretischen Diskursen der Erziehungswissen-schaft formuliert. Insbesondere im Gefolge gesellschaftli-cher Wandlungsprozesse, die mit den StichwortenPostmoderne und Globalisierungsdebatte umschriebenwerden, haben bildungstheoretische Selbstverständi-

gungsversuche im Hinblick auf die Ansprüche an undAufgaben schulischer Allgemeinbildung im vergangenenJahrzehnt einen enormen Aufschwung erfahren (Tenorth2004b; Ehrenspeck 2002; Marotzki/Sünker 1992; Krüger1990). Aus dem breiten Spektrum der in diesen Diskursenentwickelten Positionsbestimmungen sollen im Folgen-den die bildungstheoretischen Ansätze von WolfgangKlafki und Heinz-Elmar Tenorth in Umrissen skizziertwerden, da ihre Konzepte zentrale Eckpunkte in der aktu-ellen Diskussion markieren.

Klafki, einer der führenden Vertreter einer Kritischen Er-ziehungswissenschaft, knüpft bei seinem Vorschlag eineszeitgemäßen Allgemeinbildungskonzepts an die Traditi-onslinien der Aufklärung und der deutschen Klassik an.Zentrale Aufgabe der gegenwärtigen Bildungstheorie seies, die Ansätze jener Epoche pädagogisch-philosophisch-politischen Denkens wieder aufzunehmen und sie in kriti-scher Aneignung auf die historisch tief greifend veränder-ten Verhältnisse der Gegenwart zu beziehen. Bildungvom Individuum selbsttätig zu erarbeiten und personal zuverantworten, bestimmt Klafki (1990, S. 93) mit dem Zu-sammenhang von drei Grundfähigkeiten: Fähigkeit zurSelbstbestimmung, Mitbestimmungsfähigkeit, Solidari-tätsfähigkeit. In dieser Bestimmung scheinen in modifi-zierter Form die zentralen Begriffe und normativenGrundannahmen auf, die seit den klassischen bildungs-theoretischen Schriften zum Grundbestand pädagogi-schen Denkens gehören: Autonomie des Subjektes, Frei-heit als Voraussetzung für Bildung, Selbstbestimmung alsCharakteristikum des Bildungsprozesses (Mack 1999,S. 173).

Ausgehend von dieser allgemeinen Bestimmung des Bil-dungsbegriffs, den Klafki (1991, S. 46) als einen dialekti-schen Zusammenhang von Selbstbestimmung des Indivi-duums und Demokratisierung der Gesellschaft fasst,entwickelt er ein Konzept von Allgemeinbildung, dasdurch drei Merkmale charakterisiert ist:

– Allgemeinbildung muss erstens – wenn Bildung tat-sächlich als demokratisches Bürgerrecht und Bedin-gung der Selbstbestimmung anerkannt wird – Bildungfür alle sein, was für ihn auch den Abbau selektiverFaktoren im Bildungswesen und die Ausdehnung ge-meinsamer Bildungseinrichtungen mit impliziert(Klafki 1990, S. 94).

– Allgemeinbildung muss zweitens, sofern das Mitbe-stimmungs- und Solidaritätsprinzip eingelöst werdensoll, Bildung im Medium des Allgemeinen sein undeinen verbindlichen Kern des Gemeinsamen haben,den Klafki in der Thematisierung epochaltypischerSchlüsselprobleme, wie etwa die Friedensfrage, dieUmweltfrage oder Fragen sozialer Ungleichheit, in derSchule festmacht (ebd., S. 95).

– Allgemeinbildung muss drittens vielseitig sein, d. h.neben der Konzentration des Lernens auf Schlüsselpro-bleme auch Zugänge zu unterschiedlichen Möglichkei-ten des menschlichen Selbst- und Weltverständnisseseröffnen. Hierzu gehören die sprachliche Grundbil-dung, Zugänge zum mathematischen und naturwissen-

Page 284: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 274 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

schaftlichen Denken ebenso wie die handwerklich-technische, die historisch-sozialwissenschaftliche, reli-giöse, ethische, philosophische, ästhetische und leib-lich-körperliche Dimension von Bildung (Klafki 1991,S. 70).

Obwohl Klafki (1990, S. 92) den Anspruch formuliert,dass sein Konzept von Allgemeinbildung als Orientie-rungsrahmen für die Weiterentwicklung des gesamtenBildungswesens vom Kindergarten bis hin zur Erwachse-nenbildung dienen soll, ist die Konkretisierung seiner Bil-dungstheorie sehr unterrichts- und schulzentriert. Felderaußerunterrichtlicher und außerschulischer Bildung kom-men als Bildungsbereiche nicht in den Blick. Dies zeigtsich auch darin, dass Klafki (2000, S. 55) zwar aus famili-enpolitischen Gründen für den Ausbau von Ganztags-schulen plädiert, den außerunterrichtlichen Angeboten inder Ganztagsschule jedoch keine Bildungsaufgaben, son-dern vorrangig Betreuungsaufgaben zuweist.

Im Gegensatz zu Klafki, der anknüpfend an die Traditionder Bildungsphilosophie der deutschen Klassik und derKritischen Theorie der Frankfurter Schule ein stark nor-mativ gefärbtes Konzept von Allgemeinbildung entwi-ckelt, geht Tenorth (1994) bei seiner Begründung vonallgemeiner Bildung von einem funktionalistischenGrundverständnis aus. In der gegebenen historischen Si-tuation lässt sich allgemeine Bildung als Strukturproblemmoderner Gesellschaften mit demokratischer Ordnungfassen sowie als die konkrete pädagogische Aufgabe be-schreiben, um die Kultivierung der Lernfähigkeit zu er-öffnen und ein Bildungsminimum für alle zu sichern. ZumKern schulischer allgemeiner Bildung gehören für vierLernbereiche (ebd., S. 166):

– Dimension der sprachlichen Kommunikation,

– zeitlich-soziale Dimension,

– Kompetenzerwerb in der Welt der symbolischen undder mathematischen Strukturen und der physikalisch-naturwissenschaftlichen Weltbilder,

– ästhetisch-expressive Dimension.

Aufgabe der Schule ist es, den Schülern/innen ein Bil-dungsminimum, d. h. Grundfähigkeiten in diesen Lernbe-reichen zu vermitteln. Tenorth (2004b, S. 178) führt denBegriff allgemeiner Bildung in Richtung auf ein auch em-pirisch anschlussfähiges Konzept von Grundbildung, wiees etwa dem Bildungskonzept der PISA-Studie zugrundeliegt. Sein Konzept einer modernen Allgemeinbildungbleibt dabei auf die Schule fixiert, der er entsprechendseiner funktionsspezifischen Sichtweise auf pädagogischeInstitutionen die Aufgabe zuweist, formalisiertes syste-matisches Lernen zu kultivieren. Angesichts der verän-derten Bedingungen des Aufwachsens von Kindern undJugendlichen kommen zwar auch auf die Schule zuneh-mend kustodiale Aufgaben zu, die etwa im Rahmen vonGanztagsschulen besser bearbeitet werden können. Aberdiese sind für Tenorth nicht der primäre Zweck vonSchule und werden von ihm auch nicht unter der Perspek-tive von Bildung gefasst.

Die bildungstheoretischen Ansätze von Klafki undTenorth sind nicht nur durch unterschiedliche wissen-schaftstheoretische Ausgangspositionen gekennzeichnet,sondern können auch als theoretische Begleitkonzepte zuunterschiedlichen Phasen der Schul- und Bildungsreformin Deutschland interpretiert werden. Während die anemanzipatorischen Bildungsidealen orientierte Bildungs-theorie von Klafki noch für den Reform- und Zeitgeist der1970er-Jahre steht, kann das funktionalistische Bildungs-konzept von Tenorth auch als theoretischer Überbau fürdie aktuelle bildungspolitische Diskussion um die Einfüh-rung von schulischen Bildungsstandards sowie die Siche-rung von schulischen Mindestqualifikationen für alleSchüler/innen charakterisiert werden.

Zwischenfazit: Setzt man die in den bildungstheoreti-schen Diskursen sowie die in den bildungspolitischen Do-kumenten formulierten Bildungsansprüche an Schule insVerhältnis zum dargestellten Bildungskonzept diesesBerichts (vgl. Kapitel 2), so lässt sich Folgendes bilanzie-rend festhalten: Tenorth fasst Bildung als aktive Aus-einandersetzung mit und Aneignung der sprachlichen,mathematisch-naturwissenschaftlichen, historisch-sozialenund personalen Welt. Diese Dimensionen von Bildungwerden jedoch nur auf schulische Bildungsprozesse bezo-gen, während der außerunterrichtliche Bereich vonSchule, etwa in Ganztagsschulen oder in Form von Ange-boten der Kinder- und Jugendhilfe, in den Bildungstheo-rien von Tenorth und Klafki als Orte nicht in den Blickgenommen werden, obgleich auch in ihnen Bildungspro-zesse stattfinden. Eine Analyse der schulischen Lehrpläneund Stundentafeln zeigt auf, dass selbst gemessen an denAnsprüchen dieser eher schulpädagogisch orientiertenBildungstheorien die Bereiche der politischen und ästhe-tisch-expressiven Bildung und damit die Vermittlung so-ziopolitischer und ästhetisch-expressiver Kompetenzen inden schulischen Curricula und im Alltag der Schule eherrandständig sind (Avenarius u. a. 2003, S. 94ff.). Schulebereitet die Heranwachsenden somit nur bedingt auf ge-sellschaftliche Teilhabefähigkeit sowie auf eine selbst-ständige bzw. selbstreflexive Lebensführung vor. Schuleist deshalb zur Realisierung eines umfassenden Konzeptsvon Bildung entsprechend dem Selbstverständnis diesesKinder- und Jugendberichts auf die Kooperation mit an-deren Bildungsinstitutionen angewiesen.

6.2.2 Organisatorische Struktur, rechtliche, finanzielle und personelle Situation im deutschen Schulsystem

(a) Die Struktur des allgemein bildenden Schulwesens

Das Schulwesen der BRD ist im Besonderen durch föde-rale Strukturen sowie durch die Konzipierung der Regel-schule als Halbtagsschule gekennzeichnet. Den föderalis-tischen Strukturen entsprechend ist der Aufbau desdeutschen Schulsystems sehr heterogen und vielfältig, daauch die organisatorische Strukturierung des Schulwe-sens Aufgabe der einzelnen Bundesländer ist. Die Kultus-hoheit der Länder entstammt ursprünglich einem Konfliktdes Parlamentarischen Rates im Zuge der Beratungenzum Grundgesetz von 1949. Da keine Einigung zur bun-

Page 285: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 275 – Drucksache 15/6014

deseinheitlichen Regelung der Zuständigkeiten bzw. derHoheit der kirchlichen Schulen erzielt werden konnte,übergab man die Bildungshoheit den Ländern.

Die meisten Kinder besuchen ab dem sechsten Lebens-jahr eine vierjährige, nur in Brandenburg und Berlin einesechsjährige Grundschule. Diese ist in Deutschland be-reits in der Zeit der Weimarer Republik eingeführt wor-den. Jedoch werden Kinder mit Behinderungen auchschon im Grundschulalter in Sonderschulen unterrichtet,die ihren Beeinträchtigungen entsprechen (vgl. Kapitel4). Mit nur vier Jahren Grundschulzeit zählt Deutschlandim internationalen Vergleich zu den Staaten, in denen dieSekundarstufe sehr früh beginnt. In den meisten europäi-schen Staaten dauert die Grundschule sechs Jahre, wiebeispielsweise in Polen und Frankreich. Teilweise exis-tiert ein Gesamtschulsystem ohne äußere Differenzierungin der Sekundarstufe I, wie zum Beispiel die neunjährigeGrundschule in Schweden und Finnland (Avenarius u. a.2003, S. 54).

Da in den wenigen Bundesländern, die eine schulformun-abhängige Orientierungsstufe als eigenständige Schul-form hatten, diese inzwischen wieder abgeschafft wordenist, findet der Übergang in ein mehrgliedriges Sekundar-stufensystem für die Kinder in den meisten Bundeslän-

dern nach der 4. Klasse statt. Bei der Wahl der weiterfüh-renden Schulen haben die Eltern in den meisten Ländern(außer in Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen, Thürin-gen) das letzte Entscheidungsrecht. Dieser Entscheidunggeht in allen Ländern eine Empfehlung der Schule voraus(KMK 2003a, S. 54) (vgl. Abb. 6.4).

Die Sekundarstufe ist nahezu in jedem Bundesland andersorganisiert. Die einzigen in allen Ländern vorhandenenSchulformen sind das Gymnasium, das je nach Bundes-land variierend in acht oder neun Schuljahren zum Abiturführt, sowie die Sonderschulen bzw. Förderschulen, die inder Regel bis zur 9. oder 10. Klasse besucht werden. Da-neben gibt es in den meisten alten Bundesländern nochRealschulen und Hauptschulen, die durch ein geringesoder ausgeweitetes Angebot an Integrierten oder Koopera-tiven Gesamtschulen – häufig als Ganztagseinrichtung –ergänzt werden. In den meisten neuen Bundesländernebenso wie im Saarland gibt es hingegen ein dreigliedrigesSchulsystem, das aus dem Gymnasium, einer Schulformmit Haupt- und Realschulbildungsgängen sowie den Son-derschulen besteht. Vereinfachend kann man, bezogen aufdie Schuldauer und Abschlussarten, von einem dreiglied-rigen Sekundarschulsystem sprechen, welches Gymna-sium, Realschule und Hauptschule umfasst, und zu demnoch die Sonder- und Förderschulen hinzukommen.

A b b i l d u n g 6.4

Aufbau des Schulsystems in Deutschland, Primärbereich und Sekundärbereich I

Quelle: KMK 2003b, S. 32

Mittlerer Schulabschluss (Realschulabschluss nach 10 Jahren), Erster

allgemeinbildender Schulabschluss (Hauptschulabschluss) nach 9 Jahren

10 10. Schuljahr 16

9 15

8 14

7 13

6

HAUPTSCHULE REALSCHULE GESAMT-

SCHULE

GYMNASIUM

12

5

Sek

undä

rber

eich

I

SO

ND

ER

SC

HU

LE

schulartabhängige oder schulartunabhängige Orientierungsstufe 11

4 10

3 9

2 8

1

Pri

mär

bere

ich

SO

ND

ER

SC

HU

LE

GRUNDSCHULE

7

Jahrgangsstufe Alter

Page 286: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 276 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Während der Besuch der Realschule bis zur 10. Klassebei erfolgreichem Abschluss zur Mittleren Reife führt, istder Hauptschulbildungsgang in verschiedenen Bundes-ländern unterschiedlich lang. Manche Länder schreibeneine zehnjährige Schulpflicht vor. In anderen kann in ei-nem freiwillig zusätzlichen zehnten Schuljahr an derHauptschule ein qualifizierter Hauptschul- oder ein Real-schulabschluss erworben werden.

Die Förderung von Schülern und Schülerinnen mit kör-perlichen, geistigen und seelischen Behinderungen272 so-wie sozialen Beeinträchtigungen ist in Deutschland über-wiegend Aufgabe von Sonder- und Förderschulen.Obwohl im Beschluss der KMK zur sonderpädagogi-schen Förderung (vom 6. Mai 1994) integrative Modellein Regelschulen vorgesehen sind, bleiben sie zurzeit, ins-besondere in den neuen Bundesländern, eher die Aus-nahme (KMK 2003b, S. 57).

Die Modalitäten der Sonderschulüberweisung werden inden jeweiligen Schulgesetzen und Verordnungen der Län-der geregelt. Das Verfahren zur Feststellung des sonder-pädagogischen Förderbedarfs bei einem Kind wird in derRegel von dessen Eltern oder der zuständigen allgemei-nen Schule bei einem Schulamt beantragt. Eine Lehrkraftan einer Sonderschule ermittelt daraufhin im Auftrag derzuständigen Behörde den Förderbedarf über diagnosti-sche Verfahren, durch Beobachtungen im Unterricht so-wie durch Gespräche mit Lehrern/Lehrerinnen und El-tern. Dabei werden sowohl die körperliche, soziale,emotionale und kognitive Entwicklung des Kindes alsauch die Entwicklungsbedingungen der Lernumwelt be-rücksichtigt. Das sonderpädagogische Gutachten beinhal-tet Aussagen über Art, Umfang und voraussichtlicherDauer der sonderpädagogischen Förderung, einen Vor-schlag zu den erforderlichen Fördermaßnahmen, einePrüfung der Möglichkeiten von Eingliederungshilfennach dem Bundessozialhilfegesetz und nach dem Kinder-und Jugendhilfegesetz sowie Hinweise für den zu entwi-ckelnden Förderplan. Liegt das Gutachten vor, bestelltdas Schulamt einen Förderausschuss, dem die Eltern desKindes sowie Lehrkräfte der allgemein bildenden und derSonderschule angehören. Der Förderausschuss bereitetStellungsnahmen und Empfehlungen vor, anhand dererdas Schulamt die Entscheidung über den sonderpädagogi-schen Förderbedarf trifft. Eltern können wählen, ob dasKind an einer Sonderschule oder – sofern die personellen,sächlichen und finanziellen Ressourcen vorhanden sind –im Gemeinsamen Unterricht (Integrationsklassen) unter-richtet werden soll. Spätestens nach zwei Jahren ist der

sonderpädagogische Förderbedarf zu überprüfen bzw. er-neut festzustellen.

Sonderschulen sind nach folgenden Förderschwerpunktengegliedert, die 1994 in einem Beschluss der KMK bun-desweit verbindlich festgelegt wurden:

– Sehen,

– Hören,

– körperliche und motorische Entwicklung,

– Sprache,

– geistige Entwicklung,

– Lernen,

– emotionale und soziale Entwicklung,

– Kranke,

– übergreifende Förderung.

Etwa zwei Drittel aller Behinderungen sind sozial indu-ziert; nur ein Drittel ist im engeren Sinne körperlich odergeistig behindert (vgl. Tab. 6.6).

Ta b e l l e 6.6

Schüler/innen in Sonderschulen und Sonderschulbe-suchsquote nach Förderschwerpunkten

(2002; in Prozent)

Quelle: Statistisches Bundesamt (2004f), Statistik der allgemein bilden-den Schulen im Schuljahr 2002/2003

Ziel der Sonder- bzw. Förderschule ist es, die Schüler/in-nen durch sonderpädagogische Maßnahmen zu den ge-setzlich vorgesehenen Abschlüssen zu führen. Bei nähe-rer Betrachtung der Abschlussquoten kommen jedoch

272 Im Sozialgesetzbuch IX werden Menschen als behindert eingestuft,„wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelischeGesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monatevon dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daherihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist“ (§ 2SGB IX). Unter den Begriff der Behinderung werden hier somatischeBeeinträchtigungen gefasst, worunter sämtliche motorischen, sinnli-chen und geistigen Beeinträchtigungen, aber auch Lernbehinderun-gen (SGB IX) und soziale Beeinträchtigungen, so genannte „seeli-sche Behinderungen“, zu zählen sind (SGB VIII), die vor allememotionale und soziale Entwicklungsstörungen zusammenfassen.

Förderschwerpunkt

Schüler/innen

in Sonder-schulen

Sonder-schulbesuchs-

quoten

Lernen 231 138 2,363Sehen 4 891 0,005Hören 10 969 0,112Sprache 35 245 0,360Körperliche und mo-torische Entwicklung 22 170 0,227Geistige Entwicklung 68 467 0,700Emotionale und soziale Entwicklung 28 922 0,296Förderschwerpunkt übergreifend bzw. ohne Zuordnung 5 895 0,060Kranke 9 264 0,095Insgesamt 429 275 4,389Nachrichtlich Schü-ler an allgemein bil-denden Schulen insgesamt 9 780 277 100

Page 287: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 277 – Drucksache 15/6014

Zweifel auf, ob das Sonderschulsystem geeignet ist, die-ses Ziel zu erreichen (vgl. Tab. 6.7).273 Etwa 80 Prozentder Sonderschüler/innen verlassen die Schule ohne einenqualifizierenden Abschluss. Von ihnen könnten wenigs-tens diejenigen mit Förderbedarf im Lernen (59 Prozent)potenziell einen Hauptschulabschluss erwerben. Hierzugehören auch – zumindest in den alten Bundesländern –Kinder und Jugendliche mit einem Migrationshinter-grund, die unter den Schülerinnen und Schülern an För-derschulen für Lernbehinderte am stärksten vertreten sindund eher aufgrund sprachlicher als kognitiver Beeinträch-tigungen dorthin überwiesen wurden (Gomolla/Radtke2002). Angesichts des geringen Anteils der Schülerinnenund Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen, der ei-nen Hauptschulabschluss erreicht, fragt sich, ob die rela-tiv teure Sonderschule für sie die richtige Schulform ist.

Ta b e l l e 6.7

Absolventen/Absolventinnen mit sonderpädago-gischer Förderung in Sonderschulen nach

Abschlussqualifikationen 2002

Quelle: Statistisches Bundesamt (2004f), Statistik der allgemein bilden-den Schulen im Schuljahr 2002/2003

Obwohl im Beschluss der KMK zur sonderpädagogi-schen Förderung (vom 6. Mai 1994) integrative Modellein Regelschulen vorgesehen sind, bleiben sie zurzeit, ins-besondere in den neuen Bundesländern, eher die Aus-nahme (KMK 2003b, S. 57).

Die Bedeutung, die den vorgehaltenen Schulformen ge-messen an dem sie besuchenden Schüleranteil zukommt,ist in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich. ImJahr 2001/2002 besuchten in Deutschland knapp30 Prozent der Schüler/innen der 8. Klasse das Gymna-sium, rund 25 Prozent die Realschule, gut 22 Prozent dieHauptschule, circa 9 Prozent integrierte Sekundar- bzw.Mittelschulen, knapp 10 Prozent Integrierte Gesamtschu-len und 5 Prozent Sonderschulen (KMK 2003d, S. 56;Baumert u. a. 2003a).

Während die große Mehrheit der Schüler/innen inDeutschland auf eine staatliche Schule geht, liegt der An-teil von Schülern/Schülerinnen, die eine private allge-mein bildende Schule besuchen, im Bundesdurchschnittnur bei knapp 6 Prozent (im Durchschnitt der OECD-Staaten hingegen bei 14 Prozent) (KMK 2003b, S. 57).Die wichtigsten Gruppen der Privatschulen in der Bun-desrepublik sind Schulen in der Trägerschaft der katholi-schen und der evangelischen Kirche sowie die FreienWaldorfschulen, die sich auf die anthroposophische Men-schen- und Erziehungslehre Rudolf Steiners stützen.Quantitativ weniger gewichtig, dafür aufgrund ihrer re-formpädagogischen Konzepte für die schulpädagogischeDiskussion höchst bedeutsam, sind darüber hinaus dieLanderziehungsheime sowie weitere Internatsschulen, diein der Regel dem „Bundesverband deutscher Privatschu-len“ angehören, und eine Reihe Freier Alternativschulen,die meist von hoch engagierten Lehrern/Lehrerinnen-, El-tern- und Fördergruppen gegründet worden sind und ge-tragen werden (Klafki 2000, S. 43).

Aus dem Bericht der KMK über allgemein bildendeSchulen in Ganztagsform (KMK 2003a) geht hervor, dassim Jahr 2002 insgesamt etwa 10 Prozent aller Schüler/in-nen eine Ganztagsschule besuchten. Verteilt auf die ein-zelnen Schularten ergibt sich ein differenziertes Bild:Während Grundschüler/innen sowie Realschüler/innenund Gymnasiasten/Gymnasiastinnen mit jeweils etwa4 Prozent eine eher geringe Ganztagsschulbesuchsquoteaufweisen, entspricht diese bei Hauptschülern und -schü-lerinnen etwa 10 Prozent, bei Sonderschülern und -schü-lerinnen 31 Prozent und bei Schülern/Schülerinnen inte-grierter Gesamtschulen sogar fast 67 Prozent.

Allerdings sind auch diese Zahlen von Land zu Land sehrunterschiedlich. Mit dem Ausbau von Ganztagsschulendurch Landesprogramme wie in Rheinland-Pfalz undNordrhein-Westfalen und durch das Investitionspro-gramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ (IZBB) desBundes verändern sich die Relationen aufgrund unter-schiedlicher Prioritäten der Bundesländer (vgl. Abschnitt6.5).274

(b) Organisatorische Merkmale und rechtliche Rah-menbedingungen des deutschen Schulsystems

Blickt man in die einschlägigen schultheoretischen undorganisationssoziologischen Studien, so lassen sich vorallem sechs Eckpunkte herausarbeiten, die die institu-273 Bei den statistischen Daten zu den Abschlussquoten ist zu beachten,

dass für Kinder mit einer geistigen Behinderung sowie mit schwerenkörperlichen und/oder schwersten Mehrfachbehinderungen auch ge-setzlich kein Schulabschluss vorgesehen ist.

Abschlussart Absolventen/Absolventinnen

Verteilung in %

Absolventen/Absol-ventinnen insgesamt 47 101 100Davon:– ohne Hauptschulab-

schluss 37 888 80,4darunter mit Förder-schwerpunkt Ler-nen 24 337 51,7davon mit sonsti-gen Förderschwer-punkten 9 213 19,6

– mit Hauptschulab-schluss 8 268 17,6

– mit Realschulab-schluss 850 1,8

– mit Fachhochschul-reife 40 0,1

– mit Hochschulreife 55 0,1

274 Zum IZBB vgl. Glossar.

Page 288: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 278 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

tionelle Verfasstheit des deutschen Schulwesens charakte-risieren (Leschinsky/Cortina 2003; Luhmann 2002;Krüger/Lersch 1993; Nevermann 1984):

– Das Schulsystem unterliegt dem Prinzip der Staatlich-keit. So heißt es in Art. 7 Abs. 1 des Grundgesetzes:„Das gesamte Schulwesen steht unter Aufsicht desStaates“. Auch die wenigen Privatschulen, die inDeutschland existieren, sind der staatlichen Schulauf-sicht unterworfen (Nevermann 1984, S. 396).

– Der Besuch des Schulwesens basiert nicht auf demPrinzip der Freiwilligkeit, sondern dem der Schul-pflicht, d. h. jede Heranwachsende/jeder Heranwach-sende in Deutschland muss gegenwärtig ab dem 6. Le-bensjahr die Schule neun bzw. zehn Schuljahre langaufsuchen (Avenarius 2001). Die Verletzung derSchulpflicht kann mit Sanktionen bestraft werden(Expertise Füssel/Münder).

– Die institutionelle Ordnung des Schulwesens ist durchdas Prinzip des Universalismus charakterisiert. DieSchule sortiert ihre Mitglieder, d. h. die Schüler/innen,nach bestimmten Kategorien, vornehmlich nach Alterin so genannten Jahrgangsklassen oder nach Leistungetwa in Fachleistungskursen, behandelt sie aber nichtals persönliche Sonderfälle. Den eher emotional ge-prägten Beziehungsmustern des familiären Kontexteswerden die von den sachlichen Notwendigkeiten desLernvollzugs dominierten Rollenbeziehungen zwi-schen Lehrer/innen und Schüler/innen zur Seite ge-stellt. Auch wenn reformpädagogische Konzepte dieseRestriktion in Frage stellen, findet die ganze Personim Schulprozess letztlich nur eingeschränkt Berück-sichtigung (Leschinsky/Cortina 2003, S. 30).

– Die institutionelle Ordnung der Schule basiert auf demLeistungsprinzip. Sie schafft Situationen, in denen dieAktivitäten nach einem Leistungsstandard organisiertsind, und sie vergibt Zertifikate für individuelle Leis-tungen in Gestalt von Noten oder Abschlusszeugnis-sen. Auch wenn die Akteure innerhalb einer Schuleausschließlich nach meritokratischen Prinzipien agie-ren, tendiert das deutsche Schulsystem als Ganzes of-fenbar stark zur Reproduktion von sozialen Disparitä-ten in den Bildungsverläufen (Leschinsky/Cortina2003, S. 32; Krüger/Lersch 1993, S. 70).

– Das schulische Lernen basiert auf dem Primat simu-lierter und pädagogisch aufbereiteter Erfahrung. DieSchule ist eine Einrichtung, in der überwiegend kogni-tive und verbale Aktivitäten eine Rolle spielen. DieSchüler/innen lernen auf dem Wege stellvertretenderErfahrungen in verschiedenen Unterrichtsfächern sichselbst sowie die natürliche, die kulturelle und die sozi-ale Welt kennen (Leschinsky/Cortina 2003, S. 34).Auch wenn Schulen, wie insbesondere Reform- oderAlternativschulen, sich bemühen, praktische Erfahrun-gen, die – etwa in Projekten – Ernstsituationen simu-lieren sollen, in ihr Programm zu integrieren, wird je-dem Schüler und jeder Schülerin über kurz oder langklar, dass hier nicht wirkliches Leben stattfindet, son-

dern pädagogische Ziele verfolgt werden (Baumertu. a. 2002, S. 102).

– Die pädagogische Arbeit der Lehrenden ist durch einhohes Maß an Selbstständigkeit gekennzeichnet, dadie vorgegebenen Rahmenlehrpläne breite Handlungs-und Interpretationsspielräume für die eigene Unter-richtspraxis bieten. Zudem kann das Arbeitsverhältnisnicht aufgrund von Unstimmigkeiten über die pädago-gischen Prinzipien des Lehrers beendet werden (Le-schinsky/Cortina 2003, S. 35). Inwieweit aktuelle bil-dungspolitische Trends in Richtung auf eine stärkereAutonomie der Einzelschule und eine ausgeprägte in-terne und externe Qualitätskontrolle des Unterrichtsden Konformitätsdruck und die Kontrolle der pädago-gischen Arbeit von Lehrern/Lehrerinnen erhöhen wer-den, wird die zukünftige Entwicklung zeigen.

Bezüglich der rechtlichen Rahmenbedingungen für dasSchulsystem wird im Folgenden zwischen den Ebenendes Bundes, der einzelnen Bundesländer, der Kommunenund der Einzelschulen unterschieden. Da das deutscheSchulwesen laut Grundgesetz (Artikel 72-75 GG) in derVerantwortung der 16 Bundesländer liegt, hat der Bund– anders als etwa im Bereich der Jugendhilfe – auf dieGestaltung des Schulsystems nur einen minimalen Ein-fluss. Das Bundesministerium für Bildung und Forschungdarf lediglich Projekte ausschreiben und finanzieren, dieder Schulentwicklungsforschung dienen. Vertreter derBundesregierung sind zudem mit gleichem Stimmenan-teil wie Vertreter der Bundesländer in der 1970 gegründe-ten Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung undForschungsförderung (BLK) repräsentiert, die in den ver-gangenen 30 Jahren circa 2 600 Modellversuche in allenTeilbereichen des Bildungswesens finanziell gefördert hat.

Die gesamte inhaltliche und organisatorische Gestaltungdes Schulwesens, ebenso die Regelung der Ausbildungund Weiterbildung von Lehrern/Lehrerinnen sowie dieEinstellung und Aufsicht über das Lehrpersonal ist hinge-gen in Deutschland Recht und Pflicht der einzelnen Bun-desländer (Leschinsky 2003, S. 173). Die Kultusministe-rien der Länder geben Richtlinien der Bildungspolitikvor, erlassen Rechts- und Verwaltungsvorschriften undüben Aufsicht über die untergeordneten Schulaufsichts-behörden in Gestalt regionaler und kommunaler Schul-ämter aus. Damit gewisse Mindeststandards in der inhalt-lichen und der organisatorischen Ausgestaltung desdeutschen Schulsystems gewährleistet werden können,wurde bereits 1948 mit der ständigen Konferenz der Kul-tusminister ein vorrangig koordinierendes Gremium ge-schaffen. Sie musste ihre Beschlüsse bislang einstimmigfassen und auch dann hatten sie für die Länder nur Emp-fehlungscharakter, solange sie nicht Landesgesetze undLandesverordnungen geworden sind (Klafki 2000, S. 32).Im September 2004 kam es zu einem Zerwürfnis derKMK, als die Landesregierung Niedersachsen das Län-derabkommen der KMK mit dem Vorwurf der Ineffizienzaufkündigte. Dies führte zu einer kontroversen Diskus-sion des Sinnes und der Funktionsfähigkeit der KMK.Die Diskrepanzen zwischen den Bundesländern konnteninzwischen beigelegt werden, und es wurden Reformen

Page 289: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 279 – Drucksache 15/6014

der Organisation der KMK beschlossen, die vor allem dieReduzierung der Gremien und der personellen Besetzungdes Sekretariats zugunsten effizienterer Strukturen mitbeschleunigten Entscheidungsprozessen betreffen. Au-ßerdem ist die Einstimmigkeit der Beschlussfassung nurnoch bei finanzwirksamen Entscheidungen notwendig.Alle weiteren Beschlüsse können mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit gefasst werden.

Während die Kultusministerien auf Länderebene für dieinneren Schulangelegenheiten (Fragen des Unterrichts,der Ziele, Inhalte und Organisation) zuständig sind, lie-gen die Zuständigkeiten für die äußeren Schulangelegen-heiten (Fragen der Finanzierung der Ausstattung vonSchulen) bei den Kommunen, d. h. die Personalkosten fürdas Lehrpersonal werden vom Land und die Sachkostensowie die Kosten für das Verwaltungspersonal werdenvom kommunalen Schulträger aufgebracht (Leschinsky2003, S. 174; Expertise Füssel/Münder).

War die einzelne Schule bis vor einem Jahrzehnt nochdas letzte Glied in einer eher hierarchisch aufgebautenSchuladministration, so haben die Debatten um eineQualitätsentwicklung im Schulwesen, um eine Moderni-sierung der Verwaltung unter den Gesichtspunkten vonEffektivität und Effizienz sowie um Transparenz und Re-chenschaftslegung im Schulsystem in einigen Bundes-ländern inzwischen dazu geführt, dass Entscheidungs-und Handlungskompetenzen von den oberen und mittle-ren Schulverwaltungsebenen auf die Ebene der einzel-nen Schulen und ihrer Schulleitungen, Kollegien, El-tern- und Schüler/innen-Vertretungen verlagert werden(Baumert u. a. 2003b, S. 137). Dies betrifft Entscheidun-gen über Personalfragen, die interne Stundenplan- undLehrplangestaltung, die Entwicklung von Schulprogram-men und die Mitwirkung bei der Selbstevaluation vonSchulen (Klafki 2000). Sollte sich dieser Trend in Rich-tung auf eine teilautonome Schule bei gleichzeitigerUmwandlung in Ganztagsschulen fortsetzen, so könntedies stärkere Kooperationen zwischen Lehrern/Lehrerin-nen, Erziehern/Erzieherinnen bzw. Sozialarbeitern/Sozi-alarbeiterinnen ermöglichen. Weiterhin böten sich für dieEinzelschulen auch Handlungsspielräume für eine fle-xible Vernetzung mit anderen Bildungsorten im kommu-nalen Raum, etwa der Jugendhilfe.

(c) Finanzielle Aufwendungen für das Schulsystem

Während in Deutschland insgesamt der prozentuale An-teil öffentlicher Bildungsausgaben am Bruttoinlandspro-dukt von 1975 bis 1998 von gut 5 Prozent auf knapp4 Prozent zurückgegangen ist, haben sich im Schulbe-reich die Ausgaben pro Schüler/in im gleichen Zeitraumnominal von 1 339 Euro (2 619 DM) auf 3 442 Euro(6 732 DM) und real – in Preisen von 1975 – von1 339 Euro (2 619 DM) auf 2 025 Euro (3 960 DM) er-höht. Dies erklärt sich insbesondere daraus, dass derRückgang der Schülerzahlen, der die Schulentwicklungin Westdeutschland jahrelang geprägt hat, zunächst nichtzu einem entsprechenden Stellenabbau, sondern zu einerVerbesserung der Stellenausstattung der Schulen und da-mit zu einer Verkleinerung der Klassenfrequenzen geführt

hat (Klemm 2003, S. 232). Dieser Trend hat sich in denalten Bundesländern im Lauf der 1990er-Jahre jedochumgekehrt.

Die öffentlichen Bildungsausgaben für das allgemein bil-dende Schulwesen in Deutschland betrugen im Jahr 2001insgesamt 46,4 Mrd. Euro. Davon entfallen 43,8 Mrd.Euro auf die öffentlichen, 2,6 Mrd. Euro auf die privatenSchulen, die ebenso wie die öffentlich getragenen Schu-len zu weit mehr als 90 Prozent öffentlich finanziert wer-den (Bundesministerium für Bildung und Forschung[BMBF] 2004a, S. 336). Von den genannten Ausgabenfür das Schulwesen im Jahr 2001 wurden nur 51,2 Mio.Euro vom Bund, 38,2 Mrd. Euro von den Bundesländernund 8,0 Mrd. Euro von den Gemeinden finanziert (ebd.).Innerhalb des Gesamtbudgets leisten somit die Ländermit über 80 Prozent den mit Abstand gewichtigsten Teilder öffentlichen Bildungsausgaben, da sie für die Finan-zierung des Lehrpersonals zuständig sind. Danach folgendie Gemeinden mit einem Anteil von rund 15 Prozent,mit denen Verwaltungskosten sowie bauliche Investiti-onskosten finanziert werden, während der Bund bei derFinanzierung des allgemein bildenden Schulwesens nureine marginale Rolle spielt.

Im Jahr 2001 kostete eine Schülerin/ein Schüler im öf-fentlichen Schulwesen insgesamt 4 800 Euro (BLK 2004,S. 74). Danach entfielen weit über 90 Prozent auf Perso-nalausgaben und knapp 8 Prozent auf Investitionen. Einländerspezifischer Vergleich dieser Ausgaben pro Schul-platz im Jahr 2001 macht beachtliche Unterschiede deut-lich: Die Ausgaben differieren zwischen den Stadtstaaten(Durchschnitt: 5 900 Euro), den Flächenstaaten der altenLänder (Durchschnitt 4 700 Euro) und denen der neuenLänder (Durchschnitt 4 600 Euro) (BLK 2004, S. 66).Die Unterschiede zwischen den Flächenstaaten der altenund der neuen Bundesländer erklären sich überwiegendaus den nach wie vor unterschiedlichen Lehrergehältern.

Stärker noch weichen die Schulausgaben je Schüler/invoneinander ab, wenn man die Ausgaben für die Plätze inden einzelnen Schulformen vergleicht. Innerhalb der all-gemein bildenden Schulen zeigt sich dabei für das Jahr2001 ein Spektrum von 3 800 Euro für die Grundschulenbis zu 11 200 Euro für die Sonderschulen mit ihrenbesonders personalintensiven Ausgaben. Auffallend istdabei, dass die Ausgaben für die Primarstufe am gerings-ten sind, während in der Sekundarstufe die Schulen mitden Angeboten in der Sekundarstufe II (Gymnasium:5 300 Euro, Gesamtschulen 5 500 Euro) die meisten Gel-der erhalten (BLK 2004, S. 65).

Kostenberechungen für einen Schulplatz in einer Ganz-tagsschule liegen in der amtlichen Statistik leider nichtvor. Erfahrungswerte mit Ganztagsschulen und Einschät-zungen von Experten gehen davon aus, dass ein Schul-platz in einer Ganztagsschule 30 Prozent bis 50 Prozentüber den durchschnittlichen Ausgaben liegt, da in Ganz-tagsschulen nicht nur eine erweiterte sächliche Infrastruk-tur mit Mensa, Aufenthaltsräumen für Schüler/innen etc.notwendig ist, sondern auch zusätzliches pädagogischesPersonal, etwa in Gestalt von Sozialpädagogen/Sozialpä-dagoginnen bzw. Sozialarbeiter/Sozialarbeiterinnen und

Page 290: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 280 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Verwaltungspersonal eingestellt werden muss (vgl. Ab-schnitt 6.5).275

(d) Das Personal im Schulsystem

In Deutschland unterrichten im Schuljahr 2002/2003 rund676 000 Lehrerinnen und Lehrer in Voll- und Teilzeit anallgemein bildenden Schulen einschließlich der Sonder-schulen (Statistisches Bundesamt 2004g). Davon sind fast190 000 an Grundschulen, fast 70 000 an Sonderschulenund über 400 000 an den verschiedenen Schulformen derSekundarstufe I und II beruflich tätig (ebd.). Von denLehrkräften an allgemein bildenden Schulen (insgesamt741 423) haben 55 Prozent eine Vollzeitstelle, etwas überein Drittel eine Teilzeitstelle, während knapp 10 Prozentnur stundenweise beschäftigt sind. Mit rund 67 Prozentüberwiegen die Frauen im Lehrerberuf deutlich. Dies giltvor allem für den Bereich der Grundschulen und der Son-derschulen, wo der Anteil weiblicher Lehrkräfte rund85 Prozent bzw. über 73 Prozent beträgt, während nur anden Gymnasien der Anteil weiblicher und männlicherLehrkräfte in etwa ausgeglichen ist. Betrachtet man dieAltersstruktur der Lehrerkollegien in Deutschland, sokann man feststellen, dass in den alten Bundesländern(ohne Berlin) nur 22 Prozent der Lehrenden unter 40, da-gegen 46 Prozent über 50 Jahre alt sind, während dies imGebiet der neuen Länder (unter Einschluss Berlins) für26 Prozent bzw. für 38 Prozent gilt (ebd.). Aus dieser Al-tersstruktur ergeben sich für den Westen Deutschlandsauch im nächsten Jahrzehnt hohe Pensionierungszahlenund damit gute Einstellungschancen für Berufsanfänger/innen im Lehrerberuf, im Osten des Landes dagegen ge-ringere Pensionszahlen und infolge des starken Rück-gangs der Schülerzahlen nur relativ geringe Einstellungs-quoten. Aufgrund der Einstellung von jungen Lehrern/Lehrerinnen in Deutschland in jeweils zyklischen Wellenwird ein kontinuierlicher Innovationszufluss in die Schu-len erschwert (Avenarius 2003, S. 84f).

Quantitativ zuverlässige Informationen zu dem in denSchulen arbeitenden sonstigen Personal, d. h. zu Schul-sozialarbeitern/-sozialarbeiterinnen, Schulpsychologen/Schulpsychologinnen oder zum schulischen Verwal-tungspersonal, liegen in Deutschland bislang nicht vor.Dies hängt vermutlich damit zusammen, dass dieses Per-sonal nicht von den Bundesländern, sondern im Wesentli-chen von den einzelnen Kommunen oder teilweise auszeitlich befristeten Projektmitteln (z. B. bei Modellversu-chen zu Schulsozialarbeit) finanziert wird. So werdenauch in der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik dievom kommunalen Schulträger für den Bereich der Schul-sozialarbeit eingestellten Pädagogen und Pädagoginnennicht erfasst, während bei den öffentlichen und freienTrägern der Jugendhilfe insgesamt mehr als 1 000 Stellenfür den Bereich der Schulsozialarbeit in der amtlichenStatistik dokumentiert sind, deren Einsatzort jedoch nichtgenauer spezifiziert wird. 6 Prozent der befragten Absol-venten und Absolventinnen von universitären pädagogi-

schen Diplom- und Magisterstudiengängen und etwa1 Prozent der Absolventen/Absolventinnen von sozialpä-dagogischen Fachhochschulstudiengängen sind gegen-wärtig in der Schule beschäftigt (Krüger/Rauschenbach2003, 2004). Es lässt sich jedoch nicht feststellen, obdiese Pädagogen und Pädagoginnen in der Schule alsLehrer/Lehrerinnen, Schulberater/innen oder Sozialpäda-gogen/Sozialpädagoginnen arbeiten. Ähnlich ungünstigstellt sich momentan auch noch die Datenlage zum vor-handenen Personal von Ganztagsschulen in Deutschlanddar.

Fragt man, welche Herausforderungen auf Lehrer/innenbei einer breiteren Einführung von Ganztagsschulen inDeutschland zukommen würden, so zeichnen sich vor al-lem zwei Problembereiche ab:

– Zukünftige Lehrer/innen werden in ihrer dreijährigen(für die Primarstufe) bzw. viereinhalbjährigen (für dieSekundarstufe) universitären Ausbildung kaum aufBildungsaufgaben außerhalb des Unterrichts und aufKooperationsformen mit dem Personal der Jugend-hilfe oder anderer Bildungsinstitutionen in der Kom-mune vorbereitet.

– Die Ausweitung von obligatorischen Ganztagsangebo-ten würde eine Diskussion über die Arbeitszeitrege-lung von Lehrkräften erforderlich machen. So verbrin-gen die Lehrer/innen in Ländern mit einemGanztagsschulsystem, wie etwa in Schweden oder denVereinigten Staaten, jeweils den ganzen Schultag oderdoch einen großen Teil davon in der Schule (Baumertu. a. 2003a, S. 108). Angesichts der Tatsache, dassmomentan zwischen 85 Prozent und 90 Prozent der jeLehrerstelle eingesetzten Deputatsstunden in Deutsch-land tatsächliche Unterrichtsstunden sind (Avenariusu. a. 2003, S. 85) und die Zeitaufwendungen für außer-unterrichtliche Angebote nur jeweils zur Hälfte aufdas Arbeitszeitvolumen von Lehrern/innen angerech-net werden (Holtappels 2004, Expertenanhörung),wird mit dem Ausbau von Ganztagsschulen auch eineDiskussion über die geltende Art des Einsatzes vonLehrerarbeit in Gang kommen müssen.

6.2.3 Bildungsleistungen des Schulsystems

Welche Bildungsleistungen erbringt das deutsche Schul-system im Hinblick auf den im Grundgesetz formuliertenAnspruch auf einen chancengerechten Zugang zur Bil-dung, auf den in Schulverfassungen bzw. Lehrplänen undbildungstheoretischen Entwürfen proklamierten An-spruch einer umfassenden schulischen Allgemeinbildungsowie im Hinblick auf die im Kontext der Ganztagsschul-debatte neu entfachte Diskussion um eine Öffnung derSchule hin zur Lebenswelt und um eine Vernetzung derSchule mit anderen pädagogischen Institutionen, insbe-sondere aus dem Bereich der Jugendhilfe?

(a) Der Anspruch auf Chancengleichheit

Eines der zentralen Ergebnisse der PISA-Studien 2000und 2003 ist der Hinweis auf die im internationalen Ver-gleich auffällig starke Benachteiligung von Kindern und

275 So z. B. Stefan Appel in der Expertenanhörung der Sachverständi-genkommission des Zwölften Kinder- und Jugendberichts zu „Ganz-tagsschule“ am 19. Februar 2004 (vgl. Anhang).

Page 291: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 281 – Drucksache 15/6014

Jugendlichen aus sozial schwachen Lagen (Prenzel u. a.2004a; Baumert/Schümer 2001, 2002). In Deutschland istzwar im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte eine Ab-schwächung der sozialen Benachteiligung bezüglich derBildungsbeteiligung bei den mittleren Bildungsabschlüs-sen festzustellen. Doch der Zugang zur höheren Bildungund zu Gymnasialabschlüssen bleibt nach wie vor einezentrale Barriere für Heranwachsende aus Familien derunteren sozialen Lagen. So wird das Gymnasium nur von15 Prozent der Facharbeiter und nur von 10 Prozent derKinder ungelernter Arbeiter, hingegen von über50 Prozent der Kinder aus der höheren Dienstklasse be-sucht (Baumert/Schümer 2001, S. 355). Benachteiligtsind auch Kinder und Jugendliche aus Familien mit Mi-grationshintergrund. Jedoch lassen sich hier Unterschiedein Abhängigkeit vom Migrationsstatus feststellen. Wäh-rend 28 Prozent aller Kinder, von denen nur ein Elternteilim Ausland geboren ist, das Gymnasium besuchen,nimmt der Anteil bei Kindern in der ersten Generation inDeutschland sowie bei zugewanderten Familien stark ab(12 Prozent bzw. 16 Prozent). Dagegen besuchen22 Prozent der Kinder mit nur einem im Ausland gebore-nen Elternteil, aber 44 Prozent der Kinder in der erstenGeneration in Deutschland sowie 33 Prozent der Kinderaus zugewanderten Familien die Hauptschule. Zum Ver-gleich: Nur 19 Prozent der Kinder ohne Migrationshinter-grund besuchen die Hauptschule, 35 Prozent dagegen dasGymnasium (Prenzel u. a. 2004a).

Während der Anspruch auf soziale bzw. ethnische Chan-cengleichheit im deutschen Schulsystem bislang kaumeingelöst worden ist, lässt sich zumindest auf einer quan-titativen Ebene eine Aufhebung der geschlechtsspezifi-schen Benachteiligung von Mädchen feststellen. DieMädchen haben die Jungen beim Gymnasialbereich in-zwischen deutlich überholt und sind mit 56 Prozent in derleistungsstärkeren Schulform repräsentiert, Jungen hinge-gen mit 55 Prozent in Hauptschulen bzw. mit 56 Prozentin Sonderschulen. Auch im Bereich der Lesekompetenzhaben weibliche Jugendliche deutliche Vorsprünge, sodass vor diesem Hintergrund nun eine verstärkte Förde-rung von Jungen verlangt wird (ebd., S. 21; Stanat/Kunter2001, S. 268). Umgekehrt muss man jedoch auch berück-sichtigen, dass Jungen im Bereich der mathematischenund naturwissenschaftlichen Kompetenzen überlegensind und ein ausgeprägteres schulisches Selbstbewusst-sein haben (Expertise Helsper/Hummrich); Mädchen je-doch sind gegenwärtig immer noch in den nachschuli-schen Bildungsgängen benachteiligt, da sich ihreAusbildung auf einige wenige Ausbildungsberufe kon-zentriert und damit prinzipiell krisenanfälliger ist (Rau-schenbach/Züchner 2001, S. 80).

Auch das Bundesland und die Region haben einen nichtunerheblichen Einfluss auf die Bildungschancen von Kin-dern und Jugendlichen. So sind beispielsweise die Ein-zugsbereiche gymnasialer Bildungsangebote im ländli-chen Raum drei- bis viermal so groß wie in den Städten,und insbesondere in den neuen Bundesländern könnteohne eine langfristige Strategie zur Überbrückung des„Schülertiefs“ und der damit zumeist einhergehendenSchulschließungen der Anspruch auf Chancengleichheit

beim Bildungserwerb gefährdet werden (Avenarius u. a.2003, S. 67). Zudem schwankt die Quote des Hauptschul-besuchs zwischen den Bundesländern – und selbst inner-halb der Regionen einzelner Bundesländer – ganz erheb-lich. So besuchen z. B. im Bundesland Bayern in denKommunen München 32 Prozent der Schüler/innen dieHauptschule, in Hof 60 Prozent. In den Landkreisenschwankt der Hauptschulbesuch zwischen dem LandkreisMünchen mit 24 Prozent und dem Landkreis Altöttingmit 54 Prozent (Klemm/Rolff 2002, S. 26).

Ein zentrales Problem des mehrgliedrigen deutschenSchulsystems unter der Perspektive von Chancengleich-heit ist die Tatsache, dass Durchlässigkeit zwischen denverschiedenen Schulformen vor allem eine Mobilität nachunten ist und Aufstiege in höhere Bildungsgänge nur sel-ten vorkommen. Zudem produziert das deutsche Schul-system zu viele „Sitzenbleiber“ – etwa ein Viertel aller15-jährigen Schüler/innen musste nach den Daten derPISA-Studie 2000 mindestens einmal eine Klasse wieder-holen (Krohne u. a. 2004) – ferner zu viele Drop-outs.Dazu gehören zum einen jene etwa 5 Prozent der Schüler/Schülerinnen, die mehr als fünf Tage im Jahr dem Unter-richt fernbleiben (Schreiber-Kittl/Schröpfer 2002, S. 31),zum anderen jene gut 9 Prozent der Schüler/innen, die dieSchule ohne Abschluss verlassen. Bei der Analyse dieserAbsolventen/Absolventinnen ohne Schulabschluss zeigensich zum einen deutliche Unterschiede zwischen Jugend-lichen ohne und mit Migrationshintergrund (9 Prozentvs. 18 Prozent), aber auch zwischen den Schulabsolven-ten/innen unterschiedlicher Bundesländer. So findet sichbei den Absolventen und Absolventinnen ohne Haupt-schulabschluss eine Spannweite von 7 Prozent in Nordrhein-Westfalen bis zu 15 Prozent in Sachsen-Anhalt (Avena-rius u. a. 2003, S. 171f.).

Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass trotzeines enormen Anstiegs des Besuchs weiterführender Bil-dungsgänge in den vergangenen Jahrzehnten das deutscheSchulsystem noch weit vom Ziel der Realisierung schuli-scher Chancengleichheit entfernt ist und dass insbeson-dere Heranwachsende aus un- und angelernten Arbeiter-kontexten, aus Familien mit Migrationshintergrund sowieaus ländlichen wenig besiedelten Räumen relativ geringeZugangschancen zu höheren Bildungsgängen und Bil-dungsabschlüssen haben.

(b) Der Anspruch auf schulische Allgemeinbildung

Vergleicht man die in Schulverfassungen und in den Prä-ambeln von Lehrplänen sowie in bildungstheoretischenKonzepten formulierten Ansprüche an eine umfassendeschulische Allgemeinbildung, die die Bereiche dersprachlichen, der mathematisch-naturwissenschaftlichen,der politischen und der ästhetischen Bildung umfasst, mitder schulischen Realität, wie sie sich in Stundenplänendokumentiert, so muss man feststellen, dass der Politik-unterricht sowie der Unterricht in den ästhetischen Fä-chern im Curriculum der Schulen der Sekundarstufe nurmit niedrigen Stundenzahlen vertreten ist (ebd., S. 94ff.).Das bedeutet, dass die Schule der Förderung von poli-tischen und ästhetisch-expressiven Kompetenzen der He-

Page 292: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 282 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

ranwachsenden nur einen geringen Stellenwert einräumt.Der Schule gelingt es zudem immer noch zu wenig, dieSchüler/innen für die Mitwirkung in schulischen Partizi-pationsgremien zu interessieren und sie damit zu demo-kratischer Teilhabe zu befähigen. So verdeutlichen dieErgebnisse der Civic-Education-Studie276, dass sich inDeutschland nur 13 Prozent der Jugendlichen in schuli-schen Mitwirkungsgremien engagieren, während es iminternationalen Durchschnitt fast 30 Prozent der befrag-ten 14-jährigen Schüler/innen sind (Oesterreich 2002,S. 78). Schwächen hat das deutsche Schulsystem jedoch nichtnur bezüglich des Fehlens eines weit gespannten Kon-zepts schulischer Allgemeinbildung, sondern auch imHinblick auf das nicht hinreichende Gelingen, eineGrundbildung bzw. ein Bildungsminimum in der Vermitt-lung sprachlicher sowie mathematisch-naturwissenschaft-licher Kompetenzen für alle Schüler/innen sicherzustel-len. Die Ergebnisse der in den letzten Jahrendurchgeführten internationalen Leistungsstudien (IGLU,TIMSS, PISA)277 sowie einiger Längsschnittstudien ma-chen zwar deutlich, dass in der Schule kumulatives Ler-nen stattfindet und in allen Schulformen, insbesondere imGymnasium, in den untersuchten Schulfächern Leis-tungszuwächse empirisch festgestellt werden können(Baumert u. a. 2003b, S. 302f.). Gleichzeitig zeigen dieErgebnisse der PISA-Studie 2000 und 2003 jedoch auch,dass unter den 15-Jährigen etwa ein Viertel als „Risiko-gruppe“ eingestuft werden muss, die aufgrund deutlicherMängel in der Lesekompetenz und im Umgang mit ma-thematischen Verfahren und Modellen erheblicheSchwierigkeiten haben dürfte, erfolgreich eine Berufsaus-bildung aufzunehmen. Unter diesen Risikoschülern sindHeranwachsende aus Arbeiterfamilien sowie aus Fami-lien mit Migrationshintergrund besonders stark vertreten(Prenzel u. a. 2004a, S. 26; Baumert/Schümer 2001,S. 401). Auch diese Befunde verweisen somit auf eineGefährdung der Chancengleichheit sowie auf dringendnotwendige Reformmaßnahmen im deutschen Schulsys-tem.

(c) Öffnung und Vernetzung der SchuleBetrachtet man das deutsche Schulsystem vor dem Hin-tergrund der durch die Ganztagsschuldebatte neu belebtenDiskussion um eine Öffnung der Schule und ihrer Vernet-zung mit anderen pädagogischen Institutionen, so zeigeneinige empirische Studien, dass auch schon in der gegen-wärtigen Schule mehr als nur Unterricht stattfindet. In derdeutschen Zusatzerhebung zu PISA 2000 wurden die au-ßerunterrichtlichen Angebote der Schulen in Gestalt vonSport-, Hobby- und Arbeitsgruppen sowie von kulturellenund sportlichen Veranstaltungen untersucht. Dabei wurdedeutlich, dass fast alle Schulen Angebote außerhalb desregulären Unterrichts machen, wobei die Gymnasien imHinblick auf die Vielfalt der außerunterrichtlichen Ange-bote deutlich über dem Aktivitätsniveau von Hauptschu-len und Realschulen liegen (Avenarius u. a. 2003, S. 179;Krüger/Kötters 2000).

Neben Freizeitgruppen oder kulturellen Veranstaltungenunterbreiten Schulen aber auch noch andere Angebote.Rund die Hälfte der untersuchten Schulen in der Sekun-darstufe I machen berufsorientierende Angebote und För-derangebote sowie rund ein Drittel auch sozialpädagogi-sche und psychosoziale Angebote (Mack u. a. 2003,S. 130).

Allgemein bildende Schulen in Deutschland sind zudemgegenwärtig schon mit anderen Institutionen vielfach ver-netzt. Nach Selbstauskünften von rund 5 000 befragtenSchulleitern/innen an Grundschulen sowie an verschiede-nen Schulformen der Sekundarstufe I haben 75 Prozentder untersuchten Schulen Vernetzungen zu mindestensvier von sieben abgefragten Kooperationsfeldern (schul-unterstützende Dienste, Einrichtungen und Betriebe inder Kommune, andere Schulen, Sponsoren und Förder-vereine, Eltern, Schüler, sonstige Personen). Die von denSchulen angegebenen Kooperationskontakte sind zwarstabil und existieren überwiegend schon mehr als zweiJahre. Aber nur an knapp 20 Prozent der Schulen wurdendiese Kooperationen bislang schriftlich fixiert und damitansatzweise institutionell abgesichert (Lipski 2004). Beiden genannten Kooperationspartnern in der Kommunenehmen die Sportvereine und Kirchen mit über60 Prozent den wichtigsten Platz ein. Kooperationen mitInstitutionen der Jugendhilfe hatten demgegenüber einengeringeren Stellenwert; so nannten jeweils rund 20 Pro-zent der Schulleiter/innen die Schulsozialarbeit bzw. Ju-gendzentren als Kooperationspartner. Die Eltern wurdennur von knapp einem Drittel der befragten Schulleiter/in-nen als wichtige Kooperationspartner erwähnt und nureine Minderheit der Schulen bezieht die Eltern in Aufga-ben der Betreuung oder in die Leitung von Arbeitsge-meinschaften mit ein (Lipski/Kellermann 2002, S. 9ff.).

Im gegenwärtigen deutschen Schulsystem sind somit au-ßerunterrichtliche Angebote sowie erste bescheidene An-sätze für Vernetzungsstrukturen (zwischen Institutionenwie der Jugendhilfe im Stadtteil und in der Region) vor-handen, die beim Ausbau von Modellen der Ganztagsbil-dung jedoch deutlich ausgebaut und intensiviert werdenmüssten.

6.2.4 Reformbedarf der Schule unter der Perspektive ganztägiger Angebote

Zieht man eine Bilanz zu den Reformnotwendigkeitendes deutschen Schulsystems unter der Perspektive vonGanztagsschule, so lassen sich resümierend vor allemvier zentrale Punkte festhalten:

(1) Da die Bereiche der politischen und der ästhetischenBildung in Curriculum und Alltag von Schule bislangeher randständig sind, könnten durch eine Kooperationmit den Institutionen der außerschulischen Bildung, diegerade in diesen Feldern ihre Stärken haben, verbesserteRahmenbedingungen für die Realisierung eines umfas-senden Konzepts von ganztägiger Bildung geschaffenwerden, das gleichermaßen auf eine Förderung dersprachlichen, der instrumentellen sowie der sozialen undder politischen sowie der ästhetisch-expressiven Kompe-

276 Zur Civic-Education-Studie vgl. Glossar im Anhang.277 Zu diesen Leistungsstudien vgl. die Kurzdarstellungen im Glossar.

Page 293: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 283 – Drucksache 15/6014

tenzen von Kindern und Jugendlichen abzielt. Danebensollte sich schulischer Unterricht vor allem darauf kon-zentrieren, den Schülern/Schülerinnen im Bereich dersprachlichen und der mathematisch-naturwissenschaftli-chen Kompetenzen Basisqualifikationen zu vermitteln,eine Aufgabe, der Schule gegenwärtig nur teilweise ge-recht wird.

(2) Angesichts der aufgezeigten hohen sozialen Selekti-vität des deutschen Schulsystems, der Dominanz schuli-scher Abstiege im mehrgliedrigen System der Sekundar-stufe I sowie der empirisch diagnostizierten Existenzeiner Risikogruppe von über einem Fünftel aller Schüler/Schülerinnen am Ende der Sekundarstufe I spricht vielesdafür, nicht nur spezifische Förderkurse zur Verbesserungder Sprachkompetenz von Risikoschülern/-schülerinnenoder berufsvorbereitende Kurse im Rahmen von Ganz-tagsschulen einzurichten. Vielmehr sollte auch über einenlängeren gemeinsamen Schulbesuch von Schülern/innenin integrierten Bildungsgängen nachgedacht werden, wiesie in den meisten europäischen Nachbarländern bereitsexistieren. In diesen Zusammenhang sollten auch Überle-gungen zur integrativen Beschulung von Schülerinnenund Schülern mit sozialen und Lernschwierigkeiten inRegelschulen mit einbezogen werden, da die Sonderschu-len diesen Schülern und Schülerinnen gegenwärtig kaumerfolgreiche Bildungskarrieren ermöglichen. Außerdemsollte die bisherige Praxis der Klassenwiederholung, diesich weder pädagogisch als sinnvoll noch bildungsökono-misch als effizient erwiesen hat, durch neue Formen derindividuellen Förderung ersetzt werden.

(3) Der Ausbau von Ganztagsschulen oder anderen Mo-dellen von Ganztagsbildung setzt zudem eine Reform derLehrerausbildung und Lehrerweiterbildung voraus, daLehrer/innen bisher auf sozialpädagogische Aufgaben so-wie auf eine Zusammenarbeit mit dem Personal in der Ju-gendhilfe kaum vorbereitet werden. Notwendig ist zudemeine Diskussion über die Neubestimmung des Einsatzesvon Lehrerarbeitszeit. Außerdem ist die professionelleAusgestaltung von Ganztagsschulen ohne die zusätzlicheEinstellung von sozialpädagogischen Fachkräften unddem damit verbundenen finanziellen Mehraufwand nichtzu gewährleisten. Dies schließt keineswegs aus, dass imRahmen von Modellen von Ganztagsschulen nicht auchverstärkt neue Formen des Team-teachings sowie desPeer-Learnings erprobt werden und eine verstärkte Einbe-ziehung von Eltern oder anderer Personen (z. B. Musiker,Handwerker, Künstler) in die nachmittäglichen Bildungs-angebote von Ganztagsschulen angestrebt werden sollten.

(4) Der bildungspolitisch sich bereits abzeichnendeTrend in Richtung auf größere Handlungs- und Entschei-dungsspielräume für die Einzelschule sollte verstärktwerden, da damit günstige Rahmenbedingungen für denAufbau einer flexiblen Vernetzungsstruktur zwischen deneinzelnen Schulen und anderen Institutionen (Einrichtun-gen der Kinder- und Jugendhilfe, kulturelle Einrichtun-gen, Institutionen der Arbeitswelt) im kommunalen Raumgeschaffen würden. Gleichzeitig ist dafür eine stärkereVerzahnung zwischen kommunaler bzw. regionalerSchulentwicklungs- und Jugendhilfeplanung erforderlich

sowie eine Neujustierung der Kompetenzverteilung zwi-schen Bund, Ländern und Kommunen in der Schul- undJugendpolitik. Erste Ansätze für eine Vernetzung vonSchule mit anderen pädagogischen Institutionen im kom-munalen Raum sind im deutschen Schulsystem zwar vor-handen. Im Rahmen der Realisierung von verschiedenenModellen von Ganztagsbildung müssten diese Netzwerkejedoch ausgebaut und institutionell abgesichert werden.

6.3 Empirische Darstellung von Lernwelten außerhalb von Schule und Kinder- und Jugendhilfe

Im Folgenden werden die Ziele, institutionellen Struktu-ren sowie die Nutzung einer Reihe von exemplarischenLernwelten außerhalb von Schule sowie außerhalb derKinder- und Jugendhilfe dargestellt. Diese Lernweltensind zumeist privatwirtschaftlich organisiert und verfol-gen keine expliziten Bildungsziele. Dabei wird der Blickauch darauf gerichtet, welche Leistungen in diesen insti-tutionellen Kontexten erlernt werden, ferner wird auf dieStärken und Schwächen der verschiedenen Lernorte hin-gewiesen. Die folgende Darstellung enthält lediglich eineAuswahl relevanter Lernwelten von Kindern und Jugend-lichen aus einem breiten Spektrum vorhandener Ange-bote und Gelegenheiten. Einen Eindruck von ihrer Viel-falt vermittelt die Übersicht 1 in der Einleitung zu Teil Cdieses Berichts.

6.3.1 Nachhilfe

Unterricht und Lernen außerhalb der Schule gehören inDeutschland zum Alltag von Familien (vgl. auch Ab-schnitt 4.1). Nachhilfe wird als zusätzliche Betreuung vonSchülerinnen und Schülern zum Zweck der Leistungsstei-gerung in spezifischen Schulfächern verstanden. Sie exis-tiert seit der Einführung des öffentlichen höheren Schul-wesens im 19. Jahrhundert und findet außerhalb desregulären Schulunterrichts statt. Sie ist privat oder institu-tionell organisiert und wird in der Regel von den Elternfinanziert (Behr 1990).

Nachhilfe geben Eltern, Einzelpersonen sowie speziali-sierte Unternehmen. 80 Prozent der 17-Jährigen gebenan, dass sie durch elterliche Hilfen unterstützt wurden(Expertise DIW, Auswertungen des Sozio-oekonomi-schen Panel). Daneben existiert ein empirisch schwerfassbarer „Markt“, auf dem Schüler/innen, Eltern undEinzelpersonen sich zum Zweck von Nachhilfeunterrichtbzw. Nachhilfestunden organisieren und treffen. Dies be-ginnt bei der Nachbarschaftshilfe und endet bei manifes-ter Schwarzarbeit. Diese beiden Bereiche werden jedochim Folgenden nicht beschrieben, sondern im Besonderendas Angebot und die Nutzung von Unternehmen, dieNachhilfeunterricht anbieten („Nachhilfeinstitute“).

(a) Ziele

Neben dem Anspruch der Nachhilfeinstitute, den ver-säumten Stoff nachzuholen und nachhaltige Notenverbes-serungen zu bewirken, sollen auch Lernstrategien fürselbstständiges Lernen vermittelt werden sowie ein regel-

Page 294: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 284 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

mäßiger Austausch mit den Lehrkräften und den Elternstattfinden. Auf diese Weise soll die Erfolgsquote erhöhtwerden, so dass Kinder und Jugendliche längerfristignicht mehr auf Nachhilfe angewiesen sind.278

Die Gründe, Nachhilfe in Anspruch zu nehmen, werdenmeist im Zusammenhang mit Defiziten im Schulsystemgenannt. Die Eltern erwarten von der Nachhilfe vornehm-lich eine Verbesserung der Schulleistungen, ferner denAusgleich von Leistungsschwächen und didaktischen De-fiziten der Lehrer sowie die Sicherung der Versetzung ih-rer Kinder (Kramer/Werner 1998). Mangelnde Förder-und Übungsmöglichkeiten im Halbtagsschulsystem mitzu großen Klassen und übervollen Lehrplänen sollendurch die Betreuung im Nachhilfeunterricht ausgeglichenwerden. Allerdings können auch Fehlzeiten in der Schule,fehlende Motivation sowie kognitive Schwierigkeiten derSchüler/innen Gründe für die Inanspruchnahme vonNachhilfe sein (Rudolph 2002; Behr 1990; Krüger 1977).Hinzu kommen die Veränderungen familiärer Binnen-strukturen und die zunehmende Erwerbstätigkeit vonMüttern, die weniger Zeit für die Hausaufgabenbetreuungzulassen. Alleinerziehende und Doppelverdiener greifenbereits – sofern es finanziell tragbar ist – auf Nachhilfe-dienstleistungen außerhalb der Familie zurück. Bei Schü-lern und Schülerinnen aus Migrantenfamilien scheitertdie innerfamiliale Unterstützung bei den Hausaufgabenmöglicherweise an mangelnden deutschen Sprachkennt-nissen der Eltern (Frick/Wagner 2001).

Aus dem Blickwinkel der Eltern ist Nachhilfe auch als In-vestitionsmaßnahme in die Ausbildung ihrer Kinder zusehen. Mit zunehmendem Wettbewerb um knappe Ar-beitsplätze ist sie ein zusätzliches Mittel zur Erreichunghöherer Bildungsziele und zur Chancenverbesserung aufdem Arbeitsmarkt (Rudolph 2002, S. 44f; Behr 1990,S. 15).

(b) Zahl der Anbieter, Organisation, Recht und Personal

Die Zahl der Nachhilfeinstitute ist seit den 1990er Jahrenstetig gestiegen. Zu den beiden größten Anbietern inDeutschland gehören der „Studienkreis“ und die „Schü-lerhilfe“. Der „Studienkreis“ ist ein Unternehmen derCornelsen-Verlagsgruppe, der nach eigenen Angaben bis-lang etwa 750 000 Schüler/innen betreut hat und 10 000Lehrkräfte beschäftigt. Von der „Schülerhilfe“ (eine Part-nerin des Sylvan Learning Center, eines Privatanbietersfür Nachhilfe in den USA) werden ähnliche Zahlen ge-nannt, da das Unternehmen annähernd parallel zum „Stu-dienkreis“ gewachsen ist. Zusammen vereinigen sie etwa2 100 lokale Standorte auf sich, die zum überwiegendenTeil im Franchise-Verfahren betrieben werden. Das An-gebot der beiden Institute reicht von der Betreuung derSchüler/innen über die Bereitstellung eigenen Lernmate-rials bis hin zu Computer- und Konzentrationskursen so-wie einer Hochbegabtenförderung des „Studienkreises“.Die Nachhilfe findet nach Eigenauskunft in Form von

Gruppenunterricht mit drei bis fünf Schülern bzw. Schü-lerinnen statt.279

Über weitere Anbieter, wie beispielsweise private Einzel-nachhilfe, existieren keinerlei repräsentative Zahlen. Eskann aber davon ausgegangen werden, dass zahlreicheLehrkräfte, Mitschüler/innen und weitere Personen ihreNachhilfedienste über Stellenanzeigen in Zeitungen, anschwarzen Brettern oder im Internet anbieten. Da es inden einzelnen Bundesländern keine einheitliche rechtli-che Regelung gibt, kann – außerhalb der unregistriertenSchattenwirtschaft280 – grundsätzlich jeder Nachhilfe ge-ben, der einen Gewerbeschein besitzt. KommerzielleNachhilfeinstitute werden von den Kultusministerien derLänder entweder als Ergänzungsschulen, freie Unterrichts-einrichtungen oder als nicht schulgesetzlich erfasste Insti-tutionen aufgeführt. Das Land Baden-Württemberg z. B.bezeichnet Nachhilfeinstitute als freie Unterrichtseinrich-tungen, „auf die weder das Schulgesetz noch das Privat-schulgesetz anzuwenden sind. Es sind weder Ersatz- nochErgänzungsschulen im Sinne des Privatschulgesetzes. Alsfreie Unterrichtseinrichtungen unterliegen sie nicht derSchulaufsicht. Diese Einrichtungen fallen unter das Ge-werberecht“ (Rudolph 2002, S. 86). Natürliche und juris-tische Personen, die Nachhilfeunterricht erteilen, sind zu-dem nach § 4 Nr. 21 UStG von der Umsatzsteuerbefreit.281

Das Nachhilfepersonal besteht vornehmlich aus (Lehramts-)Studierenden, Referendaren/Referendarinnen, Lehrkräf-ten und sonstigen Akademikern/Akademikerinnen. In derRegel arbeiten sie als freie und selbstständige Mitarbeiter/innen. Sie haben freie Hand bei Fächerwahl und Fächer-wechsel sowie in der didaktisch-methodischen Gestaltungihres Unterrichts; ferner können sie ihre „vertraglich über-nommene Leistungspflicht auf fremde Lehrbeauftragte“übertragen (Rudolph 2002, S. 69). Die Nachhilfeinstituteerwarten von ihren Lehrkräften lediglich, dass sie enga-giert, qualifiziert und möglichst langfristig den Unterrichtgestalten.282 Allerdings ist die Fluktuation in der größtenGruppe der Lehrkräfte – den Studierenden und Referenda-ren/Referendarinnen – sehr hoch, so dass eine langfristigeBetreuung meist nicht gegeben ist.

278 Vgl. http://www.studienkreis.de/produkt_main/menue_punkte/?na-me=nachhilfe, 9. Dezember 2004.

279 Vgl. Rudolph 2002, S. 64ff.; http://www.nachhilfe.de/produkt_main/menue_punkte/?name=nachhilfe, 9. Dezember 2004; http://www.schuelerhilfe.de/index_netscape. html, 9. Dezember 2004.

280 Ein großer Bereich der privaten Nachhilfe ist der Schattenwirtschaftzuzuordnen. Laut den Angaben des Instituts für AngewandteWirtschaftsforschung (IAW) wurden in der Schattenwirtschaft imJahr 2003 mit Dienstleistungen wie Nachhilfe, Friseurdiensten, Ba-bysitten und sonstigen Gewerbebetrieben rund 56 Mrd. Euro erwirt-schaftet. Das entspricht etwa 15 Prozent des derzeitigen Schattenwirt-schaftsvolumens (http://www.stuttgart.ihk24.de/SIHK24/SIHK24/produktmarken/index.jsp?url=http%3A//www.stuttgart.ihk24.de/SIHK24/SIHK24/produktmaken/konjunktur/wirtschaftsstatistik/Aktuelle_Informationen_aus_der_Statistik/Schattenwirtschaft.jsp,16. Dezember 2004).

281 Vgl. Kommentar aus P/M, UStG Bd. II, 95, Lfg/Juli 1982, § 4/224/5– Nachhilfeunterricht/Schularbeitskreise und BMWF – Schreiben F/IV A/3 – S 7179 – 1/71 vom 17.9.71 (UstR 1971, S. 317).

282 Vgl. http://www.nachhilfe.de/tools_main/menue_punkte/?name= jobs,9. Dezember 2004; http://www.schuelerhilfe.de/index_netscape.html,9. Dezember 2004; Rudolph 2002, S. 69f.

Page 295: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 285 – Drucksache 15/6014

(c) Kosten

Die Preise variieren je nach Anbieter. Im Durchschnittkostet eine 45-minütige Unterrichtsstunde bei den offizi-ellen Anbietern ab 10 Euro aufwärts. Bei manchen An-bietern kommt noch eine Vermittlungsgebühr für denNachhilfelehrer sowie weitere Kosten, z. B. für Heimun-terricht, hinzu. Die Preise in der Schattenwirtschaft dürf-ten dabei ähnlich sein. Die beiden marktführenden Nach-hilfeinstitute berechnen ihre Preise für eineUnterrichtseinheit von 90 Minuten. Die Höhe der Kostenist dabei abhängig vom Bundesgebiet und der Häufigkeitder wöchentlichen Inanspruchnahme. Für Gruppenunter-richt mit zwei Unterrichtsstunden pro Woche verlangt der„Studienkreis“ im Monat etwa 100 Euro (Ost) bzw. 126Euro (West). Die Preise der „Schülerhilfe“ liegen für diegleiche Unterrichtszeit im Durchschnitt bei 110 Euro proMonat.283

Die privaten Ausgaben und der zeitliche Aufwand fürNachhilfeunterricht insgesamt werden auf ein jährlichesVolumen von rund zwei Mrd. Euro beziffert (Rackwitz2004).

(d) Nutzung

Knapp 33 Prozent der Neunklässler/innen in Deutschlanderhalten Nachhilfeunterricht (Rauschenbach u. a 2004,S. 337). Eine Aufschlüsselung nach privater, familiärerund kommerzieller Nachhilfe ist hier jedoch nicht mög-lich. Im Jahr 2003 suchten etwa 22 Prozent der Schüler/Schülerinnen Nachhilfeinstitute auf (Institut für Jugend-forschung 2003). Jeder vierte Schüler bzw. jede vierteSchülerin in Deutschland hat bis zum Alter von 17 Jahrenim Laufe der Schulzeit schon einmal bezahlte Nachhilfebekommen (Schneider 2005). Am häufigsten nutzenReal- und Gymnasialschüler/innen das Nachhilfeangebot(Hollenbach/Meier 2004). Die Nutzungsquote nimmt da-bei in den höheren Jahrgangsstufen zu; bei den Neunt-und Zehntklässlern ist sie doppelt so hoch wie bei denFünft- und Sechstklässlern (Langemeyer-Krohn/Krohn1987). Der wöchentliche Zeitaufwand für Nachhilfe liegtbei den 15-Jährigen bei etwa ein bis zwei Stunden, wäh-rend die Dauer der Nachhilfemaßnahmen insgesamt10 bis 12 Monate im Durchschnitt umfasst (Rudolph2002; Langemeyer-Krohn/Krohn 1987).

Die „klassischen“ Nachhilfefächer sind Mathematik,Deutsch sowie erste und zweite Fremdsprache, wobeiMathematik für mehr als die Hälfte aller Schüler/innendas Hauptproblemfach ist (Institut für Jugendforschung2003; Rudolph 2002). Bestätigt wird dies durch die Datender PISA-Studie, nach der 9 Prozent der befragten 15-jäh-rigen Schüler/innen im Fach Mathematik und knapp3 Prozent in Deutsch private Nachhilfe erhalten (Hollenbach/Meier 2004).284

In den meisten Studien wurde kein signifikanter Unter-schied zwischen Jungen und Mädchen hinsichtlich derNutzung von Nachhilfe gefunden. Geschlechterdivergen-zen zeigen sich allerdings im Hinblick auf die fachbezo-gene kommerzielle Nachhilfe: Im Rahmen der PISA-Stu-

die gaben mehr Mädchen (12 Prozent) als Jungen(8 Prozent) an, im Fach Mathematik Nachhilfe zu erhal-ten. Im Fach Deutsch benötigen dagegen doppelt so vieleJungen wie Mädchen Nachhilfe (4 Prozent gegenüber2 Prozent). 15-jährige Schülerinnen und Schüler aus Fa-milien mit Migrationshintergrund nahmen trotz ihrersprachlichen Nachteile seltener Nachhilfe in Deutsch inAnspruch als Kinder aus einheimischen Familien(Hollenbach/Meier 2004).

In den neuen Bundesländern wird sehr viel seltener Nach-hilfe in Anspruch genommen als in den alten Bundeslän-dern. Während 31 Prozent der Schüler/innen in West-deutschland schon einmal Nachhilfeunterricht erhaltenhaben, sind es mit 15 Prozent nur halb so viele Schüler/innen in Ostdeutschland (Schneider 2005). Die geringereNachhilfeinzidenz im Osten ist vermutlich darauf zurück-zuführen, dass es in der DDR keine vergleichbarengewachsenen Nutzungsstrukturen von kommerziellerNachhilfe wie in Westdeutschland gab, sondern die Haus-aufgabenbetreuung teilweise im Schulhort stattfand undin den neuen Bundesländern weiterhin auch stattfindet.Im Gegensatz zu den westdeutschen Schülern/innen wirdim Osten zudem die Nachhilfequote umso geringer, je hö-her der angestrebte Bildungsabschluss ist. Für westdeut-sche Schüler/innen ist festzustellen, dass sie eher Nach-hilfe in Anspruch nehmen, wenn die Eltern ein hohesBildungsniveau und Berufsprestige aufweisen. DieserUmstand fällt jedoch weit weniger ins Gewicht als dieVerfügbarkeit über ein hohes Haushaltseinkommen. Tat-sächlich sind die finanziellen Ressourcen der Eltern dafürausschlaggebend, ob das Kind in bezahlter Nachhilfe be-treut wird oder nicht. Für die Annahme, dass ältere Ge-schwister als potenzielle Nachhilfelehrer die bezahlteNachhilfe kompensieren, kann kein eindeutiger Nachweisgeliefert werden. Vielmehr ist es wahrscheinlich, dass mitsteigender Anzahl der Geschwister im Haushalt wenigerGeld zur Verfügung steht, um eines der Kinder in Nach-hilfe zu geben (Schneider 2005).

(e) Stärken und Schwächen

Bislang fehlen weitgehend methodisch solide und aussa-gekräftige Wirkungsstudien zum Nachhilfeunterricht. Dievorhandene Evidenz deutet darauf hin, dass Nachhilfe– zumindest kurzfristig – zu besseren Schulnoten verhilftund Klassenwiederholung verhindert (Rackwitz 2004,S. 18; Abele/Liebau 1996). Zudem profitieren die Nach-hilfeinstitutionen von vielfach schwieriger gewordenenRahmenbedingungen, wie zunehmend größere Klassen,enge Finanzetats der Schulen, Überforderung und Überal-terung des Lehrpersonals, Unterrichtsausfall, Multikultu-ralität der Schüler/innen und veränderte Familienverhält-nisse (Rudolph 2002, S. 96f).

Die Kosten für bezahlte Nachhilfe können sich im Prinzipnur Eltern mit gutem Einkommen leisten, was letztlich ei-nem Förderprivileg für wohlhabendere Schüler/innengleichkommt.285 Das Angebot von institutioneller Nach-

283 Angaben laut telefonischer Auskunft, vom 9. Dezember 2004.284 1,3 Prozent erhalten in beiden Fächern Nachhilfeunterricht.

285 Arbeiterkinder nehmen sehr viel seltener Nachhilfe in Anspruch alsKinder aus Akademiker-, Beamten- oder Angestelltenhaushalten(Rudolph 2002, S. 99).

Page 296: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 286 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

hilfe trägt demzufolge zur Verstärkung sozial bedingterBildungsungleichheiten bei (Schneider 2005, S. 377).

Die Frage, ob ganztägige Betreuung an Schulen den Nut-zungsbedarf an Nachhilfe verringern und gleichzeitig da-mit gleichberechtigtere Bildungschancen schaffen würde,ist bisher nicht eindeutig zu klären. Untersuchungen desNachbarlandes Luxemburg zeigen jedoch, dass auch dieHälfte der Ganztagsschüler/innen Erfahrung mit Nach-hilfe hat und dieses Angebot trotz Ganztagsunterricht wei-terhin nachgefragt wird (Mischo/Haag 2002, S. 264f.).

6.3.2 Auslandsaufenthalte

(a) Ziele

Ein Schulbesuch im Ausland dient maßgeblich der Erwei-terung von Fremdsprachenkenntnissen, aber auch dem in-tensiven und persönlichen Kennenlernen eines Landes,seiner Menschen und ihrer Kultur. 286 Die Herausforde-rung besteht in der Anpassungsleistung der Austausch-teilnehmer/innen und der bewussten Mitgestaltung ihresIntegrationsvorgangs.

Eltern und Schüler/innen können einen Schulbesuch imAusland voll selbstständig organisieren; die meisten neh-men aber wohl die Dienste eines „Austauschprogramms“in Anspruch. Austauschprogramme gelten nicht als einfa-ches Angebot von Sprachreisen, sondern haben den An-spruch, als Bildungsinstitution zu fungieren und zu inter-kultureller Verständigung und Zusammenarbeit sowie zupolitischem Verantwortungsbewusstsein beizutragen.287

Weiterhin sollen die Jugendlichen von einer längerenAuslandserfahrung durch persönliche Weiterentwicklungund späteren beruflichen Erfolg profitieren.288

Als Teilnahmevoraussetzung gilt bei den meisten Organi-sationen mindestens der Abschluss der 10. Jahrgangsstufebzw. eine Altersbegrenzung zwischen 15 und 18 Jahren.Von den Austauschteilnehmern/Austauschteilnehmerin-nen wird erwartet, dass sie anpassungsbereit und aufge-schlossen gegenüber anderen Ländern und Kulturen sind,mindestens Grundkenntnisse in der Landessprache habenund ein gewisses Maß an Selbstständigkeit mitbringen.

(b) Zahl der Anbieter, Organisation, Recht und Personal

In Deutschland gibt es – neben Hilfestellungen aus Lan-desministerien – etwa 40 Austauschorganisationen, dieAuslandsaufenthalte anbieten.289 Dabei sind nur diejeni-gen als seriös einzustufen, die ein persönliches Auswahl-

oder Bewerbungsgespräch durchführen, keine Platzie-rungs- oder Gebietsgarantie geben und eine in Deutsch-land selbstständige Geschäftsform besitzen. Für den Aus-tausch mit den USA sollten sie zudem eine CSIET-gelistete Partnerorganisation vorweisen können(Gundlach/Schill 2002).290 Zu den gesetzlichen Bedin-gungen gehört seit September 2001 außerdem, dass eingesonderter, von der schriftlichen Bewerbung unabhängi-ger, schriftlicher Vertrag abgeschlossen wird. Mit dem„Zweiten Gesetz zur Änderung reiserechtlicher Vorschrif-ten“ beschloss der Bundestag, das Reiserecht in den§§ 651a ff. des Bürgerlichen Gesetzbuchs um spezifischeRegelungen zu internationalen Gastschulaufenthalten zuergänzen.291 Im Kern sind folgende Punkte geregelt wor-den:

Für den Schüleraustausch gilt das Reisevertragsrecht.

– Informationen über Namen und Wohnort der Gastfa-milie sowie Lebensumstände im Aufnahmeland müs-sen spätestens zwei Wochen vor Antritt der Reise er-folgen.

– Ein Ansprechpartner vor Ort muss ebenfalls spätestenszwei Wochen vor Antritt der Reise genannt werden.

– Es sind Voraussetzungen für einen geregelten Schul-besuch sowie angemessene Unterbringung, Beaufsich-tigung und Betreuung des Gastschülers/der Gastschü-lerin nach den Verhältnissen des Aufnahmelandes zuschaffen.

– Bei Abhilfeverlangen ist der Schüler bzw. die Schüle-rin von der Organisation unverzüglich über die ergrif-fenen Maßnahmen zu unterrichten.

(c) Kosten

Ein organisierter Auslandsaufenthalt ist kostenintensivund wird vornehmlich von der Familie des Austauschteil-nehmers/der Austauschteilnehmerin finanziert. Laut Stif-tung Warentest (2004) muss man für ein Austauschjahr inden USA derzeit durchschnittlich 6 500 Euro bezahlen.Daneben gibt es die Vergabe von Stipendien durch dieAustauschorganisationen selbst oder beispielsweise überdas Parlamentarische Patenschaftsprogramm (PPP) desBundestages, das mit den USA kooperiert.

Für ein Stipendium werden in der Regel besonders guteschulische Leistungen, soziales Engagement oder/und be-sondere Bedürftigkeiten vorausgesetzt. Austauschteilneh-mer und -teilnehmerinnen stammen überwiegend ausHaushalten, die im Vergleich zu anderen Haushalten übermehr Einkommen verfügen (Büchner 2004, S. 711). 286 Gemeint sind individuelle Schulbesuche im Ausland, nicht also

schul- bzw. klassenweise organisierte kurzzeitige Auslandsaufenthal-te, meist im Rahmen von Austauschprogrammen.

287 Vgl. Büchner 2004; http://www.yfu.de/ep/index.html, 10. Dezember2004.

288 Vgl. z. B. Broschüre der Carl-Duisberg-Gesellschaft, http://www.cdc.de/cms/mod/netmedia_pdf/data/pdf277.pdf, 10. Dezember2004.

289 Vgl. Stiftung Warentest 2004; http://www.schueleraustausch.de/sa/service/surftipps/orgas.shtml, 10. Dezember 2004.

290 The Council on Standards for International Educational Travel(CSIET) ist eine private, nicht gewinnorientierte Organisation, dieJugendaustauschprogramme mit den Vereinigten Staaten nach ihrerSeriosität beurteilt (http://www.csiet.org/mc/page.do, 10. Dezember2004).

291 Vgl. http://www.schueleraustausch.de/sa/service/gesetz/b101037f.pdf, 10. Dezember 2004.

Page 297: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 287 – Drucksache 15/6014

(d) Nutzung

Nach den Angaben der Veranstalter von Austauschpro-grammen gehen im derzeitigen Schuljahr 2004/2005 etwa10 000 Schüler/innen aus Deutschland ins Ausland. Dasam häufigsten gewählte Ziel sind nach wie vor die USA,jedoch sinkt das Interesse seit den letzten Jahren um15 Prozent bis 50 Prozent. Länder wie Australien, Ka-nada, Neuseeland und auch Japan verbuchen dagegeneine steigende Nachfrage von bis zu 30 Prozent (StiftungWarentest 2004).

Knapp 4 Prozent der deutschen Jugendlichen ohne Mi-grationshintergrund haben bis zum Alter von 17 Jahrenschon einmal eine Schule im Ausland besucht; dies ent-spricht etwa 22 000 Jugendlichen.292 Freilich kann hiernicht unterschieden werden, ob die Schüler/innen und El-tern den Auslandsaufenthalt privat organisiert haben oderein Austauschprogramm in Anspruch nahmen. Der Anteilan Gymnasiasten/Gymnasiastinnen unter den Austausch-teilnehmern ist mit 83 Prozent sehr hoch, d. h. dass etwajeder zehnte Gymnasiast/jede zehnte Gymnasiastin insAusland geht, während diese Chance für andere Schüler/Schülerinnen nur sehr gering ist.293 Von den ausländi-schen Jugendlichen und Kindern von Aussiedlern hatzwar nahezu jeder/jede vierte einen Teil der Schulzeit imAusland verbracht. Aber offenbar ist der Großteil von ih-nen bereits vor der Migration nach Deutschland im Hei-matland zur Schule gegangen: Fast 90 Prozent dieser Ju-gendlichen sind erst in die zweite bzw. in eine spätereKlassenstufe in Deutschland eingeschult worden. Ein or-ganisierter Austausch spielt für diese Gruppe daher nureine geringfügige Rolle (Büchner 2004).

(e) Stärken und Schwächen

Die meisten Schüler/innen mit Austauscherfahrung hattenim Durchschnitt bessere Noten in der ersten Fremdspra-che und zeigten sich hinsichtlich solcher (Freizeit-)Be-schäftigungen wie Sport treiben oder Jobben aktiver alsihre Altersgenossen. Durch die Erfahrungen im Auslandkonnten sich zudem zwei Drittel dieser Jugendlichen sehrgut vorstellen, später einmal im Ausland zu arbeiten. Die-ses außenorientierte Verhalten wird durch Befunde psy-chologischer Studien unterstützt, die ergaben, dass einlängerer Auslandsaufenthalt zu positiven und nachhalti-gen Einstellungs-, Verhaltens- und Wissensveränderun-gen beiträgt und sich dies bei den meisten Teilnehmern/Teilnehmerinnen in der Steigerung von Selbstbewusstseinund Eigeninitiative äußert.294 Hinzu kommen statusrele-

vante Einflüsse des Elternhauses, wobei sich insbeson-dere ein höherer Bildungsabschluss der Mutter positiv aufdie Teilnahme des Kindes an einem Auslandsaufenthaltauswirkt (Büchner 2004; Bayerischer Jugendring 2001).

Die bisherigen Ergebnisse lassen die Feststellung zu, dassAuslandsaufenthalte über künftige Karriere- und Le-benschancen mit entscheiden dürften, gleichzeitig abersozial sehr ungleich verteilt sind. Da die Entscheidung füroder gegen einen Auslandsaufenthalt sowohl institu-tionell als auch sozio-ökonomisch mitbestimmt ist, wer-den Schüler/innen aus ohnehin sozial benachteiligten undbildungsschwachen Familien die Zugangschancen nocherschwert. Überlegenswert wären demnach Stipendien-programme, die Zuwandererkindern spezielle Auslands-aufenthalte im Herkunftsland ermöglichen, da so Zwei-sprachigkeit und Transkulturalität gestärkt werdenkönnten.

6.3.3 Schülerjobs

(a) Ziele

Mit dem Ausbau des Bildungswesens ab den 1960er-Jah-ren haben sich die schulischen Ausbildungszeiten derKinder und Jugendlichen verlängert. Das hat den Einstiegins berufliche Erwerbsleben auf spätere Lebensjahre ver-schoben. Gleichzeitig dehnt sich damit die Abhängigkeitder Jugendlichen von den ökonomischen Mitteln der El-tern aus. Das Jobben neben der Schule nutzen daher viele,um eigenes Geld zu verdienen, über das sie – zusätzlichzum Taschengeld – frei verfügen können. Es geht dabeinicht ausschließlich um die Befriedigung von Konsumbe-dürfnissen, sondern auch generell um den Wunsch nachselbst bestimmter Lebensführung und sozialer Teilhabe.Neben Schule, Familie und Gleichaltrigen-Gruppen eröff-net der Nebenjob einen neuen Lebensbereich, in demKinder und Jugendliche eine gewisse Eigenständigkeitsowie erste Erfahrungen und Anerkennung im Erwerbsle-ben erlangen. Auch wenn nicht jede Tätigkeit anspruchs-voll ist, lernen sie dennoch den Umgang mit Verantwor-tung und die Bedeutung des Tausches von Arbeit und Zeitgegen Geld. Die Arbeitsstellen von jobbenden Schülern/Schülerinnen sind demnach als spezielle Lernwelten an-zusehen (vgl. Abschnitt 4.6.2; Tully 2004b; Unverzagt/Hurrelmann 2002; Ingenhorst 2000).

(b) Rechtliche Regelungen

Grundsätzlich ist die Erwerbstätigkeit von Kindern undJugendlichen, die noch der Vollzeitschulpflicht unterlie-gen, verboten. Der Gesetzgeber erlaubt jedoch leichte,nicht gesundheitsgefährdende Tätigkeiten für Kinder abdem 13. Lebensjahr. Beschäftigungsverhältnisse von Ju-gendlichen unter 18 Jahren fallen unter das Jugendar-beitsschutzgesetz; für die 13- bis 15-Jährigen gilt darüberhinaus die Kinderarbeitsschutzverordnung.295 Die Ar-

292 Die Hochrechnung basiert auf den jährlichen Querschnittsgewich-tungsfaktoren des SOEP, für 17-Jährige in den Jahren 2000 bis 2003.Angesichts des Stichprobenfehlers und der breiteren Erfassung vonAuslandsaufenthalten ist diese hochgerechnete Zahl mit den Anga-ben der Austauschorganisationen kompatibel.

293 Bei den 10 Prozent der Gymnasiasten/Gymnasiastinnen handelt essich sowohl um Schüler/innen mit als auch ohne Migrationshinter-grund.

294 Vgl. Befragungsergebnisse des zweijährigen YFU-Forschungspro-jekts „Students of Four Decades“ (Zeutschel 2004; Bachner/Zeutschel 2002; http://www.sofd.yfu.de/FramesetStart.htm, 26. Ok-tober 2004).

295 Vgl. Jugendarbeitsschutzgesetz (JarbSchG) vom 12. April 1976(BGB1. I S. 311), zuletzt geändert durch Artikel 38a G v.24. Dezember 2003 I 2954 und Kinderarbeitsschutzverordnung(KindArbSchV) vom 23. Juni 1998 (BGB1. I S. 1508).

Page 298: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 288 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

beitszeit von Jugendlichen darf nicht länger als acht Stun-den pro Tag dauern; außerdem sind Akkord- und Nachtar-beit verboten. Zu den zulässigen Beschäftigungen fürKinder gehören u. a. das Austragen von Zeitungen, Tätig-keiten in Haushalt und Garten, Botengänge, Nachhilfeun-terricht, Betreuung von Kindern und anderen zum Haus-halt gehörenden Personen und bestimmte Tätigkeiten inlandwirtschaftlichen Betrieben sowie bei nichtgewerbli-chen Aktionen von Kirchen, Verbänden, Vereinen undParteien.

(c) Angebot

Kindern und Jugendlichen werden meist Tätigkeiten an-geboten, die flexible Arbeitskräfte erfordern. Dabei lie-gen viele der Tätigkeiten im Schwarzmarktbereich unddie Löhne oftmals unter denen der Erwachsenen. Somitstehen sich jobbende Schüler/innen und Gruppen vonsozialversicherungspflichtig (geringfügig) Beschäftigtenbeim Erwerbsangebot konkurrierend gegenüber. Zu denhäufigsten Schülerjobs gehören Arbeiten in Betrieben,das Austragen von Zeitungen sowie Hilfstätigkeiten inHaus und Garten. Babysitten ist dagegen ein geschlechts-typischer Job, der fast ausschließlich unter den Mädchenverbreitet ist (vgl. Abschnitt 4.6.2; Tully 2004b; Schnei-der 2003).296

Da der Job nur neben bzw. außerhalb der Schule laufendarf, handelt es sich bei den Tätigkeiten in der Regel umteilzeitliche, gelegentliche oder zeitlich befristete Be-schäftigungsverhältnisse (Morrow 2002).

Vorherrschendes Motiv für das Jobben ist das Geldverdie-nen. Jugendliche im Alter von 13 bis 17 Jahren bekom-men durchschnittlich 40 Euro Taschengeld im Monat undverdienen sich etwa 90 Euro monatlich hinzu. Damit ver-fügen sie insgesamt über eine jährliche Kaufkraft von7,5 Mrd. Euro, was einem Pro-Kopf-Einkommen vonrund 1 440 Euro entspricht. Das Geld wird meist für Klei-dung, Handy, CDs sowie Essen und Trinken ausgegeben;viele sparen aber auch das verdiente Geld.297

Etwa ein Drittel der 15- bis 18-jährigen Schüler/innensind regelmäßige Jobber (Deutsche Shell 2002). Fast40 Prozent der 17-jährigen Jugendlichen verdienen durchJobben eigenes Geld bzw. haben früher schon einmal ge-jobbt (Schneider 2003). Je älter die Jugendlichen sind,desto häufiger jobben sie. Ferner jobben Westdeutschemehr als Ostdeutsche, da es in Ostdeutschland aufgrundder schlechteren Arbeitsmarktsituation wahrscheinlichweniger Angebote gibt (Isengard/Schneider 2002). Bei

den meisten „Jobbern“ handelt es sich um Gymnasiastin-nen und Gymnasiasten bzw. Jugendliche aus der Mittel-oder Oberschicht (Schneider 2003; Deutsche Shell 2002,S. 85f.). Es kann davon ausgegangen werden, dass sichdiese Schülergruppe bereits in einem Milieu befindet, indem bestimmte Dienstleistungen (z. B. Babysitten) regel-mäßig nachgefragt werden und zudem soziale Netzwerkebei der Jobsuche weiterhelfen. Auch ist zu erwarten, dassArbeitgeber generell ein höheres Vertrauen in Gymnasi-asten und Gymnasiastinnen haben, weil sie von ihnenbessere Qualifikationen oder vorteilhaftere Eigenschaftenerwarten (Ingenhorst 2000). Aufgrund der finanziellenLage des Elternhauses besteht für diese Jugendlichenkaum eine Notwendigkeit zum Jobben. Stattdessen wei-sen die Eltern der Erfahrung mit der Arbeitswelt einenwichtigen pädagogischen Wert zu und ermuntern ihreKinder zur Aufnahme eines Nebenjobs (Morrow 2000).

d) Stärken und Schwächen

Das Jobben beeinträchtigt weder die schulischen Leistun-gen noch die Aktivitäten in der Freizeit. 17-Jährige, diejobben, treiben sogar häufiger Sport, musizieren mehroder sind häufiger ehrenamtlich tätig als Jugendliche, dienicht jobben (Schneider 2003).

Die Jugendlichen messen der Erwerbsarbeit einen sehrhohen Wert bei. Da es insgesamt schwieriger gewordenist, regulär über eine Ausbildung ins Arbeitsleben einzu-treten, wird im Jobben eine Chance gesehen, erste prakti-sche Erfahrungen zu sammeln und die späteren Berufs-chancen zu erhöhen. Durch Deregulierungen in derArbeitswelt bieten Nebenjobs zudem eine Alternative zuklassischen Arbeitsverhältnissen, die einer spezifischenQualifikation bedürfen, ferner können sie beispielsweisefür lernschwache Schüler/innen eine Möglichkeit der Be-rufseingliederung sein (Tully 2004b; Deutsche Shell2002).

Die ersten informellen Arbeitserfahrungen bereichern dasWissen der jobbenden Kinder und Jugendlichen auch imHinblick auf die spätere Konkurrenz um Arbeitsplätze.Da Jugendliche aus bildungsschwachen und sozial be-nachteiligten Familien jedoch seltener Erfahrungen durchNebenjobs sammeln, erwächst ihnen daraus ein doppelterNachteil (Morrow 2000, S. 153).

6.3.4 Kommerzielle Sportanbieter (a) Ziele

Kommerzielle Sportanbieter – wie Fitnessstudios,Kampfsportanbieter, Reitställe sowie Anbieter für margi-nale Sportarten wie Golf – verzeichnen nach eigenen An-gaben seit 1990 einen stetigen Anstieg der Nachfrage(Samsel 2004; Deutscher Sportstudio Verband 2003;Dreßler 2002). Aufgrund des ergiebigen empirischen Ma-terials fokussiert sich im Folgenden die Darstellung aufFitnessstudios.

Mit der Betonung des Gesundheitsaspekts sowie der Ver-besserung der körperlichen Leistungsfähigkeit verfolgenFitnessstudios eines der ältesten Bildungsziele des Sports.Dazu gehören im Allgemeinen die Stärkung der physi-

296 In einer qualitativen Studie zu Kinderarbeit fanden Hungerland undWiehstutz (2004) heraus, dass der Hauptarbeitsbereich der Kinder imHaushalt liegt. Sie beteiligen sich meist unentgeltlich an der Repro-duktionsarbeit und leisten damit einen Beitrag zur Wohlfahrtspro-duktion und zur Familienökonomie. Mädchen beteiligen sich zudemhäufiger an freiwilligen oder sozialen Diensten und bekommen sehrviel seltener Geld für ihre Tätigkeiten als Jungen (Hungerland/Wieh-stutz 2004).

297 Ergebnisse des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln; http://iwkoeln.infoapp.de/default.aspx?p=content&i=16423, 20. Dezem-ber 2004.

Page 299: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 289 – Drucksache 15/6014

schen und sozialen Ressourcen, die Minderung körperli-cher Risikofaktoren sowie die Bewältigung von Be-schwerden oder Missbefinden (Dreßler 2002, S. 19f.).298

Durch ihren Service wollen Sportstudios im besten Falldas körperliche, seelische und soziale Wohlbefinden ihrerKunden fördern und ihnen die Handlungskompetenz ver-mitteln, verantwortungsbewusst mit der eigenen Gesund-heit umzugehen. Indirekt lassen sich dabei Lerneffektefür den sozialen Umgang, die Stärkung des Selbstbe-wusstseins durch bessere Körperwahrnehmung bzw.(Selbst-)Disziplinierung sowie für die sportliche Leis-tungsverbesserung und Organisation des Alltags erzielen.

Als Grund für die große Nachfrage werden vornehmlichveränderte Sportmotive gesehen, die mit gesellschaftli-chen Wandlungsprozessen einhergehen. Gesundheit, Fit-ness und Spaß spielen beim Sporttreiben eine zunehmendwichtigere Rolle (Dreßler 2002). Kommerzielle Sportan-bieter nehmen die Bedürfnisse nach Fitness und Gesund-heit gezielt auf und werben mit entsprechenden Angebo-ten, die Ausdauer, Kraft, Koordination, Beweglichkeit,aber auch innere Balance und seelische Entspannung för-dern sollen.299 Neben dem Training an Fitnessgerätenkönnen verschiedene Kursangebote wahrgenommen wer-den, wie z. B. Aerobic, Cardio- und Problemzonentrai-ning. Einige Studios bieten verschiedene Trendsportartenan, um damit insbesondere jüngere Menschen und ihreBedürfnisse nach Individualität, Abwechslung undTrendbewusstsein anzusprechen. Zudem sind in denmeisten Studios Entspannungsbereiche wie Sauna undSolarium eingerichtet sowie Kommunikationsbereiche inForm von Fitnessbars, an denen die Mitglieder essen,trinken und miteinander in Kontakt treten können. Durchlange Öffnungszeiten, individuelle Betreuung, Einzel-und Gruppenangebote weisen die Sportstudios insgesamtflexiblere Strukturen auf als z. B. Sportvereine (Samsel2004; Dreßler 2002; Kugelmann 1999).300

(b) Rechtliche Regelungen und Personal

Nach einer Branchenstudie des Deutschen SportstudioVerbandes (2003) sind etwa 93 Prozent der Studios unab-hängige Anlagen, 4 Prozent Franchise-Anlagen und4 Prozent Ketten-Studios.

Für die Mitgliedschaft in Sportstudios gilt in der Regeleine Altersuntergrenze von 14 bzw. 16 Jahren. Minder-jährige in diesem Alter dürfen nur mit einer schriftlichenErlaubnis ihrer Eltern an den Aerobic-Kursen (ab 14 Jah-ren) teilnehmen bzw. an den Fitnessgeräten (ab 16 Jah-ren) trainieren.

Bei den Verträgen, die mit dem Sportstudio abgeschlos-sen werden, handelt es sich rechtlich gesehen um einen

„atypischen Mietvertrag“, da dem Kunden/der Kundindie Möglichkeit der Gerätenutzung eingeräumt wird. Fürdie Trainingschance zu einem bestimmten Zeitpunkt aneinem bestimmten Gerät wird jedoch keine Gewähr gege-ben. Verträge dieser Art unterliegen dem Gesetz zur Re-gelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingun-gen (AGB-Gesetz). § 9 AGB-Gesetz besagt, dass eineAGB dann unwirksam ist, wenn der Vertragspartner da-durch unangemessen benachteiligt wird. Welche Klauselnin Verträgen mit Fitnessstudios wirksam sind und welchenicht, ist bisher nicht eindeutig geregelt und bedarf nocheiniger Entscheidungen seitens des Bundesgerichtshofes.Im Einzelfall kann der Richter/die Richterin das nurdurch eine Interessenabwägung der beteiligten Vertrags-parteien beurteilen. Gleichwohl gelten Kündigungsfristenvon mehr als drei Monaten als unwirksam. Zudem sindaußerordentliche Kündigungen zulässig, wenn ein Um-zug oder eine schwerwiegende dauerhafte Erkrankungdes Kunden/der Kundin vorliegt oder eine Preiserhöhungdes Mitgliedsbeitrags die Lebenshaltungskosten überstei-gen würde.301

Das Personal besteht zum größten Teil aus Aushilfskräf-ten und Freiberuflern/Freiberuflerinnen, die als Trainer/innen und Betreuer/innen meist stundenweise beschäftigtsind und als Honorarkräfte entlohnt werden. Fest ange-stellte Mitarbeiter/innen können sich meist nur große Stu-dios mit hoher Mitgliederzahl leisten (Landesinstitut fürSchule und Weiterbildung 2004; Dreßler 2002, S. 108f.).

(c) Kosten

Die Mitgliedsbeiträge variieren je nach Studio und Ver-tragsdauer. Im Schnitt kostet eine einjährige Mitglied-schaft rund 700 Euro. Die günstigeren Anbieter (z. B.Swiss) verlangen rund 300 Euro im Jahr und bieten dafürFitness, Aerobic, Betreuung und Sauna. Andere Studios(wie z. B. Kieser) bieten neben Fitnessgeräten zusätzlicheine ärztliche Trainingsberatung an und liegen mit denKosten bei etwa 400 Euro im Jahr. Je luxuriöser die Stu-dios ausgestattet sind und je mehr Angebote verfügbarsind, desto teurer wird die Mitgliedschaft. Studios, dieMassagen, Solarium, Whirlpools sowie Trendsportartenin ihren Kursen anbieten, können die Mitglieder bis zu1 000 Euro im Jahr kosten (Stiftung Warentest 2003).

(d) Angebot und Nutzung

In Deutschland gibt es nach Verbandsangaben etwa 6 000Studios mit rund 4 Mio. Mitgliedern. Der Frauenanteilliegt bei etwa 60 Prozent, das Durchschnittsalter der Mit-glieder bei etwa 35 Jahren (Deutscher Sportstudio Ver-band 1998).

Nach den Ergebnissen des SOEP302 treiben fast zwei Drit-tel der 17-Jährigen Sport, jedoch nur gut 4 Prozent bei

298 Die WHO setzt den Begriff Fitness mit Gesundheit gleich. Gesund-heit ist dabei als Zustand völligen Gleichgewichts in physischer, psy-chischer und sozialer Hinsicht zu verstehen (Bulletin of the WorldHealth Organization 1947).

299 Vgl. http://www.fitnesscompany-gmbh.de/ange/ange_haupt_fr.htm;30. Dezember 2004.

300 Allerdings dürfte der Aspekt der sozialen Kontakte im Vereinssporthöher zu bewerten sein. Hier gibt es häufiger Mannschaftssportarten,deren Leistung und Erfolg stark auf Teamarbeit aufbaut.

301 Vgl.http://www.forum-schuldnerberatung.de/service_ratgeber/rechtspr/allgem/fitness.htm, 4. Januar 2005; http://www.verbraucher-news.de/recht_vertraege/rueckgabe_umtauschrecht/artikel/2004/11/0083/, 4. Januar 2005.

302 Zum Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) vgl. Glossar.

Page 300: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 290 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

kommerziellen Anbietern. Andere Studien ermittelten fürdie Fitnessstudios einen vergleichbaren Mitgliederanteilzwischen 6 Prozent und 8 Prozent bei den unter 20-Jähri-gen (Samsel 2004; Dreßler 2002). Es ist anzunehmen,dass der Vereinssport in dieser Altersgruppe noch domi-niert, was nicht zuletzt an den günstigeren Mitgliedsbei-trägen liegen dürfte. Aus Sicht der Studios bilden Schü-ler/innen und Studierende – wenn auch mit Abstand – diezweitgrößte Mitgliedergruppe (19 Prozent) nach derGruppe der Angestellten (46 Prozent) (Dreßler 2002).Das Bildungsniveau unter den Mitgliedern ist relativhoch: Etwas mehr als die Hälfte haben Abitur oder einabgeschlossenes Hochschulstudium, ca. 30 Prozent habenRealschulabschluss und weniger als 20 Prozent einenHauptschul- oder gar keinen Schulabschluss (Dreßler2002; Deutscher Sportstudio Verband 1998). Der Ge-sundheitsaspekt, der in den Fitnessstudios stark hervorge-hoben wird, scheint in höheren Bildungsschichten stärkervon Bedeutung zu sein. Zudem verfügen Personen mithohem Bildungsstatus meist über ein höheres Einkom-men und eine flexiblere Arbeitszeitgestaltung, was sichfür die Mitgliedschaft im Fitnessstudio als günstig er-weist.

Während Mädchen und Frauen in Sportvereinen eher un-terrepräsentiert sind, verzeichnen sie eine zahlenmäßigeÜberlegenheit bei den kommerziellen Sportanbietern(Dreßler 2002; Kugelmann 1999; Deutscher SportstudioVerband 1998). Offensichtlich spricht die starke Ange-botsausrichtung der Studios auf Körperformung und Kör-pergestaltung sowie Tanz (Aerobic etc.) sehr viel stärkerdas weibliche Klientel an als das männliche. Der Schwer-punkt bei Jungen und Männern liegt – vornehmlich sozia-lisationsbedingt – eher in Ausdauer- und Kraftsportarten,die häufig im Vereinssport ausgelebt werden können(Dreßler 2002).

(e) Stärken und Schwächen

Das Angebot von Dienstleistungen der Studios bedientoffenkundig die Nachfrage seiner Kunden und Kundin-nen, die ein abwechslungsreiches und leicht erlernbaresTraining schätzen, das ohne großen Aufwand durchge-führt und individuell dosiert werden kann. Die Kunden/Kundinnen sind weitgehend flexibel in ihrer Zeiteintei-lung und können meist in relativ kurzer Zeit erste positivekörperliche und psychische Veränderungen feststellen.Auch soziale Kontakte entstehen bei der sportlichen Betä-tigung und stellen für viele Mitglieder einen wichtigenGrund für den Besuch des Fitnessstudios dar (Samsel2004; Dreßler 2002; Kugelmann 1999). 303

Dennoch ist die Fluktuation in Fitnessstudios recht hoch,was einerseits an den hohen Beitragskosten liegen kann,andererseits aber auch am vorzeitigen Aufgeben, wennerwünschte körperliche Veränderungen nicht schnell ge-nug eintreten. Wenn die individuelle Betreuung oftmalsnur beim ersten Probetraining stattfindet und die sportli-

che Aktivität zudem zu einseitig auf die Verbesserung derkörperlichen Leistungsfähigkeit ausgerichtet ist, wirddies den Erwartungen einer ganzheitlichen Gesunderhal-tung des Organismus nicht gerecht. Das Potenzial der Fit-nessstudios liegt in dem Service, eine individuelle, quali-fizierte und vor allem regelmäßige Beratung anzubieten,die sowohl die physische als auch die psychische Gesund-heit der Kunden fördert. Eine ärztliche und ernährungs-technische Beratung, die jedoch keineswegs überall qua-lifiziert angeboten wird, kann auch zu langfristigemErfolg bei den Teilnehmern/Teilnehmerinnen und zunachhaltigen gesundheitsfördernden Einstellungsverän-derungen verhelfen (Stiftung Warentest 2003; Dreßler2002).

Ein weiterer – durchaus ambivalent zu bewertender – As-pekt ist, dass viele Mädchen und Frauen Fitnessstudiosaufsuchen, um ihren Körper zu „modellieren“ und dieentsprechenden Angebote dort auch finden. Wenn sichdabei an bestimmten Schönheitsidealen, beispielsweiseaus Medien und Werbung, orientiert wird, muss gefragtwerden, ob dies nicht mit großem Leidensdruck und unre-alistischen Zielsetzungen verbunden ist. Gerade Mädchensind oft unzufrieden mit ihrem Körper und lernen gewis-sermaßen, harte Maßstäbe an ihr Aussehen zu setzen. Dergroße Wert, der gesellschaftlich auf das Äußere gelegtwird, trägt so möglicherweise zu einer gestörten Selbst-wahrnehmung bei (Kugelmann 1999).

Bei einem kleinen Teil von Mädchen und Frauen und ei-nem größeren Anteil von – meist jungen – Männern för-dern Fitnessstudios zudem ungesunden Missbrauch vonMedikamenten und Nahrungsergänzungsmitteln.304 Zudiesem tabuisierten Phänomen gibt es naturgemäß wenigzuverlässiges empirisches Material. 22 Prozent der Män-ner und 8 Prozent der Frauen nehmen anabol wirkendeSubstanzen zu sich, die Langzeitabhängigkeiten und ge-sundheitsgefährdende Nebenwirkungen hervorrufen. Da-mit nimmt in Deutschland jeder fünfte Freizeitsportler,der im Fitnessstudio trainiert, Anabolika ein. Bei rund3,5 Mio. registrierten Sportlern und Sportlerinnen in Fit-nessstudios entspricht das etwa 350 000 Anabolika-Kon-sumenten/-Konsumentinnen.305

6.3.5 Kinder- und Jugendreisen(a) Angebot und Ziel

Insbesondere Auslandsreisen können zur Bildung beitra-gen. Insofern sind sie ein Lernort. Reisen für Kinder undJugendliche werden sowohl von gemeinnützigen Trägernals auch von gewerblichen Veranstaltern angeboten. Un-ter den Begriff des Kinder- und Jugendreisens fallen viel-fältige Angebote, wie z. B. Klassen- und Gruppenfahrten,(Sport-)Camps, Freizeiten und Ferienreisen. Dabei unter-liegen die Veranstalter hinsichtlich der inhaltlichen Ge-

303 Allerdings dürfte der Aspekt der sozialen Kontakte im Vereinssporthöher zu bewerten sein. Hier gibt es häufiger Mannschaftssportarten,deren Leistung und Erfolg stark auf Teamarbeit aufbaut.

304 Populär „Doping“ genannt. Zum Verhältnis zwischen sportlicher Ak-tivität und gesundheitlichem Risikoverhalten im Allgemeinen vgl.Brandl-Bredenbeck und Brettschneider (2003, S. 238ff.).

305 Ergebnisse einer Studie der Medizinischen Universität Lübeck;http://www.netdoktor.de/topic/doping/muskelwahn.htm, 25. Februar2005; http://www.aerzteblatt.de/pdf/95/44/a2778.pdf, 25. Februar2005.

Page 301: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 291 – Drucksache 15/6014

staltung der Reisen keinerlei spezifischen gesetzlichenVorgaben. Die professionelle und vor allem verantwor-tungsbewusste Reiseorganisation – gewerblicher wie ge-meinnütziger Veranstalter – trägt jedoch wesentlich zurQualität der Reise und ihrer Bedeutung als bildungs- undsozialpolitischem Lernort bei. Für die Stärkung und Qua-litätssicherung organisierter Kinder- und Jugendreisensetzt sich das Bundesforum Kinder- und Jugendreisene.V. ein, das zu diesem Zweck eine Reihe von Qualitäts-kriterien für betreute Gruppenreisen zusammengestellthat, die Reiseveranstaltern als Orientierungshilfe dienenkönnen. Danach sollte es Möglichkeiten geben, Erfah-rungs- und Lernangebote außerhalb von Elternhaus undSchule kennen zu lernen, das Reiseprogramm aktiv mit-zugestalten sowie die Begegnung und das Zusammen-leben mit Fremden und den Umgang mit der eigenenGeschlechterrolle bzw. dem anderen Geschlecht einzu-üben.306

Unter dem Dach des Bundesforums sind eine Reihe vonReiseanbietern mit unterschiedlicher Rechtsform undWertorientierung als Mitglieder oder Partner organisiert.Dazu gehören neben gemeinnützigen auch gewerblicheAnbieter, wie z. B. RUF Jugendreisen, GTI Tours undKI JU Reisen. Als Mitglieder erkennen die Reiseveran-stalter die Qualitätskriterien des Vereins an, sind jedochnicht zu deren Befolgung verpflichtet. Die Einhaltung ho-her Qualitätsmaßstäbe beruht vielmehr auf einer freiwilli-gen Selbstverpflichtung der Kinder- und Jugendreisean-bieter. Für einen Marktführer wie RUF Jugendreisen stehtbeispielsweise Aktivurlaub und der Erholungs- und Frei-zeitcharakter bei den Reiseangeboten im Vordergrund.Für Gruppenreisen garantiert der Veranstalter eine kom-petente Reiseleitung und -betreuung, sichere An- und Ab-reisen, angemessene Unterkünfte, die Bereitstellung vonMaterial (z. B. Sportgeräte etc.) und ein breites Angebotan organisierten Ausflügen und (Sport-)Programmen.307

(b) Rechtliche Regelungen, Personal

Für Vertragsabschlüsse von Kinder- und Jugendreisengelten die EU-Richtlinien des Pauschalreiserechts sowiedie vertragstypischen Pflichten des Reisevertragsrechtsnach § 651a bis 651m BGB; hinzu kommen die gesetzli-chen Regelungen der Allgemeinen Geschäftsbedingun-gen (Kosmale/Schwerin 2003).

Eine gesetzliche Altersuntergrenze für die Teilnahme anKinder- und Jugendreisen gibt es nicht. Reiseangebotebeginnen teilweise für Kinder ab 6 bis 8 Jahren, in derRegel und häufiger jedoch für Kinder ab 12 Jahren.

Des Weiteren bestehen keine eindeutigen Regelungenbzw. Verpflichtungen, speziell ausgebildetes (Betreu-ungs-)Personal zu beschäftigen. In der Organisationsana-lyse des Reisenetz (2000) wurde gleichwohl deutlich,dass der Großteil der Reiseanbieter neben Saisonarbeits-

kräften auch fest angestelltes, qualifiziertes Personal be-schäftigt, vornehmlich (Sozial-)Pädagogen/Pädagoginnen,Reiseverkehrskaufleute und Betriebswirte/Betriebswirtin-nen. Spezielle Qualifikationen für die Einstellung ihrerJugendreiseleiter und Jugendreiseleiterinnen setzen z. B.RUF Jugendreisen308 voraus. Zu den Kriterien gehörendie Absolvierung eines Erste-Hilfe-Kurses sowie einesDLRG-Kurses, ein Mindestalter von 21 Jahren sowienachweisbare Erfahrungen im Umgang mit Jugendlichen.Daraufhin erfolgt eine zusätzliche Ausbildung durch dasUnternehmen, bei dem die Gruppenreiseleiter/innen aufihre weiteren Aufgaben (Animation, Länderkunde, Päda-gogik, rechtliche Grundlagen etc.) vorbereitet werden.

(c) Kosten und Dauer

Die meisten Kinder- und Jugendreisen dauern durch-schnittlich 10 Tage. An zweiter Stelle folgen Angebotemit einer durchschnittlichen Dauer von 17 Tagen. DiePreise liegen im Bereich zwischen 200 Euro und500 Euro, wobei der Durchschnittspreis für Kinderreisenca. 340 Euro, für Jugendreisen ca. 480 Euro beträgt (Kos-male 2003).

(d) Nutzungsquoten

Nach Information der Leipziger „Ferienbörse“ ist vonetwa 1 000 Anbietern von Kinder- und Jugendreisen inDeutschland auszugehen, von denen ca. 130 gewerblichtätig sind (Kosmale 2003). Das Angebot an staatlich ge-förderten Reisen ist über die vergangenen Jahre deutlichgesunken, während kommerzielle Anbieter nach wie vorstark nachgefragt werden. Gemessen an den Umsatzzah-len entfällt der größte Anteil der Reisen auf Schul- undKlassenfahrten, gefolgt von betreuten Kinder- und Ju-gendreisen und Gruppen(ferien)fahrten (Reisenetz 2000).

Die meisten Angebote in der Kategorie Kinder- und Ju-gendreisen richten sich an Jugendliche und Heranwach-sende zwischen 16 und 18 Jahren. Dies bedeutet in ersterLinie das Reisen ohne Eltern; jüngere Kinder bis etwa11 Jahre bevorzugen noch das Reisen mit der Familie,während das Gruppenreisen mit Gleichaltrigen klar zumAblösungsprozess von den Eltern gehört und in einem hö-heren Alter stattfindet.309 Bei Kinder-Urlaubsreisen, dieohne Erwachsene aus dem eigenen Haushalt stattfinden,handelt es sich meist um Reisen mit Jugendgruppen undVereinen oder aber mit Verwandten und Freunden, dienicht im eigenen Haushalt leben.

Häufigstes Transportmittel für betreute Gruppenreisensind Busse. Mit 88 Prozent dominiert der Anteil an Bus-reisen deutlich vor der Beförderung mit der Bahn oderdem Flugzeug. Die Unterbringung während des Urlaubs

306 Vgl. http://www.bundesforum.de/leitsaetze.htm, 7. Januar 2005;http://www.bundesforum.com/PRKonzept2.htm, 3. März 2005.

307 Vgl. http://www.ruf.de/a/desti/gruppenreisen.asp?AgenturNr=1&Pa-ra=&EMail=&session_id=a491521894773348, 3. März 2005.

308 Vgl. http://www.ruf.de309 Das Angebot nimmt für die höheren Altersgruppen nicht ab, sondern

wird lediglich unter einer anderen – allgemeinen – Tourismuskatego-rie verortet. Insbesondere gemeinnützige Träger halten sich an diegesetzliche Vorgabe und konzentrieren sich auf die Jugendhilfeaufga-ben im Reisebereich (Kosmale 2003, S. 18).

Page 302: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 292 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

erfolgt fast immer in Hotels, während Gästehäuser, Zelte,Bungalows oder andere Unterkünfte oft nicht (mehr) dengewünschten Standards des jugendlichen Reiseklientelszu entsprechen scheinen.

Das am häufigsten ausgewählte Reiseziel ist Spanien, ge-folgt von Ungarn, Italien und Reisen innerhalb Deutsch-lands (Kosmale 2003).

Die Reiseintensität von Kindern und Jugendlichen inDeutschland ist insgesamt überdurchschnittlich hoch.2002 haben insgesamt 2,7 Mio. deutsche Jugendlichezwischen 14 und 17 Jahren und 6,1 Mio. junge Erwach-sene zwischen 18 und 27 Jahren Urlaubsreisen unternom-men. Bei Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren liegtder Anteil der Reiseintensität bei 84 Prozent; das ent-spricht einer Reisehäufigkeit von 1,3 Reisen pro Reisen-der/Reisendem im Durchschnitt der Bevölkerung (1,3).Bei den 18- bis 27-Jährigen liegt die Reiseintensität bei77 Prozent und bei einer Pro-Kopf-Reisehäufigkeit von1,3 Reisen. Die Reiseintensität im Durchschnitt der Ge-samtbevölkerung liegt dagegen nur bei 75 Prozent (NIT2003). Weiterhin wurde festgestellt, dass 22 Prozent allerUrlaubsreisen von Deutschen im Jahr 2002 in Begleitungvon Kindern bis 13 Jahren stattfanden. Das entsprichtetwa 14 Mio. Urlaubsreisen, die Erwachsene mit Kindernunternahmen. Daneben waren 1,1 Mio. Urlaubsreisen vonJugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren ohne BegleitungErwachsener zu verzeichnen.310

(e) Stärken und Schwächen

Reisen leisten einen wichtigen Beitrag zur Sozialisationsowie zum interkulturellen Lernen von Kindern und Ju-gendlichen. Im Gruppenverband des betreuten Reisenserwerben sie praxisorientiert Fachwissen und Sozialkom-petenz im Umgang miteinander.311 Dabei findet dieentwicklungspsychologische und bildungspolitische Be-deutung des Reisens noch zu wenig öffentliche Aufmerk-samkeit und Unterstützung, was sich nicht nur in einemMangel an gesetzlichen Bestimmungen zur Einrichtungbundesweiter und trägerübergreifender Qualitätsstan-dards äußert.

Gewerbliche Anbieter beklagen zudem, dass sie als pri-vate Veranstalter selten direkt in die Schulen vordringenkönnen und Verwaltungsvorschriften in den einzelnenBundesländern ihren Service zusätzlich erschweren. DieVereinigung verschiedener Träger im Bundesforum Kin-der- und Jugendreisen zeigt, dass eine grundsätzliche Be-reitschaft zum Austausch zwischen gemeinnützigen undgewerblichen Anbietern besteht. Abgesehen von dem

Ziel, soziale Kompetenz bei Kindern und Jugendlichen zufördern, soll mit dem Bildungsgedanken aber auch derDienstleistungsaspekt verbunden werden, da Kinder- undJugendreisen unstrittig einen bedeutenden Faktor derTourismuswirtschaft darstellen.312

6.4 Zum Verhältnis von Jugendhilfe und Schule

Das Verhältnis von Jugendhilfe und Schule hat sich seitder öffentlichen Diskussion um das schlechte Abschnei-den Deutschlands in der PISA-Studie von einem fast nurin der (sozial-) pädagogischen Fachöffentlichkeit disku-tierten Thema zu einem Topos von wachsender gesell-schafts- und bildungspolitischer Relevanz gewandelt. Dieproblemorientierte Sicht auf die in Deutschland im inter-nationalen Vergleich ineffiziente individuelle Förderungvon Kindern und Jugendlichen aus bildungsfernen sozial-strukturellen Kontexten verbindet sich dabei zumindest ineinem der aktuellen Diskussionsstränge mit der bildungs-theoretisch zu reflektierenden Frage nach den Chanceneiner Gestaltung anregender Lern- und Lebensbedingun-gen für alle Kinder und Jugendlichen. Aus einer solchenbreiten Gestaltungsperspektive wird dann Schule für Ju-gendhilfe nicht mehr nur als sozialräumlich relevanterLebens-, sondern auch als Lernort interessant; unterricht-lich-formale Lernformen gelten in der Folge als reform-pädagogisch wandlungsbedürftig, und zudem als durchden Einbezug außerschulischer Akteure, Lernformen undLernorte als ergänzungsbedürftig. Dabei „erweist sich dasThema ‚Kooperation von Jugendhilfe und Schule’ in derjüngsten fachöffentlichen Debatte als zentrale Perspek-tive und Hauptvoraussetzung einer bedarfsgerechten undlebensweltorientierten Gestaltung von Bildungs- und Er-fahrungsräumen für junge Menschen in der modernenGesellschaft. Kooperation von Jugendhilfe und Schulewird mit sehr weitreichenden pädagogischen und konzep-tionellen Zielsetzungen verbunden (…). Allerdings ent-spricht dieser vor allem programmatisch dominierten Ver-ortung (noch) nicht die umfassende Entwicklung einerKooperationspraxis. Die Thematisierung der Notwendig-keit von Kooperation von Jugendhilfe und Schule ist un-trennbar mit dem Beklagen von Kooperationsproblemenund -erschwernissen in der Praxis verbunden“ (Maykus2005, S. 6).

Diese Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeitlässt sich zunächst darauf zurückführen, dass die obenskizzierte breite Gestaltungsperspektive bei den relevan-ten institutionellen und politischen Akteuren derzeit nochkeineswegs dominiert. Sie steht relativ unvermittelt ne-ben einer schul- und leistungszentrierten Sicht, in der dieKinder- und Jugendhilfe und andere außerschulische Ak-teure lediglich in einer ergänzenden, schulische Funkti-onsdefizite kompensierenden Funktion wahrgenommenund eingebunden werden. Umgekehrt reflektiert auch die

310 Im Jahr 2002 fanden insgesamt 14,3 Mio. Urlaubsreisen mit Kindernbis 13 Jahren statt, davon 4,5 Mio. ohne Begleitung von Erwachse-nen aus dem eigenen Haushalt. Rund 3,6 Mio. Urlaubsreisen unter-nahmen Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren, davon wiederum1,1 Mio. ohne und 2,6 Mio. mit Begleitung von Erwachsenen. JungeErwachsene (18 bis 27 Jahre) unternahmen im gleichen Jahr insge-samt 7,7 Mio. Urlaubsreisen (Quelle: Reiseanalyse der Forschungs-gemeinschaft Urlaub und Reisen (F.U.R.) 2003, Danielsson u. a.2003a, 2003b).

311 Vgl. http://www.bundesforum.com/PRKonzept2.htm, 3. März 2005.312 Vgl. Kosmale 2003; http://www.bundesforum.com/downloads/

Flyer_Leitfaden.pdf, 3. März 2005.

Page 303: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 293 – Drucksache 15/6014

Kinder- und Jugendhilfe die systembezogene Koopera-tion mit Schule nur unzureichend.313

6.4.1 Systematischer und historischer Kontext der getrennten Entwicklung von Jugendhilfe und Schule

Die Überführung des viel zitierten Leitziels einer system-bezogenen Kooperation von Jugendhilfe und Schule inein klares gesellschafts- wie auch fachpolitisches Hand-lungsprogramm kann nur insoweit gelingen, wie Ursa-chen, Gründe und Motive der bislang getrennten Ent-wicklung beider Institutionen verstanden werden; dieentsprechenden Zusammenhänge sollen daher im Folgen-den in strukturdimensionaler, gesetzlicher und histori-scher Perspektive skizziert werden.

(a) Strukturdimensionale Ausprägungen des Verhältnisses von Jugendhilfe und Schule

Das institutionelle Verhältnis von Jugendhilfe und Schuleerweist sich auf der Ebene der beiden Gesamtsysteme zu-nächst und vor allem einmal als die Geschichte einesNicht-Verhältnisses. Schule und Jugendhilfe haben sichin Deutschland seit den 20er-Jahren des vergangenenJahrhunderts getrennt voneinander entwickelt. Mit derReichsschulkonferenz von 1920 sind faktisch erst die Vo-raussetzungen für eine eigenständige Entwicklung der Ju-gendhilfe geschaffen worden – dies führte schließlich zurVerabschiedung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes(RJWG). Jugendhilfe und Schule hatten und haben, trotzweitgehend identischer Zielgruppen, dem Grundsatz nachverschiedene Aufgaben, unterschiedliche Funktionen undverschiedene gesetzliche Grundlagen – sie sind mithinzwei Systeme, die strukturell nicht aufeinander bezogensind. Dies unterscheidet Deutschland von europäischenNachbarländern wie Schweden, Finnland oder Frank-reich.314

Die Kinder- und Jugendhilfe hat sich im Verlauf ihrer Ge-schichte von einer in ihren Kernbereichen streng polizei-und ordnungsrechtlichen Kontrollinstanz in Richtung ei-nes präventiven, bildungsorientierten Instrumentariumsinstitutionell ausgeweitet und weiterentwickelt. Ihre in§ 1 SGB VIII fixierte Aufgabe, „positive Lebensbedin-gungen für junge Menschen und ihre Familien sowie einekinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oderzu schaffen“, führte zur Entfaltung einer eigenständigensozialpädagogischen Perspektive, die Kinder und Jugend-liche nach Möglichkeit innerhalb ihrer lebens- und all-tagsweltlichen Beziehungsnetze fördert, dabei in hohemMaße auf die Partizipation ihrer Klientel setzt, besondersfür Benachteiligte Angebote bereitstellt und zudem weit-

gehend nach dem Freiwilligkeitsprinzip verfährt. In ihrenpädagogischen Lernsettings orientiert sich die Kinder-und Jugendhilfe an Prinzipien wie dem Gegenwarts-, Er-fahrungs-, Gruppen- und Erlebnisbezug des Lernens.Lernsituationen und Lernorte werden in der Regel nichtformal definiert, sondern weisen vielmehr einen offenenHorizontcharakter auf. Diese sozialpädagogischen Per-spektiven kontrastieren deutlich mit individualistischerLeistungsbewertung (Notengebung), mit Unterricht alseinseitig durch die Lehrenden vorstrukturiertem Lernset-ting sowie mit einer auf die Distanzierung von lebens-und alltagsweltlichen Kontexten ausgerichteten, vorran-gig auf kognitive Entfaltung abzielenden schulischenLehrform. Die letztgenannten Charakteristika definierenSchule als einen Lernort, der die Schüler/innen primär aufdas spätere Leben vorbereiten soll und in dieser Hinsichteine gewisse „gesellschaftliche Platzanweiserfunktion“hat; diese Funktion wird in Deutschland durch die im in-ternationalen Vergleich sehr frühe Eingangsselektivitätdes viergliedrigen315 Schulsystems besonders stark be-tont. Die in diesen hier nur grob und unvollständig skiz-zierten institutionellen Kontexten und Zielbestimmungensituierte Schulpädagogik hat dann im Vergleich zur sozi-alpädagogischen Nachbardisziplin auch ganz andere Ar-beitsprinzipien und Methoden entfaltet. Das konstatierteNicht-Verhältnis von Jugendhilfe und Schule auf derEbene der beiden Gesamtsysteme begründet sich zu ei-nem guten Teil aus dieser pädagogischen Perspektiven-differenz. Wenn es bislang nicht gelungen ist, diese Diffe-renz von einem sprachlosen Nebeneinander in einarbeitsteilig-konstruktives Miteinander zu transformie-ren, dann müssen zur Erklärung dieses Missstandes wei-tere, in der institutionellen Verfasstheit beider Systemeliegende Gründe gesucht werden.

Mit der Forderung nach einer systembezogenen Koopera-tion zweier Institutionen wird unterstellt, dass beide Be-reiche auf der gleichen gesellschaftlichen Handlungs- undEntscheidungsebene (gesetzlich) verankert sind. Diestrifft auf Jugendhilfe und Schule nicht zu. Während dieGestaltung von Schule fast ausschließlich der „Kulturho-heit der Länder“ obliegt, welche über die Ständige Kul-tusministerkonferenz ein Mindestmaß an länderübergrei-fenden Gemeinsamkeiten sicherzustellen suchen, ist dasKinder- und Jugendhilfegesetz Bundesrecht, das zurzeitnoch im Rahmen der „konkurrierenden Gesetzgebung“durch Länderrecht ergänzt und ausgestaltet werden kann;die operative und infrastrukturelle Umsetzung der gesetz-lichen Vorgaben obliegt dann den Kommunen.

Die einzelne Schule ist in Deutschland institutionell invergleichsweise hohem Maße unselbstständig. So sindSchulen keine rechtsfähigen Subjekte, können daher bei-spielsweise kein Budget selbstständig verwalten316, sindin ihrer Lernzielbestimmung und curricularen Ausgestal-313 So fällt auf, dass im Rahmen der jüngsten Reformvorhaben des Kin-

der- und Jugendhilfegesetzes – genannt seien hier nur die Stichworte„Tagesbetreuungsausbaugesetz“ (TAG), „Kinder- und Jugendhilfe-weiterentwicklungsgesetz“ (KICK)“ und „Kommunalentlastungsge-setz“ (KEG) (vgl. Glossar) – einer stärkeren Akzentuierung der Koo-peration von Kinder- und Jugendhilfe mit Schule keinerleiBedeutung beigemessen wird.

314 Zum unterschiedlichen Verständnis von Schulsozialarbeit im interna-tionalen Vergleich vgl. Nieslony 2004.

315 Der Sonderschulbereich wird, wie schon an anderer Stelle erwähnt,in der geläufigen Rede vom „dreigliedrigen“ Schulsystem einfachausgeblendet.

316 Zum Teil behelfen sich Schulen dabei vermittels der Gründung eige-ner Fördervereine, über die dann beispielsweise Honorarkräfte einge-stellt und finanziert werden können.

Page 304: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 294 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

tung stark von der „inneren Schulaufsicht“ in Gestalt derKultusministerien und deren nachgeordneten Behörden(Staatliches Schulamt bzw. Oberschulamt) und in allenlogistischen Fragen (Schulstandortwahl, Aufnahmekapa-zitäten, bauliche Veränderungen etc.) von der „äußerenSchulaufsicht“ in Gestalt der kommunalen Schulbehör-den abhängig.317 Diese auf Länderebene stark zentrali-sierte institutionelle Struktur kontrastiert mit dem dezent-ralen Charakter der Kinder- und Jugendhilfe, derenwichtigste Handlungsebene die der Kommunen ist. Nachdem Subsidiaritätsprinzip sind die öffentlichen Jugendhil-feträger aufgefordert, operative Funktionen (jenseits ihrerhoheitlichen Aufgaben, etwa beim Vorliegen von Kindes-wohlgefährdungen) nach Möglichkeit an „freie Träger“der Kinder- und Jugendhilfe zu übertragen, was – zumin-dest in den alten Bundesländern – zur Entfaltung einerbreiten und in jeder Hinsicht pluralen Trägerlandschaftgeführt hat. Diese Träger sind im Rahmen der Jugendhilfe-ausschüsse auch an administrativen Entscheidungen derJugendämter und der fachpolitischen kommunalen Dezer-nate zu beteiligen. Dieses stark dezentralisierte institutio-nelle Gepräge wird noch durch die Autonomie auf derEbene der Einzeleinrichtungen der freien Träger ver-stärkt; so haben beispielsweise die großen überregionalenTräger- und Vernetzungsstrukturen (z. B. Wohlfahrts- undJugendverbände sowie Jugendringe) einen eher geringenEinfluss auf die Arbeit ihrer einzelnen Mitgliedsorganisa-tionen, etwa im Hinblick auf die Durchsetzung von Qua-litätsstandards. Sie verfügen über keine Weisungsbefug-nis und können deshalb auch nicht auf dem Wege vonErlassen „steuern“.

Dieser partizipativ ausgerichtete institutionelle Struktur-aufbau der Kinder- und Jugendhilfe in freier Trägerschaftist im Bereich der öffentlichen Verwaltung in Deutsch-land einzigartig, erschwert aber damit auch die systembe-zogene Kommunikation und Kooperation mit anderen in-stitutionellen Partnern, erst recht jene mit den 16vergleichsweise zentralistisch verfassten Schulsystemen.

(b) Gesetzliche Kooperationsgebote

Betrachtet man vor dem skizzierten Hintergrund die ge-setzlichen Normierungen im Hinblick auf die Koopera-tion von Jugendhilfe und Schule, so ergibt sich in Anbe-tracht der Kulturhoheit der Länder ein schwerüberschaubares Feld von schulgesetzlichen Bestimmun-gen, Durchführungsverordnungen und Richtlinien. Fastalle Bundesländer haben inzwischen Regelungen zur Ko-operation von Schule und Jugendhilfe in ihre Schulge-setze aufgenommen. Lediglich in zwei Ländern findensich keinerlei Querbezüge zur Jugendhilfe:

– In einer Reihe von Ländern wird Schule in Form einerallgemeinen (General-)Klausel zur Zusammenarbeitmit der Jugendhilfe aufgefordert (Bayern, Berlin,Brandenburg, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vor-pommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen,Schleswig-Holstein, Thüringen). Auf diese Regelun-

gen können sich unterschiedliche Formen der Zusam-menarbeit beziehen; sie eröffnen ein breites Spektrumvon Kooperationsmöglichkeiten. In einigen Ländernfindet sich dieser Aspekt in abgeschwächter Form alsAufgabe des Schulleiters (Baden-Württemberg, Hes-sen, Rheinland-Pfalz).

– Es finden sich gesonderte Hinweise auf eine Zusam-menarbeit von Grundschulen und Kindertagesstätten(Bayern, Mecklenburg-Vorpommern), um die Phaseder Einschulung für Kinder gemeinsam zu gestalten.In Thüringen ist die Schule zur Zusammenarbeit mitaußerschulischen Einrichtungen der Bildung und Er-ziehung bei Einschulung und Schulwechsel aufgefor-dert.

– In einigen Ländern wird der Schule eine Mitteilungs-pflicht gegenüber dem Jugendamt im Falle von Fehl-verhalten von Schülern und Schülerinnen (Branden-burg) oder des Einsatzes von Ordnungsmaßnahmen(Baden-Württemberg) auferlegt. In Berlin wird derschulpsychologische Dienst ausdrücklich zur Koope-ration mit den Jugendämtern verpflichtet.

– Vereinzelt ist die Möglichkeit der Einbindung von So-zialpädagogen/Sozialpädagoginnen bzw. anderen päd-agogischen Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen der Schulein schulische Gremien vermerkt. Sie können als bera-tende Mitglieder an der Schulkonferenz teilnehmen(Niedersachsen, Thüringen, Berlin).

– Eine Abstimmung zwischen Schulentwicklungspla-nung und Jugendhilfeplanung (sowie gegebenenfallsanderen kommunalen Planungsprozessen) ist bislangdie Ausnahme und taucht derzeit nur im Schulgesetz-Entwurf von Berlin auf. 318

Der Blick auf die Länderebene lässt sich wie folgt resü-mieren: „Sowohl in den Ausführungsgesetzen als auchden Schulgesetzen lässt sich ein Schwerpunkt auf organi-satorisch-koordinative Regelungen zur Kooperation vonJugendhilfe und Schule erkennen, die vor allem struktu-relle Rahmenbedingungen dieses Handlungsfeldes zu op-timieren versuchen. Dahingegen wird die Ausgestaltungdes Feldes an sich im Sinne einer inhaltlich-konzeptionel-len Profilschärfung deutlich seltener in den Blick genom-men. Dies geschieht am ehesten durch Erlasse, Richtli-nien und Förderprogramme, die zwar die Entwicklungder Kooperation von Jugendhilfe und Schule deutlich be-flügelt haben, aber aufgrund der in der Regel befristetenForm das Risiko kurzfristiger Aufschwünge in sich tra-gen, das Feld also allein nicht dauerhaft zu stabilisieren

317 Deren kommunale Schulentwicklungspläne sind wiederum vom zu-ständigen Kultusministerium wie auch vom örtlichen Magistrat bzw.Kreisausschuss zu genehmigen.

318 Eine detailliertere Übersicht der landesspezifischen Regelungen lie-fern Maykus/Hartnuß (2004). In ihrer Übersicht beziehen sie sinn-vollerweise neben den Gesetzestexten auch die für die Regulierungder Kooperation relevante Ebene der Ausführungsbestimmungen so-wie der Erlasse, Förderprogramme und Richtlinien ein (ebd.,S. 578ff.). Das Problem derartiger Synopsen ist, dass sie im Grundemindestens halbjährlich zu aktualisieren wären, da sich die Rechtsla-ge nicht zuletzt aufgrund des Ausbaus schulbezogener Ganztagsan-gebote gegenwärtig sehr dynamisch gestaltet. So entspricht auch diegenannte Synopse mit Stand August 2003 bereits nicht mehr voll dergegenwärtigen Rechtslage.

Page 305: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 295 – Drucksache 15/6014

vermögen, wenn sie nicht auf einer sicheren Basis derKooperation fußen. Damit bleibt letztlich ein Defizit anverbindlichen und verlässlichen Rahmungen der Koope-ration sowie an fachlicher Konkretisierung schulbezoge-ner Angebote der Jugendhilfe auf Länderebene bestehen“(Hartnuß/Maykus 2004a, S. 586).

Es lässt sich eine Asymmetrie der Rechtslage im Hinblickauf die wechselseitigen Kooperationsverpflichtungen inJugendhilfe und Schule konstatieren. Der – ebenfalls nurschwach ausgeprägten – Kooperationsverpflichtung inder Kinder- und Jugendhilfe fehlt dabei auf Seiten derSchule größtenteils eine Entsprechung. Geregelt ist dasZusammenwirken des Jugendamtes mit der Schule im§ 81 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes: „Die Trägerder öffentlichen Jugendhilfe haben mit anderen Stellenund öffentlichen Einrichtungen, deren Tätigkeit sich aufdie Lebenssituation junger Menschen und ihrer Familienauswirkt, insbesondere mit Schulen und Stellen derSchulverwaltung (…) zusammenzuarbeiten.“ Das Sozial-gesetzbuch VIII fixiert darüber hinaus weitere Kooperati-onsverpflichtungen: In § 1 Abs. 3 Ziffer 4 SGB VIII wirddas System der Jugendhilfe dazu aufgefordert, über dieunmittelbare Zuständigkeit hinaus auf andere politischeund fachliche Handlungsfelder mit dem Ziel der Realisie-rung positiver Lebensbedingungen für junge Menschenund ihre Familien Einfluss zu nehmen. Kinder- und Ju-gendhilfe ist somit immer auch Querschnittsaufgabe.Weitere Kooperationsverpflichtungen finden sich in § 4(Zusammenarbeit der freien und öffentlichen Kinder- undJugendhilfe), in § 36 (individuelle Hilfeplanung), in § 50(Mitwirkung an vormundschafts- und familiengerichtli-chen Verfahren), in § 52 (Mitwirkung an Verfahren nachdem JGG) und in § 80 (kooperative Jugendhilfeplanung).Überdies regeln § 5 (Wunsch- und Wahlrecht) und § 78(Arbeitsgemeinschaften) die Dinge so, dass Kinder- undJugendhilfe kooperativ sein muss.

Im Hinblick auf die schulbezogenen Angebote der Ju-gendhilfe hat der Bundesgesetzgeber per Landesrechts-vorbehalt (§ 15 SGB VIII) den Bundesländern im Bereichder Jugendförderung und Jugendpflege den Auftrag er-teilt, Aufgaben und Leistungen näher zu regeln – Konkre-tisierungen der Kooperation zwischen Jugendhilfe undSchule müss(t)en hier ebenso getroffen werden wie in denSchulgesetzen der Bundesländer.

In den Ausführungsgesetzen zum SGB VIII finden sichzahlreiche Regelungen mit deutlich organisatorisch-koor-dinativem Charakter, die sowohl strukturelle als auch ein-zelfallbezogene Aspekte umfassen. Darunter fallen Vor-gaben zur Aufnahme von Vertretern aus der Schule, derSchulverwaltung und Schulbehörden als beratende Mit-glieder in die kommunalen und Landesjugendhilfeaus-schüsse. Elf Bundesländer formulieren solche Regelun-gen ausdrücklich. Daneben wird – wenn auch deutlichseltener – die Beteiligung von Schulen an der kommuna-len Jugendhilfeplanung (Brandenburg, Hessen) sowieeine Vernetzungs- und Gemeinwesenorientierung mit be-sonderer Berücksichtigung des Schulbezuges festge-schrieben. Koordinative Festlegungen zwischen Jugend-hilfe- und Schulbereich werden auch hinsichtlich der

Sicherstellung des Schulunterrichts bei der Gewährungvon Hilfe zur Erziehung in einer Einrichtung getroffen. Ineinigen Bundesländern (Brandenburg, Rheinland-Pfalz)wird im Rahmen der Kindertagesbetreuungsgesetze aufeine enge Kooperation zwischen Kindertageseinrichtungund Grundschule gesetzt, damit der Übergang der Kindervon der vorschulischen Einrichtung in die Grundschulegemeinsam gestaltet werden kann. Allerdings bleibenauch diese Regelungen auf der organisatorisch-koordina-tiven Ebene, ohne konkrete Hinweise auf Inhalte und For-men der Zusammenarbeit zu geben.

Resümierend lässt sich festhalten, dass sich der einheitli-che fachpolitische Wille zur „Schaffung eines Gesamtzu-sammenhangs von Bildung, Betreuung und Erziehung“,wie er von einer gemeinsamen Arbeitsgruppe von Kultus-und Jugendministerkonferenz schon im Jahr 2002 formu-liert worden ist, auf der Ebene der Ländergesetzgebungbislang nicht niedergeschlagen hat. Zugleich haben dieskizzierten pädagogisch-disziplinären und institutionellenEntwicklungen die Separierung der Systeme Schule undJugendhilfe verstärkt, aber auch die je eigenen Stärkender Systeme profiliert. Jeder Versuch einer Transformie-rung des Nicht-Verhältnisses der beiden Systeme mussdiese komplexen Konstellationen sowohl in ihren struk-turdimensionalen und rechtlichen als auch in ihren imFolgenden näher zu beleuchtenden historischen Kontext-bedingungen reflektieren.

(c) Historische Reflexion des Verhältnisses von Jugendhilfe und Schule

Auch wenn die Begrifflichkeit „Schulsozialarbeit“ kaum40 Jahre alt ist, ist sie der Sache nach, nämlich soziale Ar-beit mit benachteiligten Kindern und Jugendlichen, einevor 200 Jahren begonnene Entwicklung. Hier können An-fänge einer pädagogischen Verknüpfung von bildungs-und sozialpolitisch zu verortenden Aktivitäten, wie siespäter dann auch für die Zusammenarbeit von Jugendhilfeund Schule tragend werden sollten, identifiziert werden.Volksschule gar ist, folgt man Gertrud Bäumer (1929),eine sozialpädagogische Schöpfung. „Schulische wie so-zialpädagogische Einrichtungen (sind) als komplemen-täre Bereiche gesellschaftlicher Reproduktion durchErziehung zu begreifen, schulischerseits durch die Quali-fizierung mittels Selektion für das Beschäftigungssystem,seitens der Sozialpädagogik durch die integrative Auf-gabe, indem sie Hilfe an den vielen Übergängen undKonfliktstellen leistet und Schäden ausbessert, die demEinzelnen dabei zugefügt werden. Schule wie Sozialpä-dagogik orientieren sich – so Mollenhauer – an dem Bildeiner funktionierenden Gesellschaft und eines Menschen,der möglichst schadlos in ihr existieren soll. Durch dieVermittlung bürgerlicher Normen sind beide Instanzenmit unterschiedlichen Mitteln bemüht, Massenloyalitätherzustellen“ (Homfeldt/Schulze-Krüdener 2001, S. 9).

Die heutige Abgrenzung von Schule und Jugendhilfe istdas Ergebnis funktionaler und institutioneller Ausdiffe-renzierung. Ausgangspunkt war dabei der Versuch derAbwehr desintegrativer Kräfte. Diese erwuchsen aus derAuflösung von Ständestrukturen und der Pauperisierung

Page 306: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 296 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

großer Bevölkerungsanteile (Bettmer/Prüß 2001,S. 1532). Mit dem Beginn der Industrialisierung setztesich für die unteren sozialen Schichten eine staatlich ver-antwortete schulische Ausbildung durch. Schule und Ein-richtungen der sozialen Arbeit können dabei als komple-mentäre Bereiche mit dem Ziel der gesellschaftlichenReproduktion durch Erziehung verstanden werden: DieVolksschule hatte dabei den doppelten Auftrag, Verwahr-losung zu verhindern und Qualifikation zu ermöglichen.

Unter dem steigenden Druck aufsteigender Kriminalitätund der „Verwahrlosung“ von Jugendlichen begann sichin den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine au-ßerschulische Jugendpflege zu entwickeln: „Im letztenDrittel des 19. Jahrhunderts sah sich das Erziehungs- undBildungswesen zunehmenden Qualifikationsanforderun-gen ausgesetzt, die mit den sozialintegrativen Funktionennur noch schwer zu vereinbaren waren. Daraus resultie-rende Krisen erzeugten arbeitsteilige Konzepte im Bil-dungswesen“ (Homfeldt 2004, S. 47).

Mit dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922 und derdamit verbundenen Einrichtung des Jugendamtes als zen-traler Instanz wurde ein einschneidender Schritt zur ei-genständigen Institutionalisierung der Jugendhilfe getan –andererseits nutzten die zentralen Gesetze der 20er-Jahredes letzten Jahrhunderts, das Reichsjugendwohlfahrtsge-setz und das Reichsschulgesetz, die sich bietende Chancezu einer strukturfundierten Kooperation zwischen Ju-gendhilfe und Schule nicht (ebd., S. 51). Die differierendeEinteilung in Schuleinzugsbereiche einerseits und Be-zirkseinteilungen der sich etablierenden Jugendämter an-dererseits sind dafür ein beredter Beleg. Die Orientie-rungsgröße für die Fürsorge war dabei Familie und nichtSchule. Die ursprünglich präventiv gedachte Schulpflegeals Bindeglied zwischen Jugendhilfe und Schule verlor inder Folgezeit nach und nach ihre Funktion (ExpertiseOlk, S. 12319).

Es ist deutlich geworden, dass es sich bei der Separierungvon Familie, Schule und Jugendhilfe hinsichtlich derAufgabenzuschreibung und -teilung um eine (in Teilenspezifisch deutsche) historische Entwicklung handelt.Dabei war die Kinder- und Jugendhilfe bis zu Beginn des20. Jahrhunderts primär für Sicherheits- und Ordnungs-politik zuständig. Mit der Weimarer Verfassung und dersich etablierenden Gesetzgebungskompetenz für die Be-völkerungspolitik, die „Mutterschafts-, Säuglings-, Kin-der- und Jugendfürsorge“ in Artikel 7 Nr. 7 WRV, erhieltdiese ihre gesetzliche Grundlage (Expertise Füssel/Mün-der, S. 2). Mit dem Inkrafttreten des Reichsjugendwohl-fahrtsgesetzes (RJWG) am 1. April 1924 wurde eine ei-genständige Behörde für die Angelegenheiten derJugendwohlfahrt institutionalisiert. Inhaltlich war dasRJWG bestimmt durch ein fürsorgliches Schutzverständ-

nis, die Wahrnehmung des staatlichen Wächteramtes –der enervierende Eingriff steht damit im Vordergrund.

An dieser Ausrichtung änderte sich auch mit der Entste-hung der Bundesrepublik Deutschland zunächst nicht viel– erst mit Beginn der 1970er-Jahre entwickelte sich in derPraxis der Kinder- und Jugendhilfe der Ausbau präventi-ver Angebote. Die sukzessive Veränderung im Praxisver-ständnis der Jugendhilfe von der Fürsorge hin zur Sozial-pädagogik und Sozialleistung fand spätestens 1991 eineEntsprechung im SGB VIII: „Zusammenfassend lässtsich somit festhalten, dass ehedem die Funktion der Kin-der- und Jugendhilfe durch ihren fürsorgerischen Charak-ter geprägt war, heute jedoch der Schwerpunkt erkennbarbei den präventiven Leistungen, die den fürsorgerischenAufgaben vorgelagert sind, liegt. Durch diese präventiveAusrichtung soll erreicht werden, dass fürsorgerischeLeistungen nur noch in Ausnahmefällen erbracht werden,dort wo es aus dem Schutzauftrage für die Sicherung desWohls der Minderjährigen erforderlich ist, die in Artikel6,2 des Grundgesetzes (GG) formulierten fürsorgerischenAufgaben der staatlichen Gemeinschaft wahrzunehmen“(ebd., S. 4).

Die Krise der Weimarer Republik 1930 bedeutete für diegesamte Wohlfahrtspflege eine tief greifende Zäsur.Schnurr (1997) beschreibt sie mit der Ausdünnung vonstaatlichen Garantien sozialer Mindestsicherung, der Kür-zung von Leistungen in allen Bereichen und der Steige-rung repressiver Potenziale (Sachße/Tennstedt 1992).

Nach der doppelten Staatsgründung von 1949 (Kleßmann1982) verliefen die Entwicklungen in der DDR und in derBRD dann völlig unterschiedlich. Die Jugendhilfe in derDDR wurde sukzessive im Sinne des Schulzweckes in-strumentalisiert, die Jugendarbeit wurde weitgehend vonder FDJ betrieben: „Aus dem historischen Ablauf derAusdifferenzierung des Systems der Jugendhilfe in derDDR kristallisierte sich ein zunehmend eingegrenzterAufgaben- und Leistungsbereich heraus“ (BMJFFG1990, S. 306). In der Bundesrepublik begann sich dage-gen die Arbeitsteilung zwischen Jugendhilfe und Schuleerst in den 1960er-Jahren langsam zu verändern. Bis da-hin hatte die Schule die Zuständigkeit für normale, die Ju-gendhilfe dagegen für gefährdete und misslungene Sozia-lisationsverläufe (Expertise Olk; Tillmann 1982).

Ende der 1960er-, Anfang der 70er-Jahre war es dieDiskussion um die Bildungsreform, die nach auf dem„Leitbild Chancengleichheit“ zur Gründung von Gesamt-schulen führte und andererseits Anlass für die Auseinan-dersetzung mit der Integration sozialer Arbeit in Schulenbot (Maykus 2005, S. 6). Dieser Prozess verlief aber kei-neswegs bruchlos und führte auch nicht zur Anerkennungder Bildungsfunktion der Kinder- und Jugendarbeit durchdie Schule. Neben „dem katastrophalen Hinterherhinkendes Bildungssystems gegenüber den modernen Anforde-rungen“ (Hornstein 2002, S. 47) verwies allerdings dasvon Dahrendorf geprägte Motto „Bildung ist Bürger-recht“ (ebd.) bereits auf die Zieldimension, Kinder undJugendliche aus bildungsfernen Schichten zu mobilisie-ren, ihre herkunftsbedingten Benachteiligungen imSchulsystem zu überwinden, um Bildungsreserven besser

319 In dieser Zitierweise werden die Expertisen angegeben, die für den12. Kinder- und Jugendbericht erstellt wurden (vgl. die Auflistung imAnhang). Die Seitenzahlen beziehen sich auf die eingereichten Ma-nuskripte, d. h. dass sie nicht mit den Seitenzahlen der Expertisen inden vier für Herbst 2005 zur Veröffentlichung vorgesehenen Bändenübereinstimmen.

Page 307: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 297 – Drucksache 15/6014

ausschöpfen zu können. Mit dem „Deutschen Bildungs-rat“ existierte zudem ein Gremium, in dem Bund undLänder gemeinsam an einer grundlegenden Neukonzep-tion des Bildungswesens arbeiten wollten, wobei die Kin-der- und Jugendhilfe nur über den Kindergartenbereichdirekt involviert werden sollte: „Neuordnung des Bil-dungswesens heißt für die Bildungsreformer: schulischorganisierte Bildung, berufliche Bildung, Erwachsenen-bildung. Die Jugendhilfe als Teilsystem des Erziehungs-und Bildungssystems ist nicht Gegenstand der Reform-planung durch den Bildungsrat“ (ebd., S. 46).320

Die seinerzeit geplante Erweiterung des schulischen Bil-dungsauftrags bei gleichzeitiger Ausblendung der Kin-der- und Jugendhilfe wurde für die Jugendarbeit zumProblem: „Hier ‚stören’ die Ziele der Bildungsgesamtpla-nung das eingefahrene Verhältnis von Jugendarbeit undSchule insofern, als diese Planungen der Jugendarbeitgleichsam das Wasser abgraben und ihrer Legitimität be-rauben. Die Empfehlungen zur Sekundarstufe II (Deut-scher Bildungsrat 1974) schlagen vor, dass Politische Bil-dung, Musisch-kulturelle Bildung, Soziale Bildung (allesbisher Aufgaben der Jugendarbeit) künftig verstärkt undin neuen Arrangements … in der Schule stattfinden sol-len“ (ebd.). Diese Konzepte wurden in der Folge dannaber nicht umgesetzt.

In dieser Zeit entstehen die ersten Modelle von Schulsozi-alarbeit. Ihre Projekte sollten pragmatische Antwortenauf praktische Probleme und Schwierigkeiten (Schulver-weigerung, Vandalismus, Aggressivität), zu deren Lösungsozialpädagogische Angebote hinzugezogen wurden, lie-fern. Sie waren indes nicht Teil des pädagogischen Kon-zepts (Tillmann 1982). Bereits Mitte der 1970er-Jahreführte nachlassende politische Unterstützung zu einer Ab-senkung des Engagements. Überdies trugen die abeb-bende Finanzierung und die unterschiedlichen bildungs-politischen Ansätze zum Scheitern der Bemühungen bei(Raab u. a 1987).

In den 1980er-Jahren wurde Schulsozialarbeit dann stär-ker vor dem Hintergrund der Integration von ausländi-schen Kindern und Jugendlichen und dabei auftretenderProbleme diskutiert. Überdies stellten veränderte Bedin-gungen auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt und da-mit verbunden die Infragestellung der Verwertbarkeitschulischer Abschlüsse neue Anforderungen. WeitereThemenfelder eröffneten sich der Schulsozialarbeit durchdie Zunahme der Zahl allein erziehender berufstätigerMütter, die ganztägige Betreuungsformen nachfragten,ebenso wie durch Drogenkonsum, Aggressivität und ver-schieden Formen abweichenden Verhaltens (ebd.). In den1990er-Jahren stieg das Interesse an der Schulsozialarbeitdeutlich an. Hieraus resultierte eine rasch zunehmendeZahl einschlägiger Projekte und Modelle. Ursächlichhierfür sind Entwicklungen im Bereich des Schulsystemssowie vor allem auch die „Wende“ von 1989 mit den da-mit verbundenen Herausforderungen. Diskussionen umdie Qualität von Schule, Autonomie der Einzelschule

u. a. m. mündeten in die Notwendigkeit der stärkeren Zu-sammenarbeit von Jugendhilfe und Schule. Erst mit derEtablierung der Strukturmaximen des Achten Kinder-und Jugendberichts und der Verankerung als tätigkeits-feldübergreifendes Fachkonzept erhielt die Debatte umdas Verhältnis von Jugendhilfe und Schule neue Dyna-mik. Mit dem SGB VIII von 1990 liegt durch den § 13zudem erstmals ein – wenn auch nur provisorischer – An-knüpfungspunkt für die Schulsozialarbeit vor (Hartnuß/Maykus 2004a).

Jenseits der spezifischen Kooperationsform Schulsozial-arbeit waren bis zu der Zäsur durch die PISA-Studie vorallem die Schnittstellen „hochschwellige einzelfallbezo-gene Zusammenarbeit“ (Einleitung von „Hilfen zur Er-ziehung“ und/oder Feststellung von sonderpädagogi-schem Förderbedarf), Gemeinwesenarbeit („Öffnung vonSchule zum Gemeinwesen“, schulbezogene Aktivitätender Gemeinwesen-Einrichtungen) und Betreuungsleistun-gen der Jugendhilfe (z. B. Hort, Hausaufgabenbetreuung)von Bedeutung; dazu kamen die vielfältigen und zum Teilsehr intensiven Kooperationen an der SchnittstelleSchule/Beruf, die aber nicht Gegenstand dieser Betrach-tungen sind, sowie Projekte und Maßnahmen in weitereneinzelproblembezogenen Themenfeldern (z. B. Schulmü-digkeit oder „Teilleistungsstörungen“ wie Legasthenieetc.) oder Schnittstellen der Zusammenarbeit (z. B. Kin-dergarten/Grundschule sowie Sonderschulen für Erzie-hungshilfe, Heimunterbringung). Insgesamt kann manvon einem Primat der Erziehungs- und Betreuungsaktivi-täten in der inter-institutionellen Zusammenarbeit in die-ser Zeit sprechen.

Insbesondere in den 1990er-Jahren haben sich die koope-rationsbezogenen Themenfelder und Schnittstellen alsodiversifiziert und die Aktivitäten auf kommunaler Ebene,vor allem in den alten Bundesländern, intensiviert. In denneuen Ländern wurden flächendeckend landesweite Ko-operations- und Arbeitsstellen aufgebaut, über die Pro-gramme zur Intensivierung der inter-institutionellen Ko-operation angeregt und gefördert wurden und werden,während in den alten Ländern bereits die Vernetzung undder Wissenstransfer zwischen bestehenden Arbeitsansät-zen sowie die Institutionalisierung und infrastrukturelleUmsetzung auf kommunaler oder regionaler Ebene aufder Agenda standen. Diese Ost-West-Unterschiede habensich seither – nicht zuletzt infolge der disparaten demo-grafischen Entwicklungen – zumindest nicht verringert.Weitere Divergenzen zwischen alten und neuen Ländernzeigen sich in der Versorgung mit Hortplätzen, in diesemFall allerdings zugunsten der neuen Länder.

Im Hinblick auf Methoden und Arbeitsansätze entwi-ckelte sich die Kooperationslandschaft der 1990er-Jahreeher asymmetrisch: Während auf Seiten der JugendhilfeBemühungen um eine Regionalisierung der sozialenDienste, um eine sozialräumliche Orientierung im Hin-blick auf die Lebenssituation der Kinder und Jugendli-chen (z. B. Übergang von der „Komm“- zur „Gehstruk-tur“ in verschiedenen Teilbereichen der Kinder- undJugendhilfe) sowie um eine nahräumliche Vernetzung derHelfersysteme zu beobachten waren, kann von einer ent-320 Zum Deutschen Bildungsrat vgl. Glossar im Anhang.

Page 308: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 298 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

sprechenden Konvergenzbewegung der Schule noch amehesten im Hinblick auf die Bemühungen zur Vergröße-rung der einzelschulischen Autonomiespielräume gespro-chen werden; entsprechende Ansätze haben bislang aller-dings noch nicht zu einer grundsätzlichen Erneuerung aufder Ebene des Gesamtsystems geführt (Bildungskommis-sion NRW 1995; Rolff 1993). Während sich der Metho-denwechsel in der Jugendhilfe primär aus der eigenenfachlich-diskursiven Dynamik speiste, reagierte Schule indieser Zeit – mit Ausnahme einiger, dann auch immerwieder genannter Modellschulen – faktisch auf den wach-senden Problemdruck (Stichworte: Schulverweigerung,Verhaltensauffälligkeiten, Gewalt und Drogen, Teilleis-tungsstörungen, wachsende Zahl von Kindern und Ju-gendlichen in Sonderschulen, mangelnde Integration vonSchülern/innen mit Migrationshintergrund und/oder ausbildungsfernen Schichten etc.). Besonders aus den Haupt-schulen wird vor diesem Hintergrund seit längerem im-mer wieder von sozial vermittelten individuellen Proble-men und der unumgänglichen Notwendigkeit – auchdurch die Lehrkräfte selbst – einer „Sozialpädagogisie-rung“ des Unterrichts berichtet.

Auf programmatischer Ebene wurde insbesondere dieLeitformel „Schule als Haus des Lernens“321 viel disku-tiert, in der nicht nur die organisatorische Öffnung vonSchule zum Gemeinwesen, sondern vor allem auch diekritisch-reflexive Auseinandersetzung mit gesellschaftli-chen Strukturen und Prozessen gefordert wurde.

Jenseits dieser, aus der jeweiligen institutionellen Pers-pektive von Jugendhilfe oder von Schule wahrgenomme-nen Dynamiken und Problemkonstellationen, speistensich die Kooperationsbemühungen auch aus „extern“ de-finierten gesamtgesellschaftlichen Veränderungen, insbe-sondere im Betreuungsdiskurs – hier sind vor allem diefrauen-, familien- und arbeitsmarktpolitischen Forderun-gen nach einer verbesserten „Vereinbarkeit von Familieund Beruf“ hervorzuheben.

Eine weitere Zäsur im Kooperationsdiskurs markiertedann bekanntlich die öffentliche Diskussion um das Ab-schneiden Deutschlands in der PISA-Studie. Zumindestauf der diskursiven Verlautbarungsebene wird nun erst-mals das Verhältnis von Jugendhilfe und Schule auf derEbene des „Gesamtsystems von Bildung, Erziehung undBetreuung“ (Jugendministerkonferenz [JMK] 2002) rela-tiv öffentlichkeitswirksam artikuliert, was sich allerdingsbislang nicht in einer Veränderung der rechtlichen Rah-menbedingungen oder in ressourcenwirksamen Entschei-dungen im Hinblick auf die Infrastrukturentwicklung nie-derschlägt. Dieser Kontrast zwischen Anspruch undWirklichkeit im Verhältnis von Jugendhilfe und Schulebegründet dann auf Seiten der Jugendhilfe – je nach ein-genommener Perspektive – entweder einen Skeptizismus,der besonderen Wert auf die „Funktionsbehauptung“ der

Jugendhilfe gegenüber einer Instrumentalisierung durchdie als übermächtig erlebte Institution Schule legt (Exper-tise Merchel), oder aber konzeptionelle und praktischeAnstrengungen um eine neu zu definierende bildungsbe-zogene Kooperation von Schule, Jugendhilfe, Familienund anderen außerschulischen Akteuren, wobei hier einbreiter – formales, non-formales und informelles Lernenumfassender – Bildungsbegriff zugrunde gelegt wird.322 Auf Seiten von Schule entspricht dieser Diskussionsland-schaft die Differenz zwischen einer – derzeit bildungspo-litisch dominanten – Position, welche die unterrichtlicheLeistungsdichte und -effizienz zu steigern bemüht ist, ge-genüber einer Sichtweise, die die sachlogische Notwen-digkeit einer Öffnung von Schule gegenüber anderen Bil-dungsangeboten, Lernformen und Akteuren artikuliert.Im Unterschied zu den Schulöffnungsdiskursen der1990er-Jahre geht es dabei nun nicht mehr primär umeine Stärkung der traditionell verstandenen Erziehungs-funktion von Schule, sondern vielmehr um die Einsicht,dass Schule ihren Kernauftrag künftig – insbesondere,aber keineswegs ausschließlich gegenüber bildungsbe-nachteiligten Sozialgruppen – nur noch vermittels der ka-tegorialen Erweiterung ihres Bildungskonzepts und derdamit verbundenen systembezogenen Kooperation mitaußerschulischen Akteuren aussichtsreich zu erfüllen ver-mag. Die derzeit allerdings noch punktuell bleibendenAnsätze zur praktischen Umsetzung dieser Leitperspek-tive finden sich u. a. in der Ausweitung einzelschulischerAutonomie, einer verstärkten Regionalisierung der „inne-ren“ Schulaufsicht sowie der Zielperspektive einer loka-len Bildungsplanung.Jugendhilfe und Schule haben sich historisch – dies sollteim Vorangegangenen verdeutlicht werden – in Deutsch-land zu gesellschaftlichen Teilsystemen mit sehr unter-schiedlichen strukturdimensionalen Charakteristika ent-wickelt, die zudem auf komplexen und nur unzureichendaufeinander abgestimmten Rechtsnormierungen basie-ren. Kooperation ist infolgedessen keine einfach zu voll-ziehende Aufgabe.

6.4.2 Jugendhilfe und Schule – Gemeinsamkeiten und Unterschiede

In den vorangegangenen Kapiteln wurden bereits die or-ganisatorischen, rechtlichen, finanziellen und personellenRahmenbedingungen der Jugendhilfe in den Bereichender Jugendarbeit, des Horts und der schulbezogenen Ju-gendsozialarbeit einerseits und der Schule andererseitsdargestellt und diskutiert. Diese Ergebnisse bilden dieGrundlage der Betrachtung im Vergleich der beiden Sys-teme Jugendhilfe und Schule. Dass trotz aller Unter-schiede und Schwierigkeiten eine lange Tradition auchgemeinsamer Bearbeitung von Sachverhalten und Proble-men existiert, zeigt sich nicht zuletzt an der Geschichteder Schulsozialarbeit. Das spezifisch Neue an der derzei-tigen Diskussion ist mithin nicht die Thematisierung vonKooperation und Aufgabenteilung an sich, sondern diegrundsätzliche Frage nach der Kompatibilität von Ju-

321 Ausgangspunkt hierfür war eine 1995 veröffentlichte Denkschrift dervom damaligen Ministerpräsidenten Rau eingesetzten Bildungskom-mission des Landes NRW, die das erwähnte Leitziel in 13 Punktenkonkretisierte und zusätzliche Empfehlungen in Richtung „Teilauto-nomie der Schulen“ und „Lehrerfortbildung“ vorlegte (Bildungs-kommission NRW 1995).

322 Vgl. Bundesjugendkuratorium u. a. 2002; Bundesjugendkuratorium2001, 2003, 2004.

Page 309: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 299 – Drucksache 15/6014

gendhilfe und Schule mit dem Ziel, diese beiden zentra-len öffentlichen Institutionen in den Bereichen von Bil-dung, Betreuung und Erziehung in Richtung einersystembezogenen Kooperation zu verändern.

Inhalt und Zielrichtung des Kooperationsdiskurses habensich in den letzten beiden Jahrzehnten stark verändert.War die Debatte der 1980er-Jahre geprägt vom Versagender Schule bei bestimmten Problemen und wurde „Schul-sozialarbeit“ gewissermaßen als Reparaturbetrieb, wennnicht erfunden, so doch zumindest in Art, Form und Um-fang deutlich gestärkt – ohne jedoch je auf die immerwieder beschworene gleiche Augenhöhe zu gelangen –,so geht es in der jetzigen Debatte um weit mehr als umErgänzung oder Bearbeitung von Defiziten: Es geht umdie Entwicklung eines „gemeinsamen Dritten“. Dabei ge-winnt das beispielsweise der PISA-Studie zugrunde lie-gende Grundbildungskonzept auch in der hiesigen Bil-dungsdiskussion an Gewicht. Der zentrale Auftragöffentlicher Bildungsinstitutionen im Bereich des Vor-schul- und Schulalters besteht demnach in der Vermitt-lung von Kompetenzen, welche sich nicht nur als Wis-senszuwachs im schulischen Kontext zeigen, sondernauch im breiteren Horizont der Lebensführung jenseitsder Schüler/innenrolle angewandt werden können. Dasich Kompetenzen, bildungsbiografisch betrachtet, inganz unterschiedlichen Lebenszusammenhängen nachund nach herausbilden, also nicht allein dem LernortSchule als Bildungsleistung zugerechnet werden können,ist Letztere per se auf die Öffnung zu anderen Lernanbie-tern, -orten und -formen verwiesen.

Das Grundbildungskonzept betont also im Kern die Ge-sellschaftlichkeit von Schule und kontrastiert damit starkmit dem Selbstverständnis einer Schule, die ihren spezifi-schen Charakter genau aus einer gewissen Distanzierungvon Alltags- und Lebensweltkontexten bezieht. Kommtdas Grundbildungskonzept somit bildungstheoretisch derVerankerung einer systembezogenen Kooperation von Ju-gendhilfe und Schule entgegen, so gilt hinsichtlich der in-stitutionellen Dimension eher das Gegenteil: Die deut-sche Sonderentwicklung einer vom Schulsystemautonomisierten und fachlich eigenständigen Kinder- undJugendhilfe findet in den meisten anderen europäischenStaaten keine Entsprechung. Schule gilt dort zumeist alsder alles entscheidende Lernort, dem non-formale Bil-dungsanbieter lediglich zuzuarbeiten haben; auch „infor-melles Lernen“ wird dabei häufig auf seine schulergän-zenden und -unterstützenden Aspekte verkürzt. Somitbleibt der Rekurs auf das Grundbildungskonzept im Rah-men des bundesdeutschen Kooperationsdiskurses durch-aus zwiespältig.

Grundbildung intendiert als Bildungsziel die Ermögli-chung der gesellschaftlichen Teilhabe für alle Kinder undJugendlichen; dieses Ziel kann von Schule alleine nichterreicht werden. Das formalisiert-organisierte und didak-tisch-systematisierte Lernen zu betreuen, zu kultivierenund auf bestimmte Steigerungsformen zu bringen, bleibtdie Kernaufgabe von Schule.323 Die Gestaltungsaufgabeder Vermittlung von Grundbildung reicht aber weit überdiesen spezifischen Lernort und die in ihm kultivierte for-

male Lernform hinaus und kann zumindest im bundes-deutschen Kontext aussichtsreich nur in inter-institutio-neller Kooperation und in enger Zusammenarbeit mit denFamilien, einschließlich der Kinder und Jugendlichenselbst, erfüllt werden. Im Hinblick auf die Ausgestaltungdieser inter-institutionellen Kooperation muss die bun-desdeutsche Bildungspolitik dabei im europäischen Kon-text einen „nationalen Sonderweg“ beschreiten, will siedie hierzulande historisch akkumulierten pädagogischenund materiellen Ressourcen von Kinder- und Jugendhilfe,des autonomen Verbands- und Vereinswesens sowie einerausdifferenzierten sozialpädagogischen Profession opti-mal nutzen. Eine Instrumentalisierung dieser Ressourcenim Hinblick auf die zentrale Bildungsinstitution Schulewürde hierzulande mögliche inter-institutionelle Syner-gieeffekte und die Ausschöpfung sozialpädagogischerWissensbestände verspielen.

(a) Organisation

Schule unterliegt dem Prinzip der Staatlichkeit, d. h. dasgesamte Schulsystem steht unter der Aufsicht des Staates.Der Besuch der Schule ist dabei in seinen ersten Phasennicht freiwillig, sondern verpflichtend. „Trotz aller ‚Er-ziehungsrhetorik’, mit der die Schule bisweilen in öffent-lichen Debatten ebenfalls überzogen wird, indem derSchule vielfältige Kompensationen für Erziehungsdefi-zite zugeordnet werden (Gewaltprävention, Gesundheits-erziehung, Vermittlung kritischer Medienkompetenz undMediennutzung u. a. m.), wird der elementare schulischeLeistungszweck immer wieder in den Mittelpunkt ge-rückt“ (Expertise Merchel, S. 7). Dabei wird zu wenig be-rücksichtigt, dass unter sich wandelnden gesellschaftli-chen Bedingungen ohne stärkere Beachtung vonerziehungs- wie auch bildungsbezogenen Kontextfakto-ren auch das „formal-unterrichtliche Kerngeschäft“ vonSchule nicht mehr aussichtsreich und effizient gestaltetwerden kann. Dies zeigt sich derzeit am deutlichsten imHaupt- und Sonderschulbereich, aber auch bei den beson-deren Bildungsgängen an den beruflichen Schulen. DieStrategie einer schulpolitischen Konzentration auf dasvermeintliche „Kerngeschäft Unterricht“ – verstanden imSinne klassischer Wissensvermittlung – geht insoweit ander aktuellen Schulrealität vorbei. Für die Jugendhilfesind Schulen mit einem entsprechend eingeschränktenBildungsziel und einer als nachrangig definierten Erzie-hungsfunktion schwierige Partner; dies gilt besonders fürGymnasien, insofern diese sich „schwieriger Schüler/in-nen“ – und damit auch der hier besonders wichtigen indi-viduellen Förderung unter Einbezug von „Erziehungsauf-gaben“ – durch die ‚Abschiebung’ in Real- undHauptschulen zu entledigen suchen.

Die pädagogische Arbeit der in der Schule Lehrenden istdurch ein hohes Maß an Selbstständigkeit gekennzeich-net, was – negativ formuliert – auch häufig zum Einzel-kämpfer/innentum der Lehrkräfte, d. h. zur fehlenden kol-

323 So Tenorth in der Expertenanhörung der Sachverständigenkommis-sion des Zwölften Kinder- und Jugendberichts (18. März 2004, sieheAnhang).

Page 310: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 300 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

legialen Beratung, Supervision oder Vernetzung mitanderen pädagogischen Systemen führt. Dies hemmt dieReflexion von Erziehungs- und Kommunikationsproble-men im Verhältnis zu den Schülern/innen und kommt dergeforderten Beachtung gesellschaftlicher Kontextfakto-ren nicht eben entgegen.

Diese Selbstständigkeit der Lehrenden steht unverbundenneben der Unselbstständigkeit der Einzelschulen: Schulensind in Deutschland keine „rechtsfähigen Personen“ undkönnen daher z. B. kein eigenes Budget verwalten undnicht einmal ein Konto auf eigenen Namen führen oderselbstständig Verträge abschließen (etwa mit Honorar-kräften oder institutionellen Kooperationspartnern); dazubedarf es des Umweges über den (kommunalen) Schulträ-ger, die „innere“ Schulaufsichtsbehörde oder über eigenszu gründende Fördervereine. Auch das jeweilige Schul-programm muss von der Schulaufsicht erst genehmigtwerden, bevor es in Kraft treten kann.

In dieser Dimension lassen sich derzeit aber eine Reihevon Reformbemühungen ausmachen, die auf eine ver-stärkte einzelschulische Autonomie bis hin zur Budgetie-rung von Schule abzielen. Mehr und mehr in die Kritikgerät dabei auch die überkommene Trennung von „äuße-rer“ (in der Regel kommunaler) und „innerer“ (auf Lan-desebene verorteter) Schulaufsicht auf der Basis einerPlanungsphilosophie, die davon ausgeht, materiell-logis-tische Entscheidungen, etwa über die Schulstandortwahl,bauliche Gestaltung, Ausstattung von Schulen und Kapa-zitätsbestimmungen, etwa in Bezug auf Schüler/innen-zahl und Klassengrößen, von schulpädagogisch-curricu-laren Vorgaben für die Einzelschulen zumindest in derProzessdimension abkoppeln zu können.324 Bestrebungenzu einer stärkeren Regionalisierung der „inneren“ Schul-aufsicht und ihrer Integration in den Kontext einer „loka-len Bildungsplanung“ erreichen allerdings bislang nochin keinem Bundesland die Ebene des GesamtsystemsSchule. Auch dies erschwert eine Kooperation mit derörtlichen Jugendhilfe, insbesondere im Hinblick auf dieJugendhilfeplanung.

Die institutionelle Ordnung des Schulwesens ist durch einleistungsindividualistisches Prinzip charakterisiert.Schule sortiert ihre „Mitglieder“, d. h. Schüler und Schü-lerinnen, nach bestimmten Kategorien, vornehmlich nachAlter in so genannten Jahrgangsklassen oder nach Leis-tung, etwa in Fachleistungskursen. Sie vergibt Zertifikatefür individuelle Leistungen in Gestalt von Noten oder Ab-schlusszeugnissen: „Die Handlungsprogramme, die dieSchule zum Erreichen ihrer Organisationsziele entworfenhat, [werden] dominiert durch Curricula, Richtlinien, tra-dierte Handlungsmuster mit einem hohen Grad an Ver-bindlichkeit. Der relativ hohe Verbindlichkeitsgrad resul-tiert aus der Spezifität der Organisationsziele“ (ExpertiseMerchel, S. 11). Diese leistungsindividualistische Orien-tierung drückt sich dann auch in dem bereits angespro-chenen viergliedrigen Aufbau des Sekundarstufensystems

aus, dessen selektiver Charakter in hohem Maße über diespäteren Lebens- und Berufschancen der Schüler/innenmitbestimmt. Spätestens die PISA-Studien haben gezeigt,dass es dieser Form von Schulorganisation bislang nichtgelingt, die prägende Kraft von herkunftsbedingten, so-zialstrukturell bestimmten Lebenslagen zugunsten einesabstrakten Leistungsprinzips zu überwinden; sie verstärktdie nicht-intendierte Selektionswirkung vielfach sogar,anstatt sie zu kompensieren.

Damit gerät Schule in Widerspruch zur Jugendhilfe, wel-che gesetzlich zur Vermeidung und zum Abbau her-kunftsbedingter Benachteiligungen verpflichtet ist. In deraktuellen schulpolitischen Debatte lassen sich angesichtsdieser selektiven Fehlsteuerung vor allem des Sekundar-stufensystems idealtypisch drei schulorganisationsbezo-gene Strategien ausmachen: zum einen die Perspektive,Schüler/innen länger gemeinsam zu unterrichten bis hinzur Forderung nach einer Einheits- oder Gemeinschafts-schule bis zur zehnten Klasse; zum anderen die partielleEntkopplung von Schulform und zu erreichendem Schul-abschluss, etwa in der Weise, dass auch in Hauptschulendie mittlere Reife erreicht werden kann. Dies soll danneine verstärkte „Aufwärtsmobilität“ im nach wie vormehrgliedrigen Sekundarstufensystem befördern. Diedritte Leitperspektive besteht im Ausbau von Ganztags-schulen (vgl. Abschnitt 6.5). Die Mehrstimmigkeit dieserSchulorganisationsdebatte erschwert vorerst die Formu-lierung einer systembezogenen Kooperationsperspektivefür Jugendhilfe und Schule und befördert bei ersterer eineeher abwartende Haltung.

Schule verharrt in ihrer „Kernveranstaltung Unterricht“– allen reformorientierten Modellversuchen zum Trotz –auf der Systemebene nach wie vor im „45-Minuten-Takt“sowie in einer Unterteilung von „Kernfächern“, die – sodie zahlreicher werdenden Kritiker/innen – nicht mehrder aktuellen Verfasstheit des Systems gesellschaftlicherArbeitsteilung entspricht. Im Kanon einer für alle Schü-ler/innen verbindlichen Grundbildung fehlen beispiels-weise Psychologie, Ökonomie, Kultur- und Sozialwissen-schaften sowie polytechnisch orientierte Angebote. ImGegenzug erscheint die bildungsbiografische Relevanzvieler überkommener Lerninhalte und -fächer durchausfraglich. Der curricular vorgegebene Wissenskanon stehezudem nicht immer in Verbindung mit lebensweltlichenoder auch aktuell-politischen und gesellschaftlichen Kon-texten, es werde also vielfach immer noch „auf Vorrat“gelehrt und gelernt, wobei die äußerst dynamische Ent-wicklung der Wissensgesellschaft den konkreten Nutzendes Lehrstoffs „für das spätere Leben“ bisweilen fraglicherscheinen lasse.

Die Kinder- und Jugendhilfe geht demgegenüber pro-grammatisch-konzeptionell von einem breiten und vor al-lem gegenwartsbezogenen Bildungsverständnis aus undkooperiert daher am besten mit Schulen, die z. B. einenfächerübergreifenden Projektunterricht jenseits des 45-Minuten-Taktes und mit Anbindung an außerschulischeBildungsorte und Partner praktizieren. Der Sinn von Bil-dungsinhalten soll sich aus Sicht der Kinder- und Jugend-hilfe dabei im konkreten Nutzen für eine selbst bestimmte

324 In der Strukturdimension besteht eine Verbindung durch die Geneh-migungspflicht der kommunalen Schulentwicklungspläne gegenüberdem Kultusministerium.

Page 311: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 301 – Drucksache 15/6014

Lebensführung erweisen, wobei die Grenzen zwischenBildung und Sozialisation fließend zu gestalten sind.Viele der in diesem Kontext immer wieder genannten„Schlüsselqualifikationen“ und „Basiskompetenzen“ sindzugleich Merkmale einer gelingenden Persönlichkeitsent-wicklung und einer umfassenden gesellschaftlichen Teil-habe. Dieses Bildungsverständnis harmoniert – ganz un-geachtet der Frage nach möglichen Grenzen seinerprinzipiellen Umsetzbarkeit in der Kooperation mitSchule – bislang nicht mit der schulischen Unterrichtsor-ganisation, einschließlich des bestehenden Fächerkanons.Auch dies erschwert die systembezogene Kooperationbeider Institutionen.

Die Kinder- und Jugendhilfe ist plural organisiert. Ver-schiedene Träger, Institutionen, Organisationen, Einrich-tungen der Jugendarbeit bieten Bildungsorte und Lern-welten, die sich in der inhaltlich-weltanschaulichenEinbindung und der damit gegebenenfalls verbundenennormativen Ausrichtung der Bildungsangebote genausounterscheiden können wie in der räumlichen Reichweiteder Institutionen und Träger: „Die Jugendhilfe ist in sichselbst so ausdifferenziert, dass für die verschiedenartigenFunktionselemente und Tätigkeiten kein einheitlicher Be-zugspunkt definiert werden kann, der auf der Ebene vonOrganisationszielen zwischen den verschiedenen Einrich-tungen und Trägern eine tragfähige Verbindung schaffenkönnte. Dementsprechend definiert das SGB VIII in § 1sowie in § 8 und in § 80, Abs. 2 auch nur sehr allgemeineZielorientierungen, die für Organisationsziele kaumhandhabbar sind. Wenn überhaupt konkretere Organisati-onsziele definiert werden, dann bei den einzelnen Ar-beitsfeldern“ (Expertise Merchel, S. 9).

Die Organisationsziele der Jugendhilfe sind also im Ver-gleich zu Schule weit weniger standardisiert und über-prüfbar, es fehlen in der Regel Maßstäbe, die das eigeneTun im Sinne der Konkretisierung und Evaluierung vonZwischenzielen messbar machen (es gibt beispielsweisekeine Noten). Jugendhilfe bezweckt eine umfassende Per-sönlichkeitsbildung; ihr geht es in einem weit verstande-nen Sinne um die Integration in die Gesellschaft, und dadiese je individuell erfolgen muss, bedarf es hierzu fle-xibler Handlungsprogramme und -methoden. Aus dieserPluralität resultiert ein hoher Grad an Unsicherheit einer-seits und Autonomie andererseits.

Diese Diffusität von Organisationszielen und Handlungs-programmen ist für den viel stärker hierarchisch durchor-ganisierten schulischen Partner nur schwer zu begreifen.Schulen ohne breite Kooperationserfahrung mit der Kin-der- und Jugendhilfe suchen anfangs oft vergebens nacheinem Ansprechpartner mit umfassender Amtskompetenzund Entscheidungsbefugnis, den sie zumeist im Jugend-amt zu finden hoffen. Die starke Stellung der freien Trä-ger infolge des Subsidiaritätsprinzips, die Doppelstrukturaus Jugendamtsadministration und Jugendhilfeausschusssowie die Autonomie der Einzeleinrichtungen der freienTräger gegenüber ihren Dachverbänden und Vernetzungs-strukturen ist für Schule zunächst oft kaum zu durch-schauen; der Ruf nach „festen Ansprechpartner/innen“wird dabei insbesondere gegenüber dem Allgemeinen So-

zialen Dienst (ASD) laut, dessen personelle Zuständig-keitsregelungen aber nach dem Wohnort der Familien undnicht nach Schulzugehörigkeit der Kinder und Jugendli-chen organisiert sind.

Diese Strukturprobleme werden lokal zum Teil durchEinrichtung von Clearingstellen im Jugendamt zu lösenversucht; diese leiten dann schulische Anfragen entspre-chend weiter und veranlassen gegebenenfalls auch die an-frage- und fallbezogene Involvierung weiterer Diensteund Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Wohn-ortprinzip und Schulzugehörigkeit geraten zudem auchim Feld der sozialräumlichen Kooperation in Konflikt zu-einander. Schule ist immer seltener „Stadtteilschule“ imwörtlichen Sinne, sondern rekrutiert ihre Schüler/innenaus einem wesentlich weiteren, zum Teil kommunenüber-greifenden Einzugsbereich. Die Bemühungen um eine„Autonomisierung von Schule“ stellen derzeit auch imBereich der Grundschulen die Sprengelbildung in Frage;Schulen sollen künftig auf der Basis ihres jeweils spezifi-schen Profils miteinander konkurrieren. In dem Maße,wie die Kinder- und Jugendhilfe die sie vielerorts leitendeSozialraumorientierung mit Gemeinwesen- und Stadtteil-arbeit identifiziert, passen ihre Angebote infolge der fort-schreitenden Entgrenzung der Schuleinzugsbereiche im-mer seltener mit dem schulisch-organisatorischenHandlungsrahmen zusammen.

Ein weiteres Strukturproblem betrifft die Ausdifferenzie-rung von Teilsegmenten und Leistungsbereichen in derKinder- und Jugendhilfe, die für Schule mit ihrer klarenZentrierung auf das Unterrichtsangebot ebenfalls kaumgreifbar wird; auch dies ist in dem Ruf nach „festen An-sprechpartnern“ oft mit gemeint. Es geht dabei keines-wegs nur um ein eher vordergründiges Informations-problem, sondern um eine institutionell undorganisationsstrukturell begründete Perspektivendiffe-renz. Pointiert gesagt, formuliert Schule meist eher Pro-bleme mit Schülern/innen (etwa im Hinblick auf deren„Beschulbarkeit“), während die Kinder- und Jugendhilfeauf Probleme von Kindern und Jugendlichen auch jenseitsihres „Schüler/in-Seins“ zu reagieren hat. Die damit nötigwerdenden Verständigungs- und Aushandlungsprozessewerden in der Fachdiskussion häufig nur unter demBlickwinkel der unterschiedlichen pädagogischen Per-spektiven analysiert, haben darüber hinaus in der konkre-ten Praxis aber auch viel mit schulorganisatorisch gepräg-ten Arbeitsabläufen und -belastungen der Lehrkräfte zutun, die eine kontextsensible individuelle Förderung ein-zelner Schüler/innen oft ebenso wenig zulassen wie einedifferenzierte und fallbezogene Auseinandersetzung mitdem Leistungs- und Angebotsspektrum der freien und öf-fentlichen Kinder- und Jugendhilfe.

Die unerwünscht selektiven Folgen dieser Konstellationwerden dann beispielsweise in den Problemfeldern„Schulmüdigkeit“ und „Verhaltensauffälligkeiten“ deut-lich, in denen individuelle Hilfen eher den meist männli-chen „Unterrichtsstörern“ zugute kommen, wobei auf diehäufiger bei Mädchen auftretenden passiven Rückzugs-tendenzen trotz der hier nicht minder gravierenden Aus-wirkungen auf die Schullaufbahnsicherung dann teilweise

Page 312: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 302 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

nicht angemessen eingegangen wird. In dem Maße, wiedie Kinder- und Jugendhilfe diese schulorganisatorischbedingten Probleme ihrer Partner (zu starke Klassengrö-ßen, zu wenig Zeit für individuelle Beratung, zu geringeeinschlägige Fortbildungs- und Supervisionsressourcenetc.) nicht in den Blick bekommt, erschwert dies die Ko-operationsmöglichkeiten. Hier bedarf es von Seiten derJugendhilfe einer klaren, organisationsstrukturell veran-kerten und bereichsübergreifenden Schnittstellenbestim-mung gegenüber Schule; auch in dieser Hinsicht wird ineinigen Kommunen mit der Einrichtung spezieller Clea-ringstellen für die Kooperation mit Schule reagiert. EineReflexion dieser Versuche auf der Ebene des Gesamtsys-tems der Kinder- und Jugendhilfe steht derzeit aber nochaus.

Schon diese grobe Skizze macht deutlich, dass beide In-stitutionen durch jeweils sehr unterschiedliche Organisa-tionsprinzipien und ein je eigenes Selbstverständnis cha-rakterisiert sind. Daraus ergeben sich unterschiedlicheinstitutionelle Logiken wie auch fachlich-pädagogischeHorizonte, die die Verständigung und Koordination zwi-schen den Fachkräften erschweren.

(b) Recht

Im Gegensatz zur Kinder- und Jugendhilfe liegt dasSchulwesen in der Verantwortung und Kompetenz der 16Bundesländer. Die gesamte inhaltliche und organisatori-sche Gestaltung des Schulwesens, ebenso die Regelungder Lehrerausbildung und -weiterbildung sowie die Ein-stellung und Aufsicht über das Lehrpersonal ist inDeutschland Recht und Pflicht der einzelnen Bundeslän-der. Die Kultusministerien der Länder geben Richtliniender Bildungspolitik vor, erlassen Rechts- und Verwal-tungsvorschriften und üben Aufsicht über die ihnen nach-geordneten „inneren“ Schulaufsichtsbehörden in Gestaltder Staatlichen Schulämter aus. Damit gewisse Mindest-standards in der inhaltlichen und organisatorischen Aus-gestaltung des deutschen Schulsystems gewährleistetwerden können, wurde bereits 1948 mit der ständigenKultusministerkonferenz [KMK] ein vorrangig koordi-nierendes Gremium geschaffen (vgl. Abschnitt 6.2).

Im Gegensatz dazu gilt für die Kinder- und Jugendhilfegemäß Artikel 74 Abs. 1 Nr. 7 GG, dass der Bund für die„öffentliche Fürsorge“ die konkurrierende Gesetzge-bungskompetenz hat. Durch die Rechtsprechung desBundesverfassungsgerichts wurde dabei der Begriff deröffentlichen Fürsorge weit gefasst. Von besonderer Be-deutung sind in diesem Zusammenhang die Kindertages-einrichtungen, da sie – rechtlich betrachtet – an derSchnittstelle zwischen Bundeskompetenz (öffentlicheFürsorge) und der ansonsten bestehenden Landeskompe-tenz (insbesondere im Bildungswesen) stehen. Die Kin-der- und Jugendhilfe ist Teil der öffentlichen Fürsorge(gemäß § 74 GG, § 1 SGB VIII) und umschließt Bildung,Betreuung und Erziehung. Sowohl die individuellenRechtsansprüche als auch die allgemeinen Verpflichtun-gen sind im SGB VIII bundeseinheitlich geregelt. DieBundesebene erfüllt in Bezug auf die Kinder- und Ju-gendhilfe durch regelmäßige Berichterstattung, Modell-

projekte und Forschung anregende und fördernde Funkti-onen. Die Rahmengestaltung, die Verantwortung undpolitische Ausgestaltung durch Förderung und die Zu-ständigkeitsregeln liegen hingegen bei den Bundeslän-dern. Diese Verankerung von Schule und Jugendhilfe aufunterschiedlichen gesetzlichen Regulationsebenen kom-pliziert jeden Versuch zum Aufbau einer systembezoge-nen Kooperation.

(c) Finanzen

Die Bildungsausgaben für das allgemein bildende Schul-wesen in Deutschland betrugen im Jahr 2001 insgesamt47,5 Mrd. Euro, wobei der weit überwiegende Kostenan-teil auf die Länder entfiel. Von diesem Budget wurden zurFinanzierung der öffentlichen allgemein bildenden Schu-len 44,6 Mrd. Euro (2002: 45,3 Mrd. Euro325) und für dieprivaten Schulen 2,9 Mrd. Euro aufgewendet.

Die reinen Ausgaben der öffentlichen Hand für die Kin-der- und Jugendhilfe betrugen 2003 20,6 Mrd. Euro; dieNettoaufwendungen nach Abzug der Einnahmen (u. a.Gebühren und Teilnahmebeiträge) beliefen sich auf18,4 Mrd. Euro. Diese verteilten sich sowohl auf die ver-schiedenen staatlichen Ebenen und als auch auf die Leis-tungsbereiche sehr unterschiedlich, wobei über die Hälfteder Ausgaben (10,8 Mrd. Euro bzw. 9,4 Mrd. Euro netto)für den Bereich der Tageseinrichtungen für Kinder aufge-wendet wurden; die Leistungen im Rahmen der Hilfenzur Erziehung beliefen sich auf 4,8 Mrd. Euro, für die Ju-gendarbeit wurden 1,4 Mrd. Euro ausgegeben.

Diese unterschiedliche finanzielle Ausstattung beiderSysteme erschwert den Aufbau einer systembezogenenZusammenarbeit; für eine flächendeckende Kooperationmit dem Schulsystem fehlen den einzelnen Segmentenund Leistungsbereichen in der Kinder- und Jugendhilfedie finanziellen Ressourcen, zumal nur ein geringer Teilder Gesamtressourcen in beiden Institutionen für koope-rationsrelevante Aufgaben zur Verfügung steht.

(d) Personal

In Deutschland unterrichten im Schuljahr 2002/2003 rund740 000 Lehrerinnen und Lehrer an allgemein bildendenSchulen, einschließlich Sonderschulen. Von ihnen haben55 Prozent eine Vollzeitstelle und etwas über ein Dritteleine Teilzeitstelle inne, während knapp 10 Prozent nurstundenweise beschäftigt sind. Die Zahl der Beschäftig-ten im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe beläuft sichim Jahr 2002 gemäß Kinder- und Jugendhilfestatistik auf573 802 Beschäftigte, von denen 48 Prozent vollzeit- und47 Prozent teilzeitbeschäftigt sind; 5 Prozent sind neben-beruflich stundenweise tätig.

Auch wenn die Personalausstattung in der gesamten Kin-der- und Jugendhilfe – bezogen auf Voll- und Teilzeitstel-len – nicht die Größenordnung im Schulsystem erreicht,so hat sie sich doch im Laufe der Zeit der Kapazität des

325 Die Budgetausgaben für die privaten allgemein bildenden Schulen in2002 lagen zum Zeitpunkt der Berichtsabfassung noch nicht vor.

Page 313: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 303 – Drucksache 15/6014

Schulsystems angenähert. Eine systembezogene Koope-rationsstrategie muss allerdings die in der Kinder- undJugendhilfe im Vergleich zur Schule wesentlich ausge-prägtere Ausdifferenzierung von Arbeitsbereichen inRechnung stellen – einige dieser Einzelbereiche, vor al-lem aber die schulbezogene Jugendsozialarbeit, sind demTeil des Schulsystems, mit dem sie zu kooperieren haben,in der Personalausstattung deutlich unterlegen. So stehenin der Summe von Hort, Jugendarbeit und schulbezoge-ner Jugendsozialarbeit ungefähr 70 000 fachlich tätigePersonen in der Kinder- und Jugendhilfe einer Zahl von676 000 Lehrkräften (ohne stundenweise Beschäftigte)gegenüber; das entspricht gegenwärtig in etwa einem Ver-hältnis von 1 : 10. Diese Ausgangslage muss bei allenKooperationsüberlegungen mitbedacht werden.

Jenseits des Vergleichs der reinen Personalkapazitätenhängen die Chancen einer systembezogenen Kooperationauch von Stand und Entwicklung der Personalstruktur ab,etwa im Hinblick auf die Dimensionen der Verfachli-chung, der Akademisierung und der Professionalisierung.Die Ausbildungs- und Beschäftigtenstruktur ist dabei inder Jugendhilfe im Gegensatz zu Schule äußerst hetero-gen und lässt sich am sinnvollsten nach einzelnenArbeitsbereichen spezifiziert analysieren (vgl. Ab-schnitt 6.1).

Die kursorische Abhandlung der Vergleichsdimensionenvon Organisation, Recht, Finanzen und Personal in Ju-gendhilfe und Schule zeigt erneut, welche Dimensionendie gesellschafts- und fachpolitische Gestaltungsaufgabeder Schaffung einer systembezogenen Kooperation vonJugendhilfe und Schule annimmt. Um hier weiterzukom-men, bedarf es einer schnittstellenbezogenen Konkretisie-rung, welche die Gesamtperspektive nicht aus den Augenverliert.

6.4.3 Schul- und bildungsbezogene Koopera-tionsperspektiven aus Sicht der Kinder- und Jugendhilfe

In Abschnitt 6.1 wurden die Bildungsaufgaben und -leis-tungen der Kinder- und Jugendhilfe exemplarisch in denausgewählten Bereichen Jugendarbeit, Hort und schulbe-zogene Jugendsozialarbeit diskutiert. Dabei wurde u. a.deutlich, dass die einzelnen Segmente der Kinder- undJugendhilfe diesem Bildungsauftrag in doppelter Weisenachzukommen suchen: zum einen durch Überschreitungder Grenzen rechtlich definierter Einzelleistungsbereicheund institutioneller Grenzen im eigenen Systemkontextund zum anderen vermittels der Kooperation und Vernet-zung mit anderen Bildungsorten und -anbietern – und hiernatürlich vor allem von Schule als wichtigstem Partner.Die Kinder- und Jugendhilfe reagiert damit auf eine ge-sellschafts- und bildungspolitische Tendenz, die sich viel-leicht am präzisesten mit den Begriffen der Entgrenzungvon Lernorten und -formen sowie der Neubestimmungdes Verhältnisses von Bildung und Erziehung benennenlässt. In diesem Kontext werden Kooperation, Koordina-tion und Vernetzung in der weiter oben beschriebenenWeise für alle institutionellen Bildungsanbieter und Hel-fersysteme mehr und mehr zu unhintergehbaren Hand-

lungsbedingungen. Was dies im Hinblick auf die in die-sem Bericht exemplarisch hervorgehobenen Teilsegmenteder Kinder- und Jugendarbeit, des Horts und der schulbe-zogenen Jugendsozialarbeit bedeutet, soll im Folgendenanalysiert werden.

(a) Kinder- und Jugendarbeit

Die Bildungsleistungen der Kinder- und Jugendarbeitsind vor allem im Bereich der Vermittlung sozialer undpersonaler Kompetenzen zu verorten. Dies geschieht abernicht in einer leistungsindividualistischen, curricularstreng geregelten und von konkreten Lebensbezügen abs-trahierenden Art und Weise, sondern unter Einbezug derPersönlichkeitsentwicklung in einem umfassend verstan-denen Sinne; die Übergänge zwischen Bildungs- und So-zialisationsleistungen sind dabei fließend. Die „schulbe-zogene Jugendarbeit“ gestaltet dabei auch – u. a. auch imRahmen der Sicherung von Betreuungszeiten, z. B. anGrundschulen – sowohl primär bildungs- als auch erho-lungsorientierte Angebote.

Die typischen Lernsettings in der Kinder- und Jugendar-beit basieren idealtypisch u. a. auf Freiwilligkeit der Teil-nahme, der Sicht auf die ganze Person anstatt nur auf eineRolle, dem Gegenwarts- sowie Erlebnisbezug des Lern-geschehens, der Kommunikations- und Beteiligungsori-entierung im Hinblick auf die Adressaten/Adressatinnenin einem Spektrum, das von Partizipation und freiwilli-gem Engagement bis hin zur Selbstverwaltung von Struk-turen reicht, der hohen Sensitivität für lebens- undalltagsweltliche Konstellationen, der fundierten sozial-räumlichen Kenntnis sowie auf einer sensibel und passge-nau an jugendkulturelle Trends anknüpfenden Angebots-gestaltung (vgl. Abschnitt 6.1.1). Vor allem in ihrerVerbandsform artikuliert Kinder- und Jugendarbeit durch-aus auch partikular-weltanschauliche Sichtweisen undversteht sich in diesem weiten Sinne auch als genuin poli-tisch. Bildung wird zudem als Selbstbildung verstanden,welche nicht durch ein System von Belohnungen undStrafen konditioniert werden soll. Damit ist bereits einewichtige Differenz – wenn nicht Sollbruchstelle – zum inder Kinder- und Jugendarbeit nach wie vor überwiegendkritisch gesehenen Kooperationspartner Schule benannt;nicht zuletzt aus diesem Motiv definierte sich die Kinder-und Jugendarbeit in ihrem Selbstverständnis bis in diejüngste Vergangenheit hinein prinzipiell als außerschu-lisch.

Diese „Negatividentifikation“ mit Schule entspricht aller-dings nicht mehr dem aktuellen Diskussionsstand undvielerorts auch nicht mehr der Praxis vor allem in der of-fenen Kinder- und Jugendarbeit, die durchaus in steigen-dem Maße von schulbezogenen Angeboten mit geprägtwird (Rauschenbach u. a. 2000). Bei gegebenen bzw.schwindenden Ressourcen wird das Problem häufig eherdarin gesehen, dass dann das nicht-schulbezogene Ange-botsspektrum eingeschränkt werden muss. Die systembe-zogene Kooperation mit Schule setzt die Kinder- undJugendarbeit zudem unter einen gewissen Anpassungs-druck: Modularisierung und Qualitätssicherung der schul-bezogenen Angebotssegmente, „Verberuflichung“ des an

Page 314: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 304 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Schulen tätigen Fachpersonals zur Sicherung der Verläss-lichkeit von Angeboten sowie eine zumindest rudimen-täre „curriculare“ Fixierung von Bildungszielen könntensich als die durchaus ambivalenten Bedingungen und Fol-gen einer solchermaßen intensivierten Kooperation er-weisen; eine zu starke Formalisierung der non-formalenAngebote könnte, so die Befürchtung, diese um ihre ei-gentlichen Stärken bringen.

Ein weiterer möglicher Effekt der Zusammenarbeit mitSchule kann als Entgrenzung zum Handlungsfeld der(schulbezogenen) Jugendsozialarbeit bezeichnet werden.Die Fachkräfte würden damit vor neue qualifikatorischeund konzeptionelle Herausforderungen gestellt, da dieKinder- und Jugendarbeit bislang ihre Klientel eher ausden Mittel- und Oberschichten rekrutiert hat.

Das Veränderungspotenzial der Kinder- und Jugendarbeitim Hinblick auf die Institution Schule muss sicherlich zu-rückhaltend bewertet werden. Punktuell erscheinen aberVeränderungen des Schulklimas und eine gewisse Ein-flussnahme auf die Schul(programm)entwicklung mög-lich. Die Zusammenarbeit und der Austausch mit denLehrkräften kann das Verständnis für freiere, die „Inte-gration von Kopf, Herz und Hand“ (Pestalozzi) intendie-rende Lernformen fördern und mehr Raum für die partizi-pative Mitgestaltung des „Lern- und Lebensortes Schule“durch die Kinder und Jugendlichen selbst schaffen. Aufder Systemebene sind Veränderungen in dieser Richtungderzeit aber nicht erkennbar. Die Kinder- und Jugendar-beit hat sich zur Perspektive einer systembezogenen Koo-peration mit Schule noch nicht eindeutig positioniert,sondern verhält sich diesbezüglich eher abwartend-defen-siv. In Anbetracht der aktuellen bildungspolitischen Her-ausforderungen werden hier allerdings Antworten immerdrängender. Dies gilt auch für die im Hinblick auf die Ko-operationsperspektive eher skeptisch orientierten Ak-teure.

(b) Hort

Der Begriff Hort dient als überkommene Sammelbezeich-nung für eine Teilmenge der „Tageseinrichtungen fürKinder im schulpflichtigen Alter“ (Tagesausbaubetreu-ungsgesetz), welche nicht notwendigerweise, aber zurzeitnoch mehrheitlich der Kinder- und Jugendhilfe zuzuord-nen sind; er stellt demnach ein Angebot unter vielen ver-gleichbaren dar, dessen Bedeutung regional höchst unter-schiedlich ausfällt (vgl. Abschnitt 6.1.2). Inwiefern derHort künftig als eigenständige Angebotsform zum Teil er-setzt bzw. in einigen Bundesländern aus dem Verantwor-tungsbereich der Jugendhilfe ausgegliedert und demSchulsystem zugeordnet wird, lässt sich gegenwärtignoch nicht abschätzen. Ungeachtet des Problems der in-stitutionellen Zuordnung von Tageseinrichtungen fürKinder im Schulalter stellt sich die Frage, inwiefern auchkünftig die lebens- und alltagsweltlich orientierte Unter-stützung der umfassend verstandenen Persönlichkeitsent-wicklung von Kindern und Jugendlichen als zentralesCharakteristikum von Tageseinrichtungen erhalten blei-ben kann. Auch in schulischer Regie betriebene Tagesein-richtungen können dabei die in Horten gesammelten Er-

fahrungen mit der Öffnung zum sozialen Umfeld nutzen.Dies gilt sowohl hinsichtlich der Nutzung sozialräumlichrelevanter Lernorte als auch in Bezug auf die Unterstüt-zung des Knüpfens von Beziehungen und Freundschaftenmit nicht in der Einrichtung betreuten Kindern und Ju-gendlichen. Die Teilhabe der Kinder und Jugendlichenam gesamten nahräumlich verfügbaren Spektrum von Be-teiligungs-, Freizeit- und Bildungsmöglichkeiten gilt ne-ben der intensiven Elternarbeit nämlich als wichtigesCharakteristikum des Hortes. Auch die breite Erfahrungdes Horts im Feld der schulergänzenden Hausaufgaben-betreuung kann für jede Form von Tagesbetreuung nutz-bar gemacht werden. Im Mittelpunkt der schulbezogenenKooperation von Tageseinrichtungen steht also das Inte-resse an Erhalt und an der Weiterentwicklung sozialpäda-gogischer Fachlichkeit und einer umfassenden Bildungs-,Betreuungs- und Erziehungsperspektive.

(c) Schulbezogene Jugendsozialarbeit

Die schulbezogene Jugendsozialarbeit integriert zentraleErziehungsziele mit Kriterien gelingender Sozialisation ineinem ressourcen- und subjektorientierten Arbeitsansatz.Ihr Gegenstandsbereich ist die Arbeit mit sozial benach-teiligten – und das heißt fast immer auch in Sachen Bil-dung benachteiligten – Kindern und Jugendlichen. Sie hatsich dabei als ein sowohl mit genuiner Fachlichkeit ausge-stattetes, wie aber zugleich auch entspezialisiertes Helfer-system gefestigt. Diese Entspezialisierung könnte als Per-spektivwechsel von einer überkommenen Brennpunkt-und Benachteiligtenförderung hin zur individuellen För-derung für alle Kinder und Jugendlichen in der Schulepointiert werden, womit die Grenzen zur schulbezogenenJugendarbeit fließender würden. Ein solcher Perspektiv-wechsel könnte als Folge des schlechten AbschneidensDeutschlands bei den PISA-Studien gerade im Bereich derso genannten Risikogruppen gefördert werden.

Eine gravierende Schwäche der schulbezogenen Jugend-sozialarbeit wird allgemein in ihrer Instrumentalisie-rungsanfälligkeit durch Schule aufgrund disparater undfast stets prekärer Träger- und Finanzierungsstrukturengesehen. In diesem Kontext kann die Stärke des entspezi-alisierten Aufgaben- und Kompetenzprofils dann schnellzur Schwäche werden, insofern Schule nicht mehr die Le-bens- und Lernprobleme der ihr anvertrauten Kinder undJugendlichen, sondern ihre eigenen institutionellen Pro-bleme mit eben diesen thematisiert und der Jugendsozial-arbeit als Aufgabe zuweist. Insbesondere die einzelschu-lisch-“stationär“ verortete klassische „Schulsozialarbeit“stand und steht vor diesem Problem. Es wird zu beobach-ten sein, inwiefern es im Kontext der Ausgestaltung re-gionaler Bildungslandschaften künftig auch zu einer Neu-formierung von Träger- und Finanzierungsstrukturen imBereich der schulbezogenen Jugendsozialarbeit kommenwird; denkbar wären etwa Pool-Lösungen in Form kom-munaler Servicestellen und Trägerverbundsysteme.

Fazit: Die systematische institutionelle Kooperation vonJugendhilfe und Schule könnte zum künftigen Kernstückder Schaffung eines Systems von Bildung, Betreuung undErziehung in der Bundesrepublik Deutschland werden.

Page 315: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 305 – Drucksache 15/6014

Das bundesdeutsche Schulsystem ist in seiner gegenwär-tigen Verfasstheit nicht allein in der Lage, den veränder-ten gesellschafts- und bildungspolitischen Verhältnissenund den sich daraus ergebenden Herausforderungen ge-recht zu werden; vielmehr drängt sich mehr und mehr dieNotwendigkeit einer Kooperation von Jugendhilfe undSchule auf der Ebene der beiden Gesamtsysteme auf. Umdies zu erreichen, bedarf es u. a. der Schaffung zeitgemä-ßer gesetzlicher Rahmenbedingungen auf Bundes- undLänderebene, und dabei vor allem der Verankerung einerwirksameren Kooperationsverpflichtung auf beiden Sei-ten.

Die vorangegangenen Ausführungen sollten die Komple-xität – aber auch die Notwendigkeit – dieser gesell-schaftspolitischen Gestaltungsaufgabe verdeutlichen. AmBeispiel der Teilbereiche Kinder- und Jugendarbeit, Hortund schulbezogene Jugendsozialarbeit wurde gezeigt,welche spezifischen und komplexen Fragen sich bei ei-nem Umbau dieser Teilsysteme in Richtung einer system-bezogenen Kooperation mit Schule ergeben. Es bleibt zubeobachten, ob die Kinder- und Jugendhilfe diese Gestal-tungsaufgabe beispielsweise durch die Institutionalisie-rung eines integrierten schulbezogenen Dienstleistungs-segmentes mit klar und im Hinblick auf denRessourceneinsatz befriedigend geregelten Rechts- undFinanzierungsstrukturen lösen kann und will; die be-reichsübergreifende Ressourcenbündelung würde in die-sem Verständnis zum strategischen Schlüsselkonzept ei-ner schulbezogenen Jugendhilfe.

Die gesellschaftspolitischen Herausforderungen in denBereichen von Bildung, Betreuung und Erziehung erfor-dern die systembezogene Kooperation der beiden diesbe-züglich zentralen öffentlichen Institutionen Jugendhilfeund Schule. Insbesondere die zentrale Herausforderungdes Abbaus herkunftsbedingter Bildungsbeteiligungenund der Sicherstellung eines adäquaten, Persönlichkeits-entwicklung und gesellschaftliche Teilhabe garantieren-den Maßes an Grundbildung erfordern darüber hinausauch weitreichende Veränderungen in beiden Systemen.In der öffentlichen Diskussion wird immer wieder derGanztagsschulausbau als wichtige, wenn nicht zentraleAntwort auf die genannten Herausforderungen genannt;er ist daher Gegenstand eines eigenen Abschnitts.

6.5 Das „Projekt Ganztagsschule“

Der Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen und ganztägi-gen Angeboten für Kinder und Jugendliche im Schulaltermarkiert einen bildungspolitischen Paradigmenwechsel inDeutschland mit weitreichenden Implikationen für Schuleund Jugendhilfe. Derzeit ist nicht absehbar, in welchemUmfang der Ausbau erfolgen wird und welche Verände-rungen in Schule und Jugendhilfe er nach sich ziehenwird. Auch lassen sich diese verschiedenen Entwicklun-gen noch nicht mit einem eindeutigen Oberbegriff be-zeichnen. Deshalb wird der Auf- und Ausbau von Ganz-tagsschulen und ganztägigen Angeboten mit Blick aufErwartungen und Ziele sowie auf Maßnahmen und Pro-gramme als „Projekt Ganztagsschule“ bezeichnet. In die-sem Kapitel wird das „Projekt Ganztagsschule“ in Bezugauf politische Erwartungen und Ziele (vgl. Abschnitt

6.5.1), auf beobachtbare empirische Entwicklungen, pro-grammatische und konzeptionelle Eckwerte, fachlicheund organisatorische Tendenzen der Realisierung (vgl.Abschnitt 6.5.2) sowie auf offene Fragen, ungelöste Pro-bleme und auf weiterführende Perspektiven (vgl. Ab-schnitt 6.5.3) dargestellt und diskutiert. Dabei ist für dieBetrachtung und Reflexion eine jugendhilfespezifischeSichtweise maßgeblich.326

6.5.1 Das „Projekt Ganztagsschule“ – Erwartungen und Ansprüche

(a) Ganztagsschulen als Ausnahme – Zur Entwick-lung in der Bundesrepublik Deutschland

Ganztagsschulen waren in der Bundesrepublik Deutsch-land bis vor kurzem eine Ausnahme. Nur etwa 5 Prozentaller Schulen waren Ganztagsschulen327, viele davon Pri-vatschulen, Gesamtschulen oder Schulen im sonderpäda-gogischen Bereich. In der Bildungsreform um 1970 sind,auf Empfehlung des Deutschen Bildungsrates, vermehrtGesamtschulen eingerichtet worden, von denen einige alsGanztagsschulen konzipiert worden sind (Deutscher Bil-dungsrat 1969, 1970). In der DDR gab es zwar kein aus-gebautes System von Ganztagsschulen; durch das flä-chendeckende Angebot von Horten an Schulen, mit demweithin üblichen Angebot eines Mittagessens an Schulenund mit der engen Zusammenarbeit von Schulen und denJugendorganisationen mit ihren außerschulischen Aktivi-täten war jedoch ein flächendeckendes ganztägiges Ange-bot für Schülerinnen und Schüler gegeben. Dieses be-ruhte allerdings nicht auf Freiwilligkeit, sondern war Teildes Systems der Erziehung der Jugend zur sozialistischenPersönlichkeit, dem sich die einzelnen Schülerinnen undSchüler kaum entziehen konnten. Demgegenüber warenGanztagsschulen im Westen Deutschlands lange Zeit ta-buisiert. Ihnen wurde ein massiver Eingriff in die Sphäreder Familie unterstellt: Ganztagsschulen stellten einenAngriff auf die Familie und das Erziehungsrecht der El-tern dar, so die lange Zeit unterschwellige Meinung in derBundesrepublik.

Mittlerweile hat sich das Bild gewandelt. Ganztagsschu-len erscheinen nicht mehr durchgängig als Konkurrentzur Familie, sie werden nicht mehr ideologisch verdäch-

326 Bisher gibt es noch wenig empirische Forschungen zu dem Aus- undAufbau von Ganztagsschulen und seinen Effekten. Vorliegende Stu-dien beziehen sich überwiegend auf frühere Ganztagsschulen undganztägige Betreuungsangebote für Schulkinder (Höhmann u. a.2004; Radisch/Klieme 2004). Angesichts der sich schnell verändern-den Bedingungen und der Dynamik des Prozesses hat diese Darstel-lung des Aus- und Aufbaus von Ganztagsschulen einen stärker ex-plorativen Charakter.

327 In der Geschichte der Schule in Deutschland gibt es dennoch eineTradition von Ganztagsschulen. Im 19. Jahrhundert waren Volks-schulen und höhere Schulen lange Zeit Ganztagsschulen. Unterrichtfand am Vor- und Nachmittag statt, zum Mittagessen gingen dieSchülerinnen und Schüler nach Hause. Gegen Ende des 19. Jahrhun-derts erfolgte im Volksschulbereich eine Umstellung auf Halbtags-schulen mit der Einführung eines Schichtbetriebs, um bei steigendenSchülerzahlen die begrenzten Ressourcen an Lehrern und Schulräu-men aufzuteilen. Bei den höheren Schulen erfolgte eine Umstellungauf Halbtagsschulen auch aufgrund der vielfach langen Schulwege(Ludwig 2005).

Page 316: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 306 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

tigt, bürgerliche Gesellungsformen zu verdrängen. Siegelten vielmehr seit ein paar Jahren als eine zeitgemäßeAntwort auf gewandelte Bedürfnisse von Eltern, Er-werbsarbeit und Erziehung von Kindern zu vereinbaren,auf neue Anforderungen und Erwartungen an die Bildungdes Nachwuchses und auf eine bessere Förderung insbe-sondere von bildungsbenachteiligten Kindern und Ju-gendlichen. Dazu hat vor allem der durch die Ergebnissevon PISA 2000 ausgelöste Schock und die darauf einset-zende bildungspolitische Debatte beigetragen, in derenFolge sich die alten ideologischen Muster als überholt er-wiesen. Mit dem Investitionsprogramm „Zukunft Bildungund Betreuung“ (IZBB)328 hat die Bundesregierung imJahr 2002 einen wichtigen Impuls für den Ausbau vonGanztagsschulen gesetzt; in der Verwaltungsvereinbarungzwischen Bund und Ländern vom Mai 2003 sind die Mo-dalitäten geregelt, wie Bund und Länder beim Ausbauvon Ganztagsschulen kooperieren (BundesrepublikDeutschland 2003). Bereits vor der Initiative des Bundeshaben einige Bundesländer, allen voran Rheinland-Pfalz,dann auch Nordrhein-Westfalen, den flächendeckendenAusbau von Ganztagsschulen zum Programm ihrer Bil-dungspolitik gemacht. Demgegenüber haben sich andereLänder zunächst eher zurückhaltend gegenüber der Initia-tive der Bundesregierung verhalten.

(b) Modelle von Ganztagsschulen im Investitions-programm „Zukunft Bildung und Betreuung“

Der Bund stellt in den Jahren 2003 bis 2007 insgesamt4 Mrd. Euro für den Ausbau von Ganztagsschulen zurVerfügung. Da er in der Kultuspolitik keine eigene Kom-petenz hat, hat er versucht, politische Impulse über dasInstrument einer Verwaltungsvereinbarung mit den Län-dern zu setzen. In der Verwaltungsvereinbarung stellt dieDefinition der Kultusministerkonferenz, was als Ganz-tagsschule gelten soll, die Basis für die Vergabe der Mit-tel in den Ländern dar. Ganztagsschulen müssen gemäßder Definition der KMK (Sekretariat der Ständigen Kon-ferenz der Kultusminister der Länder [Sekretariat KMK]2004) folgende Kriterien erfüllen:

– Das ganztägige Angebot muss mindestens sieben Zeit-stunden umfassen und ein warmes Mittagessen ein-schließen;

– das ganztägige Angebot muss an mindestens dreiSchultagen pro Woche vorhanden sein;

– das nachmittägliche Angebot muss in einem konzepti-onellen Zusammenhang mit dem vormittäglichen Un-terricht stehen.

Das Angebot am Nachmittag kann dabei, und das stellteine Neuerung dar, von außerschulischen Trägern ange-boten werden. Schule und außerschulische Träger müssensich auf ein gemeinsames Konzept verständigen; die Ge-samtverantwortung liegt allerdings bei der Schulleitung.Bei den möglichen außerschulischen Kooperationspart-nern kommt der Kinder- und Jugendhilfe eine hervorge-

hobene Stellung zu. Dies zeigt sich in der Präambel derVerwaltungsvereinbarung, in der explizit der Kooperationvon Schule und Jugendhilfe eine wichtige Aufgabe beimAusbau von Ganztagsschulen zugesprochen wird.

Ganztagsschulen gibt es in unterschiedlicher Form, auchdies wird in der Verwaltungsvereinbarung auf der Basisder Definition der KMK geregelt:

– Gebundene Ganztagsschulen verpflichten alle Schüle-rinnen und Schüler zum ganztägigen Schulbesuch;

– teilweise gebundene Ganztagsschulen stellen ein ver-pflichtendes Ganztagsangebot nur für einen Teil derSchülerschaft bereit, sei es für einzelne Klassenstufenoder für Ganztagszüge, die neben den traditionellenhalbtägig organisierten Klassenzügen eingerichtetwerden;

– in offenen Ganztagsschulen ist der Besuch der ganztä-gigen Angebote freiwillig und wird nur von einem Teilder Schülerschaft in Anspruch genommen. Die Teil-nahme an einem ganztägigen Angebot ist in der Regeljedoch nach Anmeldung für ein Schuljahr verbindlich.

Der Ausbau von Ganztagsschulen erfolgt derzeit über-wiegend nach dem Modell der offenen Ganztagsschule(vgl. Abschnitt 6.5.2). Allerdings gibt es auch vieleMischformen. Als Ganztagsschulen gelten nach der Defi-nition der KMK auch Schulen, die in Kooperation mit au-ßerschulischen Einrichtungen ein ganztägiges Angebotbereitstellen. Das können Halbtagsschulen sein, die miteinem Hort zusammenarbeiten. Diese Schulen könnenmit Mitteln des IZBB gefördert werden, wenn die Zusam-menarbeit mit der außerschulischen Einrichtung in einerKonzeption belegt wird und dadurch ein ganztägiges An-gebot garantiert wird. Diese Formen der Kooperation vonSchule und außerschulischen Einrichtungen werden inder Statistik der KMK auch zu den offenen Formen vonGanztagsschulen gezählt (vgl. Abschnitt 6.5.2.1). Dabeihandelt es sich streng genommen nicht um Ganztagsschu-len, sondern um ganztägige Betreuungsangebote.

Da viele Ganztagsschulen mit außerschulischen Einrich-tungen und Trägern, insbesondere der Kinder- und Ju-gendhilfe, zusammenarbeiten und dadurch ein ganztägi-ges Angebot bereitstellen, wird in diesem Bericht nebender Bezeichnung Ganztagsschule auch der Begriff „Ganz-tagsangebote“ verwendet. Damit soll auch deutlich ge-macht werden, dass es konzeptionell und fachlich ummehr als um eine Ausweitung von Schule geht, sonderndass auch andere Arbeitsformen und Handlungsprinzi-pien, insbesondere der Kinder- und Jugendhilfe, zum Tra-gen kommen. In der Bezeichnung „Ganztagsschule“ wer-den diese Ansprüche und Intentionen nicht sichtbar, siebildet auch nicht die Charakteristika von ganztägigen An-geboten für Kinder und Jugendliche im Schulalter ab. DieBezeichnung verleitet vielmehr zu der Vorstellung, dasses sich dabei ausschließlich um eine schulische Veranstal-tung handelt. Dabei wird gerade das Novum, ein kontinu-ierliches Zusammenwirken mehrerer Institutionen amAuf- und Ausbau ganztägiger Angebote zu beteiligen unddadurch einen „Mehrwert“ zu erzeugen, ausgeblendet. 328 Zum IZBB vgl. Glossar.

Page 317: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 307 – Drucksache 15/6014

In dieser Hinsicht ist der Begriff „Ganztagsangebote“ of-fener; er bleibt allerdings bezogen auf inhaltliche Ansprü-che und Konkretisierungen unbestimmt. In der Fachdis-kussion werden neben den Begriffen „Ganztagsschule“und „Ganztagsangebot“ auch „Ganztagsbetreuung“ und„Ganztagsbildung“ verwendet (Demmer u. a. 2005;Coelen 2002). Der Begriff „Ganztagsbetreuung“ akzentu-iert allerdings sehr stark familien- und sozialpolitischeAspekte; dass damit auch ein Bildungsanspruch verbun-den wird, verschwindet dabei. Dieser Anspruch wird wie-derum in dem Begriff „Ganztagsbildung“ betont, der aberandererseits offen lässt, in welcher Form dieses ganztä-gige Bildungsangebot organisiert ist. Zunächst ist der Be-griff insofern unbefriedigend, da er unterschwellig einenhegemonialen Anspruch auf Kinder und Jugendlichetransportiert und den gesamten Tageslauf dem Primat derBildung unterordnet.329 Einen in unterschiedlichen Rich-tungen befriedigenden Begriff gibt es infolgedessen bis-lang nicht. Deshalb spricht der Bericht von einem „Pro-jekt Ganztagsschule“, um diese vorläufige Offenheit zumAusdruck zu bringen.

(c) Ganztagsschule: hohe Ziele und Erwartungen

Der Ausbau von Ganztagsschulen und ganztägigen Ange-boten ist mehreren Zielen verpflichtet (ExpertiseMerchel):

– Jugendpolitisch sollen optimale Entwicklungsbedin-gungen für Kinder und Jugendliche geschaffen wer-den.

– Bildungspolitisch sollen ganztägige Angebote einebessere Entwicklung der Kompetenzen aller Kinderund Jugendlichen sowie einen Abbau herkunftsbe-dingter Benachteiligungen ermöglichen.

– Familienpolitisch soll durch ein bedarfsgerechtes,ganztägiges Angebot eine bessere Balance von Fami-lie und Beruf erreicht werden.

– Arbeitsmarktpolitisch soll mit einem verlässlichenSystem der ganztägigen Förderung und Betreuung vonKindern das vorhandene Qualifikationspotential, ins-besondere von Frauen, besser zum Tragen kommen.

Diese Gründe lassen sich nicht scharf voneinander tren-nen. Eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf,mit Anreizen für junge Paare, ihren Kinderwunsch reali-sieren zu können und trotzdem nicht auf eine Erwerbsar-beit verzichten zu müssen, verbindet familien- und ar-beitsmarktpolitische Ziele. Eine verlässliche öffentlicheBetreuung trägt dazu bei, dass Familien mit Kindern nichtlänger von einem höheren Armutsrisiko bedroht sind undjunge Paare keine Alternative mehr in der Kinderlosigkeitsuchen müssen. Neben familien- und arbeitsmarktpoliti-schen Motiven kommen somit auch demografische As-pekte hinzu: Sollen gesellschaftliche Bedingungen ge-schaffen werden, die Geburtenrate zu erhöhen, sind

verlässliche öffentliche Betreuungsangebote von der frü-hen Kindheit bis ins Schulalter unverzichtbar.

In dieser Perspektive wird der Aspekt der Betreuung zueinem zentralen Motiv für den Ausbau von Ganztags-schulen. Familien- und gesellschaftspolitisch stellt dasProgramm des Bundes somit eine „nachholende“ Reformdar. Demgegenüber bleiben die bildungspolitischen Mo-tive eher unbestimmt und vage. Mit Ganztagsschulen sollzwar eine bessere Bildung und Förderung des Nachwuch-ses ermöglicht werden; ob sich diese Erwartungen erfül-len, ist bisher zumindest noch offen.330 Dessen ungeachtetstellen bildungspolitische Motive eine zentrale Argumen-tationsfigur dar. Das schlechte Ergebnis der Schülerinnenund Schüler in Deutschland bei PISA 2000 hat eine bil-dungspolitische Diskussion angefacht, die das Interessean Ganztagsschulen geweckt und die politische Bereit-schaft gefördert hat, Ganztagsschulen flächendeckendeinzuführen.

Das große gesellschaftliche Interesse an der Ganztags-schule spiegelt sich in einer Vielzahl von Stellungnahmenvon Verbänden und gesellschaftlichen Gruppen. Ein Ver-gleich von ausgewählten Stellungnahmen331 zeigt eineinsgesamt große Zustimmung zum Ausbau von Ganztags-schulen, der mit dem Investitionsprogramm der Bundes-regierung vorangetrieben wird. Dabei überwiegen bil-dungspolitische Argumentationen, an zweiter Stellestehen familien- und arbeitsmarktpolitische Begründun-gen für den Ausbau von Ganztagsschulen (Zeller2005).332 In den meisten Stellungnahmen werden mit derBefürwortung der Einführung von Ganztagsschulen auchErwartungen an eine Erweiterung des Bildungsverständ-nisses und eine Öffnung des Unterrichts für neue Lernfor-men verbunden. Obwohl der Vergleich damit ein bil-dungspolitisches Votum für eine reformierte Schuledeutlich macht, werden auch Modelle, in denen lediglicheine verlässliche Betreuung am Nachmittag garantiertwird, ohne weitergehende bildungspolitische Erwartun-

329 Coelen bezeichnet mit dem Begriff „Ganztagsbildung“ ein Systemvon ganztägigen Angeboten im Gemeinwesen, an dem neben derSchule auch die Jugendhilfe sowie andere Einrichtungen und Akteu-re beteiligt sind (Coelen 2002).

330 Bisher gibt es noch wenig Forschungen zu Ganztagsschulen. Bereitslaufende Projekte beziehen sich überwiegend auf Programme einzel-ner Bundesländer. Aussagen über Effekte von Ganztagsschulen aufBildung sind erst auf der Basis von größeren quantitativen Studienmöglich. Das Forschungsprojekt „Studien zur Entwicklung vonGanztagsschulen“ (StEG), das im Auftrag des BMBF bundesweitGanztagsschulen untersucht, die mit Mitteln des IZBB gefördertworden sind, befindet sich im Frühjahr 2005 in der Vorbereitung.

331 Dabei handelt es sich um Verlautbarungen und Positionspapiere von22 Organisationen und Verbänden: Stellungnahmen von Jugendver-bänden (Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Schülerinnen undSchüler [AES], Bund der Deutschen Katholischen Jugend [BDKJ],SDJ – Die Falken, Deutscher Bundesjugendring (DBJR), jugend-und jugendhilfepolitischen Gremien und Institutionen [BJK, AGJ]),von schul- und bildungspolitischen Institutionen und Verbänden (Ar-beitskreis Grundschule, Bundeselternrat, Forum Bildung, Gewerk-schaft Erziehung und Wissenschaft [GEW], Philologenverband),vom Deutschen Städtetag als kommunalem Spitzenverband, von denKirchen (Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, Deutsche Bi-schofskonferenz) sowie Arbeitgebern (BDA) und Gewerkschaften(DGB).

332 Dieser Vergleich ist von Maren Zeller im Auftrag des DJI für dasProjekt „Gestaltung von Ganztagsangeboten“ erstellt worden. Insge-samt sind in diesem Projekt acht Expertisen in Auftrag gegeben wor-den, auf sie wird in diesem Kapitel mehrfach Bezug genommen. DieExpertisen werden im Herbst 2005 im Forschungsnetz des BMFSFJveröffentlicht (www.bmfsfj.de/Kategorien/forschungsnetz.html).

Page 318: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 308 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

gen zu erfüllen, immerhin als Fortschritt für Eltern be-wertet, weil damit eine bessere Vereinbarkeit von Familieund Beruf möglich wird. „Viele der in allen Stellungnah-men genannten Ziele lassen sich unter dem Oberziel derEinführung einer ganzheitlichen Bildung (erweiterter Bil-dungsbegriff) subsumieren. So soll sich die Schule zu ei-nem gemeinsamen Lebens- und Lernort (BDKJ; GEW;Bundeselternrat; Grundschulausschuss; EKD) oder einertoleranten Bildungsstätte (Arbeitskreis Grundschule) ent-wickeln, an dem bzw. an der eigenverantwortliches wiesoziales Lernen (Bundeselternrat; BJK; GEW; Grund-schulausschuss; Arbeitskreis GS; BDKJ; BDA) innerhalbeiner pädagogischen Kultur (EKD) stattfindet. Die Insti-tution Schule soll den Schüler/innen Raum bieten, Demo-kratie zu erleben und zu lernen (Bundeselternrat etc;EKD), an Entscheidungen zu partizipieren (ArbeitskreisGrundschule; BJK) und Verantwortung zu übernehmen(AES). Ganzheitliche Lernprozesse sollen alle Schüler/innen in den Unterricht integrieren (DGB; GS-Aus-schuss) und zur Persönlichkeitsbildung (Bundeselternrat;DGB) und solidarischem Handeln (Bundeselternrat etc.)beitragen.

Über die Hälfte der Stellungnahmen erhofft sich von demganzheitlichen Bildungsansatz eine Chancengleichheit/Verbesserung der Bildungschancen für alle Kinder, seiensie nun besonders benachteiligt, ‚durchschnittlich‘ oderbesonders begabt. Wenn man hierunter auch noch das all-gemein formulierte Ziel der Qualitätsverbesserung vonSchule hinzunimmt, formulieren folgende Stellungnah-men dieses Ziel: AGJ; BDA; Bundeselternrat etc; BJK;DGB; Dt. Städtetag; EKD; Forum Bildung; NaturfreundeDtl.; GEW“ (Zeller 2005, S. 3f.).

In den meisten Stellungnahmen wird eine Rhythmisie-rung des Schultags gefordert (Zeller 2005), mit der ein„Wechsel von Anspannungs- und Entspannungsphasensowie zwischen aktiven Lern- und Übungs- sowie Ruhe-phasen“ (ebd.) ermöglicht werden soll. Ebenfalls gefor-dert werden „alternative Lernformen“, Projektarbeit undfächerübergreifendes bzw. fächerverbindendes Lernen so-wie „eine individuellere Förderung der einzelnen Kinder“(ebd.).

In einigen Stellungnahmen wird auch die Frage der Betei-ligung der Jugendhilfe an Ganztagsschulen thematisiert.Jugendverbände, GEW, DGB, BDA, EKD und DeutscheBischofskonferenz fordern einen Einbezug der Jugend-hilfe in Ganztagsschulen. Dabei wird vielfach betont,dass damit unterschiedliche fachliche Prinzipien und Ma-ximen in der Schule zur Geltung kommen sollen. Von denJugendverbänden wird die Forderung erhoben, dass Ko-operationen mit Ganztagsschulen „nicht unter dem Blick-winkel einer preisgünstigen Alternative diskutiert undeingeführt werden“ dürfen (ebd.). Der „Umbauprozesszur Ganztagsschule“ solle „sich an den Zielen, Inhalten,Lernformen und Methoden – kurz den Kompetenzen undErfahrungen – der Jugendhilfe orientieren“ (ebd.).

(d) Das „Projekt Ganztagsschule“: Funktionen und Ziele

Der Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen in der Bun-desrepublik Deutschland stellt derzeit das vermutlich

größte bildungspolitische Reformprogramm dar. Er wirddurch das Investitionsprogramm „Zukunft Bildung undBetreuung“ maßgeblich vorangetrieben. Der Bund unter-stützt mit diesem Programm die Länder beim Auf- undAusbau von Ganztagsschulen. Dieses Programm stellteine bildungspolitische Antwort auf PISA dar. Ganztags-schulen sollen mehr Zeit für Bildung bieten, in der Er-wartung, dass deutsche Schülerinnen und Schüler ininternationalen Leistungsvergleichen künftig besser ab-schneiden.

Der Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen in Deutsch-land ist jedoch mehr als nur eine Antwort auf PISA:

– Das „Projekt Ganztagsschule“ markiert erstens einenParadigmenwechsel, wonach Schulen nicht nur für dieBildung und Erziehung des Nachwuchses zuständigsind, sondern auch für eine verlässliche Betreuung.Dieses Umdenken hat bereits vor dem Ausbau vonGanztagsschulen begonnen. Bemühungen seit Anfangder 90er-Jahre in vielen alten Bundesländern, Grund-schulen als verlässliche Halbtagsschulen zu konzipie-ren und Eltern bei Bedarf Betreuungszeiten vor Unter-richtsbeginn und in der Mittagszeit anzubieten, sindein Beispiel dafür.

– Damit geht es bei dem „Projekt Ganztagsschule“ zwei-tens um eine Neubestimmung des Verhältnisses vonSchule und Familie. Hat Schule in der Bundesrepubliküblicherweise vorausgesetzt, dass Familien die erfor-derlichen Reproduktionsleistungen erbringen, umKinder in die Lage zu versetzen, Schule zu besuchenund am Unterricht teilzunehmen, und sich nicht darumgekümmert, wie Familien dies leisten, steht das „Pro-jekt Ganztagsschule“ auch für ein neues „Aushandeln“von Leistungen, die von der Familie und von derSchule erbracht werden. Dabei geht es nicht nur umverlässliche Betreuungsangebote, sondern auch darum,Schule so zu gestalten, dass Belange und Bedarfe vonEltern und Familien berücksichtigt werden.

– Mit der Ausdehnung und Verlängerung der (täglichen)Schulzeit geht es drittens um ein neues Verhältnis zwi-schen der älteren und der jüngeren Generation. DieGesellschaft bietet mit der Ganztagsschule nicht nurzusätzliche Leistungen an, sie verbindet damit an denNachwuchs auch Erwartungen, wenn sie mit derGanztagsschule mehr Zeit im Tageslauf von Kindernund Jugendlichen beansprucht. Damit wird durch das„Projekt Ganztagsschule“ auch eine Neuverständi-gung notwendig, was die Gesellschaft von Kindernund Jugendlichen erwartet, was sie ihnen zumutet, wieviel freie und selbst bestimmte Zeit sie ihnen gewährtund was sie ihnen an Leistungen für Bildung abver-langt. Mit dieser notwendigen Neubestimmung desGenerationenverhältnisses korrespondiert auch dieFrage, wie viel Freiräume die Gesellschaft Kindernund Jugendlichen in den staatlichen Pflichtveranstal-tungen gewährt, wie groß die Möglichkeiten der Mit-bestimmung und Selbstbestimmung sind. Diese Fra-gen werden deshalb auch in Bezug auf konzeptionelleEntwürfe von Ganztagsschulen diskutiert.

– Viertens kann von einem „Projekt Ganztagsschule“gesprochen werden, da mit dem Auf- und Ausbau von

Page 319: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 309 – Drucksache 15/6014

Ganztagsschulen und ganztägigen Angeboten anSchulen eine Neuvermessung des gesamten Systemsöffentlicher Bildung, Erziehung und Betreuung an-steht. Der Ausbau von Ganztagsschulen erfolgt über-wiegend in Kooperation von Schule und außerschuli-schen Akteuren, insbesondere der Jugendhilfe. Damitstehen nicht nur Fragen der Kooperation von Jugend-hilfe und Schule neu auf der Tagesordnung, es gehtauch um die Frage, welche Auswirkungen der Ausbauvon Ganztagsschulen und ganztägigen Angeboten aufSchule und Jugendhilfe in fachlicher, organisatori-scher, finanzieller und struktureller Hinsicht hat.

– Fünftens erscheint unter Bezug auf die internationaleDiskussion und die Gestaltung öffentlicher Bildungs-und Erziehungssysteme in anderen europäischen Län-dern das „Projekt Ganztagsschule“ in Deutschlandauch als eine „nachholende Reform“, indem sich dasdeutsche Bildungs- und Erziehungssystem damit anStandards und Organisationsformen vieler anderer eu-ropäischer Länder annähert (Coelen 2005).

Es geht bei dem „Projekt Ganztagsschule“ folglich ummehr als um eine Schulreform. Es geht um die Schaffungganztägiger öffentlicher Bildungs-, Betreuungs- und Er-ziehungsangebote für Kinder und Jugendliche im Schul-alter. Der Begriff „Ganztagsschule“ ist hierfür zu eng. AlsGanztagsschulen werden im Folgenden lediglich solcheSchulen bezeichnet, die in alleiniger schulischer Regiebetrieben und verantwortet werden. Demgegenüber spre-chen wir von ganztägigen Bildungs-, Betreuungs- und Er-ziehungsangeboten, wenn neben der Schule auch andereAkteure bei der Konzipierung, Bereitstellung und Verant-wortung für das ganztägige Angebot beteiligt sind.

6.5.2 Beobachtbare Entwicklungen, program-matische und konzeptionelle Eckwerte, fachliche und organisatorische Tendenzen

6.5.2.1 Ganztagsschulen in Deutschland – ein Überblick

Im Schuljahr 2002/03 waren knapp 10 Prozent aller allge-meinbildenden Schulen in Deutschland Ganztagsschu-len. Noch im Jahr 2001 betrug der Anteil lediglich ca.5 Prozent. Diese Zahlen kennzeichnen allerdings keinereale Steigerung des Anteils von Ganztagsschulen, siesind lediglich eine Folge der neuen Definition von Ganz-tagsschule der KMK aus dem Jahr 2003. Danach werdenauch Halbtagsschulen, die z. B. mit einem Hort zusam-menarbeiten, als Ganztagsschulen gezählt.

Vergleicht man für das Schuljahr 2002/03 den Anteil deran einem Ganztagsbetrieb teilnehmenden Schülerinnenund Schüler an allgemeinbildenden Schulen (einschließ-lich Sonderschulen) nach Bundesländern, so nahmen imVergleich mit dem Bundesdurchschnitt in Sachsen, Ber-lin, Thüringen, Nordrhein-Westfalen, Hessen und Bran-denburg überdurchschnittlich viele Schülerinnen undSchüler an einem Ganztagsangebot teil.333 Im Schuljahr

2003/04 verzeichnet prozentual zur gesamten Schüler-schaft eines Landes Thüringen den höchsten Anteil vonSchülerinnen und Schülern, die an einem Ganztagsange-bot teilnehmen. Neben Berlin, Sachsen, Nordrhein-West-falen, Hessen und Brandenburg ist der Anteil in diesemSchuljahr im Vergleich zum Bundesdurchschnitt auch inMecklenburg-Vorpommern überdurchschnittlich (vgl.Abb. 6.5). In Thüringen, Sachsen, Hessen und Mecklen-burg-Vorpommern überwiegen die offenen Formen, inBerlin gibt es im Schuljahr 2003/04 überwiegend, in Nord-rhein-Westfalen und Brandenburg fast ausschließlichGanztagsschulen in der gebundenen Form. Nach derKMK-Definition verzeichnen die neuen Bundesländer,insbesondere Sachsen und Thüringen, einen hohen Anteilvon offenen Ganztagsschulen aufgrund des gut ausgebau-ten Angebots an Hortplätzen und der engen Kooperationvon Grundschule und Hort sowie mit Programmen zurFörderung von Jugendarbeit an Schulen in der Sekundar-stufe I. In Berlin, Nordrhein-Westfalen und Brandenburgresultiert dagegen der relativ hohe Anteil von Schülerin-nen und Schülern, die an einem Ganztagsbetrieb teilneh-men, vor allem aus der größeren Zahl an IntegriertenGesamtschulen in diesen Ländern, die vielfach als Ganz-tagsschulen geführt werden.

Der Anstieg des Anteils von Schülerinnen und Schülernan offenen Ganztagsschulen ist noch nicht auf einen rea-len Ausbau von Ganztagsschulen durch das IZBB zurück-zuführen, sondern eine Folge der Definition von Ganz-tagsschulen der KMK und der statistischen Anpassung.Deshalb sind insbesondere die Anteile für offene Ganz-tagsangebote in einigen neuen Bundesländern sprunghaftangestiegen (vgl. Abb. A-6.3 im Anhang).

Traditionell gibt es besonders viele Ganztagsschulen beiden Integrierten Gesamtschulen und bei den Sonderschu-len; deshalb ist der Anteil von Schülerinnen und Schü-lern, die an einem Ganztagsbetrieb teilnehmen, bei diesenSchulformen relativ hoch. Mit der neuen Definition derKMK ist auch ein beträchtlicher Anteil von Grundschul-schülerinnen und -schülern zu verzeichnen, die ein Ganz-tagsangebot wahrnehmen (vgl. Abb. A-6.4). Im Schuljahr2002/03 besuchte über ein Drittel aller am Ganztags-betrieb teilnehmenden Schülerinnen und Schüler eine In-tegrierte Gesamtschule (323 600 Schülerinnen und Schü-ler oder 38 Prozent), eine Grundschule besuchten133 500 Schüler/innen (16 Prozent) und eine Sonder-schule 130 900 Schülerinnen und Schüler (15 Prozent).

Im Schuljahr 2003/04 haben sich die Relationen zwischenden Schularten geringfügig geändert. Von allen Schüle-rinnen und Schülern, die eine Ganztagsschule oder eineSchule mit ganztägigen Angeboten besuchten, befandensich 34 Prozent auf einer Integrierten Gesamtschule,17 Prozent auf einer Grundschule. Einen hohen Anstiegverzeichneten insbesondere Schularten mit mehreren Bil-dungsgängen, Gymnasien und Freie Waldorfschulen.

Im Unterschied zur Verteilung der Schülerinnen undSchüler an Ganztagsschulen und Schulen mit ganztägigenAngeboten besuchten im Schuljahr 2002/03 von der ge-samten Schülerschaft der allgemeinbildenden Schulen inDeutschland 32 Prozent eine Grundschule, 5 Prozent eineIntegrierte Gesamtschule und 4 Prozent eine Sonder-333 Für das Schuljahr 2002/03 vgl. Abb. A-6.3 im Anhang.

Page 320: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 310 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

A b b i l d u n g 6.5

Anteile der Schülerinnen und Schüler in Ganztagsangeboten im Primar- und im Sekundarbereich I (ohne Sonderschulen) (Bundesländer; Schuljahr 2003/04; in Prozent1)

1 aller Schülerinnen und Schüler in den Bundesländern.Quelle: Sekretariat KMK 2005

3,2

15,6

1,4

14,0

1,34,5

9,86,1

2,8 4,0 4,2 4,52,0

3,91,2

33,75,8

18,1

12,18,4 3,8

5,1 3,13,0 4,1 3,3

0,60,8

1,50,9

1,4

0,8

1,1

0

5

10

15

20

25

30

35

40

TH BE SN NW HE MV BB D HB NI BW RP HH ST SH SL BY

Schüler/innen, die am offenen Ganztagsbetrieb teilnehmen

Schüler/innen, die am gebundenen Ganztagsbetrieb teilnehmen

schule (Bundesministerium für Bildung und Forschung[BMBF] 2004a).Insgesamt befanden sich im Schuljahr 2002/0387 Prozent aller Ganztagsschulen in öffentlicher,13 Prozent in nichtstaatlicher Trägerschaft.334 Der abso-lute Anteil von Schülerinnen und Schülern auf einer all-gemeinbildenden Schule in nichtstaatlicher Trägerschaftbetrug im Schuljahr 2002/03 in Deutschland dagegen nur6 Prozent (ebd.).335 Differenziert man dabei nach Schul-formen, fällt ein hoher Anteil von Ganztagsschulen in pri-vater Trägerschaft bei Realschulen und Sonderschulenauf; über ein Drittel der privaten Realschulen und fast dieHälfte der privaten Sonderschulen sind Ganztagsschulen.Dagegen ist bei den Integrierten Gesamtschulen der An-teil der Ganztagsschulen in privater Trägerschaft deutlichgeringer (vgl. Abb. A-6.4).

Mit dem Investitionsprogramm „Zukunft Bildung undBetreuung“ und mit den Landesprogrammen zum Ausbauvon Ganztagsschulen (vgl. Abschnitt 6.5.2.2) verändertsich das Bild. Allerdings ist keine einheitliche Entwick-lung gegeben. Länder wie Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen, die bereits vor Beginn des IZBB eigene Lan-desprogramme aufgelegt hatten, forcieren den Ausbauvon Ganztagsschulen. In Rheinland-Pfalz sind in denSchuljahren 2002/03, 2003/04 und 2004/05 jeweils etwa80 neue Ganztagsschulen (Primar- und Sekundarbereich)hinzugekommen, in Nordrhein-Westfalen sind bis zumSchuljahr 2004/05 rund 700 neue „Offene Ganztags-grundschulen“ eingerichtet worden. Dagegen verläuft derAusbau in anderen Ländern teilweise deutlich gebremster(vgl. Abschnitt 6.5.2.2).

Im Schuljahr 2003/04 nehmen 962.700 Schülerinnen undSchüler an einem Ganztagsschulangebot teil (SekretariatKMK 2005, S. 8). Gegenüber dem Vorjahr, in dem861 200 Schülerinnen und Schüler für ein Ganztagsange-bot angemeldet waren (Sekretariat KMK 2004, S. 6), be-deutet dies einen Anstieg um knapp 12 Prozent (Sekreta-riat KMK 2005). Der Anteil der an einemGanztagsbetrieb teilnehmenden Schülerinnen und Schü-ler beträgt bei einer Zahl von rund 8,86 Mio. Schülerin-nen und Schülern an allgemeinbildenden Schulen im Pri-marbereich und Sekundarstufe I (einschl. Sonderschulen)

334 Diese Angaben beziehen sich nicht auf Schulen, sondern auf Verwal-tungseinheiten, in denen auch Schulen verschiedener Schularten, dieeine gemeinsame Leitung haben, erfasst werden (Sekretariat KMK2004, S. 10).

335 In den Schulgesetzen werden Schulen in nichtstaatlicher Träger-schaft als Privatschulen bezeichnet. Dabei handelt es sich überwie-gend um Schulen in der Trägerschaft von Kirchen, Verbänden undgemeinnützigen Vereinen. Diese Form der Trägerschaft ist mit denfreien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe vergleichbar.

Page 321: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 311 – Drucksache 15/6014

damit im Schuljahr 2003/04 10,9 Prozent (gegenüber ei-nem Anteil von 9,6 Prozent im Vorjahr) (ebd.).

Da Ganztagsangebote häufig an Schulzentren mit mehre-ren Schularten an einem Standort angeboten werden, wer-den statistisch in Bezug auf die Gesamtzahl von Schulenmit Ganztagsform nicht einzelne Schulen, sondern Ver-waltungseinheiten erfasst. Aussagen über den Anstieg derZahl der Schulen sind deshalb nur schulartbezogen mög-lich.

Im Schuljahr 2003/04 verfügen 12,4 Prozent aller Grund-schulen über einen Ganztagsbetrieb (im Vergleich zu10,3 Prozent im Schuljahr 2002/03; Sekretariat KMK2005, S. 12, Tab. 2.). Deutliche Anstiege sind bei denHauptschulen (14,8 Prozent aller Hauptschulen im Schul-jahr 2003/04, gegenüber dem Vorjahr Anstieg um3,3 Prozent), bei Schularten mit mehreren Bildungsgän-gen (21,7 Prozent im Jahr 2003, 2,5 Prozent mehr als imVorjahr) und insbesondere den Gymnasien (16,2 Prozentaller Gymnasien im Jahr 2003, Anstieg gegenüber demVorjahr um 4,4 Prozent) zu verzeichnen (SekretariatKMK 2005, S. 12, Tab. 2).336

Der prozentuale Anteil der Schulen mit Ganztagsbetriebist demnach geringer als der Anstieg der Zahl der Schüle-rinnen und Schüler, die an einem Ganztagsbetrieb teilneh-men. Dies kann damit erklärt werden, dass in vielenneuen offenen Ganztagsschulen die Zahl der am Ganztags-angebot teilnehmenden Schülerinnen und Schüler lang-sam ansteigt, viele offene Ganztagsschulen starten mitwenigen Ganztagsgruppen, auch die Gruppengrößen sindteilweise in den ersten Jahren geringer.337

Der Anstieg der Zahl von Ganztagsschulen von 2002 auf2003 ist erst zu geringen Anteilen auf das IZBB zurück-zuführen, er ist in weiten Teilen eine Folge der neuen De-finition der KMK. Ein deutlicher Anstieg von Ganztags-schulen, die mit Mitteln des IZBB eingerichtet wurden,ist erstmals im Schuljahr 2003/04 zu verzeichnen. DieZahl neuer Ganztagsschulen und Schulen mit ganztägigenAngeboten wird dagegen in den Schuljahren 2004/05 und2005/06 erheblich zunehmen, da erst dann viele der mitdem IZBB zur Verfügung stehenden Mittel abgerufenwerden können und etliche neue Ganztagsschulen nacheiner Planungs- und Umbauphase starten. Beim Bundes-ministerium für Bildung und Forschung, das für die Ver-gabe der Mittel des IZBB an die Länder zuständig ist,sind bis März 2005 insgesamt 3 030 Schulen für die För-derung durch das Investitionsprogramm gemeldet, davon475 für das Schuljahr 2003/04 und 2 573 für das Schul-jahr 2004/05. Von diesen Meldungen beziehen sich67 Prozent auf neu einzurichtende Ganztagsschulen,21 Prozent betreffen den Ausbau bestehender Ganztags-

schulen und 12 Prozent der Meldungen haben die qualita-tive Weiterentwicklung bestehender Ganztagsangebote inKooperation mit außerschulischen Einrichtungen, insbe-sondere die Kooperation von Schule und Hort in denneuen Bundesländern, zum Gegenstand.

Aufgrund der langen Planungsvorläufe ist deshalb derStart weiterer neuer Ganztagsschulen, die mit Mitteln desIZBB eingerichtet werden, erst in den kommenden Jahrenzu erwarten. Erste Hochrechnungen des BMBF auf derBasis von Meldungen der Länder Anfang April 2005 prog-nostizieren für das Schuljahr 2005/06 die Einrichtung von1 500 neuen Ganztagsschulen mit Mitteln des IZBB. Da-mit könnte es im Schuljahr 2005/06 bereits etwa4 500 neu eingerichtete Ganztagsschulen und Schulen mitganztägigen Angeboten in Deutschland geben. Zusam-men mit den bereits vor dem Investitionsprogramm beste-henden Ganztagsschulen338 ist in den nächsten Jahren einAusbau der Ganztagsschulen in der offenen und in der ge-bundenen Form bis zu rund einem Viertel aller allgemein-bildenden Schulen in Deutschland nicht unrealistisch.339

Allerdings dürfte es sich dabei überwiegend um offeneGanztagsschulen handeln, in der Anfangsphase häufigmit eher kleinen Gruppen von Schülerinnen und Schü-lern, die am Ganztagsbetrieb teilnehmen.340

6.5.2.2 Konturen der neuen Ganztagsschule – Programme zum Ausbau von Ganztags-schulen in den Bundesländern: exemplarische Beispiele

Im Folgenden werden Linien und Schwerpunkte des Aus-baus von Ganztagsschulen am Beispiel von sechs Bun-desländern beschrieben. Sie machen unterschiedlicheVorgehensweisen und Akzentuierungen des Ausbaus an-hand der jeweiligen Landesprogramme zur Ganztags-schule sichtbar in Bezug auf inhaltlich-programmatischeSchwerpunkte, auf Schulstufen und -formen sowie aufdie Art und Weise der Gestaltung und der Konkretisie-rung von Ganztagsschulen. Insgesamt werden überwie-gend offene Formen von Ganztagsschulen eingerichtet,allerdings wiederum mit unterschiedlichen Intentionen.Manche Länder fördern offene und gebundene Formen,manche Konzepte für offene Ganztagsschulen sind so an-gelegt, dass sie eine Weiterentwicklung zu teilgebunde-nen oder gebundenen Formen ermöglichen, andere wie-derum stellen durch eine streng additive Konstruktionlängerfristig Weichen für eine Ganztagsschule in der offe-nen Form. Die folgende Darstellung beansprucht nicht,die Programme vollständig abzubilden, vielmehr werden

336 Der prozentual höchste Anstieg ist bei den Freien Waldorfschulenmit 5,6 Prozent zu verzeichnen, allerdings bei einer insgesamt sehrgeringen Zahl von Schulen (41 Ganztagsschulen im Jahr 2003) (Se-kretariat KMK 2005, S. 12, Tab. 2).

337 Bei den Vorgaben und Richtlinien der Bundesländer gibt es teilweiseerhebliche Unterschiede bei der erforderlichen Mindestzahl vonSchülerinnen und Schülern, um einen offenen Ganztagsbetrieb auf-nehmen zu können (dazu Abschnitt 6.5.2.2).

338 Der Ganztagsschulverband schätzt, dass es bisher in Deutschlandrund 2 700 voll ausgebaute Ganztagschulen in gebundener und in of-fener Form gibt, die den Kriterien und Standards des Ganztagsschul-verbandes entsprechen (Schätzungen des Ganztagsschulverbandes,Stand 28.2.2005).

339 In der Bundesrepublik Deutschland gibt es knapp 37 000 allgemein-bildende Schulen (Grundschulen, Schulen der Sekundarstufe I und II,ohne Abendschulen und Kollegs; Angaben für 2002, BMBF 2004,S. 54).

340 Deshalb ist vermutlich der Anteil der Schülerinnen und Schüler aneiner Ganztagsschule vorerst deutlich geringer als ein Viertel der ge-samten Zahl der Schüler/innen an allgemeinbildenden Schulen.

Page 322: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 312 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Schwerpunkte in den Entwicklungen aufgezeigt, um dasSpektrum der verschiedenen Vorstellungen von Ganz-tagsschule und Strategien zum Ausbau ganztägiger Ange-bote sichtbar zu machen. Da sich die Bedingungen in denLändern durch die Weiterentwicklung der Programmeund die Anpassung an neue Aufgaben und Erfahrungensehr schnell ändern, kann dieser Überblick nur eine Mo-mentaufnahme sein.

(a) Rheinland-Pfalz

Die Landesregierung in Rheinland-Pfalz will in der Le-gislaturperiode von 2001 bis 2006 300 Ganztagsschulen„in neuer Form“ einrichten. Diese sehen ein Angebot „anvier Tagen der fünftägigen Schulwoche im Zeitraum von8.00 bis 16.00 Uhr vor. Nach der Anmeldung ist die Teil-nahme für mindestens ein Schuljahr an allen Tagen ver-pflichtend“ (Landtag Rheinland-Pfalz 2003, S. 2). ImSchuljahr 2002/03 sind 81, im Schuljahr 2003/04 82 neueGanztagsschulen eingerichtet worden, ungefähr ein Drit-tel davon sind Grundschulen. Mit diesem Ausbau, mitdem ein prognostizierter Bedarf von etwa 20 bis30 Prozent in der Primarstufe und der Sekundärstufe ge-deckt werden soll, sind bildungs-, familien-, frauen-, so-zial- und arbeitsmarktpolitische Ziele verbunden.

Ganztagsschulen in neuer Form stellen Angebote in vierBereichen bereit: unterrichtsbezogene Ergänzungen, the-menbezogene Vorhaben und Projekte, Förderung undFreizeitgestaltung. Für die Organisation ist die Wahl zwi-schen zwei Modellen möglich: einem Modell, in dem dieAngebote über den gesamten Schultag verteilt sind (Or-ganisationsmodell I), und einem additiven Modell, in demdiese Angebote als zusätzliche Nachmittagsangebotekonzipiert werden (Organisationsmodell II). Im Organisa-tionsmodell I werden für einzelne Klassenzüge ganztä-gige Angebote vorgehalten, im Organisationsmodell IIwerden keine ganztägigen Klassenzüge eingerichtet.

„Das Organisationsmodell I ist im Startschuljahr und imzweiten Schuljahr bisher noch von einer Minderheit derneuen Ganztagsschulen umgesetzt worden. Dazu zählenauch Schulen, die eine Mischform aus Organisationsmo-dell I und einem Additum (Organisationsmodell GTS II)praktizieren. Das heißt, in manchen Jahrgangsstufen sindGanztagsklassen eingerichtet, in anderen wird additiv or-ganisiert. In der Startphase entschieden sich die meistenSchulen, vor allem im Hinblick auf die leichtere Organi-sierbarkeit, für das Organisationsmodell II. Sie ergänztendie unterrichtlichen Veranstaltungen am Vormittag umpädagogische Angebote am Nachmittag, die die vier ver-bindlichen Gestaltungselemente berücksichtigten. Dabeikam ihnen zugute, dass in der Regel außerschulischePartner nur am Nachmittag ihre gerade aus Schülersichtinteressanten Projekte anbieten konnten. Nach Auffas-sung einiger Schulen entwickelt sich, gerade weil dieKinder klassen- und auch klassenstufenübergreifend inArbeitsgemeinschaften, Neigungskursen oder Förderan-geboten zusammenkommen, ein günstiges Schulklima“(ebd., S. 8).

Die Einrichtung und die Gestaltung von Ganztagsschulenin neuer Form erfolgt in Kooperation mit außerschuli-

schen Anbietern. Dazu werden Rahmenvereinbarungenzwischen dem Ministerium für Bildung, Frauen und Ju-gend und den außerschulischen Kooperationspartnern aufLandesebene abgeschlossen, in denen insbesondere auchFragen der Finanzierung der Angebote geregelt sind.Schulen haben die Möglichkeit, auf dieser Basis Dienst-leistungs- und Kooperationsverträge mit außerschuli-schen Anbietern abzuschließen, die auf der Grundlagedieser Verträge Angebote offerieren, die sie eigenständigund selbstverantwortlich durchführen. Die Kooperations-partner stellen dafür das Personal zur Verfügung. Dienst-leistungsverträge regeln Angebote, die vom außerschuli-schen Vertragspartner eigenständig und mit eigenem,beim Vertragspartner fest angestelltem Personal durchge-führt werden. Der Vertragspartner erhält für diese Dienst-leistung Kostenersatz und zusätzlich einen Kostenzu-schlag, um in Ausfallzeiten Vertretungskräfte einsetzenzu können. Dienstleistungsverträge sind in der Regelunbefristet, können aber zum Ende eines Schuljahres ge-kündigt werden. Kooperationsverträge regeln die Durch-führung von Projekten durch außerschulische Kooperati-onspartner an einer Schule. Diese Projekte werden in derRegel von nebenberuflich Tätigen durchgeführt. Der Ko-operationspartner erhält für die Durchführung des Pro-jekts eine Zuwendung, die nach einem vereinbarten wö-chentlichen Stundenkontingent bezahlt wird und an derVergütung für nebenberufliche Beschäftigungsverhält-nisse orientiert ist (Held 2003, S. 80).

(b) Nordrhein-Westfalen

In Nordrhein-Westfalen sollen bis zum Schuljahr 2007/08zwei Drittel aller Grundschulen als „offene Ganztags-grundschulen“ ausgebaut sein und Ganztagsplätze für je-des vierte Kind im Grundschulalter, das sind ca. 195 000Plätze, vorgehalten werden. Dieser Ausbau der „offenenGanztagsgrundschule“ erfolgt in wesentlichen Teilendurch die Zusammenführung vorhandener Ganztagsange-bote der Kinder- und Jugendhilfe, dabei insbesondere derHorte, und bestehender schulischer Programme wie„Schule von acht bis eins“ und „Dreizehn plus“ zu „ei-nem kohärenten Ganztagssystem“ unter dem Dach derSchule (Ministerium für Schule, Jugend und Kinder[MSJK] 2003, S. 3). Mit dem Ausbau von Ganztagsange-boten für Kinder im Grundschulalter werden drei Zieleverfolgt: eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Be-ruf, eine „Verbesserung der Bildungsqualität und Chan-cengleichheit“ durch eine „Förderung von besonders leis-tungsstarken ebenso wie benachteiligten Kindern“ unddie Schaffung eines Ganztagsangebots „aus einer Hand,mit einer Finanzierung, mit einem Ort für die Anmeldungzum Ganztag, zur einfachen Orientierung der Eltern“(ebd.). In der offenen Ganztagsschule sollen Unterricht,unterrichtsergänzende Förderung, außerunterrichtlicheAngebote (z. B. Förderangebote, Arbeitsgemeinschaftenund Projekte, musisch-künstlerische Angebote sowie Be-wegung, Sport und Spiel) und Freizeitangebote in einemGesamtkonzept der Schule, das Teil des Schulprogrammssein soll, miteinander verbunden werden. Die Teilnahmean der offenen Ganztagsgrundschule ist freiwillig; dieSchulen sind in der Regel von 8.00 bis 16.00 Uhr geöffnet

Page 323: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 313 – Drucksache 15/6014

(ebd.). Eine Betreuung an unterrichtsfreien Tagen und inden Ferien soll nach Bedarf eingerichtet werden, in denFerien auch schulformübergreifend.

Die offene Ganztagsgrundschule wird in Kooperation mitaußerschulischen Trägern gestaltet und durchgeführt. DasPersonal der außerschulischen Kooperationspartner solldeshalb auch in die Lehrerkonferenz und die anderenSchulmitwirkungsgremien einbezogen werden. Lehr-kräfte, Erzieherinnen und Erzieher, Sozialarbeiterinnenund Sozialarbeiter sowie andere Professionen (z. B.Handwerker/innen und Künstler/innen) sollen in einemmultiprofessionellen Team der offenen Ganztagsschulearbeiten. Möglich ist auch die Mitarbeit von ehrenamtlichtätigen Personen, von Eltern, Senioren, älteren Schülerin-nen und Schülern, Studierenden, Praktikantinnen undPraktikanten.

(c) Bayern

Unter dem Titel „Ganztägige Förderung und Betreuungan Schulen“ hat das Bayerische Staatsministerium fürUnterricht und Kultus drei Programme aufgelegt: ein Pro-gramm zur Förderung der kind- und familiengerechtenHalbtagsgrundschule, eines zur Förderung von Ganztags-angeboten an Schulen und ein weiteres zur Förderung vonGanztagsschulen. Das Programm zum Ausbau einer kind-und familiengerechten Grundschule ist kein Ganztags-schulprogramm, sondern sieht eine Erweiterung derHalbtagsschule um eine unentgeltliche Betreuung vorUnterrichtsbeginn ab 7.30 Uhr und eine Mittagsbetreuungin kommunaler oder freier Trägerschaft vor, die ein Mit-tagessen einschließt und mindestens bis 13 Uhr dauert;möglich ist auch eine Betreuung bis 14.30 Uhr. Finanziertwird dieses Mittagsangebot zu je einem Drittel von Land,Kommune und Eltern. Im Schuljahr 2002/03 haben rund80 Prozent aller Grundschulen eine verlässliche Betreu-ung vor und nach dem Unterricht angeboten.

Ganztagsschulen mit einem ganztägig strukturierten Pro-gramm, für die gesamte Schule oder für einzelne Klassen-züge, werden quantitativ weniger gefördert als Ganztags-angebote an Schulen. Dieses Programm bezieht sich aufalle Schulformen der Sekundarstufe I, mit einem Schwer-punkt im Bereich der Hauptschule. Es sieht eine verlässli-che Betreuung an mindestens vier Schultagen pro Wochevor. Eltern können Kinder auch nur für bestimmte Tageanmelden, die Anmeldung ist dann allerdings für ein gan-zes Schuljahr verpflichtend.

Der Ausbau von Ganztagsangeboten erfolgt in Koope-ration mit der Kinder- und Jugendhilfe und anderenaußerschulischen Institutionen. Betreuung und Förde-rung wird vor allem von Sozialpädagoginnen/Sozialpä-dagogen, Erziehern/innen, Übungsleitern/Übungsleiterin-nen u. a. übernommen. Zu einem geringen Teil werdenauch Lehrkräfte im Nachmittagsbereich eingesetzt, umeine Verzahnung von Vor- und Nachmittag zu gewähr-leisten. Sozialpädagogisches Personal kann, um die Ver-zahnung zwischen Unterricht und außerunterrichtlicheAngebote miteinander zu verknüpfen, bereits auch amVormittag an der Schule beschäftigt werden.

Das Bayerische Staatsministerium für Unterricht undKultus setzt beim Ausbau von Ganztagsangeboten anSchulen auf die Kooperation mit der Kinder- und Jugend-hilfe, um so ein erweitertes Bildungsangebot und -ver-ständnis verwirklichen zu können, in dem es neben derWissensvermittlung auch um die Vermittlung sozialer,emotionaler und körperlich-expressiver Kompetenzengeht. Ganztagsangebote an Schulen sollen Bildung in ei-nem umfassenden Sinne ermöglichen, eine bessere För-derung der Kinder und der Jugendlichen gewährleistenund die Erziehungsfunktion der Schule verbessern. Durchden gesellschaftlichen Wandel und die damit notwendi-gen Neubestimmungen des Verhältnisses zwischenSchule und Eltern hinsichtlich der Erziehungsfunktionmüssen Schulen vermehrt Erziehungsaufgaben überneh-men, die früher selbstverständlich Angelegenheit der El-tern waren. Diese Erziehungsfunktion der Schule kannmit ganztägigen Angeboten besser erfüllt werden als intraditionellen Halbtagsschulen. Dabei kommt insbeson-dere der Kooperation mit der Kinder- und Jugendhilfeeine wichtige Bedeutung zu, da mit ihr eine andere päda-gogische Profession an den Schulen tätig wird und ihresozialpädagogische Fachlichkeit in die Schulen einbrin-gen kann.

(d) Saarland

Das Saarland setzt auf den Ausbau der „freiwilligenGanztagsschule“. Sie soll flächendeckend angeboten wer-den, flexibel nach den Bedürfnissen der Eltern genutztund freiwillig in Anspruch genommen werden können.Ganztägige Angebote an freiwilligen Ganztagsschulengibt es an fünf Tagen pro Woche, ein Angebot in den Fe-rien ist ebenfalls vorgesehen. Die Nutzung erfolgt aller-dings flexibel, d. h. je nach Bedarf und Interesse könnenSchülerinnen und Schüler das Angebot nur an einigen Ta-gen pro Woche in Anspruch nehmen. Die Schulen habenentweder bis 14 Uhr oder bis 16 Uhr und länger geöffnet.

Für die Größe der Gruppen ist eine Richtzahl von20 Schülerinnen und Schülern vorgegeben, in Ausnahme-fällen sind auch geringfügige Unter- oder Überschreitun-gen der Gruppengröße möglich. Die Mindestzahl für denStart eines freiwilligen Ganztagsangebots beträgt zehnSchülerinnen und Schüler; in Landkreisen, in denen keineKooperation mit anderen Schulen möglich ist, kann in be-gründeten Fällen auch bei einer niedrigeren Schülerzahlbegonnen werden.

Als Ziele des Ausbaus von freiwilligen Ganztagsschulenwerden eine bessere Bildung und eine intensivere Betreu-ung genannt. Im Vordergrund steht dabei allerdings dieSchaffung eines verlässlichen Betreuungsangebots: „Diegesellschaftliche Entwicklung hat die Lebenswelt derKinder verändert. Das zeigt sich insbesondere in der Ver-änderung der Familienstruktur. (...) Diese geänderte ge-sellschaftliche Realität macht in verstärktem Maße dieEinrichtung von Ganztagsangeboten im Schulbereich er-forderlich. Hierdurch sollen die Eltern in die Lage ver-setzt werden, ihre Kinder in einem verlässlichen zeitli-chen Rahmen auch nach dem Unterricht in der Schule inguten Händen zu wissen. Mit diesen Angeboten ist es El-

Page 324: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 314 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

tern möglich, ihre familiären und beruflichen Pflichtenbesser miteinander zu verbinden“ (Ministerium für Bil-dung, Kultur und Wissenschaft des Saarlandes 2004).

Vor- und Nachmittag stehen in diesem Modell weitge-hend unverbunden nebeneinander, weil in der Regel nurwenige Schülerinnen und Schüler einer Schule am Nach-mittagsangebot teilnehmen. Da die Gewährleistung einerverlässlichen ganztägigen Betreuung politische Prioritäthat, stellt die Verknüpfung von Vor- und Nachmittag auchnicht das vorrangige bildungspolitische Ziel des Ausbausvon freiwilligen Ganztagsschulen dar.341

Eine zentrale Funktion für den Ausbau und die Gestal-tung freiwilliger Ganztagsschulen hat die Kooperationmit der Kinder- und Jugendhilfe. Nachmittagsangebote,die in den Räumen der Schule durchzuführen sind, kön-nen von freien Trägern oder von der Schule angebotenwerden. Dabei werden von freien Trägern als Personal fürdie Durchführung der Angebote am Nachmittag nebenErzieherinnen auch Hausfrauen und Mütter eingesetzt.

Im September 2004 gibt es Ganztagsangebote nach die-sem Modell an rund der Hälfte der Gymnasien und derErweiterten Realschulen und an ca. einem Drittel derGrundschulen im Saarland.

(e) Brandenburg

Das Land Brandenburg will Ganztagsangebote in der Pri-marstufe und in der Sekundarstufe I ausbauen. Mit demAusbau sollen Lern- und Förderangebote für möglichstviele Schülerinnen und Schüler verbessert, eine bessereVereinbarkeit von Familie und Beruf gewährleistet und„durch die Kooperation von Schule, Jugendhilfe und an-deren Trägern (…) attraktive Lern- und Lebensorte fürjunge Menschen“ geschaffen werden (Ministerium fürBildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg[MBJS] 2003, S. 2). Neben besseren Bildungs- und Be-treuungsangeboten für möglichst viele Schülerinnen undSchüler stellt die Bereitstellung jugendkultureller Ange-bote ein besonderes Ziel des Ausbaus in Brandenburg dar.Dabei spielt die Kooperation von Jugendhilfe und Schulesowie der Einbezug und die Nutzung von Ressourcen imGemeinwesen eine besondere Rolle. Dieses jugendpoliti-sche Ziel des Ausbaus von Ganztagsangeboten trägt derTatsache Rechnung, dass in vielen Landkreisen öffentli-che Angebote für Kinder und Jugendliche häufig nicht amWohnort selbst vorhanden sind und deshalb die Anbin-dung an Schule eine Chance darstellt, erreichbare Ange-bote vorzuhalten.

Ganztagsangebote gibt es in der voll gebundenen, in derteilweise gebundenen und in der offenen Form. Die erstenbeiden Formen stellen integrative Modelle dar, die eine„pädagogische und zeitliche Verzahnung von Unterrichtund Freizeit sowie erweiterten Lernangeboten und För-

dermaßnahmen“ erlauben (ebd., S. 3). In der offenenForm als additivem Modell bleibt der Unterricht am Vor-mittag im Wesentlichen unverändert und wird durch zu-sätzliche Angebote am Nachmittag ergänzt.

Alle Ganztagsangebote sollen an „mindestens drei Wo-chentagen für jeweils acht Zeitstunden oder an mindes-tens vier Wochentagen für jeweils sieben Zeitstundenvorgehalten werden“ (ebd.). In der Grundschule werdenGanztagsangebote in der voll gebundenen Form aufgrunddes ausgebauten Angebots an Horten nicht eingerichtet.Als Ganztagsangebote in der teilweise gebundenen Formwird ein integriertes Angebot aus verlässlicher Halbtags-grundschule, Hort und ergänzenden Angeboten realisiert.Die verlässliche Halbtagsgrundschule sichert den Elterneine kostenfreie Betreuung von 7.30 Uhr bis 13.30 Uhr anfünf Tagen pro Woche und ist durch einen rhythmisiertenTagesablauf gekennzeichnet. Für die Angebote nach13.30 Uhr (Hort, offene Freizeitangebote, Angebote derJugendhilfe) kann ein finanzieller Beitrag von den Elternerhoben werden.

In Brandenburg hat die Kooperation von Schulen mitganztägigen Angeboten und außerschulischen Einrichtun-gen einen hohen Stellenwert. Schulen müssen mit außer-schulischen Kooperationspartnern zusammen arbeitenund dies in einer Kooperationsvereinbarung verbindlichregeln. Im Grundschulbereich ist die Kooperation mitdem Hort verbindlich, Grundschulen und Schulen der Se-kundarstufe I sind verpflichtet, Kooperationsverträge mitaußerschulischen Partnern zu schließen und mit ihnen aufder Basis eines gemeinsamen Konzepts zu kooperieren.Die Regelung der Kooperation stellt eines der Kriteriendar, das bei der Antragstellung auf Genehmigung alsGanztagsschule bzw. Schule mit offenem Ganztagsange-bot geprüft wird. Angebote außerschulischer Kooperati-onspartner können dabei „unter organisatorischer Verant-wortung und Aufsicht der Schule“ durchgeführt werden(Abs. 3,3 Verwaltungsvorschriften über Ganztagsange-bote 2004) oder als Angebote, die nicht unter der Auf-sicht der Schule stehen, ganztägige Angebote an Schulensinnvoll ergänzen (Abs. 3,4 Verwaltungsvorschriften).Diese Kooperationen sind in Kooperationsvereinbarun-gen zu regeln. Dabei können auch Räume in der Nachbar-schaft der Schule einbezogen werden.

Die Kapazitäten der Ganztagsangebote müssen so be-schaffen sein, dass sie im Grundschulbereich von60 Prozent der Schülerinnen und Schüler einer Schule, inder Sekundarstufe I von 40 Prozent genutzt werden kön-nen (MBJS 2003).

(f) Berlin

Das Land Berlin will das Angebot für Ganztagsbetreuungvon Grundschulkindern flächendeckend ausbauen. Das„Gesamtkonzept für die Ganztagsbetreuung von Grund-schulkindern“ der Senatsverwaltung für Bildung, Jugendund Sport sieht vor, etwa 30 Ganztagsgrundschulen invollgebundener und teilgebundener Form einzurichten,die Verlässliche Halbtagsgrundschule flächendeckendeinzuführen und einen Offenen Ganztagsbetrieb an

341 So der saarländische Minister für Bildung, Kultur und Wissenschaftauf einer Veranstaltung der KMK am 30. September 2004 in Berlin.Dabei plädiert er dafür, die Ansprüche nicht zu hoch zu setzen unddie Verzahnung von Vor- und Nachmittag zu einem späteren Zeit-punkt auf die politische Agenda zu setzen.

Page 325: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 315 – Drucksache 15/6014

Grundschulen aufzubauen.342 „Für alle Schüler derGrundschule … wird mit dem Schuljahr 2005/06 die Ver-lässliche Halbtagsschule eingeführt. Sie bietet im Rah-men des schulischen Gesamtkonzepts verlässliche Öff-nungszeiten von 07:30 bis 13:30 Uhr für alle Kinder ohneKostenbeteiligung der Eltern“ (Senatsverwaltung für Bil-dung, Jugend und Sport Berlin, S. 13). Darüber hinauswerden eine Frühbetreuung von 6:00 bis 7:30 Uhr undeine Betreuung am Nachmittag im Rahmen des OffenenGanztagsbetriebs eingerichtet.

Die Einführung der flächendeckenden VerlässlichenHalbtagsschule und der Ausbau des Offenen Ganztagsbe-triebs erfolgt, auch angesichts der Haushaltslage des Lan-des Berlin, durch eine Neustrukturierung von Schule undJugendhilfe. Mit dem Schuljahr 2005/06 wird der Hort alsLeistungsbereich der Jugendhilfe in den Zuständigkeits-bereich der Schule verlagert. Damit wird die bisherigeDoppelstruktur von Schule und Jugendhilfe bei der Be-treuung von Kindern im Grundschulalter aufgegeben und„der Grundschule die ausschließliche organisatorischeund finanzielle Zuständigkeit für die Ganztagsbetreuungder Kinder im Grundschulalter“ übertragen (ebd., S. 14).Dies bedeutet, dass die Mittel der Jugendhilfe für dieHortbetreuung an die Schule verlagert werden (ebd.,S. 15). Mit dieser Umstrukturierung erhält die Jugend-hilfe die ausschließliche Zuständigkeit „für die vorschuli-sche Erziehung bis zum Schuleintritt bei Aufgabe der bis-herigen Doppelstruktur von Vorklasse und Kindergarten“,die Schule die ausschließliche Zuständigkeit „für dieZielgruppe der Grundschulkinder bei Aufgabe der Paral-lelität der Ganztagesbetreuung in Kitas und Grundschu-len“ (ebd., S. 14). Diese Umstrukturierung erfordert eineNeuordnung der Zuständigkeiten von freien und öffentli-chen Trägern der Jugendhilfe bei der Kindertagesbetreu-ung. Freie Träger erhalten für wegfallende Plätze in derHortbetreuung Kindergartenplätze, gleichzeitig fallenstädtische Kindertageseinrichtungen weg. Dadurch er-höht sich der Anteil der Plätze freier Träger in den vor-schulischen Kindertageseinrichtungen (ebd., S. 34).

(g) Sachsen

In Sachsen besuchten Anfang 2004 ungefähr ein Viertelaller Schülerinnen und Schüler eine Schule mit Ganztags-angeboten. Damit verfügte Sachsen zu diesem Zeitpunktrelational über die meisten Ganztagsplätze im Länderver-gleich. Da nach der Definition der KMK auch Halbtags-schulen, die mit einem Hort kooperieren, dazugezähltwerden, erreicht Sachsen aufgrund des gut ausgebautenAngebots an Hortplätzen eine so hohe Rate.

Das Land Sachsen war beim Ausbau von Ganztagsschu-len ansonsten eher zurückhaltend.343 In einem Schulver-such werden an zehn Schulen der Sekundarstufe Ganztags-

angebote eingerichtet. Darüber hinaus wird dasProgramm des Landes zur Förderung der Schuljugendar-beit auch zum Ausbau von Ganztagsangeboten an Schu-len eingesetzt. „Schuljugendarbeit als Bestandteil vonGanztagsschulen dient der Gestaltung der Schule alsLern-, Lebens- und Erfahrungsraum. Durch Projekte derSchuljugendarbeit wird die Schule zu einem Ort, an demmehr stattfindet als Unterricht. Es werden Möglichkeitenfür Kommunikation, Partizipation, aber auch Erfahrungs-räume geschaffen, die sich an den Interessen der Kinderund Jugendlichen orientieren“ (Sächsisches Staatsminis-terium für Kultus 2003). Das Programm konkretisiert sichin drei Modulen: freizeitpädagogische Bildungsange-bote, das an Mittelschulen und Gymnasien durch ein ver-lässliches Betreuungsangebot ergänzt werden kann, An-gebote zur speziellen Förderung und Unterstützung sowieunterrichtsergänzende Projekte.

Schulen mit ganztägigen Angeboten sind in Sachsen involl gebundener Form, in teilweise gebundener Form undin offener Form möglich. Ganztagsangebote sind an dreibis fünf Tagen pro Woche für mindestens sieben Zeitstun-den einzurichten. Die Kooperation mit der Kinder- undJugendhilfe erfolgt in der Grundschule vor allem mit demHort, in Schulen, die am Förderprogramm „Schuljugend-arbeit als Bestandteil von Ganztagsangeboten“ teilneh-men, mit der Jugendarbeit. Schule und außerschulischeAnbieter regeln die Zusammenarbeit in einer Koopera-tionsvereinbarung.

Zwischenfazit: Mit dem Ausbau von Ganztagsschulenund Ganztagsangeboten werden unterschiedliche Zieleverfolgt. In allen Ländern wird der Ausbau mit einer Ver-besserung des Bildungs- und Betreuungsangebots be-gründet. Dabei dürfte das Interesse, eine verlässlicheganztägige Betreuung zur Verfügung zu stellen, etwas imVordergrund stehen gegenüber dem Ziel, Bildungsange-bote für Schülerinnen und Schüler zu verbessern. Diessteht tendenziell im Widerspruch zu den öffentlichen Ver-lautbarungen im Zusammenhang mit den Ergebnissenvon PISA 2000; in den Positionspapieren und Program-men der Länder bleiben die Aussagen zum Bildungsange-bot an Ganztagsschulen im Vergleich zu den Aussagenüber Betreuung eher vage. Zwar sollen Ganztagsschulenein breiteres Bildungsangebot ermöglichen, durch eineandere Organisation des Tageslaufs mit einem Wechselvon Unterricht und Freizeit den Interessen und Bedürfnis-sen von Kindern und Jugendlichen besser gerecht werdenund so auch dazu beitragen, Lernprozesse zu unterstützenund zu fördern. Dem steht jedoch entgegen, dass Modelleder offenen Ganztagsschule, in der nur ein Teil der Schü-lerschaft am Nachmittagsprogramm teilnimmt, eineRhythmisierung des Tageslaufs nur in begrenztem Maßeermöglichen. Die zusätzlichen Angebote am Nachmittagbieten zwar mehr Zeit für Bildung; über die Effekte kannjedoch bisher noch nichts gesagt werden. Eine Verbesse-rung des Betreuungsangebots dagegen wird von vielenEltern nachgefragt, und mit dem Ausbau von Ganztags-schulen wird auf einen Bedarf reagiert, der aus gesell-schaftlichen Modernisierungsprozessen resultiert. Aller-dings wird der Bedarf in den Bundesländernunterschiedlich interpretiert. Während Länder wie Rhein-

342 Ein weiterer Bestandteil dieses Konzepts ist auch eine Reform desSchuleingangs mit einem vorgezogenen Schulanfang und einer Neu-gestaltung der Schulanfangsphase (ebd., S. 34).

343 In der Koalitionsvereinbarung von CDU und SPD vom November2004 wird ein Ausbau von Ganztagsangeboten in Sachsen genannt(Vereinbarung 2004).

Page 326: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 316 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

land-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Brandenburg voneinem hohen Bedarf ausgehen, wird er in anderen Län-dern eher niedriger eingeschätzt.

Der Ausbau von Ganztagsschulen wird in einigen Län-dern forciert, in anderen Ländern eher zurückhaltend be-trieben. Unabhängig von den Schwerpunkten und Zielender Bundesländer ist insgesamt das Problem zu lösen, ei-nen starken quantitativen Ausbau und qualitative Ansprü-che miteinander in Einklang zu bringen (Höhmann u. a.2004, S. 288).

Dem Ziel, verlässliche Betreuungsangebote zu schaffen,stehen Regelungen in einigen Ländern entgegen, die aucheine ganztägige Betreuung an nur drei Schultagen zulas-sen. Ob damit auf die Interessen und Bedarfe von Elternangemessen reagiert wird, ist zu bezweifeln.

Veränderungen im Verhältnis von Familie und Schulestellen einen weiteren Begründungszusammenhang fürdie Einrichtung von Ganztagsschulen und ganztägigenAngeboten an Schulen dar. Ganztagsschulen können Fa-milien bei der Erziehung ihrer Kinder unterstützen undkompensatorisch wirken, wenn Eltern in ihrer Erzie-hungsfunktion überfordert sind.344 Dabei kommt der Ko-operation von Schule und Jugendhilfe eine hervorge-hobene Bedeutung zu. Mit dem Argument,Ganztagsangebote einzurichten, um die Erziehungsfunk-tion von Schule zu stärken, lässt sich auch die Koopera-tion mit der Jugendhilfe bei der Gestaltung von ganztägi-gen Angeboten begründen, da mit der Jugendhilfesozialpädagogische Kompetenz an die Schule kommt.

Jugendpolitische Begründungen für den Ausbau vonGanztagsschulen sind unter den ausgewählten Ländernam deutlichsten in Brandenburg formuliert. Ganztags-schulen und ganztägige Angebote in Kooperation vonSchule und außerschulischen Einrichtungen sollen dazubeitragen, Orte und Treffpunkte für Jugendliche zu erhal-ten bzw. zu schaffen. Ganztagsschule als jugendkulturel-len Ort einzurichten, wird in Brandenburg mit derSchwierigkeit begründet, in dünn besiedelten ländlichenRegionen und in Landkreisen mit kleinen Gemeinden öf-fentliche Angebote für Kinder und Jugendliche bereit zuhalten. Deshalb kommt der Schule sowie der Kooperationvon Schule und außerschulischen Einrichtungen eine be-sondere Bedeutung zu. Auch diese jugendpolitische Be-gründung für den Ausbau von Ganztagsschulen und vonganztägigen Angeboten legt es nahe, die Jugendhilfe ander Gestaltung von Ganztagsschulen und ganztägigenAngeboten zu beteiligen.

Die Kooperation von Jugendhilfe und Schule wird aller-dings nicht nur indirekt aus dem Bedarf, die Erziehungs-funktion der Schule zu stärken, oder aus jugendpoliti-schen Argumenten für den Ausbau von Ganztagsschulenhergeleitet. Vielfach erfolgt die Kooperation, um vorhan-dene Ressourcen zu bündeln und mit der Jugendhilfe kos-tengünstigere Angebote realisieren zu können. Unabhän-gig davon werden, wie in Brandenburg, auch fachlicheGründe angeführt, warum Ganztagsschulen und ganztä-

gige Angebote in Kooperation von Schule und Jugend-hilfe erfolgen sollen. Mit der Kooperation soll ermöglichtwerden, ganztägige Angebote fachlich anspruchsvoll, dif-ferenziert und qualifiziert zu gestalten, was von derSchule allein und auch mit einem bloßen Nebeneinandervon Angeboten der Schule und der Jugendhilfe nicht er-reicht werden könnte.

6.5.2.3 Fachliche und organisatorische Tendenzen

Wie sind ganztägige Angebote für Kinder und Jugendli-che an Schulen gestaltet? Was kann über Inhalte und Qua-lität der Angebote gesagt werden? Wie und von wemwerden die Angebote genutzt? Was kosten ganztägigeAngebote und wie werden sie finanziert? Welches Perso-nal wird für die Durchführung ganztägiger Angebote be-schäftigt? In welcher Weise erfolgt die Kooperation vonSchule und „außerschulischen“ Anbietern? Wie werdenPlanung, Konzipierung und Durchführung der Angebotegesteuert und koordiniert? Auf diese Fragen soll im Fol-genden eine vorläufige Antwort gegeben werden. Vorläu-fig ist dabei in einem doppelten Sinne gemeint: Zum ei-nen erlaubt die rasante Entwicklung ganztägigerAngebote nur begrenzt verallgemeinerungsfähige Aussa-gen, da sich in diesem großen Experimentierfeld Rah-menbedingungen und Gestaltungsmöglichkeiten sehrschnell ändern; zum anderen ermöglichen bisher vorlie-gende Studien und Daten nur begrenzte Aussagen überdie Entwicklung von Ganztagsschulen in Deutschland.345

Deshalb werden im Folgenden Tendenzen skizziert, indenen generelle Entwicklungslinien erkennbar werdenund anhand derer offene Fragen aufgezeigt werden kön-nen.

(a) Struktur der Angebote, Zufriedenheit der Eltern und Bewertungen von Schülerinnen und Schülern

Ganztagsschulen werden in Deutschland im Momentüberwiegend nach dem Muster der offenen Ganztags-schule eingerichtet. Das bedeutet, dass erstens nur ein inder Regel kleiner Teil der Schülerschaft einer Schule amganztägigen Angebot teilnimmt und dass zweitens derNachmittagsbetrieb überwiegend von „außerschulischen“Anbietern, dabei insbesondere von Trägern der Jugend-hilfe durchgeführt wird. Die Konditionen unterscheidensich dabei zwischen den Bundesländern erheblich. Auchinnerhalb der Länder gibt es offenbar deutliche Unter-schiede, die aus den Gestaltungsmöglichkeiten der Kom-munen und ihrer Fähigkeit bzw. Bereitschaft resultieren,ganztägige Angebote über die durch das Land zur Verfü-gung stehenden Mittel hinaus zu finanzieren. Diese Un-terschiede in Bezug auf Finanzierungsmöglichkeiten be-einflussen Struktur und Qualität ganztägiger Angebotezentral.

344 Dieses Argument spielt beim Ausbau von Ganztagsangeboten inBayern eine Rolle.

345 Ergebnisse laufender Begleitforschungen zu Ganztagsschulprogram-men einzelner Länder waren bis Anfang April so gut wie nicht zu-gänglich. Der Bericht des Wissenschaftlichen Kooperationsverbun-des für die Begleitforschung der offenen Ganztagsschulen in NRWüber eine Befragung an 24 Schulen im Jahr 2004 ist seit AnfangMärz 2005 veröffentlicht (Wissenschaftlicher Kooperationsverbund2005).

Page 327: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 317 – Drucksache 15/6014

Folgt man den bisher vorliegenden Studien zum Auf- undAusbau von Ganztagsschulen, werden die Angebote vonden Eltern insgesamt relativ positiv bewertet.346 Dabeimuss allerdings nach einzelnen Angebote differenziertwerden: Hausaufgabenbetreuung und Lern- und Förder-angebote an offenen Ganztagsgrundschulen in NRW wer-den von den Eltern etwas kritischer bewertet, ebenfallsdie Qualität des Mittagessens. Hier besteht vermutlich einerheblicher Bedarf, die Angebote qualitativ zu verbessern(Wissenschaftlicher Kooperationsverbund 2005, S. 294).

Eine Befragung von Eltern an 32 Ganztagsschulen inRheinland-Pfalz im Jahr 2004 ergab eine relativ großeZufriedenheit (75 Prozent der befragten Eltern waren sehrzufrieden oder zufrieden). Sie fiel höher aus als in einerBefragung aus dem Jahr 2002 (polis 2004).347 Eltern, de-ren Kind eine Ganztagsklasse besucht, sind dabei deutlichzufriedener mit der Schule als Eltern, deren Kind eineGanztagsschule mit einem additiven Angebot besucht.348

Befragt nach den pädagogischen Angeboten am Nach-mittag finden 73 Prozent der Eltern Hausaufgabenhilfeund 64 Prozent Förderangebote für bestimmte Fächer(Deutsch, Mathematik, Fremdsprachen) sehr wichtig,36 Prozent bewerten Förderangebote für besondere Bega-bungen und Talente, 35 Prozent Angebote der Freizeitge-staltung und 27 Prozent Projekte (z. B. Umwelt, Theater)entsprechend (polis 2004, S. 6). Bei der Zufriedenheit er-gibt sich ein anderes Bild: Mit der Hausaufgabenhilfesind 71 Prozent sehr zufrieden bzw. zufrieden, mit derFreizeitgestaltung 69 Prozent, mit Projekten 56 Prozent,mit den fächerbezogenen Förderangeboten 55 Prozentund mit Förderangeboten für besondere Begabungen undTalente nur 41 Prozent (ebd., S. 8). Gleichzeitig wird aber

auch Verbesserungsbedarf artikuliert. So wünschen Eltern„mehr Förderunterricht für schwache Schülerinnen undSchüler, mehr Hilfe bei den Hausaufgaben und ein besse-res, ausgewogeneres Essen. Etwa ein Drittel der Elternhält zusätzliche Lehrkräfte bzw. mehr Betreuung und einegrößere Auswahl an Arbeitsgruppen für wünschbar“ (po-lis 2004, S. 13).

Empirische Studien über Einschätzungen und Bewertun-gen der neuen Ganztagsschulen und der Schulen mitganztägigen Angeboten durch Schülerinnen und Schülerliegen bisher kaum vor. Erste vorsichtige Einschätzungenlassen Ergebnisse einer standardisierten Erhebung an24 Ganztagsschulen in Rheinland-Pfalz zu. Sie machendarauf aufmerksam, dass für die Bewertung der Schüle-rinnen und Schüler die Lernkultur und die Beziehungenzwischen Schüler/innen und Lehrer/innen ausschlagge-bend sind. „Es sind die positiven Lernerfahrungen in AGsund Projekten, welche den stärksten Einfluss aufs Ge-samturteil ausüben. Verbesserte Fähigkeiten beim Um-gang mit dem Lerngegenstand und dies auch durch denUmgang mit anderen Lehr- und Lernmethoden spielendabei ebenso eine Rolle wie die Erfahrung mit sich selbstüberhaupt, intensiver und besser zu lernen. Weitere wich-tige Einflussgrößen sind die Erfahrungen mit der Bezie-hung zwischen Lehrer/innen und Schüler/innen und be-merkenswerterweise die positiven Erfahrungen mit derals zentrale Hilfestellung erlebten Hausaufgabenbetreu-ung“ (Kolbe u. a. 2005, S. 244).

Ein Vergleich zwischen Ganztagsschulen in der offenenund der gebundenen Form auf der Basis einer Befragungvon Schulleitungen im Jahr 2003/04 macht auf Unter-schiede hinsichtlich der Lernkultur und der Förderange-bote aufmerksam (Höhmann u. a. 2004, S. 280ff.). För-derangebote gibt es in beiden Formen; in voll undteilweise gebundenen Ganztagsschulen sind sie allerdingsetwas stärker in den Unterricht integriert (ebd., S. 281). Ingebundenen Modellen wird insgesamt gesehen „eine stär-kere Schulentwicklungsorientierung und ausgebautereTeambildung sowie ein intensiveres Bemühen um kon-zeptionelle Fundierung als in offenen sichtbar“ (ebd.,S. 284). Gebundene Ganztagsschulen scheinen demnachüber bessere Förderbedingungen zu verfügen (ebd.).

(b) Kosten und Finanzierung

Im Hinblick auf Kosten und Finanzierung von Ganztags-schulen und ganztägigen Angeboten interessieren dieKosten für Ganztagsschulen und der mit dem Ausbau er-forderliche Mehrbedarf. Dieser hängt davon ab, nach wel-chem Modell und in welchem Umfang Ganztagsschulenausgebaut werden. Angesichts der unterschiedlichen Aus-bauformen und Ausbauziele in den Ländern (vgl. Ab-schnitt 6.5.2.2) ist es deshalb schwierig, halbwegs ver-lässliche Aussagen über erwartbare Mehrkosten zumachen. Deshalb können hier nur grobe Schätzungenvorgenommen werden. Unterschiede in Bezug auf Kostenund Finanzierung bestehen auch innerhalb der Länder beider Beteiligung der Kommunen und der Eltern an der Fi-nanzierung der Ganztagsangebote.

Mehrkosten für ganztägige Angebote: Im Vergleich zurHalbtagsschule entstehen in Ganztagsschulen höhere

346 Vgl. in Bezug auf Rheinland-Pfalz Ergebnisse der polis-Befragung(polis 2004), in Bezug auf NRW Ergebnisse des WissenschaftlichenKooperationsverbundes (Wissenschaftlicher Kooperationsverbund2004). Ähnliche Ergebnisse zeigen sich auch im DJI-Projekt „Ganz-tagesangebote für Schülerinnen und Schüler“. Insgesamt ermögli-chen diese Studien angesichts der geringen Fallzahlen jedoch nur be-grenzt Aussagen zur Qualität von Ganztagsschulen (Wahler u. a.2005).

347 An der Befragung im Jahr 2002 waren nur zwölf Schulen beteiligt.Differenziert man in der Befragung von 2004 zwischen den Eltern,die zum zweiten Mal befragt wurden, und denen, deren Kinder erstein halbes Jahr an der Ganztagsschule sind, so fällt auf, dass die El-tern, deren Kinder bereits fast zwei Jahre zum Zeitpunkt der Befra-gung an der Ganztagsschule sind, deutlich zufriedener sind. Ob dabeiein Zusammenhang mit der Dauer des Schulbesuchs besteht und dieZufriedenheit mit zunehmender Dauer steigt (polis 2004, S. 14),kann nicht gesagt werden, da nicht bekannt ist, ob Eltern, die sich inder ersten Befragung unzufrieden geäußert haben, ihre Kinder vomganztägigen Angebot abgemeldet haben und deshalb an der zweitenBefragung nicht mehr teilgenommen haben. Man muss auch berück-sichtigen, dass die erste Befragung im November 2002 stattfand, diezweite von Anfang März bis Anfang April 2004, d. h. in der erstenBefragung können relativ kurz nach Beginn des Schuljahres undStart des Ganztagsprogramms auch anfängliche Schwierigkeiten inder Organisation des Ganztagsangebots dazu geführt haben, dass dieZufriedenheit mit dem Angebot etwas geringer ist als bei der Befra-gung im Frühjahr 2004.

348 88 Prozent der Eltern mit Kindern in einer Ganztagsklasse findendiese Organisationsform gut, dagegen nur 79 Prozent der Eltern miteinem Kind in einem additiven Angebot. Eine andere Form bevorzu-gen deshalb in der ersten Gruppe 11 Prozent, in der zweiten 17 Pro-zent der Eltern (polis 2004, S. 4).

Page 328: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 318 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Kosten für Personal, Sachaufwand, für bauliche Maßnah-men und Infrastruktur. Die Kosten differieren nach Schul-art und Schulstufe, nach Bundesland und nach der Formdes Ganztagsbetriebs (offene und gebundene Formen)(vgl. Abschnitt 6.2). Pauschal müsste im Grundschulbe-reich von einer gegenüber traditionellen Halbtagsschulenum 30 bis 40 Prozent höheren Personalversorgung ausge-gangen werden, in vielen Bundesländern wird die Versor-gung für Ganztagsschulen mit 30 Prozent mehr Lehrer-stellen kalkuliert.349 In der Sekundarstufe I ist ebenfallsmit einem 30 Prozent höheren Personalbedarf für Ganz-tagsschulen zu rechnen (Appel 2003, S. 204ff.). Investiti-onskosten für bauliche Maßnahmen hängen nicht nurvom Raumprogramm der Ganztagsschule ab, d. h. davon,ob es sich um ein qualitativ anspruchsvolles Raumkon-zept handelt oder ob das Raumprogramm lediglich eineverlängerte Halbtagsschule mit Mittagessen-Angebot er-laubt, sondern auch von dem Gebäude, in dem sich dieSchule befindet. Dabei sind Umbauten in gründerzeitli-chen Schulbauten um 1900 oder in den Normbauten füreine Polytechnische Oberschule [POS] schwieriger undteurer als in moderneren Bauten aus den 80er-Jahren des20. Jahrhunderts in Atriumbauweise. Je nach Gebäudeund Raumkonzept ist mit 20 bis 80 Prozent Mehrkostenim Vergleich mit herkömmlichen Schulbauten zu rech-nen.350 Diese Schätzungen beziehen sich allerdings aufvoll ausgebaute gebundene Ganztagsschulen; bei offenenGanztagsschulen ist mit niedrigeren Kosten zu rechnen,je nachdem, wie viele Schülerinnen und Schüler amGanztagsbetrieb teilnehmen, welches Personalkonzeptfür den Ganztagsbetrieb gewählt wird, wie das Raumpro-gramm konzipiert ist und ob dabei Räume von außerschu-lischen Einrichtungen in unmittelbarer Nachbarschaft derSchule genutzt werden können. Ganztagsschulen benöti-gen aber auch in der offenen Form und mit kleinen Grup-pen ein Raumprogramm, das den pädagogischen Stan-dards genügt. Dazu gehören u. a. Räume für Mittagessen(für Zubereitung und Mensa), Hausaufgabenbetreuung,Werkstätten, Bewegungs- und Spielbereiche, Sportanla-gen, Räume für den offenen Freizeitbereich und für dengebundenen Freizeitbereich, für Kurse für starke und fürschwache Schülerinnen und Schüler sowie Außenanlagenmit Spiel- und Begegnungsmöglichkeiten, Sportgeräten,Schulgarten und vieles mehr (Appel 2003, S. 216ff.).

Genauere Anhaltspunkte zu Kosten für offene Ganztags-schulen ermöglicht ein Bericht des LandesrechnungshofsSchleswig-Holstein vom Juni 2004, in dem u. a. Kostenfür die Umwandlung der allgemeinbildenden Schulen derKlassenstufen 1 bis 10 (ohne Sonderschulen) in Schles-

wig-Holstein in Ganztagsschulen auf der Basis der Richt-linien des Landes Rheinland-Pfalz aufgeführt werden.Dabei sind zwei unterschiedliche Modelle berechnet wor-den. Im ersten Modell werden zwei Drittel des zusätzli-chen Angebots durch Lehrkräfte abgedeckt, im zweitenModell nur die Hälfte des zusätzlichen Angebots. Dabeientsteht im ersten Modell ein Mehrbedarf von rund4 000 Lehrerstellen (ca. 27 Prozent der Lehrerstellen anallgemeinbildenden Schulen der Klassenstufen 1 bis 10),im zweiten Modell ergibt sich ein Mehrbedarf von nuretwa 20 Prozent. Damit entstehen höhere Personalausga-ben für Lehrerstellen in Höhe von 240 Mio. Euro pro Jahrbzw. von 180 Mio. Euro pro Jahr gegenüber bisher ca.900 Mio. Euro pro Jahr für ca. 15 000 Lehrerstellen.351

Beide Modelle gehen von einem flächendeckenden Aus-bau von Ganztagsschulen mit einer verpflichtenden Teil-nahme aller Schülerinnen und Schüler aus. Der Landes-rechnungshof schätzt dies mit Blick auf Finanzierbarkeitund Verfügung von Lehrkräften als unrealistisch ein. EinUmbau von etwa 20 Prozent aller Schulen zu Ganztags-schulen352 würde demgegenüber einen Mehrbedarf vonca. 600 bis 800 Lehrerstellen und höhere Personalkostenfür Lehrkräfte von ca. 38 bis 50 Mio. Euro pro Jahr erge-ben. Auch diese Berechnung erscheint insofern unrealis-tisch, da angenommen wird, dass alle Schülerinnen undSchüler einer offenen Ganztagsschule auch am Ganztags-betrieb teilnehmen.353

Zu erwartbaren Mehrkosten für Ganztagsschulen in derBundesrepublik können bisher keine verlässlichen Aussa-gen gemacht werden. Kostenberechnungen müssen so-wohl investive Kosten für Infrastrukturmaßnahmen alsauch nichtinvestive Kosten für Personal und den laufen-den Betrieb ausweisen. Bezogen auf Infrastruktur-maßnahmen sind generalisierende Aussagen insofernschwierig, da je nachdem, ob Ganztagsschulen in der ge-bundenen oder in der offenen Form präferiert werden, un-terschiedliche Raumprogramme und damit verbundeneUmbaumaßnahmen erforderlich werden. Auch ist derzeitnoch nicht absehbar, wie und in welchem Umfang Räumeaußerschulischer Einrichtungen und Träger für Ganztags-schulen und ganztägige Angebote genutzt werden; auchdies hätte erhebliche Auswirkungen auf die Höhe derKosten. Bei den Personalkosten variiert der Mehrbedarferheblich, je nachdem, wie hoch der Anteil der Lehrkräfteist und welches Modell für ganztägige Angebote maßgeb-lich ist (Betreuungs- oder Bildungskonzept).

349 Die für den Ganztagsschulbetrieb erforderliche Personalversorgunghängt von vielen Faktoren ab, u. a. auch von der Art der Ganztags-schule (offenes oder gebundenes Modell), der Schulart, der Größeder Schule, der Anzahl der Wochentage mit ganztägigem Betrieb undder Architektur des Schulgebäudes (Appel 2003, S. 205f.). Bei denGrundschulen ist eine ca. 30 Prozent höhere Personalversorgung er-forderlich, wenn es sich bereits um eine verlässliche Halbtagsschulehandelt, und ein um 40 Prozent höherer Personalbedarf im Vergleichzu einer normalen Grundschule ohne verlässliche Betreuungszeiten.

350 Angaben von Stefan Appel, Vorsitzender des Ganztagsschulverban-des.

351 Dabei sind die Kosten für andere pädagogische Fachkräfte und fürHonorarkräfte nicht berücksichtigt.

352 In Rheinland-Pfalz sollen bis zum Schuljahr 2006/07 ca. 20 Prozentaller allgemeinbildenden Schulen zu offenen Ganztagsschulen ausge-baut sein.

353 Bisherige Erfahrungen zeigen, dass nur ein Teil der Schülerschaft amGanztagsbetrieb von offenen Ganztagsschulen teilnimmt; allerdingssteigen mit der Dauer des Ganztagsangebots in der Regel auch dieZahlen der am Ganztagsbetrieb teilnehmenden Schülerinnen undSchüler. Dennoch könnten für eine Berechnung des Mehrbedarfs inden nächsten fünf bis zehn Jahren niedrigere Zahlen kalkuliert wer-den als dies vom Landesrechnungshof Schleswig-Holstein angenom-men wird. Der Bericht des Landesrechnungshofs Schleswig-Holsteinberechnet den Bedarf bis zum Schuljahr 2009/10.

Page 329: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 319 – Drucksache 15/6014

Pauschal kann von einem Mehrbedarf von rund30 Prozent höheren Kosten für Lehrkräfte und sozialpä-dagogische Fachkräfte sowie für Honorarkräfte ausge-gangen werden. Erschwert werden Schätzungen derMehrkosten, da klare Statistiken fehlen, in denen Kostenfür Schulen getrennt nach Infrastrukturmaßnahmen undPersonalkosten aufgeführt sind. Im Bildungsfinanzberichtder Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung undForschungsförderung (BLK) sind lediglich Gesamtkostenfür Schulen ausgewiesen; Infrastrukturkosten und Perso-nalkosten werden nicht getrennt ausgewiesen (BLK2004). Aufgrund dieser unübersichtlichen Ausgangsbe-dingungen, der völlig unterschiedlichen Realisierungsfor-men des Ausbaus und der schlechten Datenlage könnenzuverlässige Schätzungen gegenwärtig noch nicht vorge-nommen werden; entsprechende bildungsökonomischeBerechnungen sind dringend erforderlich.

Nimmt man einen Ausbau von Ganztagsschulen auf derBasis der Rahmenbedingungen des Landes Rheinland-Pfalz mit 25 Prozent Ganztagsplätzen für alle Schülerin-nen und Schüler der Primarstufe und der Sekundarstufe Ian und kalkuliert dabei einen höheren Personalbedarf, der30 Prozent mehr Lehrerstellen umfasst, ergäbe sich eingrob geschätzter Mehrbedarf bei den Personalkosten zwi-schen 1,5 und 3 Mrd. Euro pro Jahr. Diese Schätzungensind allerdings nicht zuverlässig. Sie berücksichtigennicht die unterschiedlichen Schwerpunkte des Ausbaus inden Bundesländern, sie sind besonders deshalb sehr unge-nau, da die verfügbaren Statistiken keine entsprechendenDifferenzierungen enthalten, so dass Unschärfen entste-hen, die in ihrer Größenordnung nicht kalkulierbar sind.Diese Unschärfen haben mehrere Ursachen, u. a. die un-terschiedlich hohen Kosten pro Schüler/in und Schuljahrin der Primarstufe, in der Sekundarstufe I und II sowieunterschiedlich hohe Ausgaben für Lehrerbesoldung zwi-schen den Bundesländern. Da die Gesamtbilanz der BLKzu den Kosten im Schulbereich allgemeine Grundmittelausweist, bei denen neben den Personalkosten auch Kos-ten für Infrastruktur eingerechnet werden, kann mit die-sen Daten keine Berechnung der Personalkosten durchge-führt werden (BLK Bildungsfinanzbericht), eineBerechnung der Gesamtkosten für Ganztagsschulen istaufgrund der höchst unterschiedlichen baulichen Bedin-gungen und der Raumkonzepte für Ganztagsschulen undSchulen mit ganztägigen Angeboten ebenfalls nicht mög-lich. In den Statistiken zu den Personalkosten im Schul-bereich sind neben den Gehältern für Lehrkräfte auchPersonalkosten in der Schulverwaltung eingerechnet(Dohmen u. a. 2004).

Eine Berechnung der Kosten für Ganztagsplätze ist eben-falls nicht möglich. Diese Kosten differieren je nach Vor-gaben des Landes erheblich. Auch innerhalb eines Landesgibt es Unterschiede in den Kosten für einen Ganztags-platz zwischen den Schulen. In Rheinland-Pfalz könnenSchulen Lehrerstellen umwidmen und mit diesen Mittelnsozialpädagogisches Personal anstellen, Honorarverträgeabschließen oder Sachkosten für den laufenden Betrieb fi-nanzieren. Deshalb und aufgrund der unterschiedlich gro-ßen Zahl von Schülerinnen und Schülern im Ganztagsbe-reich entstehen große Unterschiede. Eine Prüfung der

Personalkosten und der Organisation des Ganztagsange-bots des Rechnungshofs Rheinland-Pfalz an 27 Schulenergab eine Spanne in den Personalkosten für den Nach-mittagsbereich „zwischen 900 Euro und mehr als 2 500Euro je Ganztagsschüler. Im Durchschnitt ergaben sichPersonalkosten von 1 390 Euro je Ganztagsschüler“(Rechnungshof Rheinland-Pfalz 2005).

Unterschiede zwischen Ländern: Im Folgenden werdenBerechnungen der Kosten und Formen der Finanzierungin den Programmen zum Ausbau von Ganztagsschulen inNordrhein-Westfalen, in Rheinland-Pfalz, in Bayern undim Saarland vorgestellt. Das für die offene Ganztags-grundschule in Nordrhein-Westfalen zusätzlich erforderli-che Personal wird zu zwei Dritteln vom Land und zu ei-nem Drittel von der Kommune finanziert. Dabei könnenKommunen bereits bestehende Angebote wie Horte ein-bringen und Mittel von freien Trägern und Eltern auf ih-ren Eigenanteil anrechnen. Im Durchschnitt werden damitpro Kind und Jahr Kosten in Höhe von 1 230 Euro kal-kuliert. Das Land bezuschusst die Kosten der offenenGanztagsgrundschule mit 820 Euro, der Beitrag desSchulträgers muss mindestens 410 Euro betragen. Derdurchschnittliche Betrag von 1 230 Euro pro Kind undJahr kann von den Kommunen aufgestockt werden. El-ternbeiträge für außerunterrichtliche Angebote könnenbis zu 100 Euro pro Monat erhoben und auf den kommu-nalen Anteil angerechnet werden. Sie sollen sozial gestaf-felt sein. Für die Mittagsverpflegung kann ein Unkosten-beitrag von den Eltern gefordert werden.354

Das Land NRW erhält von den Mitteln des Investitions-programms „Zukunft Bildung und Betreuung“ bis zumJahr 2007 914 Mio. Euro. Diese Mittel können für Inves-titionen verwendet werden. In NRW erhalten Schulen je-weils für 25 Ganztagsplätze für Umbau-, Ausbau-, Neu-bau- und Renovierungsmaßnahmen bis zu 80 000 Euro,für Ausstattungsinvestitionen bis zu 25 000 Euro und fürdie Gestaltung des Außengeländes bis zu 10 000 Euro.

In Rheinland-Pfalz werden die zusätzlichen Kosten fürden laufenden Betrieb der Ganztagsschulen (ohne inves-tive Kosten) vollständig vom Land finanziert.355 Kommu-nen und Eltern müssen für die Personalkosten nicht auf-kommen. Das Land gibt jeder Schule mit ganztägigemAngebot ein Budget, das einen Sockelbetrag bei denGrundschulen in Höhe von 26 Lehrerwochenstunden für36 Schüler beträgt; für jeden weiteren Schüler, der amGanztagsbetrieb teilnimmt, erhält die Schule zusätzlich

354 In der Studie des Wissenschaftlichen Kooperationsverbundes zur of-fenen Ganztagsschule im Primarbereich in NRW werden die Eltern-beiträge als potenzielle Barriere gewertet. Die Hälfte der an der Stu-die beteiligten Schulen erhebt den höchstmöglichen Beitragssatz von100 Euro pro Monat, bei den übrigen betragen die Beiträge zwischen26,25 Euro und 85 Euro. Auch die Regelungen für Kostenbeiträgezum Mittagessen sind unterschiedlich. In der Hälfte der Schulenmüssen die Kinder trotz Kostenaufwand verbindlich am Mittagessenteilnehmen. Der durchschnittliche Beitrag beträgt 2,10 Euro pro Mit-tagessen, die Beiträge reichen von 0,50 Euro bis 2,70 Euro (Wissen-schaftlicher Kooperationsverbund 2005, S. 12).

355 Dazu zählen neben den Personalkosten u. a. auch Kosten für Fortbil-dung, Evaluation, Dokumentation und Unterstützungsleistungen derpädagogischen Serviceeinrichtungen.

Page 330: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 320 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

0,5 Lehrerwochenstunden. Schulen können innerhalb ei-nes vom Land vorgegebenen Rahmens über die Verwen-dung dieser Mittel verfügen. Nach dem Prinzip „Geldstatt Stellen“ können Schulen einen Teil der Mittel für dieBezahlung von Honorarkräften oder zur Finanzierungvon Sachkosten für den laufenden Betrieb verwenden.Am Nachmittag muss mindestens die Hälfte des Perso-nals mit Lehrkräften besetzt sein, maximal können bis zuzwei Drittel des Personals am Nachmittag Lehrkräftesein. Das Land hat für die Aufbauphase im Schuljahr2002/03, dem ersten Jahr des Landesprogramms, für81 neue Ganztagsschulen 15 Mio. Euro eingeplant (ohneInvestitionskosten), im Schuljahr 2003/04 für insgesamt163 Ganztagsschulen 25 Mio. Euro, im Schuljahr 2004/05 für insgesamt 235 Schulen 50 Mio. Euro. Im Schuljahr2005/06 sollen insgesamt 304 neue Ganztagsschulen imBetrieb sein, dafür sind laufende Kosten in Höhe von60 Mio. Euro eingeplant.356

Im Saarland richtet sich der Zuschuss des Landes nachden Öffnungszeiten und der Zahl der Gruppen. „DasLand fördert nach Maßgabe des Haushaltsplanes desSaarlandes die Nachmittagsangebote an FreiwilligenGanztagsschulen mit einem pauschalen Zuschuss jeGruppe. Dieser beträgt je Gruppe und Schuljahr, wenndas Angebot grundsätzlich bis mindestens 14.00 Uhr dau-ert, 2 500 Euro, wenn es grundsätzlich bis mindestens16.00 Uhr dauert, 5 000 Euro“ (Ministerium für Bildung,Kultur und Wissenschaft des Saarlandes 2004). Zusätz-lich dazu werden fünf Lehrerstunden pro Gruppe als Brü-cke zwischen Vor- und Nachmittag vom Land eingesetzt.Eltern zahlen einen Beitrag von im Durchschnitt 50 Europro Monat, für sozial schwache Eltern ist die Nutzung desAngebots frei. Bei einer Richtzahl von 20 Schüler/innenpro Gruppe ergibt dies eine Förderung des Landes proSchüler/in und Jahr in Höhe von 250 Euro, zuzüglich derLehrerstunden in Höhe von fünf Lehrerwochenstundenpro Gruppe. Ein großer Teil der Kosten wird von den El-tern finanziert, er beträgt bei der Höchstsumme von50 Euro pro Monat 500 Euro pro Jahr; außerdem sind dieKommunen an der Finanzierung durch die Übernahmevon Beiträgen für sozial schwache Familien beteiligt.

In Bayern werden die Kosten für Ganztagsangebote inden Jahrgangsstufen 5 bis 10 vom Land, den Kommunenund den Eltern finanziert. Die staatlichen Zuschüsse be-tragen 720 Euro pro Schüler/in und Schuljahr bei einerwöchentlichen Betreuungszeit von 15 und mehr Stunden,540 Euro pro Schüler/in und Schuljahr bei 10 bis 15 Stun-den Betreuungszeit pro Woche. Der kommunale Beitragmuss mindestens der Höhe des staatlichen Zuschussesentsprechen; Eltern sind in angemessener Höhe und so-zial gestaffelt an der Finanzierung zu beteiligen.357 Damitist in Bayern mit 720 Euro pro Ganztagsplatz und Jahr

der Anteil der Kommunen bei der Finanzierung ganztägi-ger Angebote deutlich höher als in anderen Bundeslän-dern.358 Für eine Gruppe von 20 Schülern/Schülerinnenwerden Personalkosten in Höhe von 29 558 Euro pro Jahrkalkuliert; davon übernimmt der Staat 14 400 Euro, derTräger 15 158 Euro.359 Für einen Ganztagsplatz in der Se-kundarstufe I werden in Bayern pro Jahr Personalkostenin Höhe von ca. 1 500 Euro veranschlagt.

Kommunale Gestaltungsmöglichkeiten: Innerhalb derVorgaben eines Landes bestehen teilweise große Unter-schiede in der Umsetzung. Dabei kommt insbesondereden Kommunen eine Schlüsselfunktion zu. Sie könnenbei der Planung und Konzeptentwicklung, bei den Ver-fahren und Regelungen der Kooperation von Schule undJugendhilfe und bei der Finanzierung der Angebote ge-stalterisch wirken. Dabei werden von den KommunenRahmenbedingungen geschaffen, die es auch erlauben,trotz einheitlicher Rahmenbedingungen eines Landes ei-gene Standards zu setzen und an der Entwicklung vonGanztagsschulen mitzuwirken. Dies betrifft insbesonderedie Personalsituation (Personalschlüssel, Qualifikationdes Personals), räumliche Bedingungen und die Koordi-nation der Angebote unterschiedlicher Träger.

Kommunale Gestaltungsmöglichkeiten bestehen insbe-sondere beim Einsatz der investiven Mittel zum Ausbauvon Ganztagsschulen und beim Umgang mit Elternbeiträ-gen. Ein Vergleich zweier Kommunen in NRW machtdies sichtbar360: So hat eine Kommune in einem gemein-samen Prozess von Schule und Jugendhilfe ein inhaltlich-konzeptionell anspruchsvolles Leitbild für offene Ganz-tagsschulen in der Stadt entwickelt. Diese Leitlinien wer-den als Prüfkriterien für Beschlüsse zur offenen Ganz-tagsschule eingesetzt. Sie umfassen u. a. Fragen desPersonaleinsatzes, des pädagogischen Konzepts, desRaumangebots, der langfristigen Sicherung der Ressour-cen und der Erhebung von Elternbeiträgen (Schnapka/Nonninger 2005, S. 11f.). Da die Kommune „nach Maß-gaben des Haushaltssicherungsgesetzes mit einem Haus-haltssicherungskonzept (HSK) arbeitet“ (ebd., S. 10), isteine sofortige Umsetzung der erforderlichen baulichenMaßnahmen nicht möglich; der Rat hat sich deshalb aufeinen stufenweisen Aus- und Umbau geeinigt. Prioritäthat dabei die räumliche Ausstattung für die Klassen- undGruppenräume der offenen Ganztagsschule. Alle weite-ren Räume, wie Freizeitbereich, Küche, Büro und Außen-gelände, werden in der Finanzplanung in späteren Aus-baustufen einkalkuliert (ebd., S. 12). So kann dieKommune trotz enger finanzieller Spielräume an einemanspruchsvollen Raumkonzept festhalten.

Auch bei der Erhebung von Elternbeiträgen verfügenKommunen über Spielräume. Sie können die Höhe der

356 Bei diesen Kosten muss berücksichtigt werden, dass in der Aufbau-phase wesentlich höhere Kosten entstehen als im normalen laufendenBetrieb. Diese höheren Kosten für die Aufbauphase sind generell beiKostenkalkulationen für den Ausbau von Ganztagsschulen zu be-rücksichtigen.

357 Das Bayerische Staatsministerium für Kultus und Unterricht gehtvon einer Finanzierung von 40 Prozent der Kosten durch das Land,40 Prozent durch die Kommune und 20 Prozent durch die Eltern aus.

358 Ein Vergleich zwischen den Bundesländern in Bezug auf die Höheder Kosten für einen Ganztagsplatz ist schwierig, da in den Ländernunterschiedliche Schwerpunkte beim Ausbau von Ganztagsschulengesetzt werden, z. B. Ausbau der Ganztagsschule ausschließlich inder Grundschule in NRW, Förderung von Ganztagsangeboten vor-wiegend in Hauptschulen in Bayern.

359 Von dem Beitrag des Trägers müssen Einnahmen durch Elternbeiträ-ge abgezogen werden.

360 Vgl. Expertise „Kommunale Gestaltung von Ganztagsschulen“(Schnapka/Nonninger 2005).

Page 331: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 321 – Drucksache 15/6014

Beiträge festlegen und dabei auch soziale Staffelungenvornehmen (ebd.). Insgesamt erscheint es jedoch als Wi-derspruch, wenn Ganztagsschulen mit der Begründung,mehr Zeit und bessere Bedingungen für Bildung der Kin-der zu bieten, eingerichtet werden und gleichzeitig ElternBeiträge zur Finanzierung des Nachmittagsprogrammsbezahlen. Soll Ganztagsschule, auch in der offenen Form,mehr als eine Betreuung am Nachmittag sein, dann er-scheinen Elternbeiträge, wie sie in den meisten Bundes-ländern derzeit erhoben werden, nicht sachgerecht. „Magdie Beteiligung an den Kosten für das Mittagessen nochakzeptabel sein, so ist die Refinanzierung der offenenGanztagsschule über Elternbeiträge weder bildungspoli-tisch sinnvoll noch sozialpolitisch weiterführend“ (ebd.,S. 37). Hier stoßen jedoch die Gestaltungsspielräume vonKommunen an Grenzen, solange in den Richtlinien desLandes Elternbeiträge als Möglichkeit zur Finanzierungdes Nachmittagsangebots zugelassen sind. Auch wenn,wie in NRW, den Kommunen formal ein Entscheidungs-spielraum zugestanden wird, Elternbeiträge zu erhebenund sie auf den kommunalen Anteil zur Finanzierung derGanztagsschule anzurechnen, geraten viele Kommunen,insbesondere wenn sie nach dem Haushaltssicherungs-konzept bewirtschaftet werden, in eine schwierige Situa-tion. Oftmals können sie dann, „selbst wenn sie nach ei-gener bildungs- und sozialpolitischer Überzeugungandere Ziele verfolgen und eine zusätzliche finanzielleBelastung der Eltern kommunalpolitisch ablehnen“ (ebd.,S. 38), auf die Erhebung von Elternbeiträgen nicht ver-zichten. Deshalb sind Landesregelungen wie in Rhein-land-Pfalz wegweisend: Dort sind Ganztagsangebote fürEltern beitragsfrei, lediglich für die Verpflegung wird einBeitrag erhoben (ebd., S. 37).

(c) Personal und Qualifikation

Höchst unterschiedlich stellt sich die Personalsituation inden (offenen) Ganztagsschulen in Deutschland dar. Diesist eine Folge der unterschiedlichen Vorgaben und Rah-menbedingungen der Länder, aber auch der Planungenund Beiträge der Kommunen, der Konzepte der Schulenund der außerschulischen Kooperationspartner. In Bezug

auf die Personalsituation geht es dabei um die Qualifika-tion des im Ganztagsbereich beschäftigten Personals, umden Personalschlüssel und um verlässliche und tragfähigeBedingungen für eine kontinuierliche Beschäftigung desPersonals. Ein Vergleich zwischen zwei Bundesländernmacht das Spektrum des im Ganztagsbereich tätigen Per-sonals sichtbar: Im Saarland werden für den Nachmittags-bereich an den offenen Ganztagsschulen Erzieherinnenund Eltern beschäftigt, in Rheinland-Pfalz müssen imNachmittagsbereich der Ganztagsschulen, auch in der of-fenen Form, mindestens 50 Prozent Lehrkräfte beschäf-tigt sein; es können jedoch auch zwei Drittel der imNachmittagsbereich tätigen Personen Lehrkräfte sein. Alszweite Gruppe sollen sozialpädagogische Fachkräfte be-schäftigt werden, dann Honorarkräfte mit unterschiedli-chen Qualifikationen und Berufen. Möglich ist auch dieUmrechnung von Lehrerstunden in Mittel für den Einsatzvon Honorarkräften.

Bei den Vorgaben und Richtlinien der Länder zur Perso-nalstruktur und zum Personaleinsatz gibt es große Unter-schiede. Dies betrifft den Umfang der Lehrerstunden fürden Nachmittagsbereich und Vorgaben für den Einsatz„außerschulischen“ Personals (vgl. Tab. 6.8). In vielenLändern werden sozialpädagogische Fachkräfte mit Fach-hochschul- oder Hochschulabschluss und Erzieherinnenfür kontinuierliche Aufgaben im Nachmittagsbereich be-schäftigt. Verbreitet ist der Einsatz von Honorarkräftenfür spezielle Angebote und Projekte; teilweise werdenauch Mütter oder Väter für Betreuungs- und Erziehungs-aufgaben am Nachmittag beschäftigt. Anstellungsträgersind überwiegend außerschulische Träger, häufig der Kin-der- und Jugendhilfe, aber auch aus dem Bereich des or-ganisierten Sports, teilweise auch Volkshochschulen oderMusikschulen. In Bremen wird das für den Nachmittagzuständige Personal zu großen Teilen bei den Schulför-dervereinen angestellt, die vielfach als Träger für dasGanztagsangebot gewählt werden.

An vielen neuen offenen Ganztagsschulen teilt sich dasPersonal bisher in zwei voneinander relativ klar getrennteArbeitsbereiche auf: Auf der einen Seite Lehrerinnen und

Ta b e l l e 6.8

Personalstruktur und Personaleinsatz an Ganztagsschulen in ausgewählten Bundesländern

Land Lehrkräfte Sozialpädagogische Fachkräfte Sonstiges Personal

Bayern 4 Lehrerstunden à 100 Mi-nuten pro Gruppe

Erzieher/innen und Sozial-pädagogen/-innen

Honorarkräfte

Rheinland-Pfalz min. 50 Prozent, max. 2/3 des Personals für den Nachmittagsbereich

Erzieherinnen und Sozial-pädagogen/-innen

Honorarkräfte

Saarland 5 Lehrerstunden pro GruppeBrücke zw. Vor- und Nach-mittag

Erzieher/innen Eltern

Sachsen 2 Lehrerstellen (Vollzeit) pro Modellschule im Schulversuch

Honorarkräfte über Pro-gramm Schuljugendarbeit

Page 332: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 322 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Lehrer, die für den (vormittäglichen) Unterricht zuständigsind und ansonsten kaum in den Nachmittagsbereich in-volviert sind, auf der anderen Seite das vielfach bei außer-schulischen Trägern angestellte Personal, das für die Or-ganisation und Durchführung des Nachmittagsangebotsaufkommt. Dies erschwert Kooperationen zwischen bei-den Gruppen erheblich, ein gemeinsames Programm auseinem Guss kann so kaum realisiert werden. Im Berichtdes Wissenschaftlichen Kooperationsverbundes über diePilotuntersuchung an offenen Ganztagsgrundschulen inNRW werden als Möglichkeit zur Verbesserung derArbeitsbedingungen Arbeitsplatzbeschreibungen für päda-gogische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die im Ganz-tagsbereich mitarbeiten, genannt, in denen auch Koordina-tionsaufgaben festgelegt sind (WissenschaftlicherKooperationsverbund 2005, S. 208). Entsprechend müs-sen allerdings auch Lehrerinnen und Lehrer an offenenGanztagsschulen über den Unterricht und unterrichtsbezo-gene Tätigkeiten hinaus am Nachmittag in der Schule prä-sent sein, um für Schülerinnen und Schüler ansprechbar zusein und mit den pädagogischen Fachkräften für außerun-terrichtliche Angebote zusammenarbeiten zu können.

6.5.2.4 Kooperation von Schule und Jugendhilfe

Ganztagsschulen werden, wie u. a. der Überblick überRahmenbedingungen und über Ausbauprogramme derLänder zeigt, überwiegend in Kooperation von Schuleund außerschulischen Anbietern eingerichtet und ausge-baut. Dabei wird der größte Teil der Angebote außerschu-lischer Anbieter an Ganztagsschulen von der Jugendhilfeerbracht. Deshalb interessiert insbesondere, in welchenFormen, unter welchen Bedingungen und mit welchenKonsequenzen die Kooperation von Schule und Jugend-hilfe erfolgt. Im Folgenden werden deshalb zunächst un-terschiedliche Formen der Kooperation mit Blick auf dieGestaltung von Angeboten an einzelnen Schulen skizziertund anschließend Fragen der Planung und Steuerung derKooperation aufgegriffen. Darauf aufbauend werdenmögliche Szenarien oder Modelle der Kooperation vonSchule und Jugendhilfe im Kontext von Ganztagsschulenentwickelt.

(a) Modelle der Kooperation in Bezug auf einzelne Schulen

Beim bisherigen Stand des Ausbaus von Ganztagsschulenund der Entwicklung der Kooperation von Schule und au-ßerschulischen Akteuren zeichnen sich folgende Formender Kooperation von Jugendhilfe und Schule ab361:

(1) Angebote der Jugendhilfe an der Schule: DieseForm der Beteiligung der Jugendhilfe und anderen außer-schulischen Akteuren kann projekt- bzw. anlassbezogensein oder in Form eines kontinuierlichen Dienstleistungs-angebots im nachmittäglichen Regelbereich erfolgen.Hier gibt es ein breites Spektrum von Themen, Angebo-ten, Trägern und Leistungsbereichen der Jugendhilfe. Als Beispiel für regelmäßige Angebote an Ganztagsschu-len sei hier das Kursangebot der JugendkunstschuleARThus e.V. Rostock genannt362: „Die JugendkunstschuleARThus e.V. kooperiert seit dem Schuljahr 2004/05 mit5 Ganztagsschulen im Stadtgebiet. Die Schulen konntenaus einem konkreten Angebot der Kunstschule auswäh-len, während für die Finanzierung die Kommune zu100 Prozent aufkommt. Die Anträge auf Förderung stelltdie Jugendkunstschule und regelt über Kooperationsver-träge mit den Schulen den organisatorischen und versi-cherungsrechtlichen Rahmen.Grundlage für die Förderung ist die Vorlage eines Koope-rationsvertrags zwischen Ganztagsschule und außerschu-lischem Partner. ARThus verlegt die Kurse in die Schuleund führt in folgenden Sparten und Bereichen Angebotedurch: Jazzdance, Druckgrafik, Keramik, BildendeKunst/Modellbau, Hobbywerkstatt (Holz- und Metallbe-arbeitung), Kabarett, Percussion, Modekurs/Nähma-schine, Handarbeiten und Kreatives Schreiben. Die Kursefinden am Nachmittag für 1 oder 2 Zeitstunden statt undsind bei den offenen Ganztagsschulen (4 von 5) nicht mitdem Unterricht verzahnt. Beim teilgebundenen Ganztags-gymnasium besteht eine Verquickung beider Bereicheüber den Projektunterricht im fächerübergreifenden Be-reich“ (Eickhoff 2005, S. 27f.).Eine projektbezogene Zusammenarbeit von Jugendarbeitund Schule wird modellhaft vom Stadtjugendring Augs-burg erprobt. Das Jugendhaus im Stadtteil Oberhausen,einem sozial benachteiligten Stadtteil, führt gemeinsammit der im Stadtteil ansässigen Förderschule seit AnfangMärz 2004 das Projekt „Oberhausen is(s)t gut!“ durch.Dabei stellt das Jugendhaus nicht nur ein Angebot für dieSchule bereit, sondern Schule und Jugendhaus arbeiten indiesem Projekt auch eng zusammen.An dem Projekt nehmen Schülerinnen und Schüler dersiebten Jahrgangsstufe der Förderschule jeweils für einenZeitraum von acht Wochen teil. Von Dienstag bis Freitagbieten sie im Jugendhaus ein Mittagessen für Gäste an.Dafür arbeiten sie von 11.30 Uhr bis 14.30 Uhr im Ju-gendhaus, der Mittagstisch findet von 13.00 bis13.45 Uhr statt. Fünf Schülerinnen und Schüler sind fürden kleinen Restaurantbetrieb verantwortlich, vom Ein-kaufen über das Kochen bis zum Servieren, Kassierenund Spülen.Mit dem Projekt sollen Selbstbewusstsein und Sozial-kompetenz der Jugendlichen gefördert werden; es wird

361 Das Spektrum von Kooperationen in Bezug auf Jugendhilfe undGanztagsschule wird in vielen Darstellungen und Übersichten unter-schiedlich aufgezeigt. So unterscheidet z. B. das Comenius-InstitutMünster aus der Sicht evangelischer Bildungsarbeit folgende Formender Kooperation: „themenspezifische Angebote zu konkreten An-lässen“, „ergänzende Angebote und Arbeitsgemeinschaften“,„Komplettangebot Betreuung, Freizeit und Förderung“, „sozialraum-orientierte Betreuungs-, Bildungs- und Beratungsarbeit“ und „Stadt-teilkonferenzen oder regionale Arbeitskreise“ (Spenn/Fischer 2005).Sozialraumorientierte Kooperationsformen und stadteilbezogene Ar-beitskreise und Konferenzen werden in diesem Bericht nicht in Be-zug auf einzelschulbezogene Kooperationen, sondern in Bezug aufkommunale Planungs- und Steuerungsfragen thematisiert.

362 Das Beispiel ist der Expertise von Mechthild Eickhoff (2005) ent-nommen. Für diese Form der Kooperation von Jugendhilfe und (offe-ner) Ganztagsschule gibt es inzwischen viele Beispiele. Für Jugend-arbeit am Beispiel der evangelischen Jugendarbeit vgl. Kienle 2004.Außerdem gibt es viele Vorschläge und Konzepte für den Aufbauund die Durchführung von Kooperationen von Schule und Jugendar-beit (Thimm 2005)

Page 333: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 323 – Drucksache 15/6014

darüber hinaus von den Verantwortlichen im Stadtjugend-ring und seitens der Schule auch als Maßnahme zurVerbesserung der Chancen auf einen Einstieg in die Ar-beitswelt gewertet. In dem Projekt arbeiten eine sozialpä-dagogische Fachkraft und eine Honorarkraft im Jugend-haus eng mit den Lehrkräften der beteiligten Klasse undder Schule zusammen (Bayerischer Jugendring 2005).

(2) Trägerschaft des Nachmittagsprogramms durch einen außerschulischen Träger: Eine weitergehende Form desEinbezugs von außerschulischen Akteuren in die Gestal-tung des Ganztagsangebots stellt die Übernahme der Ver-antwortung für den gesamten Nachmittagsbereich durcheinen außerschulischen Träger dar. Dieser Träger koordi-niert das gesamte Nachmittagsprogramm auf der Basis ei-nes von der Schule und in der Regel unter Mitwirkungund Einbeziehung des Anbieters erstellten Konzepts fürdas Ganztagsangebot. Er kann auch Verträge mit weiterenaußerschulischen Anbietern für einzelne Dienstleistungenoder für projektbezogene Aktivitäten abschließen. Recht-liche und finanzielle Modalitäten und Rahmenbedingun-gen sind in den Vorgaben und Richtlinien der Länder fest-gelegt.

Im Folgenden werden am Beispiel eines Stadtsportbundeseiner Großstadt in NRW Möglichkeiten und Grenzen die-ser Form der Kooperation aufgezeigt363: Der Stadtsport-bund [SSB] Duisburg ist seit dem Schuljahr 2003/2004als Träger von Offenen Ganztagsgrundschulen in derStadt Duisburg aktiv. Mittlerweile betreut er als Trägerdrei offene Ganztagsgrundschulen. Der SSB Duisburg istdie Dachorganisation von 500 Sportvereinen und über-nimmt verschiedene Aufgaben innerhalb der Sportselbst-verwaltung.

Das Interesse der Sportvereine und Sportbünde, mit An-geboten an Ganztagsschulen präsent zu sein und auch dieTrägerschaft für den Nachmittagsbereich zu übernehmen,ist auch durch das Bestreben bedingt, den organisiertenSport finanziell abzusichern. „Der SSB Duisburg als Trä-ger einer offenen Ganztagsgrundschule fordert für seineSportvereine erfolgreich die gleiche Summe ein wie fürandere außerschulische Kooperationspartner wie Ent-spannungs- und Theatertherapeut/innen: ‚Wir achten da-rauf, dass der Verein sich nicht zu günstig verkauft‘. Soentlohnt der Stadtsportbund Duisburg die verschiedenenAnbieter im Ganztag unabhängig von ihrem Angebot mit15 Euro pro Zeitstunde. 80 Prozent der Kooperationspart-ner akzeptierten diese Entlohnung, bei den übrigen gibt eseinen Verhandlungsspielraum bis zu 20 Euro pro Zeit-stunde. Der SSB Duisburg beschäftigt für die Durchfüh-rung der Ganztagsbetreuung an drei Schulen insgesamt35 Personen als 400-Euro-Kräfte“ (Vagt 2004, S. 27).Für den organisierten Sport ist diese Form der kontinuier-lichen Kooperation mit Schulen relativ neu. Dem erhoff-ten Gewinn steht eine Vielzahl von neuen Anforderungenund Problemen bei der Organisation der Angebote an denSchulen gegenüber. Da für die Durchführung der Kurse

an den Schulen überwiegend Honorarkräfte mit jeweilsrelativ geringem Stundenanteil angestellt werden, sindsehr viele Personen beschäftigt. Dies erschwert nicht nurdie Organisation, sondern auch die Zusammenarbeit un-tereinander und mit den Lehrkräften der Schule. Zu die-sen organisatorischen Rahmenbedingungen kommt alsweitere Schwierigkeit hinzu, dass Übungsleiter an denSchulen mit anderen Gruppen zu anderen Bedingungenarbeiten als in den Vereinen. Hier besteht ein hoher Be-darf an Fortbildung und Beratung.

Das Beispiel des Stadtsportbundes Duisburg stellt nureine Variante der Trägerschaft durch einen außerschuli-schen Anbieter dar, bei dem von einem Anbieter die Trä-gerschaft für den Nachmittagsbereich vieler Schulenübernommen wird.364 Insbesondere kleinere Träger sindgar nicht in der Lage, die Trägerschaft des Nachmittags-angebots an mehreren Schulen zu übernehmen. Dochauch wenn ein Träger nur für eine Schule zuständig ist,bedeutet dies große Herausforderungen an Organisationund Professionalität des Trägers. Auch Träger, die überlangjährige Erfahrungen in der Jugendhilfe, z. B. der Ju-gendsozialarbeit, verfügen, können dies nur leisten, wennsie über genügend finanzielle und personelle Ressourcenverfügen. Vielfach wird berichtet, dass das Verhalten vonSchülerinnen und Schülern den Honorarkräften Schwie-rigkeiten bereite, insbesondere fehlende Motivation undVerhaltensauffälligkeiten. Dies wird auch darauf zu-rückgeführt, dass sich die Arbeit an der Schule von deraußerschulischen Jugendbildungsarbeit in Bezug aufFreiwilligkeit der Teilnahme und hinsichtlich der Zusam-mensetzung der Gruppen unterscheidet und für vieleFachkräfte der außerschulischen Jugendbildungsarbeitungewohnt sei. In der Schule haben sie teilweise erstmalsmit Kindern und Jugendlichen aus sozialen Gruppen zutun, die von der außerschulischen Jugendbildungsarbeitnicht erreicht werden. Neben einem hohen Bedarf an Be-ratung und Fortbildung werden hier auch strukturelle Pro-bleme der Organisation von ganztägigen Angebotensichtbar. Viele außerschulische Träger verzichten deshalbdarauf, ehrenamtliches Personal für die Durchführungganztägiger Angebote an Schulen in größerem Umfangeinzusetzen. Ein qualitativ anspruchsvolles Angebot seimit überwiegend ehrenamtlichem Personal und mit Ho-norarkräften nicht zu leisten.365

(3) Konzeptentwicklung in Kooperation von Schule undaußerschulischem Träger: Inwiefern und in welchem Um-fang Träger der Jugendhilfe über das Angebot an derSchule auch an der Konzeptentwicklung für das Ganztags-angebot beteiligt sind, ist noch wenig bekannt. Nach bis-herigen Erfahrungen und Berichten scheint die Jugend-hilfe an der Konzeptentwicklung eher weniger und wenn,dann eher formal beteiligt zu sein; sie wird dagegen viel-mehr als Dienstleister in Anspruch genommen. Dabeistellt die gemeinsame Konzeptentwicklung eine weiterge-

363 Dieses Beispiel ist der Expertise „Gestaltung von Ganztagsangebotenin Kooperation von Schule und Sport in Nordrhein-Westfalen“ vonSilke Vagt (2004) entnommen.

364 Diese Form ist bei Trägern der Jugendsozialarbeit eher verbreitet, diebereits über langjährige Erfahrungen der Kooperation mit Schulenverfügen (Bukovčan o.J.).

365 Dies ist eines der zentralen Ergebnisse des Workshops „Jugendsozi-alarbeit und Ganztagsschule“ des DJI am 2. Februar 2005 in Frank-furt. Vgl. auch Vagt 2005.

Page 334: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 324 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

hende Anforderung an die Kooperation von Schule undJugendhilfe. Dies soll im Folgenden ein Beispiel aus derJugendkulturarbeit verdeutlichen366: „Seit über 10 Jahrenkooperieren die Jugendkunstschule Filderstadt in Träger-schaft der VHS und die Hauptschule in Filderstadt inner-halb von künstlerischen Projekten für SchülerInnen. Abdem Schuljahr 2006/07 wird die Hauptschule, die Teil ei-nes Bildungszentrums mit Grund-, Haupt- und Realschuleist, den Ganztagsbetrieb zunächst für die Klassen 5 und 6aufnehmen. Mit jedem weiteren Jahr soll der Ganztag füreine weitere Klassenstufe folgen“ (Eickhoff 2005, S. 15).

An der Planung des Umbaus des Schulgebäudes und ander fachlich-konzeptionellen Planung sind alle an derDurchführung voraussichtlich beteiligten Partner, dasHochbauamt und das Schul-, Kultur- und Sportamt betei-ligt. „Dass die Jugendkunstschule Filderstadt bereits gut2½ Jahre vor Beginn der Ganztagsschule in deren Kon-zeption eingebunden wird, ist eine herausragende Beson-derheit. Deutlich wird, dass sie als gleichwertiger Partnerin erster Linie von Seiten der Schule und offenbar auchvon Seiten der kommunalen Vertreter angesehen wird. ...Hier entwickelt sich ein integratives Modell der Koopera-tion, wobei der Begriff der ‚Integration’ sowohl auf diestrukturelle wie auch die fachlich-pädagogische Dimen-sion bezogen ist. Jugendkunstschule übernimmt als Part-ner eine viel höhere Verantwortung für das Gelingen, des-sen Bedingungen sie jedoch auch in viel höherem Maßemitgestalten kann. Die Schule bleibt das größere und zen-trale ‚Unternehmen’, jedoch weichen sich die starrenStrukturen wie strenge Rhythmisierung des Unterrichts,Trennung von Pflicht- und Freiwilligenanteil, Trennungvon hierarchischer Wissensvermittlung und projektorien-tiertem Lernen zugunsten einer neuen pädagogischen Ge-samtkonzeption auf. Diese akzeptiert die Kompetenzenaußerschulischer pädagogischer Partner nicht nur, son-dern möchte, dass sie sich im Schulkontext entfalten undnutzen lassen. Es scheint, dass eine offene Entwicklungunter sinnvoller Nutzung aller beteiligten Fachlichkeit zu-gunsten eines anregungsreichen und abwechslungsrei-chen (Struktur und Personal) Lernens und Lehrens er-möglicht wird“ (ebd., S. 18).

(4) Schulentwicklung in Kooperation von Schule undTräger der Jugendhilfe: Ebenfalls weiterführende Per-spektiven der Kooperation von Schule und Jugendhilfewerden im folgenden Beispiel sichtbar, in dem ein Trägerder mobilen Jugendarbeit über Jahre Angebote für eineHauptschule in einem sozial benachteiligten Stadtteil an-bietet und dabei wichtige Impulse zur Schulentwicklungbeiträgt367: „Der Träger bietet der Schule ein Kompaktan-gebot an unterschiedlichen schulbezogenen Unterstüt-zungsformen an. Neben der Schulsozialarbeit mit einemDeputat von 100 Prozent und dem erweiterten Betreuungs-angebot mit einem Deputat von 50 Prozent als festverein-

barten Leistungen übernimmt der Jugendhilfeträger inweiten Teilen (...) das Kooperationsmanagement derGanztagsschule. Dieses Arrangement ist Resultat einergewachsenen zwölfjährigen Kooperation. Durch die Ein-richtung des Trägers „in der Nachbarschaft“ kommt eineschulraumerweiternde Komponente hinzu. Die Entwick-lung hat insofern einen interessanten Verlauf genommen,als dass heute deutlich wird, inwiefern die Gemeinwesen-orientierung des Trägers sich in einen Öffnungsprozessder Schule überschreibt und wie andererseits der Trägerin der Gesamtplanung seiner Angebotskomponenten derSchulbezogenheit einen immer größeren Raum gibt unddiesbezüglich vor allem personelle Flexibilität vorstruk-turiert“ (Flad/Bolay 2005, S. 12).

Damit Kooperationen von Trägern der Jugendhilfe mitSchulen zu einer Schulentwicklung im Sinne einer Öff-nung der Schule zum Gemeinwesen und einer Einbezie-hung der Angebote und Arbeitsformen der Jugendhilfe inden schulischen Regelalltag beitragen und zu einer neuenpädagogischen Kultur der Schule führen, in der maßgeb-lich auch Ansätze und Ansprüche der Jugendhilfe zumSelbstverständnis schulischer Arbeit werden, bedarf es ei-ner kontinuierlichen Zusammenarbeit, einer hohen Pro-fessionalität seitens des Trägers der Jugendhilfe und ver-lässlichen und soliden Rahmenbedingungen. Dazu gehörtauch, dass der Träger der Jugendhilfe über Ressourcen fürdie Planung, Koordination und Reflexion der Arbeit ver-fügt. Dazu folgende Erfahrung des oben genannten Trä-gers: „Nach interner Statistik des Trägers ergibt sich fürdie schulbezogene Jugendarbeit folgendes Verhältnis:50 Prozent der Arbeit findet im direkten Kontakt mit denjugendlichen Adressat/innen statt, weitere 25 Prozent derArbeitszeit werden für Kooperationskontakte mit Schul-leitung, Lehrkräften und Eltern aufgewendet. Das Ko-operationsmanagement inklusive Antragsstellungen fürProjektfinanzierungen, Verhandlungen mit externen Part-nern, die Planung von Arbeitsabläufen und das Schaffenvon Transfers. Wer macht was wann wo, nimmt weitere25 Prozent der Arbeitszeit in Anspruch“ (ebd., S. 17).

Kooperationen auf der Basis von „schulbezogenen Ju-gendhilfeangeboten“ (Flad/Bolay 2005) eröffnen im Ge-gensatz zu weniger strukturierten und auf Kontinuität an-gelegten Formen der Kooperation Möglichkeiten,fachliche Ansprüche der Jugendhilfe in Schulentwick-lungsprozesse einzubringen, Schule somit für die Belangeund Bedarfe von Schülerinnen und Schülern zu sensibili-sieren und Angebote sozialer Dienstleistung an derSchule aufzubauen. Für diese Formen von lebensweltori-entierter Schulentwicklung (Mack u. a. 2003) sind ver-lässliche und tragfähige Strukturen in der Schule und inder Jugendhilfe zu schaffen.

(b) Planung und Steuerung

Der Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen und ganztägi-gen Angeboten in Kooperation von Jugendhilfe undSchule bedarf in allen Bereichen und auf allen Ebenen ge-eigneter Instrumente der Steuerung. Im Folgenden wer-den Anforderungen an Kommunen, Stadtteile und Einzel-schulen skizziert.

366 Dieses Beispiel ist ebenfalls der Expertise von Mechthild Eickhoff(2005) entnommen.

367 Dieses Beispiel ist der „Expertise zur Kooperation von Jugendhilfe-angeboten und Ganztagsschulen in Baden-Württemberg“ von CarolaFlad und Eberhard Bolay (2005) entnommen.

Page 335: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 325 – Drucksache 15/6014

Auf Landesebene können günstige Voraussetzungen undBedingungen für Kooperationen von Schulen undEinrichtungen sowie Trägern der Jugendhilfe geschaffenwerden, die einen substanziellen Einbezug der fachli-chen Prinzipien der Jugendhilfe in die Gestaltung vonGanztagsschulen ermöglichen, wenn das Landesjugend-amt an der Erarbeitung der Rahmenbedingungen betei-ligt ist.368

Steuerung auf kommunaler Ebene: Erfolgreiche Koopera-tionen zwischen einzelnen Schulen und Einrichtungen derJugendhilfe sind auf eine Steuerung auf kommunalerEbene angewiesen. Elemente einer kommunalen Steue-rung und einer Unterstützung von Kooperationen sindKooperationen zwischen staatlicher Schulverwaltung,kommunalem Schulträger und kommunalem Jugendamt,zwischen Schul- und Jugendhilfeausschüssen sowie zwi-schen Schul- und Jugendhilfeplanung.369

Um weitere Ansätze, um Planung und Steuerung des Auf-baus und der Gestaltung von Ganztagsschulen auf kom-munaler Ebene zwischen den Bereichen Schule und Ju-gendhilfe besser aufeinander zu beziehen und eineintegrierte Planung aufzubauen, sind Beiräte und Len-kungsgruppen auf kommunaler Ebene einzurichten(Schnapka/Nonninger 2005). Beiräte sollten aus Vertre-tern der Schulverwaltung und der Jugendhilfe auf derEbene der Fachabteilungen und auf Leitungsebene, ausVertretern von Schulen und von Trägern der Jugendhilfesowie von Eltern und von Jugendlichen zusammengesetztsein; in den Lenkungsgruppen sollten neben Leitungsebe-nen der kommunalen Schulverwaltung und des Jugend-amtes auch der Bereich Stadtentwicklung beteiligt sein(ebd.).

Steuerung im Stadtteil: Kooperation zwischen Schule undJugendhilfe sollte nicht auf bilaterale Kooperationen zwi-schen einzelnen Einrichtungen der Jugendhilfe und Ein-zelschulen bzw. zwischen Jugendamt und Schulamt be-schränkt werden. Eine wesentliche und unverzichtbare

Ebene der Steuerung der Kooperation von Jugendhilfeund Schule stellt die Kommune, der Stadtteil bzw. der so-ziale Nahraum im Umfeld von Schulen dar. Die Jugend-hilfe verfügt, insbesondere in benachteiligten Stadtteilenmit erhöhten sozialen Problemen, über entwickelte undfunktionsfähige Instrumente der sozialraumbezogenenKooperation. Dabei ist eine Anbindung an die kommu-nale Ebene der Steuerung erforderlich; ein Muster dafürkönnen Arbeitsgemeinschaften nach § 78 SGB VIII sein.

Steuerung in Bezug auf einzelne Schulen: Auf der Ebeneder Einzelschule geht es um die Entwicklung und Ausge-staltung eines Schulkonzepts, das in der Kooperation vonSchule und Jugendhilfe getragen wird. Daran sind die pä-dagogischen Fachkräfte der Schule (Lehrkräfte und sozi-alpädagogisches Personal) sowie bereits vorhandene au-ßerschulische Partner zu beteiligen. Da in den Schulennicht immer bekannt ist, welche Träger der Jugendhilfewelche Leistungen im näheren Umfeld der Schule anbie-ten und oft auch das Wissen in Schulen über das Systemder Kinder- und Jugendhilfe wenig ausgeprägt ist, sollteder öffentliche Träger der Jugendhilfe bereits bei derKonzeptentwicklung für einen ganztägigen Betrieb derSchule, sei es als offene, sei es als gebundene Ganztags-schule, in diesen Prozess eingebunden werden. Koopera-tionen in Bezug auf einzelne Schulen können fachlichunterstützt werden durch Fachabteilungen für die Koope-ration von Jugendhilfe und Schule in den kommunalenJugendämtern.

In den Schulen selbst müssen Ansprechpartner bzw. Ver-antwortliche für die Kooperation mit der Jugendhilfe be-nannt werden. Diese Personen müssen gute Kenntnisseüber Strukturen und Leistungen der Jugendhilfe besitzenund Verwaltungsabläufe beherrschen. Sie sollten außerdemin die Schulleitung einbezogen sein, damit die Kooperationzwischen schulischem und außerschulischem Personalauch strukturell entsprechend gesichert werden kann.

Grenzen der Kooperation auf kommunaler Ebene: DieKooperation von Jugendhilfe und Schule erweist sich mitBlick auf die kommunale Ebene insoweit als schwierig,als hierbei zwei unterschiedliche Systeme aufeinandertreffen: auf der einen Seite die Arbeitsteilung zwischenstaatlicher Schulaufsicht und Schulverwaltung, die für dieinhaltlichen und personellen Angelegenheiten in derSchule zuständig sind, und der kommunalen Schulver-waltung, die auf Angelegenheiten und Fragen der „äuße-ren Schulträgerschaft“ begrenzt ist; auf der anderen Seiteeine plurale Trägerlandschaft der Jugendhilfe auf lokaler,aber auch überregionaler Ebene ohne klare Hierarchie-ebenen. Zudem verfügen Schule und Jugendhilfe über un-terschiedlich große Kapazitäten. Für eine Beteiligung aneinem Ausbau aller Schulen zu Ganztagsschulen reichendie Kapazitäten der Jugendhilfe in der Regel bei weitemnicht aus (vgl. auch Abschnitt 6.4).Ungeachtet dieser Schwierigkeiten und Unterschiedezwischen Jugendhilfe und Schule könnte den Kommuneneine „erweiterte Schulträgerschaft“ (Deutscher Städtetag2003) eine Mitsprache und Mitgestaltung bei inhaltlichenFragen der Schule ermöglichen. Ob hierin bereits die Lö-sung liegt, lässt sich gegenwärtig noch nicht absehen.Eine kontinuierliche, nicht nur punktuelle Zusammenar-beit von Jugendhilfe und Schule erfordert jedenfalls eine

368 In Rheinland-Pfalz sind in einer Arbeitsgruppe, an der neben demMinisterium für Bildung, Jugend und Familie auch das Landesju-gendamt beteiligt war, Rahmenbedingungen für den Aufbau und dieGestaltung von Ganztagsschulen erarbeitet worden. Das Landesju-gendamt hat in einer Empfehlung zur Ganztagsschule Kriterien for-muliert, mit denen Erfahrungen und Standards der Jugendhilfe in dieGestaltung der Rahmenbedingungen für den Ausbau von Ganztags-schulen einfließen und in denen konkrete Fragen zur Gestaltung derKooperation von Schule und Jugendhilfe formuliert sind. In denEmpfehlungen werden u. a. Vorschläge zur Betreuung an den Rand-zeiten vor Schulbeginn und nach Schulschluss sowie in den Ferienunterbreitet (Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung 2003).

369 Skeptisch in Bezug auf eine Kooperation im Bereich von Schulent-wicklungs- und Jugendhilfeplanung äußert sich Merchel in seinerExpertise für den Zwölften Kinder- und Jugendbericht. Er betont dieunterschiedlichen Planungsverständnisse und -verfahren sowie dieunterschiedliche organisatorischen und rechtlichen Rahmenbedin-gungen. Diese Unterschiede stellen kein grundsätzliches Hinderniseiner Kooperation dar, sie müssen allerdings als Bedingungen derKooperation reflektiert werden. Eine Zusammenlegung von kommu-nalem Schulverwaltungsamt und Jugendamt lehnt Merchel ebenfallsab; auch hier sind die Unterschiede in den beiden Systemen Schuleund Jugendhilfe zu berücksichtigen. Dennoch lässt sich daraus nichtableiten, dass eine Kooperation der beiden kommunalen Ämter bishin zu einer Integration nicht möglich wäre. Dazu gibt es bereits ineinigen Kommunen erste Beispiele.

Page 336: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 326 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

stärkere Anpassung der Zuständigkeiten für Schule undJugendhilfe auf kommunaler Ebene. Der Aufbau der Ju-gendhilfe – einschließlich der Einbeziehung nichtstaatli-cher Akteure und partizipativer Elemente – könnte hier-bei durchaus ein Vorbild sein.

(c) Modelle der Kooperation von Jugendhilfe und Schule

Im Folgenden werden auf der Basis der bisher erkennba-ren Formen der Kooperation von Jugendhilfe und Schulemögliche Modelle der Kooperation in Bezug auf die Ge-staltung von Ganztagsschulen skizziert. Welches der Mo-delle am besten geeignet ist, Schülerinnen und Schüler inihrer Kompetenzentwicklung zu fördern, welche Modelleeffizient sind, welche sich künftig durchsetzen werdenund welche sich durchsetzen sollten, kann derzeit nochnicht abgeschätzt werden.

(1) Unverbundenes Nebeneinander von Schule und Ju-gendhilfe (additives Modell): Additive Formen sind durchein weitgehend unverbundenes Nebeneinander unter-schiedlicher Angebote gekennzeichnet. Dies ist die vor-herrschende gegenwärtige Praxis zwischen Halbtagsschu-len einerseits und Angeboten und Leistungen derJugendhilfe andererseits. Erweiterte ganztägige Angebotekönnen ebenfalls in additiven Modellen organisiert wer-den. Der vormittägliche Unterricht wird dabei ausschließ-lich in Regie der Schule durchgeführt, während die nach-mittäglichen Betreuungs-, Förder- und Freizeitangebotein der Verantwortung von Trägern der Jugendhilfe stehen.Zwischen beiden Bereichen gibt es keine inhaltlich-kon-zeptionellen Verbindungen und Absprachen. Veränderun-gen der jeweiligen Bereiche erfolgen unabgestimmt undimmanent. Weiterentwicklungen der Schule (beispiels-weise der Unterrichtspraxis, der Zeitstruktur oder derVerbindung von Angeboten für alle bei gleichzeitiger in-dividueller Förderung) sind in diesem Modell ebensoschwierig wie eine Ausweitung bestimmter Angebote derKinder- und Jugendhilfe für deutlich mehr Kinder und Ju-gendliche.

Dieses Modell stellt somit eine Antwort auf das in derherkömmlichen Halbtagsschule ungelöste Problem derPassung zwischen schulisch garantierter Betreuung undfamiliärem Bedarf dar. Mit zusätzlichen Betreuungs-,Förder- und Freizeitangeboten könnte unstrittig eine alsdefizitär wahrgenommene Sozialisation verbessert wer-den. Eine Reform, die ganztägige Bildungs-, Betreuungs-und Förderangebote in ein aufeinander abgestimmtes undan den Bedürfnissen und Interessen von Kindern und Ju-gendlichen ausgerichtetes Konzept bringt – wie es diesemBericht zugrunde liegt –, ist mit diesem Modell nichtmöglich. Eher stellen die zusätzlichen Angebote amNachmittag eine Nachbesserung der von der Schule selbstnicht in genügender Weise erreichten Förderung und ei-nen Ausgleich zum kognitiv zentrierten Unterricht amVormittag dar. Insoweit haftet ihnen in dieser Hinsichtauch immer ein kompensatorischer Charakter an.

(2) Miteinander von Schule und Jugendhilfe auf derBasis von Absprachen und Kooperationsverträgen (Ko-operations-Modell): Kooperative Formen zeichnen sichdurch Vernetzung und verbindliches Zusammenspiel ei-

genständiger Angebote von Schule und Jugendhilfe aus.Dieses Modell stellt keine bloße Verlängerung der tägli-chen Schulzeit dar, sondern eine Veränderung der Insti-tution Schule durch eine gezielte Kooperation mit nicht-schulischen Akteuren. Unterrichtsbezogene undaußerunterrichtliche Angebote von Lehrerinnen undLehrern werden ergänzt durch Bildungs-, Betreuungs-und Förderangebote außerschulischer Akteure. Dabeikönnen aus der Sicht der Jugendhilfe für den Nachmit-tag insbesondere die vielfältigen Aktivitäten und Ar-beitsformen des Horts und der Jugendarbeit zum Tragenkommen, während die schulnahe Unterstützung durchdie Jugendhilfe hierbei eher durch auszubauende Ange-bote der Jugendsozialarbeit, also durch Schulsozialar-beit, gewährleistet werden könnte.

Diese Form der Kooperation von Schule und Jugendhilfebei der Gestaltung ganztägiger Angebote für Kinder undJugendliche wird in der Verwaltungsvereinbarung zumInvestitionsprogramm der Bundesregierung mit den Län-dern explizit genannt. In mehreren Bundesländern wur-den Rahmenvereinbarungen zwischen den Kultusministe-rien und freien Trägern auf Landesebene abgeschlossen,in denen Bedingungen für vertragliche Vereinbarungenzwischen Schulen und außerschulischen Kooperations-partnern formuliert sind. Die Form der Zusammenarbeitkann über Dienstleistungs- oder Kooperationsverträge ge-regelt werden.

Eine derartige Kooperation von Schule und Jugendhilfeist in offenen und in gebundenen Ganztagsschulen mög-lich. Üblicherweise werden allerdings lediglich offeneGanztagsschulen als geeignet für diese Form der Koope-ration mit der Jugendhilfe erachtet.370 Je nachdem, wel-ches Bild von Schule und welche Vorstellung der Bildungvon Kindern und Jugendlichen leitend sind, scheinendiese kooperativen Formen auch an Ganztagsschulen desgebundenen Typs sinnvoll. Soll Schule in ihrem Bildungs-angebot, pädagogischen Selbstverständnis und methodi-schen Repertoire durch die Kooperation mit außerschuli-schen Akteuren sinnvoll erweitert werden und so einevielseitige und umfassende, auf die Belange und Bedürf-nisse der einzelnen Kinder und Jugendlichen zugeschnit-tene Bildung, Betreuung und Erziehung ermöglichen, sosind solche Kooperationsmodelle auch in gebundenenGanztagsschulen zu entwickeln und zu fördern. Koopera-tive Formen erfordern allerdings einen höheren Aufwandan Abstimmung und Planung als additive Formen. Dafürsind geeignete Ansätze zu entwickeln.

(3) Gleichberechtigte Kooperation von Schule und Ju-gendhilfe (integriertes Modell): Integrierte Formen sindbestimmt durch gemeinsame Verantwortung für die An-gebote und deren Integration in ein gemeinsames Kon-zept – als „Angebote aus einer Hand“. Stärker als im ko-operativen Modell sind außerschulische Akteure auch indie Gesamtverantwortung für die Gestaltung der ganztä-

370 Der Ganztagsschulverband nennt die Kinder- und Jugendhilfe alsKooperationspartner hingegen nur bei offenen Ganztagsschulen. BeiGanztagsschulen in der gebundenen Form (voll oder teilweise) wirddie Kooperation mit der Jugendhilfe nicht ausdrücklich genannt(Ganztagsschulverband 2004, S. 3f.).

Page 337: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 327 – Drucksache 15/6014

gigen Bildung, Betreuung und Erziehung für Kinder imSchulalter einbezogen. Sie sind beteiligt an der Konzept-entwicklung und Planung, und sie sind in die regulärenVerwaltungs- und Leitungsstrukturen eingebunden. DieJugendhilfe ist in weitaus stärkerem Maße als im koope-rativen Modell in die Gestaltung der ganztägigen Ange-bote an der Schule selbst einbezogen und kann auch indie Leitungsstruktur eingebunden werden.371

6.5.2.5 Zusammenfassung: Auf dem Weg zur Ganztagsschule

Der Überblick über die Entwicklung von Ganztagsschu-len in den Bundesländern zeigt, dass das Modell der offe-nen Ganztagsschule bei weitem überwiegt. Offene Ganz-tagsschulen werden in Kooperation mit außerschulischenAkteuren aufgebaut und betrieben. Insgesamt steht – ent-gegen der pädagogischen und der politischen Program-matik – der Aspekt der Betreuung im Vordergrund. Der invielen Programmen und Verlautbarungen artikulierte An-spruch, mit der Ganztagsschule, auch in der offenenForm, ein anspruchsvolles Bildungsangebot und Bedin-gungen für die Förderung aller Kinder und Jugendlichenzu schaffen, bleibt demgegenüber vielfach im Hinter-grund. Allerdings muss konstatiert werden, dass in denmeisten Bundesländern, insbesondere in Brandenburg,Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, die mit denambitioniertesten Programmen den Ausbau von Ganz-tagsschulen fördern, bisher nur Aussagen über die Start-und Initiierungsphase der Ausbauprogramme gemachtwerden können. Insofern können die vorliegenden erstenEinschätzungen und Befunde der wissenschaftlichen Be-gleitforschungen nur Hinweise auf weitere Entwicklungs-schritte geben. Eine wichtige Aufgabe besteht deshalb da-rin, Programme der Länder vor dem Hintergrundzuverlässiger Evaluationen des Ausbaus von Ganztags-schulen nachzujustieren und den jeweiligen Bedingungenanzupassen. Neben möglichst klaren und präzisen Vorga-ben der Länder sollten auch große Entscheidungsspiel-räume für Kommunen, Schulen und Träger der Jugend-hilfe bei der Realisierung von Ganztagsschuleneingeräumt werden.

Kosten und Finanzierungsformen von Ganztagsschulenunterscheiden sich zwischen den Bundesländern und zwi-schen einzelnen Kommunen innerhalb der Länder erheb-lich. Dies betrifft die Höhe der finanziellen Aufwendun-gen für den laufenden Betrieb und die Beteiligung derKommunen an den Personalkosten. Eine Finanzierungdes Personals für den Ganztagsbetrieb zu erheblichen An-teilen durch die Kommune ist keine Ausnahme, es gibt je-doch große Unterschiede bei der Höhe der Beteiligung.Erforderlich wäre demgegenüber, wie in Bremen undRheinland-Pfalz, eine komplette Finanzierung des Perso-nals durch die Länder. In vielen Ländern werden zur Fi-nanzierung der Angebote am Nachmittag auch Elternbei-

träge erhoben. Dies widerspricht der Vorstellung, dass essich dabei um ein Bildungsangebot der Schule oder inKooperation von Schule und außerschulischen Trägernhandelt, das eine bessere Förderung aller Kinder und Ju-gendlichen ermöglichen soll.Hinsichtlich des Personals an neu eingerichteten Ganz-tagsschulen können bisher zwei zentrale Tendenzen beob-achtet werden:– Nebeneinander von Lehrkräften und Fachkräften für

den Nachmittagsbetrieb: Eine bloße Verlängerung derHalbtagsschule durch Angebote am Nachmittag bei ei-ner relativ strikten Teilung der Zuständigkeiten zwi-schen Lehrkräften für den Unterricht am Vormittag undPersonal für den Nachmittagsbetrieb ist unbefriedi-gend und nicht geeignet, ein aufeinander abgestimm-tes, anspruchsvolles Bildungsprogramm zu entwi-ckeln. Das Nebeneinander von Angeboten undArbeitsformen und die strikte Trennung der Zuständig-keiten kann nur mit einer Veränderung der Arbeits-zeitstrukturen und einer deutlich längeren Präsenz derLehrkräfte an der Schule erreicht werden (bei aller-dings auch zu verbessernden Arbeitsmöglichkeiten inder Schule). Ansonsten ist Schule für Kinder und Ju-gendliche eine zweigeteilte Organisation mit wech-selndem Personal und Ansprechpartnern. Dies ist nichtnur der Bildung von Kindern und Jugendlichen abträg-lich, sondern auch deren Betreuung und Erziehung imSinne der Schaffung verlässlicher Beziehungen.

– Arbeitsbedingungen und Qualifikationen der neuen(sozialpädagogischen) Fachkräfte an Ganztagsschu-len: Außerschulisches Personal für den Nachmittags-bereich wird zu unterschiedlichen Konditionen undmit sehr unterschiedlichen Qualifikationen einge-stellt. Fachlich qualifiziertes Personal wird nicht über-all beschäftigt. Teilweise gibt es Probleme, fachlichqualifiziertes Personal zu den bestehenden Konditio-nen zu rekrutieren.

Außerschulische Akteure werden überwiegend in Formvon Dienstleistungs- und Kooperationsverträgen einbezo-gen. Beteiligungen an Konzeptentwicklung und an Lei-tungsstrukturen sind selten.Träger der Jugendhilfe und andere außerschulische An-bieter übernehmen teilweise die Trägerschaft für den ge-samten Nachmittagsbereich einer Schule. Dies stellt hoheAnforderungen an die Träger, insbesondere in Hinblickauf Fachlichkeit (Beratung des in der Schule tätigen Per-sonals) und Finanzierung der Kosten. AußerschulischeTräger sind vielfach aufgrund mangelnder Kapazitätenüberfordert, ein flächendeckendes Ganztagsschulangebotzu bedienen (wie z. B. im Bereich der Jugendkulturar-beit). Dies betrifft nicht nur einzelne Träger, sondern dieKapazitäten der Jugendhilfe insgesamt. Hier stößt dasModell des kooperativen Ausbaus von Ganztagsschulenan Kapazitätsgrenzen der Jugendhilfe.Fragen und Aufgaben der Steuerung stellen sich auf kom-munaler Ebene und auf Landesebene: Für Steuerung undKoordination der Angebote vor Ort sind die Kommuneneine wichtige Ebene. Hier besteht jedoch noch ein großerHandlungsbedarf, damit beide Systeme besser aufeinan-der bezogen werden können. Auf Landesebene ist der

371 Eine Variante dieses Modells stellt auch die Übernahme der Jugend-hilfe durch die Schule dar. Dabei verliert allerdings die Jugendhilfeweitgehend in den dabei einbezogenen Bereichen ihre Selbstständig-keit. Ein Beispiel dafür stellt die Eingliederung des Horts in denSchulbereich in Berlin dar (vgl. Abschnitt 6.5.2.2).

Page 338: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 328 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Einbezug des Landesjugendamtes in die Planung und Ge-staltung der Programme zum Ausbau von Ganztagsschu-len eine wichtige Voraussetzung, um Kooperationen vonJugendhilfe und Schule an Ort und Stelle fachlich qualifi-ziert durchführen zu können.

Insgesamt zeigt sich eine sehr disparate Entwicklung. Ju-gendhilfe stellt einen nachgefragten Partner dar, aller-dings eher als günstiger Anbieter denn als gleichberech-tigter Kooperationspartner. Ganztagsschulen organisierenBetreuung, anspruchsvolle Bildungsprogramme sind bis-her vermutlich noch eher selten. Im Einzelfall gibt es füraußerschulische Anbieter Schwierigkeiten, sich auf denArbeitsort Schule und die dort vorfindbaren Bedingungeneinzulassen (verbindliche Teilnahme der Schüler, Um-gang mit Heterogenität, Motivationsprobleme).

6.5.3 Das Projekt Ganztagsschule: eine vorläufige Einschätzung

Mit dem „Projekt Ganztagsschule“ sind hohe Erwartun-gen verbunden (vgl. Abschnitt 6.5.1). Der Ausbau vonGanztagsschulen stellt nicht nur einen Umbau des Schul-systems in Deutschland dar, er hat auch Auswirkungenauf die Jugendhilfe: in direkter Weise, da Träger und Ein-richtungen der Jugendhilfe an der Gestaltung ganztägigerAngebote beteiligt sind, und indirekt, da sich dadurch dasVerhältnis von Schule und Jugendhilfe ändert. Im Folgen-den wird auf der Basis der dargestellten Tendenzen desAusbaus von Ganztagsschulen und ganztägigen Angebo-ten eine vorläufige Einschätzung vorgenommen. Das Pro-jekt Ganztagsschule wird dabei anhand der im Abschnitt6.5.1 genannten Kriterien bewertet.

(a) Selbstverständnis von Schule

In den Erwartungen an Ganztagsschule spiegelt sich eingroßes Interesse an einer anderen Schule (Zeller 2005).Ganztagsschule soll stärker den Bedürfnissen von Kin-dern gemäß gestaltet werden, der Schultag soll deshalbrhythmisiert werden, neue Lernformen sollen selbstver-ständlicher Teil des Unterrichts und außerunterrichtlicherAktivitäten werden. Ganztagsschule soll, so können dieseErwartungen auch interpretiert werden, zu einer „Ent-schulung der Schule“ beitragen, eine Öffnung der traditi-onellen Lehr- und Unterrichtsanstalt bewirken. Ob sichSchule mit der Einführung und dem Ausbau von Ganz-tagsschule in dieser Weise verändert, ist noch nicht abseh-bar. Beim derzeitigen Stand des Ausbaus von Ganztags-schulen und der Umsetzung der Landesprogrammespricht vieles dafür, dass dieser Anspruch bisher wenigeingelöst wird. Im Gegenteil, es zeichnet sich im Modellder offenen Ganztagsschule eine Zweiteilung in Unter-richt am Vormittag und Nachmittagsprogramm mit viel-fältigen Bildungs- und Betreuungsangeboten ab. Für denUnterricht ist das Lehrerkollegium zuständig, für denNachmittagsbereich Träger und Personal der Jugendhilfe,ergänzt um Honorarkräfte und ehrenamtlich Tätige. BeideBereiche arbeiten, zugespitzt formuliert, getrennt vonei-nander, es gibt kaum Berührungspunkte. Schule und Leh-rerarbeit bleiben damit im Grunde unverändert; neben dertraditionellen Unterrichtsschule am Vormittag ist einneuer Arbeitsbereich an der Schule entstanden, durch deneine verlässliche Betreuung garantiert wird. Dies hat

nichts mit Entschulung zu tun. Im Gegenteil: Schule inder traditionellen Form bleibt unverändert.

Diese Einschätzung bezieht sich vor allem auf offeneGanztagsschulen mit einer kleinen Gruppe von Schülerin-nen und Schülern, die am Nachmittagsprogramm teilneh-men. Und sie bezieht sich auf die Phase der Einführungund der Erprobung ganztägiger Angebote. Es bleibt abzu-warten, ob diese Form der Zweiteilung von Schule nichtnur konzeptionell, sondern auch praktisch möglichstschnell überwunden wird. Wichtige Voraussetzungen da-für sind Konzepte, die eine stärkere Verzahnung von Vor-und Nachmittag ermöglichen, solide Formen der Finan-zierung des Personals für den Nachmittagsbereich, dieeine Kontinuität der Beschäftigung und eine Präsenz aucham Vormittag ermöglichen, sowie neue Arbeitszeitmo-delle für Lehrerinnen und Lehrer, die eine größere Prä-senz auch am Nachmittag zulassen. Bessere Bedingun-gen, eine Zweiteilung zu überwinden, sind auch danngegeben, wenn an einer Schule eine größere Gruppe vonSchülerinnen und Schülern am ganztägigen Angebot teil-nimmt, so dass auch teilgebundene Formen mit rhythmi-sierten Angeboten eingeführt werden können.

(b) Schule und Familie

Das Verhältnis von Schule und Familie scheint sich dort,wo ganztägige Angebote eingerichtet werden, insgesamtzu verändern. Allerdings stehen einem verlässlichen undauf die Belange von Familien abgestimmten Betreuungs-angebot Regelungen entgegen, in denen ganztägige An-gebote nur an drei oder vier Wochentagen bereitgehaltenwerden, in denen ein flexibles Angebot an den Randzei-ten (Früh- und Spätbetreuung) nicht vorgesehen ist undbei denen Betreuungsangebote in den Ferien fehlen. Hiersind Standards zu entwickeln, die auch die Interessen undBedarfe von Familien berücksichtigen. Dies betrifft ins-besondere Angebote an den Randzeiten (Früh- und Spät-betreuung) und in den Ferien.372 Dabei handelt es sich umeine Aufgabe, die von Schule und Jugendhilfe gemein-sam getragen werden muss. Solange sich Schule für dieseFragen nicht zuständig erklärt und sie diese Aufgaben al-lein der Jugendhilfe überlässt, bleibt auch das Verhältnisvon Schule und Familie im Prinzip unverändert.

Verlässliche Angebote müssen sich an den Belangen vonFamilien orientieren und bedarfsgerecht vorgehalten wer-den, sie müssen darüber hinaus auch Verlässlichkeit inden Beziehungen zwischen den Schülerinnen und Schü-lern und den Bezugspersonen in den Bildungs-, Betreu-ungs- und Erziehungsangeboten sichern. Um diesem An-spruch gerecht werden zu können, ist insbesondere imGrundschulalter eine Kontinuität in den Beziehungen zuden am Nachmittag tätigen Personen eine wichtige Vo-raussetzung. Deshalb sind kurzfristige Beschäftigungs-verhältnisse und ein häufiger Wechsel der Betreuungsper-sonen in den ganztägigen Angeboten nach Möglichkeit zuminimieren.

372 Dazu hat das Landesjugendamt in Rheinland-Pfalz detaillierte Vor-schläge und Empfehlungen erarbeitet (Empfehlungen Landesjugend-amt RP).

Page 339: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 329 – Drucksache 15/6014

Verlässlichkeit in diesem Sinne stellt ein Qualitätskrite-rium für Ganztagsschulen und ganztägige Angebote dar.Zu einer guten Qualität ganztägiger Angebote gehörtauch ein dem erweiterten Bildungsbegriff dieses Berichtsentsprechendes breites Bildungsangebot am Nachmittag.Eltern brauchen eine Gewähr, dass ihre Kinder in denganztägigen Angeboten eine anregende und vielfältigeFörderung erfahren, dass sie Bildungsangebote aus einembreiten Angebotsspektrum auswählen können, die denkindlichen bzw. jugendlichen Interessen, Bedürfnissenund Entwicklungsanforderungen entsprechen. Kooperati-onen zwischen Schulen und Trägern ganztägiger Ange-bote an Schulen mit anderen außerschulischen Bildungs-einrichtungen sind auch deshalb sinnvoll, weil Kindernund Jugendlichen im Rahmen von ganztägigen Angebo-ten eine große Wahlmöglichkeit und damit eine individu-elle Förderung ermöglicht werden kann.

(c) Schule und Jugend

Eine Verlängerung der täglichen Schulzeit bedeutet eineVeränderung des Tagesablaufs von Kindern und Jugendli-chen. Schule stellt Erwartungen und Zumutungen an Kin-der und Jugendliche, sie verfügt über ihre Zeitnutzungund Zeitgestaltung. Damit diese Beanspruchung seitensder Schule auch legitimiert werden kann, müssen in weit-aus höherem Maße als in der traditionellen Halbtags-schule auch Bedürfnisse und Interessen von Kindern undJugendlichen bei der Gestaltung des Schultags berück-sichtigt werden. Hier haben die Verantwortlichen fürGanztagsschulen und ganztägige Angebote eine hoheVerantwortung, da diese Formen wesentlich mehr Zeit imTagesablauf von Kindern und Jugendlichen in Anspruchnehmen als die traditionelle Halbtagsschule und so freidisponible Zeiten für die Nutzung anderer Bildungsange-bote eingeschränkt wird. Ganztägige Bildungsangebotemüssen deshalb weitaus mehr als bisher in der traditionel-len (Halbtags-)Schule üblich, eine individuelle Förderungder Kinder und Jugendlichen ermöglichen. IndividuelleFörderung beschränkt sich nicht allein auf ein zusätzli-ches Förderangebot und die Unterstützung bei Hausauf-gaben; individuelle Förderung muss ein Handlungsprin-zip werden, das ganztägige Bildungsangebote generellbestimmt. Dies erfordert ein radikales Umdenken in derSchule und einen weitaus stärkeren Einbezug der Kinderund Jugendlichen in die Planung und Gestaltung vonganztägigen Bildungsangeboten.Dabei ist insbesondere zu erwarten, dass Schule Kindernund Jugendlichen auch altersentsprechende Freiräume fürselbst bestimmtes Handeln zubilligt und dass Formen derMitbestimmung und der Verantwortungsübernahmedurch Schülerinnen und Schüler erheblich ausgeweitetwerden. Ob Schule diese Verpflichtung wahrnimmt undeinlöst, kann derzeit noch nicht gesagt werden; hier be-steht ein unübersehbarer Informationsbedarf. Diese The-men müssen künftig auch im Zentrum der Qualitätsent-wicklung und -kontrolle an Ganztagsschulen stehen undin Kriterien für Schulentwicklung einfließen.

(d) Schule und Jugendhilfe

Der Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen und ganztägi-gen Angeboten erfolgt in weiten Teilen in Kooperationvon Schule und Jugendhilfe. Damit stellt sich die Frage

nach dem Verhältnis von Schule und Jugendhilfe, nachder Organisation der Kooperation, den wechselseitigenErwartungen und den längerfristigen Folgen für beideSysteme. Das „Projekt Ganztagsschule“ ist deshalb nichtzuletzt auch vor dem Hintergrund von Vorstellungen undForderungen nach einem konsistenten Gesamtsystem vonBildung, Betreuung und Erziehung zu sehen. Trägt dieKooperation von Schule und Jugendhilfe dazu bei, einsolches Gesamtsystem aufzubauen, und falls ja, in wel-cher Weise geschieht das? Auch hier sind nur erste Ein-schätzungen möglich, da derzeit auch die Entwicklungender Kooperation von Schule und Jugendhilfe zu disparatsind. Auf der einen Seite können Ansätze beobachtetetwerden, die geeignet sind, eine qualitativ neue Form derKooperation von Schule und Jugendhilfe zu entwickeln,auf der anderen Seite bewegen sich viele Projekte in denausgetretenen Pfaden einer mühsamen, ungleichgewichti-gen und insgesamt fragilen Kooperation.Träger der Jugendhilfe bieten überwiegend Dienstleistun-gen an Ganztagsschulen an. Seltener sind Formen, in de-nen ein Träger der Jugendhilfe die Trägerschaft für dengesamten Nachmittagsbereich übernimmt, wodurch grö-ßere Gestaltungsmöglichkeiten für die Jugendhilfe eröff-net und im Prinzip bessere Voraussetzungen für einegleichberechtigte Kooperation mit der Schule gebotenwerden. Eine Trägerschaft erfordert eine hohe Kompe-tenz in den Bereichen Management und Organisation,insbesondere in der Aufbauphase von Ganztagsschulen.Unsichere Finanzierungsmodalitäten sowie das breiteAufgabenspektrum (von der Planung, Organisation undKoordination des Angebots bis zur fachlichen Beratungund Unterstützung des im Nachmittagsbereich tätigenPersonals) stellen hohe Anforderungen an die Träger derJugendhilfe.Kooperation von Jugendhilfe und Schule bei der Gestal-tung von Ganztagsangeboten gelingt dann besonders gut,wenn bereits langjährige Erfahrungen in der Kooperationbestehen und wenn Träger der Jugendhilfe mit ihren An-geboten kontinuierlich in der Schule präsent sind und da-durch auch Einfluss auf Schulentwicklung gewinnen.Derartige Ansätze und Modelle sind in der bisherigenPhase des Ausbaus von Ganztagsschulen jedoch nocheher selten, sie markieren aber die Richtung für künftigeEntwicklungen.Weitgehend offen ist derzeit, welche Folgen der Ausbauvon Ganztagsschulen und ganztägigen Angeboten fürKinder und Jugendliche im Schulalter auf die Kinder- undJugendhilfe in rechtlicher, finanzieller, struktureller undfachlicher Sicht hat. Die Kinder- und Jugendhilfe musssich auf den Ausbau ganztägiger Angebote einlassen unddiesen Prozess aktiv mitgestalten. Sie muss unabhängigdavon weiterhin in der Lage sein, ihre eigenständigenAufgaben erfüllen zu können. Deshalb ist eine gute Infra-struktur der Kinder- und Jugendhilfe für ihre anderenAufgaben und Leistungen unabhängig von der Koopera-tion mit der Schule zu erhalten und fachlich weiterzuent-wickeln. Dies betrifft den Bereich der Hilfen zur Erzie-hung ebenso wie die Jugendarbeit. Gute ganztägige Bildung, Betreuung und Erziehung istinsgesamt nicht zum Nulltarif zu haben. Entscheidend fürdas Gelingen ist, ob insgesamt genügend Ressourcen mo-

Page 340: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 330 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

bilisiert werden können, um fachlich qualifizierte ganztä-gige Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebote zurealisieren, die den hier formulierten fachlichen Ansprü-chen gerecht werden. Für die Kinder- und Jugendhilfewird es von entscheidender Bedeutung sein, ob es ihr ge-lingt, einen Beitrag zu einem guten ganztägigen Angebotzu leisten, ohne zugleich ihre eigenständigen Aufgabenund Leistungen zu gefährden.Fazit: Mit dem Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen inKooperation von Schule und Jugendhilfe nähert sichDeutschland schrittweise an Standards und Formen derOrganisation von Ganztagsschule in anderen europäi-schen Ländern an. Derzeit findet in Deutschland, unter-stützt und forciert durch das IZBB, ein rasanter quantitati-ver Ausbau von Ganztagsschulen und ganztägigenAngeboten statt. Ob damit zumindest in einigen Bundes-ländern in den nächsten Jahren ein den anderen europäi-schen Ländern mit einer längeren Geschichte der Ganz-tagsschule vergleichbares Angebot erreicht werden kann,ist derzeit noch nicht absehbar. Hinsichtlich der Gestal-tung der Ganztagsschule und ganztägiger Angebote in Ko-operation von Schule und außerschulischen Partnern, ins-besondere der Jugendhilfe, ist die Entwicklung inDeutschland bereits jetzt vergleichbar mit anderen europä-ischen Ländern, in denen ganztägige Bildungssysteme inKooperation von mehreren Professionen und Organisatio-nen bestehen. Dabei ist in Deutschland die Kooperationvon Schule und Jugendhilfe von besonderer Bedeutung.Mit dem Ausbau und der Gestaltung von Ganztagsschulenund ganztägigen Angeboten für Kinder und Jugendlicheim Schulalter besteht eine große Chance, ein neues, stär-ker aufeinander abgestimmtes öffentliches System für Bil-dung, Betreuung und Erziehung aufzubauen.

6.6 Institutionelles Zusammenwirken von Bildungsorten und Lernwelten –Bilanz und Perspektiven

In diesem Kapitel ist nach den institutionellen Bedingun-gen für Bildung, Betreuung und Erziehung im Kindes-und Jugendalter gefragt worden. Der Bericht hat, ausge-hend von einer subjektbezogenen Perspektive auf Bil-dungsprozesse von Kindern und Jugendlichen im Schulal-ter (vgl. Kapitel 4), den Blick auf bildungsrelevante Orteund Gelegenheiten gerichtet. Dabei wurde eine Vielfaltund Vielzahl von Bildungsorten und Lernwelten sichtbar,die allerdings nicht von allen gleichermaßen genutzt wer-den. Diese Vielfalt an Gelegenheiten wirft bezogen aufBildungsverläufe von Kindern und Jugendlichen Fragennach den Wechselwirkungen in der Wahrnehmung undNutzung dieser Angebote auf. Hinsichtlich der Organisa-tion der Angebote stellen sich Fragen nach dem Zusam-menspiel der institutionalisierten Bildungsangebote. Zen-trale Funktionen, dieses Zusammenspiel für die Bildungaller Kinder und Jugendlichen fruchtbar zu machen und ineiner produktiven Weise zu gestalten, kommen dabei derSchule und der Kinder- und Jugendhilfe zu. Kooperationvon Schule sowie Kinder- und Jugendhilfe wird so zu ei-ner bildungsrelevanten Aufgabe. Mit dem Aus- und Auf-bau ganztägiger Angebote für Kinder und Jugendliche imSchulalter gewinnen das Zusammenspiel unterschiedli-cher Akteure und die Gestaltung eines aufeinander abge-

stimmten Systems von Bildung, Betreuung und Erziehungzusätzlich an Aktualität. Das „Projekt Ganztagsschule“stellt in doppelter Weise eine Herausforderung für dieSchule und für die Kinder- und Jugendhilfe dar, da ein zü-giger quantitativer Ausbau mit der Entwicklung qualitati-ver Standards in Einklang gebracht werden muss.

Als bildungsbedeutsame und -relevante institutionelleOrte und Angebote sind in diesem Kapitel Leistungen derKinder- und Jugendhilfe, der Schule sowie von kommer-ziellen und nicht-kommerziellen Lernwelten außerhalbvon Schule und Kinder- und Jugendhilfe dargestellt unddiskutiert worden. Im Folgenden wird der diese Darstel-lung tragende Grundgedanke wieder aufgegriffen und diedamit verbundene Perspektive für die Organisation von in-stitutionalisierten Bildungsgelegenheiten und -angebotensowie für die Reform des öffentlichen Systems für Bil-dung, Betreuung und Erziehung zugespitzt. Im Kern gehtes darum, das gesamte Spektrum vorhandener Bildungs-angebote in eine Diskussion um die Weiterentwicklungund Reform öffentlicher Bildung, Betreuung und Erzie-hung für Kinder und Jugendliche im Schulalter einzube-ziehen. In diese Diskussion können auch – zumindest par-tiell – kommerzielle Angebote und Leistungen einbezogenwerden. Mit diesem Ansatz, Bildung und Bildungsreformnicht nur in Bezug auf einzelne Institutionen, sondern aufeine Vielfalt von unterschiedlichen Institutionen zu disku-tieren, rückt die Frage in den Vordergrund, wie ein Zusam-menspiel dieser Institutionen mit ihren jeweils spezifi-schen Angeboten und Leistungen in einer Weise erfolgenkann, dass es für die Förderung von Kindern und Jugend-lichen produktiv wird. Das bildungspolitische Projekt, einSystem ganztägiger Bildungs-, Betreuungs- und Erzie-hungsangebote pädagogisch anspruchsvoll und ökono-misch vertretbar bedarfsgerecht aufzubauen, stellt eine be-sondere Herausforderung an das Zusammenspiel vonBildungsorten und Lernwelten. Bevor Anforderungen anstrukturelle Bedingungen und Veränderungen zusammen-fassend aufgezeigt werden, werden zunächst einige Ergeb-nisse zu den Leistungen und Angeboten von Jugendhilfeund Schule als den zentralen öffentlichen Institutionen fürBildung, Betreuung und Erziehung kurz dargestellt.

In diesem Kapitel sind nicht sämtliche Leistungen derKinder- und Jugendhilfe aufgegriffen und dargestellt wor-den, sondern lediglich solche, die für die Bildung von Kin-dern und Jugendlichen im Schulalter eine besondere hoheRelevanz und Plausibilität aufweisen. Mit der Jugendar-beit ist ein Bereich der Kinder- und Jugendhilfe themati-siert worden, der explizit eine auch gesetzlich verankerteBildungsaufgabe hat. Bildungsangebote und -leistungender Jugendarbeit weisen, im Gegensatz zu vielen formalenBildungsinstitutionen, einen hohen Grad an Selbstorgani-sation durch Jugendliche auf, sie sind durch eine Aneig-nungs- und Vermittlungsstruktur gekennzeichnet, in derlebensweltliche und sozialräumliche Bedingungen undGegebenheiten zum unverzichtbaren Bestandteil gehören.Ist die Schule als wichtigster formaler Bildungsort fürKinder und Jugendliche im Schulalter durch einen Gegen-satz von schulischer Aneignungs- und Vermittlungsstruk-tur und lebensweltlichen Erwartungen und Gegebenheitenbestimmt, ist für die Jugendarbeit gerade das Zusammen-

Page 341: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 331 – Drucksache 15/6014

fließen von Bildungsangebot und -leistung mit den le-bensweltlichen Bedingungen konstitutiv.Der Hort als Angebot und Leistung der Kinder- und Ju-gendhilfe bietet ein erweitertes Bildungsangebot für Kin-der im (Grund-)Schulalter, in dem soziales Lernen und ei-gene Aktivität eine große Bedeutung haben. Der Hortdefiniert sich als Institution, die Defizite schulischer Be-treuung und Förderung kompensiert und sich infolgedes-sen von der Schule konzeptionell abgrenzt, aber auch alsInstitution, die sich als Ergänzungsangebot zur Schuleversteht und vor allem Betreuungs- und Förderangebotevorhält, die von der Schule – aus welchen Gründen auchimmer – selbst nicht bereitgehalten werden. Er steht da-mit in einer doppelten Konkurrenz zur Schule: konzeptio-nell, indem er ein Gegenmodell von Bildung und Betreu-ung zur Schule darstellt, strukturell, da er in seinerLegitimation und politischen Akzeptanz von der Schuleund ihren erbrachten oder nicht erbrachten Leistungen ab-hängig ist. Sobald sich Schule mit ihren Angeboten undLeistungen dem annähert, was den Hort auszeichnet, ge-rät dieser politisch in eine Legitimationskrise. Mit demAusbau von ganztägigen Angeboten für Schulkinder stehtdeshalb auch die Frage nach der Zukunft des Horts als ei-genständigem Leistungsbereich der Jugendhilfe auf derTagesordnung.In der schulbezogenen Jugendsozialarbeit werden expli-zite Bildungsangebote sowie kompensatorische Leistun-gen für schulpflichtige Kinder und Jugendliche erbracht,um Heranwachsende mit Lern- und Schulschwierigkeitenzu unterstützen. Schulbezogene Jugendsozialarbeit hatdeshalb den Schulerfolg von Kindern und Jugendlichen inbenachteiligten und erschwerten Lebenslagen als Maß-stab und Kriterium ihrer Bildungsangebote und -leistun-gen und als weiteren Bezugspunkt den erfolgreichenÜbergang von der Schule in Ausbildung und Arbeit. Des-halb sind streng genommen auch die Grenzen von schul-bezogener und berufsbezogener Jugendsozialarbeit flie-ßend; in der Schulsozialarbeit als einem Bereichschulbezogener Jugendsozialarbeit haben Vorbereitungauf Berufswahl, Bewerbungen und Ausbildung denn aucheinen zentralen Stellenwert.Schule als formaler Bildungsort ist in diesem Kapitelebenfalls bezogen auf ihre Struktur und ihre Leistungendargestellt worden. Allgemeinbildende Schulen habenden Anspruch, allgemeine Bildung für alle Kinder undJugendliche zu vermitteln. Das heißt, diese Bildung sollnicht speziell auf besondere Anwendungs- und Verwer-tungssituationen zielen, und sie soll für alle Kinder undJugendliche dem Prinzip nach gleich gelten. Dennoch be-stehen im deutschen Schulsystem erhebliche Unter-schiede in der Förderung von Kindern und Jugendlichenunterschiedlicher sozialer Herkunft. So ist das Prinzip derChancengleichheit in der Schule noch längst nicht ver-wirklicht; im Gegenteil, herkunftsbedingte Benachteili-gungen werden vom deutschen Schulsystem als Bil-dungsbenachteiligung noch verschärft. Dazu trägt vorallem die durch das je nach Bundesland in zwei, drei odervier Schulformen segmentierte Schulsystem bei, aberauch die Organisation von Unterricht und Leistungskon-trolle. Entgegen dem Prinzip der individuellen Förderungist die Schule in Deutschland immer noch vorrangigdurch Auslese und Zurücksetzung geprägt. Das Versagen

des bisherigen Systems wird an der relativ konstant hohenQuote von Schülerinnen und Schülern, die Klassen wie-derholen – und dies zum Teil mehrfach –, das Schulsys-tem ohne Abschluss verlassen oder vorzeitig ihren Schul-besuch beenden, mehr als offenkundig. Obwohl einbildungspolitischer Skandal, scheint dies allerdings zurDisziplinierung der Schülerinnen und Schüler und zurStabilisierung des Systems beizutragen.

Schule und Jugendhilfe repräsentieren somit unterschied-liche Formen von Bildungsangeboten und Bildungsleis-tungen. In der Jugendhilfe selbst betonen Jugendarbeit,Hort und schulbezogene Jugendarbeit unterschiedlicheAkzente und Schwerpunktsetzungen. Damit ist zwar ei-nerseits eine Vielfalt von öffentlichen Bildungsangebotengegeben, sie stellt jedoch auch hohe Anforderungen aneine Organisation des Zusammenspiels. Hinzu kommt,dass Schule und Jugendhilfe – zumindest in den in die-sem Kapitel exemplarisch vorgestellten Bereichen Ju-gendarbeit, Hort und schulbezogene Jugendsozialarbeit, –über völlig ungleiche personelle und finanzielle Ressour-cen verfügen. So sind in allgemeinbildenden Schulen(Primarstufe, Sekundarstufe I und II) in Deutschlandca. 676 000 Lehrerinnen und Lehrer in Voll- und Teilzeithauptberuflich beschäftigt; hinzu kommen gut 68 000Lehrerinnen und Lehrer, die stundenweise nebenberuflichan der Schule tätig sind. Demgegenüber ist die Jugendar-beit mit ca. 33 000 hauptberuflich beschäftigen Personenein kleiner Leistungsbereich; allerdings kommen viele, inder amtlichen Statistik nicht erfasste ehrenamtlich Tätigehinzu, die das Proprium und die Stärke der Jugendarbeitverkörpern. In der Schulsozialarbeit als dem zentralenBereich schulbezogener Jugendsozialarbeit sind laut Kin-der- und Jugendhilfestatistik gerade mal knapp 1 400 Per-sonen erfasst (in dieser Statistik sind nicht berücksichtigtPersonen, die bei Schulträgern, Schulen oder Förderverei-nen angestellt sind). Trotz dieses Ungleichgewichts kanndie Jugendhilfe mit den in diesem Kapitel dargestelltenBereichen sowohl konzeptionell als auch praktisch ent-scheidende Impulse für das Zusammenspiel von Bil-dungsorten und Lernwelten geben. Dabei müssen bil-dungspolitische Vorstellungen, wie ein konsistentesSystem von Bildung, Betreuung und Erziehung aufgebautwerden kann, ihre Plausibilität allerdings an diesen unter-schiedlichen Ausgangsbedingungen erweisen.

Bevor nun im Folgenden strukturelle Fragen und Heraus-forderungen des Zusammenspiels von Bildungsorten undLernwelten thematisiert werden, wird zunächst exempla-risch an vier Beispielen aufgezeigt, welche bildungspoli-tischen Reformen das Konzept der Bildungsorte undLernwelten impliziert. Als Leitfigur wird dabei die Per-spektive ganztägiger Bildung gewählt.

(1) Ganztägige Bildungsangebote und Familie: schuli-sche Lernförderung statt elterlicher Hausaufgabenhilfen

In der bisherigen bildungspolitischen Debatte ist der Aus-bau von Ganztagsschulen mit dem Wandel von Familien-konstellationen begründet worden. Dabei wird in der Re-gel auf die gestiegene Erwerbstätigkeit der Frauen sowieauf die Zunahme allein erziehender Haushalte hingewie-sen, die eine Verlängerung schulischer Betreuungszeitenerforderlich machen. Ungleich wichtiger scheint vor demHintergrund der dargestellten empirischen Befunde je-

Page 342: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 332 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

doch noch ein anderes Argument zu sein: die Eltern vonihrer Rolle als Ersatzlehrer zu entlasten und vor allemauch jenen Kindern und Jugendlichen schulische Unter-stützungsleistungen zukommen zu lassen, die sich privateNachhilfestunden oder kommerziellen Nachhilfeunter-richt nicht leisten können. Neben klassischen Formen derHausaufgabenhilfe und der Nachhilfeangebote am Nach-mittag, die durch Lehrer/innen, Schulsozialarbeiter/innen,aber auch ältere Schüler/innen in der Ganztagsschule an-geboten werden können, sollten jedoch die bisherige Pra-xis der Hausaufgaben grundlegend überdacht und neueMöglichkeiten des Lernens außerhalb des Unterrichts ent-wickelt werden. Die ohnehin knapp bemessene gemein-same Zeit von Eltern und Kindern sowie die Freizeit derHeranwachsenden im Anschluss an die Ganztagsschulesollte dann jedoch eine weitgehend von Schularbeitenentlastete Zeit sein.

Notwendig wäre es darüber hinaus, vor allem in Schulen,die von Kindern aus bildungsfernen Familienmilieus so-wie aus Familien mit Migrationshintergrund und Multi-Problembelastung stark frequentiert werden, den Kontaktzwischen Eltern und Lehrer/innen über das in Deutschlandbisher vorliegende eher kümmerliche Ausmaß hinausdeutlich zu stärken. Dies könnte auch über die Einbezie-hung ausgewählter Eltern als Experten/Expertinnen in dienachmittäglichen Lern- und Freizeitangebote von Ganz-tagsschulen geschehen. Zudem sollten spezifische Sprach-förderkurse für Migrantenkinder in enger Kooperationund Abstimmung mit deren Eltern realisiert werden.

(2) Ganztägige Bildungsangebote und Schule: inte-grierte Bildungsgänge, Förderung von benachteiligtenSchülern/innen und sozialem Lernen

Blickt man auf die Befunde der internationalen Leis-tungsstudien (z. B. IGLU oder PISA), so liefern sie eineVielzahl von empirischen Indikatoren, die für eine län-gere gemeinsame Beschulung von Schülern/innen spre-chen, etwa in Gestalt einer auf sechs Jahre verlängertenGrundschule und eines anschließend zweigliedrig aufge-bauten Schulsystems mit Sekundarschulen und Gymna-sien. Hiezu gehören beispielsweise die massive Sprei-zung der Schulleistungen ab der fünften Klasse, dieAusweitung der Gruppe der Risikoschüler/innen im Ver-laufe der Sekundarstufe, die Dominanz der schulischenAbstiege für Schüler/innen im dreigliedrigen allgemein-bildenden Schulsystem der Sekundarstufe I und die hohesoziale Selektivität des deutschen Bildungssystems. Vondaher sollte die bildungspolitische Debatte um den Aus-bau von Ganztagsschulen auch mit einer Schulstrukturde-batte um die Einführung von stärker integrierten Bil-dungsgängen verbunden werden.

Im Rahmen der zeitlichen Ausweitung von Lernangebo-ten in Ganztagsschulen würden sich auch Spielräume fürdie Realisierung von Förderkursen zur Verbesserung derSprach- und Lesekompetenz von Risikogruppen sowiefür die Durchführung von berufsorientierten Kursen undArbeitsgemeinschaften eröffnen, die die Schüler/innenbesser auf den Übergang ins Beschäftigungssystem vor-bereiten. Außerdem sollte vor dem Hintergrund der Be-funde der PISA-Studie in diesem Zusammenhang auchüber die Einführung eines phasenweise monoedukativenDeutschunterrichts für Jungen bzw. naturwissenschaftli-

chen Unterrichts für Mädchen mit dem Ziel der Verbesse-rung der Lesekompetenz für männliche und der naturwis-senschaftlichen Kompetenz für weibliche Jugendlichenachgedacht werden.Ganztagsschulen bieten mit ihrem erweiterten Zeitrah-men und Lernangebot zudem mehr Möglichkeiten für so-ziales Lernen und die politische Bildung, die im bisheri-gen Schulsystem in der Regel in einer Stunde pro Wocheab der achten Schulklasse in einem eigenständigen Unter-richtsfach behandelt wird. In Arbeitsgemeinschaften zurUmweltthematik oder in von deutschen und Jugendlichenmit Migrationshintergrund gemeinsam gestalteten Kultur-,Musik- oder Theaterprojekten könnten neue Modelle desökologischen oder multikulturellen Lernens erprobt undsomit gleichzeitig auch die soziopolitischen Kompeten-zen der Schüler/innen gefördert werden.(3) Ganztägige Bildungsangebote und Freizeit: Ange-bote der Nebenschulen aufgreifen und neue Formen desPeer-LearningSchulen bieten auch heute schon ein breites Spektrumvon Freizeitangeboten, das von gut einem Viertel derSchüler/innen genutzt und von über der Hälfte der Schü-ler/innen für wichtig gehalten wird. Schule ist inzwischender zentrale Ort, an dem Gleichaltrigenkontakte gefundenund aufgebaut werden. Im Rahmen der erweiterten Lern-arrangements von Ganztagsschulen sollten die Angeboteder so genannten Nebenschulen, Musik-, Tanz-, Sprach-oder Computerkurse aufgegriffen und offeriert werden,damit auch jene Kinder und Jugendliche einen Zugang zusolchen Möglichkeiten des Erwerbs von zusätzlichensprachlichen oder ästhetisch-expressiven Kompetenzenerhalten, die sich den Besuch dieser Nebenschulen finan-ziell nicht leisten können. Bei der Durchführung solcherKurse könnte zugleich das Potential des Peer-Learninggenutzt werden, d. h. ältere Schüler/innen, die in einemdieser ästhetischen bzw. medialen Themenfelder kompe-tent sind, könnten solche Kurse für andere Schüler/innenanbieten.Zudem müssten Ganztagsschulen vor allem für ältereSchüler/innen auch Räume in Gestalt von Cafés oder Dis-kos bereitstellen, wo sich ältere Jugendliche mit ihrenGleichaltrigen-Gruppen informell und unkontrolliert vonErwachsenen treffen können.(4) Ganztägige Bildung und Jugendhilfe: Öffnung vonSchule und neue KooperationsformenGanztägige Bildung, sei es in Gestalt von Ganztagsschu-len oder in anderen räumlichen und institutionellen Ko-operationsformen zwischen Schule und Jugendhilfe, er-fordert auf jeden Fall von Schule eine Erweiterung ihresFunktionsverständnisses. Notwendig ist eine Öffnung derSchule hin zur Lebenswelt, zum Stadtteil und zur Region,eine Kooperation z. B. mit Künstlern, Musikern, mit El-tern sowie psychosozialen Diensten und vor allem mitden verschiedenen Institutionen der Jugendhilfe. Notwen-dig ist ebenfalls eine Erweiterung ihres Selbstverständnis-ses, indem sie sich über Bildung hinausgehend auch fürdie Betreuung und Erziehung der Kinder zuständig er-klärt. Jugendhilfe kann umgekehrt ihre Potentiale bei derFörderung und den Hilfen für benachteiligte Kinder undJugendliche im Rahmen von Schulsozialarbeit und Ju-gendberufshilfe sowie ihre Erfahrungen mit der Organisa-

Page 343: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 333 – Drucksache 15/6014

tion von Freizeitangeboten, Ansätzen der politischen,sportlichen und ästhetischen Bildung oder dem internatio-nalen Jugendaustausch im Rahmen der Jugendarbeit derVereine, Verbände und Kommunen in den Kooperations-zusammenhang mit einbringen. Durch die engere Koope-ration mit Schule kann die Jugendarbeit zudem jene Kin-der und Jugendlichen aus benachteiligten sozialenMilieus mit ihren Bildungsangeboten besser erreichen,die sonst nicht unbedingt zum Adressatenkreis derJugendarbeit gehören. Die Bildungsangebote von Jugend-hilfe und Schule verhalten sich insoweit tendenziellkomplementär zueinander und könnten in ihrem Zusam-menspiel günstige Rahmenbedingungen für eine umfas-sende Förderung der sprachlichen, instrumentellen, sozia-len sowie ästhetisch-expressiven Kompetenzen vonKindern und Jugendlichen bieten. Aus der Perspektive der Kinder und Jugendlichen be-trachtet, hat dieses umfassende Bildungsangebot im Rah-men von ganztägiger Bildung, Betreuung und Erziehungjedoch auch einen Nachteil, denn es impliziert eine wei-tere Pädagogisierung und Verschulung des kindlichen undjugendlichen Lebensalltags. Diese Pädagogisierung birgtdie Gefahr, dass insbesondere die informelle Freizeitge-staltung außerhalb pädagogischer oder familialer Settingsihren Erprobungscharakter und damit Potentiale, die sichförderlich auf die kindliche und vor allem jugendlicheEntwicklung auswirken, verliert. Doch dieses Risikoscheint überschaubar zu sein, da sich Kinder und Jugend-liche innerhalb dieser Ganztagsschulen oder nach demSchulbesuch am Spätnachmittag jene informellen Frei-räume erobern werden, die sie für eigeninitiiertes Lernenund selbstorganisierte Aktivitäten benötigen.Nach dieser Skizze von konkreten bildungspolitischenMöglichkeiten, das Zusammenspiel von Bildungsortenund Lernwelten zu verbessern, werden abschließendstrukturelle Anforderungen und Perspektiven für das Zu-sammenspiel von Bildungsorten und Lernwelten aufge-griffen.(1) Die Vielfalt und Vielzahl der Bildungsorte und Lern-welten bildet eine potenzielle Ressource für die Förde-rung von Kindern und Jugendlichen; in dieser Vielfaltsind formale sowie non-formale Strukturen und Settingsenthalten. Damit diese Ressource genutzt und erweitertwerden kann, ist es erforderlich, die bildungspolitischeAufmerksamkeit nicht nur auf einzelne Institutionen zurichten, sondern auf das gesamte Spektrum möglicherBildungsorte und Lernwelten. Denn Schule ist ein wichti-ger Bildungsort in dieser Landschaft, jedoch nicht dieeinzige. Dadurch relativiert sich ihre Position, ohne dassihre Bedeutung für die Bildung von Kindern und Jugend-lichen und für die Bildung der Gesellschaft deshalb inFrage gestellt würde (vgl. auch Kapitel 2). Zugleich wer-den mit dieser Betrachtung Erwartungen und Ansprüchean andere Bildungsorte und Lernwelten gesteigert. Fürdie Kinder- und Jugendhilfe mit ihren vielfältigen Bil-dungsorten bedeutet dies, dass sie deutlicher als bislangauch darüber Auskunft geben muss, welchen Beitrag fürdie Bildung von Kindern und Jugendlichen sie in welcherWeise und mit welchen Mitteln leistet (vgl. Abschnitt6.1). An Lernwelten wie Museen oder Fitnessstudios, diehauptsächlich anderen Organisationszielen verpflichtetsind, die aber auch Bildungsaufgaben erfüllen, können

durchaus Anforderungen an explizite Bildungsleistungenfür Kinder und Jugendliche gerichtet werden. Von kom-merziellen Anbietern, die andere Ziele und Interessenverfolgen, kann allerdings so gut wie nicht erwartet wer-den, dass sie ohne Regulierung explizite Bildungspro-gramme anbieten. Dies gilt auch für lebensweltliche Set-tings wie die Gleichaltrigengruppen. Damit wäre auchnicht der mit der Bezeichnung Lernwelt intendierte Cha-rakter dieser Orte und Gelegenheiten ernst genommen,der gerade darin besteht, dass es um die Wahrnehmungbeiläufiger, nicht-intendierter Lernprozesse geht. Eine an-dere Frage ist allerdings, wie in dieser Vielfalt der Bil-dungsorte und Lernwelten formale und informelle Bil-dungsprozesse so aufeinander bezogen werden können,dass sie die Bildung von Kinder und Jugendlichen lebens-lagen-, geschlechts- und altersspezifisch fördern.

In bildungsbiografischer Perspektive bildet sich das Sub-jekt in einem Wechsel von formalen und informellen Bil-dungsprozessen. Dieser subjektbezogene Blick auf Bil-dungsprozesse im Lebenslauf relativiert die Bedeutungformaler Bildungsinstitutionen und öffnet ihn für neueund andere Lernorte und Bildungsgelegenheiten. Bildungvon Kindern und Jugendlichen hat deshalb keinen exklu-siven Ort, es kommt vielmehr zu einer Entgrenzung vonBildungsorten und -gelegenheiten (vgl. Kapitel 1). Damitstellt sich die Frage nach dem Zusammenspiel dieser Bil-dungsorte und -gelegenheiten.

(2) Das Zusammenspiel von Bildungsorten und Lernwel-ten muss so organisiert werden, dass alle Kinder und Ju-gendlichen in ihrer Entwicklung bestmöglich gefördertwerden. Um dabei eine umfassende Förderung vielfälti-ger Kompetenzen und den Aufbau von Handlungsfähig-keit gewährleisten zu können, sind formale und infor-melle Bildungsprozesse zu berücksichtigen. Kinder undJugendliche nutzen Bildungsorte und Lernwelten unter-schiedlich, je nach regionalem Angebot, sozialer Lage,Geschlecht, Alter, Herkunft, kulturellen Orientierungenund Geschmack. Welche Effekte unterschiedliche Wahr-nehmungen und Nutzungen haben, ist bisher allenfallsGegenstand institutionen- oder bereichsspezifischer For-schung. Wechselwirkungen und Einflüsse auf Bildungsbi-ografien durch die Nutzung unterschiedlicher Bildungs-orte und Lernwelten, stimulierende Effekte undVerstärkung von Ausschlussprozessen sind dagegen bis-her noch kaum Gegenstand von biografisch orientierterBildungsforschung (vgl. Kapitel 4). Hier besteht ein Be-darf an Wissen über kumulative Prozesse auf Bildungsbi-ografien, um institutionalisierte Bildungsangebote so ge-stalten zu können, dass sie Kinder und Jugendliche inihren Bildungsprozessen individuell fördern können. Dadas Zusammenspiel von Bildungsorten und Lernweltennur in Bezug auf das institutionelle Angebot, nicht jedochin Bezug auf die Nutzung und Inanspruchnahme von Kin-dern und Jugendlichen als Subjekte ihres Bildungsprozes-ses gesteuert werden kann, besteht die Aufgabe, Bildung-sangebote so zu gestalten und zu organisieren, dass sie füralle zugänglich sind und dass das Zusammenwirken un-terschiedlicher bildungsrelevanter Institutionen zur best-möglichen individuellen Förderung von Kindern undJugendlichen beiträgt. Dabei kommen Schule und Ju-gendhilfe als öffentlichen Bildungs-, Betreuungs- und Er-ziehungsinstitutionen gestaltende und vermittelnde Funk-

Page 344: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 334 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

tionen zu. In diesem Sinne ist weniger nach demBildungsauftrag und -verständnis der jeweiligen Institu-tion zu fragen, als vielmehr nach ihrem möglichen Bei-trag für individuelle Bildungsprozesse im Lebenslauf vonKindern und Jugendlichen.

Um individuelle Förderung von Kindern und Jugendli-chen ermöglichen zu können, ist ein vielfältiges Bildungs-angebot erforderlich, das von der Pluralität der Lebens-lagen ausgeht und sich darauf bezieht. Pluralität undHeterogenität erfordern ein Bildungsangebot, das zu Aus-einandersetzungen und Begegnungen mit Unbekanntemund Fremdem anregt und herausfordert. Deshalb mussdas Zusammenspiel von Bildungsorten und Lernweltenso beschaffen sein, dass unterschiedliche Bildungsange-bote und Lernformen mit ihrem jeweiligen Eigensinn al-len Kindern und Jugendlichen Differenzerfahrungen er-möglichen. Dies erfordert Zugänge zur Welt durchunterrichtliche Repräsentation ebenso wie in der direktenBegegnung, Auseinandersetzung und Einmischung. DasZusammenspiel von Bildungsangeboten und Lernweltenmuss deshalb darauf angelegt sein, dass Kinder und Ju-gendliche unterschiedliche Kulturen, Weltdeutungen,Traditionen, Einstellungen und Orientierungen kennenlernen und sich mit ihnen auseinandersetzen können. Esmuss ihnen Anregungen und Gelegenheiten bieten, indiesen Begegnungen neue Perspektiven übernehmen,Haltungen ausprobieren und Differenzen und Unter-schiede aushalten zu können.

Ein produktives Zusammenspiel von Bildungsorten undLernwelten ist nur möglich, wenn es vor Ort in erreichba-rer Nähe ein differenziertes, quantitativ gut ausgebautesund qualitativ anspruchsvolles Angebot gibt, das eineGrundversorgung für alle gewährleistet. Für diese Leis-tungen sind zuallererst öffentliche Institutionen zustän-dig. Bund und Länder haben dabei die Aufgabe, Rahmen-bedingungen zu schaffen, um regionale Disparitätenausgleichen zu können, den Kommunen kommt indeseine organisierende und gestaltende Funktion bei derSchaffung eines differenzierten Angebots in einer plura-len lokalen Bildungslandschaft zu. Schule und Jugend-hilfe müssen diese Grundversorgung gewährleisten kön-nen und andere Anbieter als Akteure in dasZusammenspiel von Bildungsorten und Lernwelten ein-beziehen.

Schule und Jugendhilfe als zentrale Institutionen einer lo-kalen Bildungslandschaft zu begreifen, erfordert einneues Selbstverständnis der Arbeit der einzelnen Instituti-onen. Nicht mehr nur das eigene Organisationsziel kannausschließlicher Bezugspunkt für die Bestimmung undBewertung institutionellen Handelns sein, es muss auchdaran gemessen werden, ob und in welcher Weise die ein-zelne Institution zum Aufbau und zur Gestaltung einer lo-kalen Bildungslandschaft beiträgt, die ein produktivesZusammenspiel unterschiedlicher Bildungsorte und Lern-welten ermöglicht. Schulen und Einrichtungen der Ju-gendhilfe müssen deshalb jeweils für sich bestimmen,welche Aufgaben sie mit welchen Mitteln erfüllen; siemüssen miteinander klären und festlegen, welche Aufga-ben und welche Leistungen in einem gemeinsamen Ver-

bund mit welchen Akteuren erbracht werden; sie müssenermitteln, welche Bedarfe mit diesen Angeboten undLeistungen nicht oder nur unzureichend berücksichtigtwerden und was alle Institutionen dazu beitragen können,diese Lücken im Angebot zu schließen oder nur unzurei-chend erbrachte Leistungen zu verbessern.

Dieses Verständnis eröffnet neue Möglichkeiten der Ko-operation von Jugendhilfe und Schule. Kooperation be-deutet dann, in einem gemeinsamen Prozess bedarfsge-rechte Angebote zu entwickeln. In diesen Prozess können,ja müssen alle Aufgabenbereiche und Handlungsfeldervon Jugendhilfe und Schule einbezogen werden. Koopera-tion erfolgt dann nicht mehr nur in den Randbereichen derInstitutionen, sondern in ihrem Zentrum. Deshalb müssenSchulen und Jugendhilfe geeignete Strukturen schaffen,um diese Form der Kooperation realisieren zu können.Das Ziel dieser Kooperation von Jugendhilfe und Schulebesteht darin, Bildungsangebote im Sinne einer professio-nellen Dienstleistung zu erbringen, die alle Kinder und Ju-gendlichen, gleich welcher Herkunft und sozialen Lage,als Ko-Konstrukteure ihrer Bildungsprozesse einbezieht.

Jugendhilfe muss in diesem Prozess definieren, welchebildungsrelevanten Leistungen sie in das Zusammenspielmit Schule und anderen Bildungsorten und Lernwelteneinbringen kann und sie muss dabei insbesondere daraufdrängen, dass die Förderung von Kindern und Jugendli-chen in benachteiligten und schwierigen Lebenslageneine Angelegenheit aller für die Bildung zuständigen öf-fentlichen Institutionen ist. Der Jugendhilfe kommt somiteinerseits eine advokatorische Funktion zu, andererseitsstellt sie mit den vielfältigen Bildungsorten in der Ju-gendarbeit, dem erzieherischen Kinder- und Jugend-schutz, der Kindertagesbetreuung, der Jugendsozialarbeitund den Hilfen zur Erziehung auch Gelegenheiten undAnregungen für formale und informelle Bildungsprozessebereit. Diese Angebote und Leistungen sind auf der Basisregelmäßiger kommunaler Berichte transparent zu ma-chen und so in eine bereichsübergreifende kommunaleBildungsplanung einzubringen.

Schule muss ebenfalls ihre Voraussetzungen verbessern,um sich in das Zusammenspiel mit anderen Bildungsortenund Lernwelten besser einbringen zu können. Dazu gehö-ren Strukturen und Organisationsformen ebenso wie dasprofessionelle Selbstverständnis von Lehrerinnen undLehrern. Eine größere Selbstständigkeit eröffnet der ein-zelnen Schule strukturell größere Spielräume, auch beipersonellen und finanziellen Fragen. Eine Öffnung derSchule zum Gemeinwesen und eine kontinuierliche Ko-operation mit anderen Institutionen der Bildung und derSozialen Arbeit erfordert eine strukturelle Verankerungdieser Aufgaben und Arbeitsbereiche in der Schule. Öff-nung zum Stadtteil oder zur Region und Kooperationenmit außerschulischen Institutionen müssen deshalb alsBestandteil der regulären Arbeit begriffen und in denAufgabenbeschreibungen von Lehrkräften und Schullei-tungen verankert werden. Dabei sind arbeitsteiligeSchwerpunktsetzungen notwendig und sinnvoll, es kannjedoch nicht dem Belieben der einzelnen Schule überlas-sen bleiben, ob sie sich auf diese Form der sozialräumlich

Page 345: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 335 – Drucksache 15/6014

orientierten Kooperation einlässt. Deshalb ist nebenstrukturellen und organisatorischen Regelungen auch eineDiskussion über das professionelle Selbstverständnis desin der Schule tätigen Personals erforderlich sowie dessensystematische Vorbereitung auf sozialpädagogische Auf-gaben in der Aus- und Fortbildung.

Damit es zu einem produktiven Zusammenspiel von Bil-dungsorten und Lernwelten für Kinder und Jugendlicheim Schulalter kommen kann, bedarf es einer kommunalenBildungsplanung, in deren Rahmen Leitvorstellungen ineinem offenen Diskussionsprozess erarbeitet werden,Maßnahmen und Verfahren zur Erreichung der Ziele eta-bliert werden sowie regelmäßige und datenbasierte For-men der Überprüfung und Veränderung der gewähltenStrategien durchgeführt werden. Planung kann sich nichtnur auf Strukturplanung beschränken, sie muss als ressort-übergreifende Bildungsplanung auch fachlich-inhaltlicheFragen in den Bereichen von Schule und Jugendhilfe um-fassen.

(3) Das Projekt Ganztagsschule stellt eine große Heraus-forderung an die Gestaltung ganztägiger Angebote durchSchule und Jugendhilfe dar. Insgesamt ist ein starker An-stieg von Ganztagsschulen und Schulen mit ganztägigenAngeboten zu verzeichnen; mit dem Investitionspro-gramm des Bundes und den Programmen der Länder isteine Bewegung in Gang gekommen, im Zuge derer sichChancen für weitreichende bildungspolitische Reformeneröffnen.

Bei den neuen Ganztagsschulen überwiegen offene For-men, in denen die Teilnahme für die Schülerinnen undSchüler am Ganztagsbetrieb freiwillig ist, nach der An-meldung durch die Eltern allerdings in der Regel für einJahr verpflichtend. Dies hat zur Folge, dass pädagogischeAnsprüche, wie Rhythmisierung des Schultages, auf-grund der relativ strikten Zweiteilung in vormittäglichenUnterricht und nachmittägliche Angebote kaum realisiertwerden können. Diese Konstruktion führt dazu, dassSchulen mit ganztägigen Angeboten bisher häufig in ei-ner additiven Form organisiert sind, bei der der Vormittagund die Organisation der Lehrerarbeit weitgehend unbe-rührt bleiben und lediglich für einen Teil der Schüler-schaft um ein zusätzliches Angebot am Nachmittag er-gänzt werden. Verstärkt wird diese Zweiteilung, wenn derNachmittagsbereich von einem außerschulischen Trägerorganisiert wird, Kooperationen zwischen Schule undTräger lediglich auf formale Absprachen und Organisati-onsfragen beschränkt sind und pädagogische Fragen undThemen nicht in einem kontinuierlichen fachlichen Aus-tausch erörtert werden.

Je nach Konzeption und Organisationsform bieten dieseAngebote am Nachmittag eher ein einfaches Betreuungs-angebot oder ein anspruchsvolles Bildungsprogramm.Bisher scheinen Betreuungsangebote zu überwiegen, Bil-dungsprogramme mit einem breiten Angebot, das Kin-dern und Jugendlichen Wahlmöglichkeiten bietet und daseine umfassende Förderung ermöglicht, dagegen nocheher selten zu sein. Allerdings muss konstatiert werden,dass sich viele Schulen erst in der Startphase befindenund dass sich vielfach auch Unterstützungssysteme für

Schulen und außerschulische Kooperationspartner, wieBeratung und Fortbildung, erst im Aufbau befinden. Umin Ganztagsschulen und Schulen mit ganztägigen Ange-boten integrierte Formen zu entwickeln, in denen Vor-und Nachmittagsbereich, unterrichtliche und außerunter-richtliche Angebote konzeptionell miteinander verzahntsind sowie schulisches und außerschulisches Personal ineinem gemeinsamen Team bei der pädagogischen Gestal-tung zusammenarbeitet, ist eine Weiterentwicklung undVerbesserung der Rahmenbedingungen auf Landesebeneund der Einbezug des Personals der „außerschulischen“Träger in den Prozess der Schulentwicklung unerlässlich.

Der Aus- und Aufbau von Ganztagsschulen und Schulenmit ganztägigen Angeboten in Kooperation von Schuleund außerschulischen Trägern bietet eine hervorragendeChance, eine neue pädagogische Kultur an der Schule zuentwickeln. Dabei ist insbesondere das Zusammenwirkenvon Schule und Jugendhilfe geeignet, starre Strukturen,überkommene Traditionen und nicht mehr zeitgemäßeKonzepte und Organisationsformen zu überwinden. Vo-raussetzung dafür ist allerdings, dass Unterschiede undDifferenzen in Auftrag, Selbstverständnis, Arbeits- undOrganisationsformen zwischen Schule und Jugendhilfenicht zum Anlass genommen werden, sich voneinanderabzugrenzen, sondern als Herausforderung begriffen wer-den, in der Unterschiedlichkeit die jeweiligen Stärkenund Zuständigkeiten des jeweils anderen zu akzeptierenund gemeinsam an der Entwicklung einer neuen pädago-gischen Kultur zu arbeiten.

Kooperationen mit außerschulischen Akteuren, insbeson-dere der Kinder- und Jugendhilfe, sind in offenen und ge-bundenen Ganztagsschulen möglich. Eine Beschränkungder kooperativen Gestaltung auf offene Ganztagsschulenerscheint aufgrund der sich dadurch eröffnenden Chan-cen, Bildung für Kinder und Jugendliche in einer neuenWeise zu gestalten und vielfältige Formen des Weltzu-gangs zu eröffnen, nicht sinnvoll. Auch gebundenenGanztagsschulen eröffnen kooperative Formen neue Ge-staltungs- und Handlungsspielräume. Allerdings muss be-rücksichtigt werden, dass die Kapazitäten der Kinder-und Jugendhilfe bei einem flächendeckenden Ausbau vonGanztagsschulen begrenzt sind.

Auch wenn im Vergleich mit der Schule Jugendhilfe überdeutlich weniger Ressourcen verfügt, kann sie dennochwichtige Akzente bei der Gestaltung von Ganztagsschu-len und Schulen mit ganztägigen Angeboten setzen. Siekann und sollte sich deshalb offensiv in den Prozess desAuf- und Ausbaus von Ganztagsschulen einbringen.Dazu muss sie klären, in welcher Form, in welchem Um-fang und unter welchen Bedingungen sie sich einbringenkann, und sie muss insbesondere ihre Grenzen prüfen.Dabei stellen sich die Ausgangsbedingungen für die Leis-tungsbereiche der Jugendhilfe sehr unterschiedlich dar;für die Jugendarbeit als einem Bereich, der sich eherdurch eine große Differenz zur Schule auszeichnet und le-gitimiert, völlig anders als für den Hort, der sich als An-gebot und Leistung der Jugendhilfe immer schon in Be-zug zur Schule definiert hat. Angebote und Leistungender schulbezogenen Jugendsozialarbeit wiederum stellen

Page 346: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 336 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

einerseits eine Antwort auf Defizite und Konstruktions-probleme der Schule dar, indem sie der hohen Selektivitätder deutschen Schule ein Gegengewicht mit dem Prinzipder individuellen Förderung entgegenhält. Sie sind ande-rerseits ein unverzichtbarer Bestandteil jeder Schule in ei-ner Gesellschaft, die einem Teil ihres Nachwuchses keinePerspektiven auf berufliche Integration und darauf beru-hender gesellschaftlicher Teilhabe bietet und die deshalbauf Institutionen angewiesen ist, um junge Menschen inschwierigen und prekären Lebenslagen im Prozess desAufwachsens und bei der Bewältigung ihrer oftmalsschwierigen Situation zu unterstützen.

Für die Jugendarbeit bedeutet dies, dass sie eine Antwortfinden muss, wie sie einerseits – vor allem in der Tradi-tion der Jugendverbandsarbeit – ihren Eigensinn als So-zialisationsagentur für Kinder und Jugendliche, die sichZugriffen und Zumutungen der älteren Generation undNormierungen der Gesellschaft weitgehend verwehrt undverwehren muss, erhalten kann und wie sie andererseitszugleich flächendeckende schulbezogene Angebote undLeistungen in den Schulbetrieb einbringen und ihre Po-tentiale in der Vermittlung sozialer und personaler Kom-petenzen vielen Kindern und Jugendlichen zugänglichmachen kann.

Für die offene wie für die verbandliche Jugendarbeit be-stehen durch die Kooperation mit Schulen Gelegenheiten,mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt zu kommen,die sie sonst nicht erreichen.

Es wird erkennbar, dass die schulbezogenen Angeboteund Leistungen von der projektbezogenen Kooperationmit Ganztagsschulen bis zur Trägerschaft des Nachmit-tagsbetriebs an offenen Ganztagsschulen vor allem durchhauptamtliches Personal – ergänzt durch Honorarkräfte –organisiert und durchgeführt werden. Welche Folgen diesfür die offene und die verbandliche Jugendarbeit länger-fristig haben wird, ist derzeit noch nicht absehbar.

Ob der Hort als eigenständiges Angebot der Jugendhilfein einem ausgebauten System von Ganztagsschulen be-stehen kann oder ob ein gemeinsames System ganztägigerBetreuung im Verbund von Schule und Hort aufgebautwird, ist eine offene Frage. Ihre Beantwortung hängt vonden Ausgangsbedingungen und den Strategien für den

Ausbau ganztägiger Angebote für Schulkinder in den ein-zelnen Bundesländern ab. Unabhängig davon sollten diekonzeptionellen und fachlichen Prinzipien der Hortpäda-gogik in das System ganztägiger Betreuung für Schulkin-der konstruktiv eingebracht werden. Auch wenn der Hortals eigenständiger Bereich der Jugendhilfe aufgelöst wer-den sollte, ist es dringend geboten, die fachlichen Ele-mente des Horts in ein weiterführendes Konzept zu inte-grieren, um dadurch in ganztägig geführten Grundschuleneine pädagogische Kultur zu stärken, in der individuali-sierende und an den Bedürfnissen der Kinder orientierteArbeits- und Organisationsformen zum Tragen kommen.

Schulbezogene Jugendsozialarbeit als Leistungsbereichder Jugendhilfe richtet sich an Schulen in Halbtags- undin Ganztagsform. Im Zentrum geht es dabei um eine sozi-alpädagogische Sensibilisierung der Schule durch Unter-stützung und Förderung von Kindern und Jugendlichenmit individuellen Schwierigkeiten oder in sozial benach-teiligenden Verhältnissen. Schulbezogene Jugendsozial-arbeit kann zur Entwicklung einer Schulkultur beitragen,die sich um eine individuelle Förderung aller Schülerin-nen und Schüler und dadurch um einen Abbau herkunfts-bedingter Benachteiligungen bemüht. Sie kann dabei eineBrücke zu den Lebenswelten der Schülerinnen und Schü-ler sowie zu den speziellen Angeboten und Leistungender Jugendhilfe für Kinder und Jugendliche mit besonde-rem Unterstützungsbedarf darstellen. Diese Angebotesind nicht mit Freizeitangeboten und Fördermaßnahmender Schule bei Lernschwierigkeiten gleichzusetzen.Ganztagsschulen brauchen vielmehr ein differenziertespädagogisches Angebot, das nur durch ein Team von pä-dagogischen Fachkräften mit unterschiedlichen Kompe-tenzen bereitgestellt werden kann.

Der Ausbau von Ganztagsschulen und Schulen mit ganz-tägigen Angeboten erfordert eine Abstimmung von Pla-nungen sowie neue Formen der Steuerung für Schule undJugendhilfe auf kommunaler Ebene. Dies betrifft dieSchulentwicklungs- und Jugendhilfeplanung, die Koope-ration von kommunalen Schulverwaltungsämtern und Ju-gendämtern sowie die für Schule und Jugend zuständigenAusschüsse. Erforderlich ist darüber hinaus ein Einbezugder unteren Ebene der staatlichen Schulverwaltung ineine kommunale Bildungsplanung.

Page 347: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 337 – Drucksache 15/6014

Teil D Zukunftsperspektiven für ein öffentlich verantwortetes System von Bildung, Betreuung und Erziehung

7 Auf dem Weg zu einem abgestimmten System von Bildung, Betreuung und Erziehung. Quantitative und qualitative Perspektiven

Deutschland hat sich auf den Weg gemacht, das Systemder öffentlichen Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungs-angebote neu zu justieren, zu reformieren und aus-zubauen. Mit den beiden Zielen, Familien für das Auf-wachsen ihrer Kinder ein ebenso verlässliches wiequalifiziertes und den Heranwachsenden selbst zugleichein umfassendes, altersgerechtes Bildungs-, Betreuungs-und Erziehungsangebot bereitzustellen, soll dieses in dennächsten Jahren für die verschiedenen Altersgruppen dortauf- und ausgebaut bzw. stabilisiert und qualifiziert wer-den, wo entsprechender Bedarf besteht. Ein solcher Be-darf zeigt sich in Westdeutschland unverkennbar mitBlick auf ein erweitertes Platzangebot sowohl für unterDreijährige als auch hinsichtlich weiterer Ganztagsplätzefür drei- bis sechsjährige Kinder. Und im gesamten Bun-desgebiet besteht ein Bedarf im Hinblick auf den Ausbauganztägiger Angebote im Schulalter, etwa im Rahmenvon Ganztagsschulen. Die unterschiedlichen Aktivitätenvereinen sich am Ende zu einem Bild, das sich zu einembedarfsgerechten und qualifizierten Bildungs-, Betreuungs-und Erziehungsangebot zusammenfügt, das Kindern undJugendlichen – aber auch den Eltern – bis zum Ende ihrerallgemeinbildenden Schulzeit Verlässlichkeit und Quali-tät gleichermaßen ermöglichen soll. Dies ist in Deutsch-land nur zu erreichen, wenn die Kinder- und Jugendhilfeauch jenseits des Vorschulalters explizit einbezogen wirdund zugleich die sonstigen Lernorte – auch privater An-bieter – gezielt berücksichtigt werden.

Nachfolgend sollen im Lichte des hier vorgelegten Be-richts einige wesentliche Eckwerte bilanziert und, hieraufaufbauend, aus der Sicht der Kommission zukunftswei-sende Rahmenüberlegungen mit Blick auf den anstehen-den politischen Gestaltungsbedarf entwickelt werden.373

Die Kommission hat sich dabei nicht allein von der kurz-fristigen Machbarkeit leiten lassen. Im Gegenteil: Geradedie Entwicklung der letzten Jahre, in denen die Politik inBund, Ländern und Gemeinden unter ausgesprochenschwierigen Rahmenbedingungen erste wichtige Schrittezur Verbesserung des Bildungs-, Betreuungs- und Erzie-hungsangebots im Kindes- und Jugendalter unternommenhat, lässt die Hoffnung begründet erscheinen, dass in die-sem Aufgabenfeld in den nächsten Jahren nicht nur mar-

ginale, sondern wirklich spürbare Entwicklungen in Ganggesetzt werden, die einen Dynamisierungsschub zurFolge haben. Infolgedessen scheint es umso wichtiger,jenseits der tagesaktuellen Machbarkeit zukunftsfähigeZiele zu markieren, die von Politik und Öffentlichkeit imAuge behalten werden sollten.

7.1 Konzeptionelle GrundlagenEin zukunftsweisendes Konzept einer umfassenden öf-fentlichen Unterstützung und Ergänzung von Familien inihren Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsleistungen,so haben die Analysen in den Kapiteln 2 bis 6 gezeigt,muss mehrere Leitlinien verfolgen, die für den vorliegen-den Bericht maßgebend sind.

An dieser Stelle ist noch einmal ausdrücklich daran zu er-innern, dass für eine Beantwortung vieler – insbesonderedas Schulalter betreffende – Fragen, die wissenschaftli-chen Grundlagen nicht zufrieden stellend sind. Es bestehtein erheblicher Bedarf an einer verbesserten empirischenBildungsforschung in Deutschland vor allem für dienicht-schulischen Bereiche. Zugleich muss von der Poli-tik sichergestellt werden, dass Reformen besser evaluiertwerden als bislang; hierzu sind unabhängige Evaluations-studien notwendig. Werden derartige Evaluationen syste-matisch durchgeführt, liegt in der föderalen Vielfalt aucheine große Chance, da man aus differenzierten Ansätzenund Modellen, aus vergleichbaren Entwicklungen leichterund mehr lernen kann als aus eindimensionalen Refor-men.

1. Leitlinie: Den Lebenslauf und die Bildungsbiografie der Kinder in den Mittelpunkt stellen.

Mit Blick auf die Leistungen der vorhandenen Angebotefür Kinder, Jugendliche und ihre Familien ist Maßstab dergesamten Überlegungen nicht das Bildungs-, Betreuungs-und Erziehungssystem in sich (oder einzelne Teile da-von), sondern die hiervon betroffenen Kinder und Ju-gendlichen. Internationale Leistungsvergleichsstudienwie PISA und IGLU haben dies vorgemacht: Ihr Augen-merk war konsequent subjekt- und nicht institutionenzen-triert; ihre Blickrichtung hat sich auf die individuelleKompetenz der Schülerinnen und Schüler gerichtet, nichtetwa auf die Leistungsfähigkeit der Schule. In analogerForm ist auch im Zwölften Kinder- und Jugendbericht derBlick auf die Entwicklung der Heranwachsenden zuhandlungsfähigen, kompetenten, sozialen und verant-wortlichen Personen gerichtet. Diese müssen auf demWeg des Erwachsenwerdens in die Lage versetzt werden,in einer unübersichtlichen Welt ihr Leben eigenverant-wortlich zu regulieren, müssen lernen, als teilhabefähige„Ko-Produzenten“ an der Gestaltung der Familie, dessozialen Nahraums, der Arbeitswelt und der politischen

373 Wenngleich der Bericht in seiner konzeptionellen Ausrichtung einerPerspektive Raum zu geben versucht, die den Blick gezielt auf die(Bildungs-)Biografien von Kindern und Jugendlichen richtet, legtdas abschließende Kapitel 7 sein Augenmerk dennoch auf den insti-tutionellen Kontext, da es hier dezidiert um politischen Handlungs-und Steuerungsbedarf geht.

Page 348: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 338 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Öffentlichkeit mitzuwirken. Insofern stellt sich die Frage,ob und wenn ja, welchen Beitrag die diversen Bildungs-,Betreuungs- und Erziehungsangebote neben der Familiehierzu leisten.

Nicht die einzelnen Systeme, etwa der Kindergarten, dieSchule oder die Jugendarbeit, stehen somit im Mittel-punkt der Betrachtung; nicht deren innere Konsistenz undderen öffentliche Anerkennung können mithin der Maß-stab sein, sondern die an der kognitiven, sozialen undemotionalen Entwicklung der Kinder und Jugendlichenfestzumachenden Wirkungen. Die Fähigkeit der Systeme,einen effektiven Beitrag zu Bildung, Betreuung und Er-ziehung von Kindern und Jugendlichen zu leisten, wirddemnach zum Maßstab ihrer Relevanz. Eine derartigeAkzentuierung löst zwar nicht alle Fragen und wirftaußerdem neue auf, sie markiert jedoch deutlich einenReferenzpunkt außerhalb der einzelnen Akteure und Sys-teme.

Damit rücken der Lebenslauf von Kindern und der Pro-zess des Aufwachsens unwillkürlich stärker in den Mittel-punkt. Die individuelle Bildungsbiografie und der jewei-lige Beitrag der einzelnen Bildungsorte und Lernweltenhierzu werden zu elementaren Bezugspunkten der Be-trachtung. Infolgedessen kann auch das in Deutschlandübliche Nebeneinander unterschiedlicher Zuständigkeitenzwischen getrennten Rechtssystemen, verschiedenen fö-deralen Ebenen, ressortmäßig aufgeteilten Aufgabenbe-reichen und der Vielfalt unterschiedlicher Anbieter undAkteure nicht mehr als alternativloser Endpunkt einer un-veränderbaren, wie manche sagen: „blockierten“ Gesell-schaft konstatiert werden. Analyseeinheit sind nicht Insti-tutionen, sondern Personen; diese sollten auch in derfaktischen Politik in den Mittelpunkt gestellt werden.Über unverkennbar vorhandene, nicht zu unterschätzendeHürden hinweg sind jedoch, zumindest in der wissen-schaftlichen und politischen Aufmerksamkeit, verstärktdie Möglichkeiten des Zusammenspiels, der Vernetzungund des koordinierten Miteinanders zwischen den Akteu-ren vor dem Horizont einer verbesserten Förderung vonKindern und Jugendlichen ins Blickfeld zu rücken.

2. Leitlinie: Die Trias von Bildung, Betreuung und Erziehung zum Ausgangspunkt machen.

Beim Ansinnen einer verbesserten Förderung wird es ent-scheidend darauf ankommen, die Verwobenheit von Bil-dung, Betreuung und Erziehung als eine Gestal-tungschance zu begreifen. Die Idee einer Trias vonBildung, Betreuung und Erziehung, wie sie dem ZwölftenKinder- und Jugendbericht zugrunde liegt, geht davonaus, dass eine Zuordnung dieser Aufgaben in separierteEinzelzuständigkeiten im Kindes- und Jugendalter besten-falls vordergründig gelingen kann. Werden sie beispiels-weise nach dem Muster „Familie = Erziehung“, „Schule =Bildung“ und „Kinder- und Jugendhilfe = Betreuung“ zu-geordnet, unterschlägt man nicht nur die unverkennbarvorhandenen weiteren Leistungspotenziale der jeweiligenBereiche sowie der sonstigen Lernorte, sondern negiertauch deren basale Bedeutung.

Wenn jedoch Bildung verstanden wird als eine umfas-sende Form des Kompetenzerwerbs mit Blick auf die un-terschiedlichen Bereiche der Weltaneignung; wenn Erzie-hung zu einem Synonym wird für den Erwerb einermoralischen Urteilskraft bzw. einer lebenspraktischenEntscheidungs- und Orientierungskompetenz sowie einerKompetenz zur Selbststeuerung; und wenn Betreuungihre Qualität in der Bindungsintensität wechselseitigerBeziehungen zum Ausdruck bringt, wobei im frühen Kin-desalter „Urvertrauen“ und im Lauf des Älterwerdens im-mer deutlicher der „Kampf um Anerkennung“ zu einerwesentlichen Basis dieses Interaktionsgeschehens wer-den: Wenn man eine derartige inhaltliche Akzentuierungins Auge fasst, dann wird ungleich deutlicher sichtbar,dass der Prozess des Aufwachsens gleichermaßen allendrei Dimensionen zuzuordnen ist.

Damit beginnt sich auch die implizite Hierarchie der Be-griffe Bildung, Betreuung und Erziehung und der damitin Verbindung gebrachten Bereiche zu relativieren: Erzie-hung verliert seinen antiquiert anmutenden Charakter ei-ner wenn auch sanften, so doch einseitig ausgerichtetenFormung des Menschen nach den Vorstellungen der älte-ren Generation. Betreuung wird auf einmal in ihremSelbstverständnis weitaus anspruchsvoller als eine wenigvoraussetzungsvolle, vor allem auf Verlässlichkeit ausge-richtete Form der Aufsicht bei kleineren bzw. des Gewäh-renlassens bei etwas älteren Kindern. Und Bildung um-fasst dann deutlich mehr als den curricular unterlegtenUnterrichtskanon des allgemein bildenden Schulwesens.Deswegen überzeugt es dann auch immer weniger – ob-gleich es in der Regel immer noch implizit oder gar expli-zit geschieht –, den öffentlichen Angeboten für die erstenLebensjahre eine bloße Betreuungsfunktion, dem Kinder-garten eine allenfalls familienergänzende Erziehungs-funktion und der Schule lediglich einen Bildungsauftragzuzuschreiben sowie in der Kinder- und Jugendhilfe ganzvorwiegend einen Reparaturbetrieb bzw. in der Jugendar-beit ein aus der Sicht der Jugendlichen kostengünstigesFreizeitangebot zu sehen. Diese ungleiche Wertschätzungder einzelnen Aufgabenbereiche in den entsprechendenAltersphasen und Lebenswelten bildet sich fast analog ineiner gestuften Ausbildungshierarchie mit einer daraufausgerichteten tariflichen Eingruppierung des entspre-chenden Personals ab: von der Kinderpflegerin und derTagesmutter als „Betreuungsfachkraft“ (mit einer Vergü-tung zwischen BAT VIII und VII) über die Erzieherin als„Erziehungsfachkraft“ (zwischen BAT VIb und Vc) bis hinzur Lehrerin als „Bildungsfachkraft“ (ab BAT III/A 12aufwärts, je nach Schulstufe).

Das bislang in Deutschland vorherrschende, abgestufteund in sich abgeschottete System der Förderung von Kin-dern und Jugendlichen scheint sich in den letzten Jahrenjedoch von zwei Seiten her aufzuweichen: Während vonvielen Beteiligten – unterstützt durch neuere Erkenntnisseder Hirnforschung – mit Blick auf die frühen Jahre immerhäufiger die Forderung „Bildung von Anfang an“ artiku-liert und entsprechender Handlungsbedarf angemahntwird – etwa besser ausgebildetes Personal, mehr Qualitätund mehr altersgemäße Bildung –, ist mit Blick auf dieSchule und das Schulalter seit Jahren der Ruf nach mehr

Page 349: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 339 – Drucksache 15/6014

„Betreuung“ ebenso unüberhörbar. Dies lässt sich amAufbau der Schulsozialarbeit und an einer schleichenden„Sozialpädagogisierung der Hauptschule“ ablesen, wasim Kern nichts anderes meint als den Versuch, den Kin-dern nicht nur Kulturtechniken beizubringen, sonderndarüber hinaus sich auch um sie als Personen und um ihreEntwicklung zu kümmern. Das wird spätestens auch imKonzept der „verlässlichen Halbtagsschule“ offenkundig,und es ist ebenso unverkennbar ein starkes Motiv in derneu entfachten Dynamik um ein zukunftsfähiges Konzeptvon Ganztagsschule.

Die Trias von Bildung, Betreuung und Erziehung wirddann zu einem wichtigen Gestaltungselement in einemquantitativ und qualitativ ausgerichteten Auf- und Aus-bau eines ebenso für Eltern verlässlichen wie für Kinderund Jugendliche förderlichen Angebots, wenn die wech-selseitigen Verschränkungen dieser drei Dimensionenstärker beachtet werden: Kinder lernen in der Regel in ei-nem sozialen Klima leichter, in dem sie sich als Personakzeptiert und anerkannt fühlen, und sind besser in derLage, neue Dinge in sich aufzunehmen, wenn sie gelernthaben, sich selbst zu steuern; Kinder, die sich mit Blickauf die altersgemäßen Möglichkeiten einer umfassendenBildung gut entwickeln, sind eher dazu fähig, sich auf an-dere einzulassen, und erkennen leichter, dass Urteilskraftund Orientierungsqualität kein überflüssiger Ballast einerunmodern gewordenen Lebensführung sind; und Kinder,die aus verlässlichen Beziehungen eine altersgemäße so-ziale und personale Kompetenz aufgebaut haben, sindeher imstande, mit sich selbst, mit Enttäuschungen, Un-zufriedenheit und mit ihren eigenen Gefühlen klarzukom-men.

Die bisherigen Angebote für Kinder, Jugendliche und ihreFamilien – von den frühen Eltern-Kind-Gruppen bis zurSchule, vom Kindergarten bis zur Jugendarbeit, von derTagespflege bis zur schulbezogenen Jugendsozialarbeit –haben in aller Regel jeweils eine dieser drei Dimensionenbetont, ohne die anderen mitzubedenken bzw. einzubezie-hen. Ein zukünftiges, aufeinander abgestimmtes Bil-dungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebot ist daraufhinauszurichten, dass jeweils alle drei Dimensionen beachtetund zu systematischen Bestandteilen der pädagogischenKonzepte werden sowie auch praktisch zur Geltung ge-langen können.

3. Leitlinie: Ein erweitertes Bildungsverständnis mit einer Vielfalt von Orten, Gelegenheiten und Inhalten zugrunde legen.

Ein drittes Element einer künftig stärker verzahnten För-derung von Kindern und Jugendlichen im Rahmen einesbesser aufeinander abgestimmten Bildungs-, Betreuungs-und Erziehungsangebots ist ein erweiterter Bildungsbe-griff, wie er in diesem Bericht ausführlich begründetwird. Nicht die Bildungsabsichten und -ziele, nicht dieBildungsprogramme, die Bildungs- und Lehrpläne stehendabei im Mittelpunkt, sondern die tatsächlich realisiertenBildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen. ImVordergrund steht somit die Frage, wie, was und wo Kin-der effektiv lernen.

Wenn es richtig ist, dass Bildungsprozesse prinzipiell ankeinen Ort und keine Zeit gebunden sind, Menschen des-halb bei allen passenden und unpassenden Gelegenheitenlernen können, bietet es sich an, die beiden grundlegen-den, für moderne Gesellschaften typischen Formen desLernens zu unterscheiden: das organisierte Lernen unddas lebensweltliche Lernen, wie sie in diesem Bericht alsformale und informelle Bildung eingeführt worden sind.Das lebensweltliche Lernen zeichnet sich dadurch aus,dass es als eine Form des unregulierten Lernens in derAlltagspraxis ohne besondere Vorkehrungen erfolgt; dasist seine Stärke und seine Schwäche zugleich. Es kannzwar immer und überall passieren, es kann jedoch nichtgezielt erwartet werden und ist in seinem Zustandekom-men deshalb auch nicht sehr wahrscheinlich; zudem wirdman so in aller Regel meistens auch nur ein durchschnitt-liches Kompetenzniveau erreichen.374 Demgegenüber kanndas organisierte Lernen durch Planung, durch systemati-sierte Auswertung und Verarbeitung bisherigen Lernens,durch Zerlegung in kleinteilige Lernschritte und durchkontrollierte Beobachtung von Lernfortschritten wesent-lich besser Lernfortschritte erreichen. Die Wahrschein-lichkeit entsprechend erfolgreich wirkender Bildungspro-zesse ist dann ungleich größer. Dennoch wird dasschematisierte, vorbereitete, nicht-spontane Lernen nichtin allen Bereichen des Lebens anwendbar und machbarsein, und es wird auch nicht alle Menschen in gleicherWeise ansprechen.

Die auf den ersten Blick banale Einsicht in die Vorteiledes organisierten Lernens hat sich seit langem die Schulezu Eigen gemacht (und ist nicht zuletzt deshalb zu demzentralen formalen Bildungsort schlechthin geworden);sie bilden das Fundament ihrer gesellschaftlichen Funk-tion. Schule soll gezielt themenspezifische Bildungspro-zesse auslösen – und tut dies auch unverkennbar mit nichtzu unterschätzendem Erfolg.

Dennoch gibt es Folgefragen, die die Nicht-Banalität deserweiterten Bildungsbegriffs erkennen lassen: Was ge-schieht mit den Inhalten, die nicht ausdrücklich Gegen-stand schulischen Lernens sind? Wie ist zu bewerten, dasses zunehmend Gelegenheiten gibt, auch jenseits der Re-gelschule gezielt Kompetenzen und Zertifikate zu erwer-ben, für die „eigentlich“ die Schule zuständig ist, sei esder nachgeholte Schulabschluss in anderen institutionel-len Kontexten, sei es der ungleich bessere Spracherwerbdurch einen längeren Auslandsaufenthalt? Wie ist auf den

374 Um nur einige alltagstriviale Beispiele zu nennen: Ein eifrigerSchachspieler etwa, der allein die lebensweltliche Form des Lernensnutzt, wird rasch deren Grenzen erkennen müssen, wenn er einemsystematisch mit Schachbüchern agierenden Spieler gegenübersitzt;selbst ein begnadeter „Straßenfußballer“ wird kaum jemals die strate-gische Kompetenz einer mannschaftsdienlichen und effektiven Spiel-weise eines trainierenden Bundesligaprofis erlangen; und ein noch sobegeisterter Hobbygeiger wird wohl kaum ein vergleichbar hohesNiveau der Kunst des Violinspielens erlangen können wie ein syste-matisch ausgebildeter Violinist. Das ungleiche Entwicklungspoten-zial des organisierten Lernens gilt nur dann und solange nicht, wie esalternativ zum lebensweltlichen Lernen noch keine Konkurrenz dessystematischen Lernens gibt, z. B. im Fall der sich selbst qualifizie-renden Computerfreaks oder der Szenesportarten, die sich zunächstaus sich heraus entfalten können.

Page 350: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 340 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Umstand zu reagieren, dass das schulisch organisierteLernen nicht bei allen in gleicher Weise erfolgreich ist,sich ihm also eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Kin-dern durch Schulschwänzen und Schulverweigerung ent-zieht und etwa jedes zehnte Kind die Schule ohne einenAbschluss verlässt? Was ist mit den Elementen lebens-weltlichen Lernens, bei denen bislang durchaus berech-tigt einigermaßen selbstverständlich angenommen wer-den konnte, dass sie im Zuge des Aufwachsens in derFamilie, im sozialen Nahraum, „auf der Straße“ nebenherweitergegeben und gelernt werden, weil sie beispiels-weise lebensnotwendig und auch durchgängig verbreitetwaren, solches aber in Zukunft nicht mehr in gleicherWeise zu unterstellen ist? Wie soll eine Gesellschaft mitden Gegenständen des Lernens umgehen, z. B. politischerBildung oder sozialem Lernen, die sich zu erheblichenTeilen den Formen schulisch organisierten Lernens ent-ziehen? Wie kann man verhindern, dass die Monotonieund die Realitätsferne systematisierten Lernens, dass derSimulationscharakter jenseits von Ernstsituationen beiKindern und Jugendlichen kontraproduktive Wirkungenauslösen?

Derartige Fragen zielen auf eine systematische Erweite-rung des Horizonts dessen, was durch ausgelöste Bil-dungsprozesse tatsächlich erreicht werden kann. Und diesin doppelter Hinsicht: zum einen mit Blick auf die ande-ren Bildungsorte und Lernwelten jenseits der Schule, zumanderen hinsichtlich der Breite der tatsächlich oder ver-meintlich relevanten Inhalte. Der Bericht plädiert in die-ser Hinsicht für ein erweitertes Bildungsverständnis, das

– erstens möglichst umfassend alle Orte einbezieht, indenen sich faktisch Bildungs- und Lernprozesse voll-ziehen (und nicht nur die beachtet, die dafür vorgese-hen sind), um das Potenzial an Lerngelegenheiten unddie Spezifika unterschiedlicher Lernmodalitäten bes-ser auszuschöpfen und zu nutzen;

– zweitens auch Inhalte berücksichtigt, die gesellschaft-lich, kulturell und politisch relevant oder für die Le-bensführung in der Biografie von Menschen von indi-vidueller Bedeutung sind, ohne dass sie deshalb auchzwingend für den Arbeitsmarkt verwertbar sein müs-sen;

– drittens als Maßstab der Kompetenzvermittlung weni-ger die entsprechenden Programme sowie Bildungs-und Erziehungspläne als vielmehr die erzielten Resul-tate und Wirkungen bei den Betroffenen selbst in Be-tracht zieht;

– viertens jene Bildungsmodalitäten stärkt, die lebens-weltnahes Lernen und Lernen in „Ernstsituationen“ zuverknüpfen vermögen.

Dies alles spricht für eine größere Offenheit, mehr fach-lichen Wettbewerb und eine Entmonopolisierung der Zu-ständigkeiten von Bildungsorten. Voraussetzung dafür istallerdings, dass vergleichbare Leistungen auf unter-schiedlichen Wegen erbracht werden können und auchtatsächlich erbracht werden. Auch wenn dabei informelleBildungsprozesse, also nicht eigens geplante, sonderndurch Lerngelegenheiten ausgelöste Bildungsprozesse,

und non-formale Bildungsorte sich von ihrem Charakterher einer curricularen Planung entziehen und daher nichtzu verbindlichen Bestandteilen von Bildungskonzeptengemacht werden können, so kann dennoch das empirischeWissen über die Wahrscheinlichkeiten des Zustandekom-mens entsprechender Bildungsprozesse dazu führen, dassPolitik solche bildungsrelevanten Sozialräume und lern-stimulierenden Gelegenheiten gezielt fördert.

4. Leitlinie: Öffentliche Gesamtverantwortung für eine „Bildung für alle“, den Anspruch auf Chancen-gerechtigkeit und ein partizipatives Bildungs-verständnis verankern.

Mit einem öffentlich verantworteten Bildungsangebotverbindet eine Gesellschaft Erwartungen, die über dieAnsprüche der Betroffenen selbst (und ihrer Angehöri-gen) hinausgehen. Wenn inzwischen von allen Seiten derPolitik und der Wirtschaft immer wieder geäußert wird,dass Bildung das wichtigste politische Zukunftsprojektsei, dann drückt sich darin die Annahme aus, dass mitHilfe von Bildung drei Ziele gleichermaßen verfolgt wer-den können:

– erstens das Ziel, alle Kinder und Jugendlichen aufbreiter Ebene so zu qualifizieren, dass sie den Heraus-forderungen der Zukunft gewachsen sind;

– zweitens das Ziel, die herkunftsbedingten ungleichenAusgangsbedingungen durch ein öffentliches Bildungs-angebot möglichst so auszugleichen, dass die indivi-duelle Zukunft nicht herkunftsabhängig bleibt;

– drittens das Ziel, durch Bildung die junge Generationzu befähigen, am gesellschaftlichen Geschehen mög-lichst eigenständig teilzunehmen und an der demokra-tischen Gestaltung verantwortlich mitzuwirken.

Mit solchen zivilgesellschaftlichen Dimensionen öffent-lich organisierter Bildungsangebote erhalten diese einedemokratietheoretische Verankerung. Eine ökonomischeAnalyse zeigt, dass es sich tatsächlich um eine Gemein-schaftsaufgabe handeln muss, da privatwirtschaftlicheMärkte derartige Ziele nicht erreichen können. Alle An-strengungen müssen darauf ausgerichtet sein, für alleKinder und Jugendlichen alters-, herkunfts-, geschlechter-und leistungsgerechte Bildungsangebote bereitzustellen.Hierbei geht es um die gesellschaftliche Verpflichtung,insbesondere Bildungsbenachteiligten entsprechende Mög-lichkeiten anzubieten, d. h. Bildungsschwächeren mitschlechten Startchancen eine alternative Perspektive zueröffnen.

Wenn darüber hinaus die PISA-Studien eindrucksvoll ge-zeigt haben, dass in Deutschland der Zusammenhang vonsozialer Herkunft und „Bildungserfolg“ – in diesem Fallder gemessenen Kompetenzen – besonders ausgeprägt ist,dann müssen vermehrte Anstrengungen unternommenwerden, diese negative Abhängigkeit zu überwinden. Dasgegenwärtige Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsan-gebot seitens der Schule sowie der Kinder- und Jugend-hilfe ist jedenfalls bislang wenig geeignet, derartige Erb-lasten im Generationenverlauf nachhaltig zu tilgen.

Page 351: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 341 – Drucksache 15/6014

Ein wichtiger Schritt in eine solche Richtung kann dieverstärkte und bessere Anwendung eines partizipativenBildungskonzepts sein. Demnach ist Bildung kein einsei-tiger Akt, in dem Angebote bereitgestellt werden, umKindern etwas „beizubringen“, Angebote, die sie passivkonsumieren, sondern ein zweiseitiges, aktives Gesche-hen. Um der großen Bedeutung dieser Seite der Bildung,d. h. der subjektiven Seite der Aneignung, Ausdruck zuverleihen, wird in den letzten Jahren auch verstärkt von„Selbstbildung“, „Selbsterziehung“, „Selbstsozialisa-tion“ gesprochen. Damit soll der unverkennbare Eigenan-teil der zu Bildenden, der Lernenden hervorgehoben wer-den. Gleichwohl ist auch in derartigen Fällen nicht zuverkennen, dass es einer entsprechenden bildungsanre-genden Umgebung bedarf, dass Gelegenheiten und Ak-teure erforderlich sind, damit überhaupt Bildungsstimuliund Impulse gesetzt werden können.

Um die öffentliche Bildungsverantwortung für eine akti-vierende Lernumgebung zu betonen, bietet es sich an, dieLernenden, die zu Erziehenden, die Kinder und Jugendli-chen nicht als mehr oder minder passive „Konsumenten“eines Bildungsvorgangs, sondern als aktive „Ko-Produ-zenten“ zu betrachten. Diesem Konzept liegt die An-nahme zugrunde, dass erfolgreiche Bildungsprozesse vorallem in einer aktiven Auseinandersetzung mit dem Lern-gegenstand und der Lernumwelt zustande kommen. Zu-gespitzt formuliert: Ohne die Lernenden und ihre aktiveRolle geht gar nichts. Daraus ergeben sich zwei grund-legende Einsichten: zum einen, dass Kinder und Jugend-liche es von früh auf lernen, sich darin einüben müssen,sich in altersgemäßer Form in solche Prozesse aktiv ein-zubringen, dass sie zu Subjekten des Lerngeschehenswerden; zum anderen, dass Bildungsprozesse nach Mög-lichkeit so zu organisieren sind, dass Kinder die Rolle desKo-Produzenten aktiv ausfüllen können.

Mit der Wendung des Lernenden zum Ko-Produzentenseines eigenen Bildungsprozesses stellt sich verstärkt dieFrage nach der biografischen Anschlussfähigkeit der In-halte und der Lerngegenstände. Nicht „Lernen von derStange“, sondern individuell zugeschnittenes Lernen istdemnach jene Modalität, die eine Verbindung von Lern-und Lebenswelten, von bisherigen Lernerfahrungen bzw.Lernerfahrungen an unterschiedlichen Bildungsorten mitaktuell neuen Bildungsinhalten ermöglichen kann. Ler-nende können an die Vorerfahrungen anschließen, die siegemacht haben, können gezielt dort weitermachen, wo sieaufgehört haben. So werden Kinder und Jugendliche zuKo-Produzenten ihrer eigenen Bildungsbiografie.

5. Leitlinie: Tragfähige Zukunftskonzepte von Bildung, Betreuung und Erziehung in einem verbesserten Zusammenspiel sowie einer Bildungs- und Erziehungspartnerschaft aller bildungs- und lernrelevanten Akteure anstreben.

Um dieser Leitlinie gerecht zu werden, müssen einigebislang eingespielte Routinen und Selbstverständlichkei-ten neu ausgehandelt werden.

Die Familie ist und bleibt erstens die wichtigste Bil-dungs-, Betreuungs- und Erziehungsinstanz. Sie kann bei

entsprechender Ausstattung für das Aufwachsen der Kin-der enorm viel leisten – sie kann aber auch in den ent-scheidenden Jahren des Aufwachsens für die Kinder zueiner lebenslangen Hypothek werden. Die Familieschwankt insofern zwischen den beiden Polen „alles istmöglich“ und „nichts ist sicher“ – deshalb kann familiäreErziehung auch „schief gehen“. Infolgedessen muss einkünftiges System der öffentlichen Bildung, Betreuungund Erziehung so ausgerichtet sein, dass Familien vonAnfang an in der Ausübung ihrer Erziehungsverantwor-tung unterstützt und ergänzt werden, damit die sozialeHerkunft so wenig wie möglich auf die (Bildungs-)Bio-grafie der Kinder durchschlägt. Die deutschen PISA-Be-funde sind diesbezüglich eine bedrückende Mahnung.

So scheint es zweitens immer weniger Sinn zu ergeben,die kindlichen Lebensphasen mit Blick auf ihre institutio-nelle Anbindung in die verschiedenen Altersgruppen zugliedern und danach das Bildungs-, Betreuungs- und Er-ziehungsangebot zu sortieren, also auf der einen Seite dieersten Lebensjahre in die Gruppe der unter Dreijährigen(„Kinder im Krippenalter“) und in die Gruppe der Drei-bis Sechsjährigen („Kinder im Kindergartenalter“) zu un-terteilen sowie auf der anderen Seite das Kindergartenal-ter vom Schulalter („Kinder im Schulalter“) bzw. bei denSchulkindern wieder mehrere Phasen zu unterscheiden.Dazu zwei Hinweise:

– Zum einen zeigt sich empirisch, dass Eltern bislang,vor allem ab dem zweiten Lebensjahr, öffentliche Be-treuungsangebote in Anspruch nehmen, so dass sichhier ein schwellenarmer Übergang in die Kindergar-tenphase anbietet bzw. diese Schwelle neu überdachtwerden muss, zumal die neuere Forschung zeigt, dassnach Vollendung des zweiten Lebensjahres alle Kindervon außerhäuslichen Erfahrungen profitieren.

– Zum anderen erfolgt eine Einschulung keineswegseinheitlich an der Schwelle zum sechsten Lebensjahr.Gegenwärtig liegt das durchschnittliche Einschulungs-alter aufgrund der Stichtagsregelung bundesweit beietwa 6,7 Jahren. Hinzu kommt, dass im Bundesdurch-schnitt 6 Prozent verspätet und immerhin gut 5 Pro-zent vorzeitig eingeschult werden (Schuljahr 2001/2002). Um das tatsächliche durchschnittliche Einschu-lungsalter der Vollendung des sechsten Lebensjahresanzunähern – einige Bundesländer sind in dieser Hin-sicht aktiv geworden –, bietet es sich an, den Stichtagkontinuierlich um bis zu sechs Monate nach vorne zuverlegen. Beispielsweise könnte pro Schuljahr derStichtag um einen Monat vorverlegt werden, so dassbis Ende dieses Jahrzehnts das tatsächliche Einschu-lungsalter im Schnitt bei knapp über sechs Jahren lie-gen könnte. In diesem Zusammenhang müsste auchder Übergang von der Kindertageseinrichtung zurSchule unbeschadet bereits vorliegender positiver An-sätze stärker verzahnt werden.

Wenn in beiden Statuspassagen, von der Familie in dieKinderbetreuung (z. B. durch eine spielerische Einge-wöhnung der Kinder, durch Elternbeteiligung) und vomKindergarten in die Schule (z. B. durch einen regelmäßi-gen persönlichen Kontakt zwischen dem pädagogischen

Page 352: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 342 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Personal in Kindergarten und Schule, durch eine Verstär-kung der curricularen Elemente im Kindergarten sowiedurch einen von beiden Institutionen gemeinsam organi-sierten Wechsel) die damit verbundenen Hürden gezieltabgebaut werden, verbessern sich auch die Möglichkeitenkindgerechter, niederschwelliger Übergänge.

Analoges gilt drittens auch mit Blick auf das Zusammen-spiel zwischen Schule und Kinder- und Jugendhilfe sowieanderen außerschulischen Lernorten im Schulalter. Unge-achtet der gegenwärtig empirisch noch nicht zu klärendenFrage, ob und wenn ja, unter welchen Bedingungen das„Projekt Ganztagsschule“ tatsächlich zu einer umfassen-den Verbesserung des Bildungs-, Betreuungs- und Erzie-hungsangebots beiträgt – und nicht nur in einer Dimen-sion auf Kosten der anderen Veränderungen festzustellensind –, ist jedoch anzunehmen, dass eine geregelte Formder Kooperation der öffentlichen Anbieter weitaus bes-sere Synergieeffekte bei Kindern und Jugendlichen er-zielt. Aufeinander abgestimmte, ergänzende Angebotesind zweifelsfrei eher in der Lage, wichtige Impulse zuverstärken und unter Umständen kontraproduktive undteure Parallelangebote zu vermeiden. Hier sind alle Ebe-nen und Beteiligten aufgerufen, entsprechend koordi-nierte Angebote zu unterbreiten und deren Wirkung zu er-proben. Insgesamt muss es zunächst um die Überwindungeines Angebots im Nebeneinander gehen, das schwerdurchschaubar, wenig abgestimmt und nicht vernetzt ist.Ziel ist hierbei ein ganztägiges, verlässliches Bildungs-,Betreuungs- und Erziehungsangebot, in das vor allemEltern als kompetente Partner, aber auch die jungen Men-schen selbst mitgestaltend und mitverantwortlich einbe-zogen sind.

Es wird auf allen föderalen Ebenen (Bund, Länder, Ge-meinden) und unter Einbeziehung aller wichtigen gesell-schaftlichen Akteure (Politik, Wirtschaft, Kirchen, zivil-gesellschaftliche Akteure) erheblicher Anstrengungenbedürfen, um gemäß diesen Leitlinien ein Bildungs-, Be-treuungs- und Erziehungsangebot so auf- und auszu-bauen, so umzugestalten, dass seine Effektivität erhöhtwird und dass Kinder und Jugendliche auf dem Weg desErwachsenwerdens mit dem Wissen und Können, mit denFähigkeiten und Fertigkeiten, mit den personalen und so-zialen Kompetenzen ausgestattet werden, die sie brau-chen, damit sie unter den absehbaren Bedingungen künf-tiger Gesellschaften über eine ausreichende Kompetenzzur eigenständigen Lebensführung verfügen.

7.2 Eckwerte für den Auf- und Ausbau eines öffentlich verantworteten Systems von Bildung, Betreuung und Erziehung

Der Auf- und Ausbau ganztägiger Bildungs-, Betreuungs-und Erziehungsangebote für Kinder vor dem Schuleintrittsowie für Kinder und Jugendliche im Schulalter ist ausbildungs-, familien-, sozial- und jugendpolitischen Grün-den notwendig. Eine Beschränkung des Ausbaus ganztä-giger Angebote auf bestimmte Altersgruppen, sozialeStatusgruppen, Regionen oder Bildungsgänge kann nichtplausibel begründet werden. Sofern der Ausbau eines flä-chen- und bedarfsdeckenden ganztägigen Angebots für

alle Kinder und Jugendlichen nicht sofort erreichbar ist,sind Prioritäten festzulegen.

Angesichts der föderalen Struktur der Bundesrepublikund immenser regionaler Unterschiede kann der Ausbaukeiner einheitlichen Linie folgen, sondern muss parallelverschiedene Entwicklungen zulassen und fördern. Darinliegen auch Chancen, in einem Wettbewerb zwischen un-terschiedlichen Ansätzen den besten Weg herauszufinden.Bereits zum jetzigen Zeitpunkt ist es wichtig, Weichen-stellungen für eine inhaltliche Gestaltung ganztägiger An-gebote vorzunehmen, die auch mittelfristig hohen Quali-tätsansprüchen Rechnung tragen. Dabei sollte den imvorliegenden Bericht entwickelten Vorschlägen und Kri-terien gefolgt werden. Dieser gesamte Prozess ist durchunabhängige und methodisch fundierte Evaluationsstu-dien regelmäßig zu überprüfen.

Neben dem quantitativen Ausbau ganztägiger Angebotefür Kinder und Jugendliche geht es auch um eine qualita-tive Reform der für Bildung, Betreuung und Erziehungzuständigen öffentlichen Institutionen und ihrer Pro-gramme. Eine solche Reform muss sich an den in diesemBericht entwickelten und begründeten Zielen messenlassen: Bildung für alle Kinder und Jugendliche, gleichwelcher Herkunft und welcher sozialen Lage, zu fördern,verstanden in einem umfassenden Sinne als Bildung „al-ler Kräfte“, als Förderung vielfältiger Kompetenzen, auchsolcher, die nicht nur eine unmittelbare ökonomische Ver-wertung erwarten lassen. Öffentlich verantwortete Bil-dung, Betreuung und Erziehung muss deshalb herkunfts-bedingte Benachteiligungen abbauen und ein neuesZusammenspiel von Lern- und Lebenswelten fördern.

Der beobachtbare und zu erwartende quantitative Ausbauganztägiger Angebote wird nicht ohne Veränderungen derSchule und der Kinder- und Jugendhilfe möglich sein.Soll er nicht nur quantitativ zu einer flächendeckendenVersorgung mit ganztägigen Angeboten führen, sondernauch qualitativ den in diesem Bericht formulierten An-sprüchen genügen, sind frühzeitige Akzentsetzungen not-wendig, die geeignet sind, innere und äußere Reformender Kinder- und Jugendhilfe und der Schule in die rich-tige Richtung auszulösen und voranzubringen.

In diesem Abschnitt werden, ausgehend von der allge-meinen Zielvorstellung eines konsistenten Systems ganz-tägiger Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebotefür Kinder und Jugendliche, Eckwerte für den Ausbauund für Reformen von Schule sowie Kinder- und Jugend-hilfe aufgezeigt. Analog zum Aufbau des vorliegendenBerichts beziehen sich die folgenden Konkretisierungennicht auf alle Angebote und Leistungen der Kinder- undJugendhilfe, sondern nur auf den Bereich der Kinder-tagesbetreuung und auf die für die Kooperation mit derSchule relevanten Bereiche.

7.2.1 Die ersten Lebensjahre – Perspektiven für Familien und Kindertages-einrichtungen

Bildung von Anfang an bedeutet, die Familie als Bil-dungswelt, als Synonym für eine lebensweltgebundeneForm von Bildung im Rahmen der alltäglichen Lebens-

Page 353: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 343 – Drucksache 15/6014

führung aus ihrer nahezu völlig vergessenen Rolle he-rauszuholen und die zumindest teilweise ungenutzten Bil-dungspotenziale der ersten Lebensjahre in Familie undKindertagesbetreuung verstärkt ins Blickfeld zu rücken.

Die Gesellschaft ist auf die Bildungsleistungen der Fami-lien angewiesen. Familien in Deutschland werden oftüberfordert, weil die Kosten der Sorge für die nachfol-genden Generationen weitestgehend privatisiert sind, derNutzen aber der gesamten Gesellschaft zugute kommt.Neben den materiellen Transferleistungen der Gesell-schaft für mehr Bildung ist ein Klima der Anerkennungfür die Leistungen der Familie notwendig. Das Konzepteiner „Bildung von Anfang an“ macht infolgedessenmehr öffentliche Verantwortung für die Unterstützung derFamilien und Investitionen in die öffentlichen Einrichtun-gen sowie Arrangements für Bildung, Betreuung und Er-ziehung erforderlich. Familie ist der zentrale Ort des Auf-wachsens von Kindern. Insbesondere in der frühenKindheit bietet die Lebensform Familie die Möglichkeit,auf persönliche Bedürfnisse des Kindes gezielt einzu-gehen und ihm einen in sozialer und kultureller Hinsichtaltersangemessenen Erfahrungsraum bereitzustellen.

Die materiellen und immateriellen Leistungen der Gesell-schaft für Familien müssen sich, unter Berücksichtigungder jeweiligen Familiensituation, an alle Familien richten.Da die Lebenslage sowie die innerfamiliale Interaktionund Kommunikation für die Entwicklungs- und Bildungs-prozesse in der frühen Kindheit große Bedeutung haben,sind Bildungsangebote für Eltern – konzipiert etwa alsElternbegegnung und selbstverständlicher Erfahrungsaus-tausch – ein wichtiger Schritt zur Unterstützung. Dabei istintegrierten Beratungsangeboten, die Familien, also Kin-der und Eltern gemeinsam, ansprechen – etwa in „Häu-sern für Kinder“ bzw. „Häusern für Familien“ oder in derKooperation von Familienbildungsstätten, Schwangeren-beratungsstellen und Kinderärzten – Priorität beizumes-sen. Diese Angebote sind besonders für potentielle Fami-lien und für Eltern von Säuglingen und Kindern in denersten Lebensjahren von wachsender Bedeutung.

In besonders problematischen Lebenssituationen brau-chen Familien besondere Angebote. Für eine effektiveUnterstützung der Familien in ihren Bildungs-, Betreu-ungs- und Erziehungsaufgaben sind Maßnahmen der Kin-der- und Jugendhilfe, z. B. die sozialpädagogische Fami-lienhilfe oder andere niedrigschwellige Angebote, so zugestalten, dass sie auf der einen Seite die Familien errei-chen, die diese Hilfen benötigen – etwa durch den Aus-bau der Angebote in „Geh-Strukturen“ –, und auf der an-deren Seite von den Familien entsprechend ihrenProblemlagen angenommen werden und eine entspre-chende Wirkung entfalten.

Da Kinder zu ihrer möglichst optimalen Entwicklung al-tersentsprechende Bildungskontexte und andere, gleich-altrige Kinder brauchen, erweitern Bildungsorte undLernwelten, die bereits früh über den familiären Kontexthinausweisen, den Horizont der Kinder. Dazu bedarf es inden alten Bundesländern des Ausbaus und in Ostdeutsch-land der Stabilisierung der Angebote für Bildung, Betreu-ung und Erziehung insbesondere von unter dreijährigen

Kindern. Bedarfserhebungen und Befragungen lassen denSchluss zu, dass eine Bereitstellung von Betreuungsplät-zen in größerem Umfang vor allem für Kinder ab demzweiten Lebensjahr erforderlich ist.

Demgegenüber ist die bisher im Gesetz und in der Praxisder Kindertagesbetreuung zugrunde gelegte Altersgrenzedes dritten Lebensjahres, mit dessen Vollendung einRechtsanspruch begründet wird und das „Kindergarten-alter“ beginnt, weder durch entwicklungspsychologischenoch durch bildungsbezogene Argumente begründet.Vielmehr ist es sinnvoll, für Kinder frühzeitig eine regel-hafte institutionelle Betreuung anzubieten. Nicht nur dasWahlverhalten der Eltern lässt auf einen wachsenden Be-darf an institutioneller Betreuung in diesem Alter schlie-ßen, sondern es zeigt sich auch, dass ein altersbedingtesBedürfnis nach Kontakten mit Gleichaltrigen und nachErweiterung der Weltbezüge über den familiären Rahmenhinaus besteht.

Über den diskutierten Ausbau der Kapazitäten an Plätzenfür unter Dreijährige hinaus darf nicht vergessen werden,dass die Bereitstellung von Ganztagsplätzen für Drei- bisSechsjährige in Westdeutschland weiterhin hohe Prioritäthaben muss, ist doch dort – im Unterschied zu den neuenBundesländern – erst ein Anteil von 25 Prozent Ganz-tagsplätzen erreicht.

Die aktuellen Diskussionen um Platzkapazitäten, also umdie Quantität der Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungs-angebote, führen dazu, dass die qualitativen Aspekte oftin den Hintergrund treten. Gleichwohl muss eine hoheQualität der pädagogischen Arbeit in den Kindertagesein-richtungen sichergestellt werden. Dabei darf es nicht dereinzelnen Kindertageseinrichtung überlassen werden, wiesie Qualität definiert. In gemeinsamer Verantwortungmüssen Bund und Länder als Gesetzgeber verbindlicheOrientierungen festlegen, die in Leitzielen und Konzep-ten der einzelnen Einrichtungen verankert sind. Über ein-zelne Indikatoren sollen hier keine Aussagen gemachtwerden. Aber es bedarf vermutlich der Festlegung natio-naler Mindeststandards hinsichtlich des Erzieher/innen-Kind-Schlüssels ebenso wie im Hinblick auf die Qualifi-zierung des Personals. Die Umsetzung entsprechenderQualitätsstandards in pädagogisches Handeln, das in öf-fentlicher Verantwortung liegt und aus öffentlichen Mit-teln finanziert wird, muss einer öffentlichen Kontrolleund Evaluation zugänglich sein. Entscheidend für dieGüte frühkindlicher Bildungs-, Betreuungs- und Erzie-hungsangebote sind dabei die erzielten Bildungs- undEntwicklungsergebnisse bei den Kindern.

Wesentliches Element pädagogischer Qualität ist die sys-tematische und altersgerechte Realisierung des Bildungs-auftrags. Eine gezielte Förderung aller Kompetenzberei-che, vor allem der sprachlichen Kompetenzen, inKindertageseinrichtungen ist insbesondere für bildungs-benachteiligte Kinder von Vorteil.

Bei konsequenter Zugrundelegung des Konzepts „Bil-dung von Anfang an“ und der damit verbundenen öffent-lichen Verantwortung sind die entsprechenden Bildungs-,Betreuungs- und Erziehungsangebote für die Kinder von

Page 354: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 344 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

der Geburt bis zur Schulaufnahme grundsätzlich ebensogebührenfrei zu stellen wie andere Leistungen der Gesell-schaft für Bildung. Möglicherweise könnte es für einebegrenzte Übergangszeit notwendig sein, einkommens-abhängige Elternbeiträge zu erheben, solange kein ent-sprechendes Versorgungsangebot für alle gewährleistetist.

Qualitätsanhebung bedeutet auch, die Aus-, Fort- undWeiterbildung der Fachkräfte den neuesten Erkenntnissender Bildungsforschung und der Pädagogik der frühenKindheit anzupassen. Hierbei ist eine Weiterentwicklungder Qualifikationsprofile für Fachkräfte in der Kinderta-gesbetreuung, insbesondere in den Leitungsfunktionen,anzustreben, vergleichbar den übrigen Ausbildungen fürpädagogische Berufe, die in Deutschland durchweg aufHochschulniveau angesiedelt sind. Nur dadurch ist einewechselseitige Durchlässigkeit der unterschiedlichen Pro-fessionen erreichbar, die sich günstig auf die Entwicklungder Kinder auswirken wird. Und nur dadurch wird sicheine der Bedeutung dieser Aufgabe entsprechende öffent-liche Anerkennung der frühkindlichen Bildung erreichenlassen.

Für die Altersphase der unter Sechsjährigen empfiehltsich folgender stufenmäßiger Aufbau:

(1) Im ersten Lebensjahr ist die Familie das geeigneteUmfeld für die kindlichen Bildungsprozesse. Im Regel-fall können Familien die für diese Phase angemessenenBildungs-, Betreuungs- und Erziehungsleistungen erbrin-gen, und sie wollen auch großenteils diese frühe Phasegemeinsam mit dem Kind verbringen. Vorrangige Ent-wicklungsvoraussetzungen sind der Aufbau einer gesi-cherten Bindung, das responsive Eingehen der Eltern aufdas Kind sowie die Anregung zu grundlegenden Erfah-rungen im sozialen und kognitiven Bereich. All dies er-möglicht eine intensive Beziehung zwischen Eltern undKind. Die gesellschaftliche Verantwortung für diese frühePhase besteht vor allem darin, alle Familien entsprechendihren Lebensbedingungen dabei zu unterstützen.

Aus fachpolitischer Sicht stellt sich damit für das ersteLebensjahr eine dreifache Aufgabe:

– die Schaffung finanzieller und rechtlicher Rahmenbe-dingungen für Eltern und die Ausgestaltung familien-freundlicher Arbeitsbedingungen für Eltern, ohne dasssie anschließend Nachteile im Beruf in Kauf nehmenmüssen;

– die Bereitstellung qualifizierter Betreuungsangebotefür Kinder, deren Eltern eine öffentliche Unterstüt-zung in Anspruch nehmen wollen;

– die Stärkung der Erziehungskompetenz, um Eltern inihren Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsaufgabenzu unterstützen.

(2) Das zweite Lebensjahr ist als Phase des Übergangsvon einer vorrangig familialen Bildung, Betreuung undErziehung zu einer Öffnung für außerfamiliale Angeboteanzusehen. Mit Beginn des zweiten Lebensjahres werdengleichaltrige Kinder für die Entwicklungs- und Bildungs-prozesse immer bedeutsamer. Die Familie bleibt zwar der

zentrale Ort, aber der familiale Rahmen erweitert sich fürdas Kind schwerpunktmäßig um die Kontakte zu Gleich-altrigen. In dieser Phase bekommt die öffentliche Betreu-ungsinstanz bereits stärkeres Gewicht. Allerdings dürfenKinder dieses Alters nicht überfordert werden; vielmehrsollen sie nur mit Sozialkontakten und Anregungen kon-frontiert werden, die für sie überschaubar bleiben.

Daraus folgt als öffentliche Aufgabe die Bereitstellungeines quantitativ ausreichenden und qualitativ angemes-senen Angebots, das teilweise von Eltern und Kindern ge-meinsam genutzt werden kann, aber auch eigenständigePeer-Kontakte ermöglicht. In dieser Altersstufe, das bele-gen die entsprechenden Erhebungen, werden auch ver-gleichsweise häufig die familienähnlichen Angebote derTagespflege in Anspruch genommen. Auch hierbei sollteder Kontakt mit anderen Kindern berücksichtigt werden.

(3) Ab dem dritten Lebensjahr nehmen Gleichaltrige unddie Erfahrungen mit ihnen in Gruppen als neue Entwick-lungsanregung der Kinder eine immer wichtigere Stel-lung ein. Von ihrem Entwicklungsstand her finden Kinderab diesem Alter in den Aushandlungsprozessen mitGleichaltrigen ein wichtiges Erfahrungsfeld. Ab dem drit-ten Lebensjahr bis zum Schuleintritt werden Kinder ne-ben der Familie in der Regel am besten in einer qualitativhochwertigen institutionellen Einrichtung gefördert. Da-her sollte die öffentliche Leistung in diesem Alters-abschnitt vorrangig auf ein qualitativ hochwertiges insti-tutionelles Angebot ausgerichtet sein.

Für alle Altersstufen bis zum sechsten Lebensjahr solltenmöglichst wenige bzw. nur pädagogisch gut vorbereiteteund begleitete Wechsel für Kinder vorgesehen werden, dadie stabile Umgebung eine wesentliche Entwicklungs-bedingung der frühen Kindheit darstellt. Daraus folgt alsgesellschaftliche Aufgabe: Für alle Kinder dieser Alters-stufe sollte ein öffentliches Angebot bereitstehen; einrechtsverbindlicher Anspruch auf ein qualifiziertes Ange-bot ist hierfür die unabdingbare Voraussetzung. Die An-gebotsformen der Kindertagesbetreuung sollten eine Viel-falt von Kombinationen bieten, die in den verschiedenenAltersstufen, den individuellen Bildungssituationen undder familialen Bedarfssituation entsprechend, höchst un-terschiedlich gestaltet sein können.

Angebote für Kinder aller Alterstufen sind so einzurich-ten, dass sie als alters- und entwicklungsangemesseneBildungsangebote angelegt sind, dass sie die Verbindungmit Eltern und anderen Unterstützungssystemen im Um-feld suchen, dass sie sich am Leitbild der Chancengleich-heit für Kinder aus allen sozialen Lebenslagen orientierenund dem Anspruch pädagogischer Qualität gerecht wer-den.

7.2.2 Das Schulalter – Perspektiven für ein Zusammenwirken von Kinder- und Jugendhilfe und Schule

Der Ausbau ganztägiger Bildungs-, Betreuungs- und Er-ziehungsangebote für Kinder und Jugendliche im Schul-alter kann trotz großer finanzieller Anstrengungen undambitionierter Programme aus heutiger Sicht nur schritt-

Page 355: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 345 – Drucksache 15/6014

weise erfolgen. Dabei ist offenkundig, dass der Ausbauganztägiger Angebote nicht von der Schule allein getra-gen werden kann – und dies in der deutschen Traditionauch gar nicht sinnvoll wäre. Erforderlich ist vielmehr,die Kinder- und Jugendhilfe mit ihren Ressourcen undKompetenzen mit einzubeziehen sowie andere öffentlichewie private Akteure systematisch zu berücksichtigen.Dies setzt die Bereitschaft voraus, dass sich alle beteilig-ten Akteure weiterentwickeln.

Unabhängig davon, ob Schule diese zeitliche und konzep-tionelle Ausweitung allein bewältigen könnte, dürfenganztägige Angebote keine Verlängerung der bisherigenUnterrichtsschule sein. Notwendig ist ein inhaltlicherUmbau der Schule, der anderen Prinzipien und Zielenverpflichtet ist als die traditionelle, auf Unterricht und in-dividuelle Leistung reduzierte Schule. Der Zielpunkt derEntwicklung darf nicht heißen: mehr Schule, sondernmuss heißen: mehr Bildung. Grundidee eines ganztägigenAngebots ist demgegenüber die einer „Entschulung derSchule“ im Sinne ihrer pädagogischen Reform. Nicht nurin Bezug auf die quantitative Seite, sondern auch in Be-zug auf ihren inhaltlichen Beitrag zur Gestaltung ganz-tägiger Angebote ist deshalb die Kinder- und Jugendhilfeein wichtiger Partner beim „Projekt Ganztagsschule“.

Damit stellen sich Fragen der Kooperation von Jugend-hilfe und Schule in einer neuen Form, die deutlich überbisherige Ansätze und Formen der Kooperation hinaus-geht. Mit dem „Projekt Ganztagsschule“ muss somit auchder Anspruch einer umfassenden Reform der Schule so-wie der Kinder- und Jugendhilfe verbunden sein. DerAusbau eines Systems öffentlicher Bildung, Betreuungund Erziehung sollte der individuellen Förderung allerKinder und Jugendlichen verpflichtet und darauf angelegtsein, Bildung als einen Prozess umfassender Kompetenz-entwicklung, an dem Kinder und Jugendliche in elemen-tarer Weise als Ko-Produzenten beteiligt sind, zu fördernund herkunftsbedingte Benachteiligungen von Kindernund Jugendlichen zu überwinden. Leistungen und Ange-bote der unterschiedlichen Träger und Einrichtungen, derSchule wie der Kinder- und Jugendhilfe sowie weiterer,privater Akteure, sind durch institutionelle Kooperatio-nen zu einem aufeinander abgestimmten Angebot weiter-zuentwickeln.

Dies erfordert eine Reform der Aus- und Weiterbildungvon Lehrkräften und sozialpädagogischen Fachkräften.Lehrkräfte müssen in der Lehreraus- und -weiterbildungstärker auf Tätigkeiten außerhalb des Unterrichts, auf ihreErziehungs- und Betreuungsfunktion vorbereitet werden;in den sozialpädagogischen Studienrichtungen müssenbildungsbezogene Aufgaben stärker in den Vordergrundgerückt werden, muss Schule als Bezugspunkt und Bil-dungsort ein Bestandteil des Studiums werden.

Wie dieses System letztlich aussehen wird, welche Formdas „Projekt Ganztagsschule“ annehmen und in welcherWeise die Kinder- und Jugendhilfe daran beteiligt seinwird, kann derzeit im Detail nicht gesagt werden. Anhandder im vorliegenden Bericht formulierten konzeptionellenLeitlinien und der bereits jetzt sichtbaren Anforderungenan strukturelle Erfordernisse der Gestaltung ganztägiger

Angebote in Kooperation von Schule und Kinder- und Ju-gendhilfe lassen sich jedoch mögliche Eckwerte für not-wendige Reformen der beiden Systeme benennen. Hiersollen lediglich einige zentrale Aspekte in Bezug (a) aufdie Weiterentwicklung schulbezogener Leistungen derKinder- und Jugendhilfe, (b) auf die Öffnung der Schuleund die strukturelle Verankerung der Kooperation vonKinder- und Jugendhilfe und Schule sowie (c) auf dieRolle der Kommunen beim Aufbau und bei der Gestal-tung eines öffentlich verantworteten Systems für Bildung,Betreuung und Erziehung aufgezeigt werden.

(a) Weiterentwicklung schulbezogener Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe

Schule muss das Verhältnis zu den Lebenswelten ihrerNutzer neu reflektieren. Um entwicklungsgerechte undförderliche Lernbedingungen für alle zu schaffen, kannSchule die lebensweltlichen Bedingungen und Vorausset-zungen des Schulbesuchs – einschließlich der damit ver-bundenen erweiterten Bildungs- und Lerngelegenheiten –nicht mehr ignorieren. Schulentwicklung muss deshalbdie Lebenswelten der Schülerinnen und Schüler gezielteinbeziehen. Schule muss ihre Aufgaben und ihr Angebotneu definieren und dabei nach den Interessen und Erwar-tungen von Eltern, Kindern und Jugendlichen fragen.

Das in der Regel indifferente Verhältnis der Schule zu denLebenswelten von Schülerinnen und Schülern wird insbe-sondere dann prekär, wenn familiäre Probleme und Kri-sen, unbewältigte Entwicklungsaufgaben und Krisen imProzess des Aufwachsens sowie zu schlechte Chancenvon Schülerinnen und Schülern, namentlich der unterenschulischen Bildungsgänge, beim Übergang auf den Aus-bildungs- und Arbeitsmarkt zu Lernschwierigkeiten füh-ren und massiv den Schulerfolg gefährden.

Für eine lebensweltorientierte Öffnung der Schule sindaußerschulische Partner unerlässlich. Ein wichtiger Part-ner in diesem Prozess der Neubestimmung des Verhält-nisses von Schule und Lebenswelten ist die Kinder- undJugendhilfe. Sie muss allerdings ihre eigenen Ziele vielkonsequenter auf die Schule und auf alle Kinder und Ju-gendlichen ausrichten. Dann kann sie personenbezogeneDienstleistungen für Kinder, Jugendliche und ihre Elternam Ort Schule anbieten, kann Personal, das in der Ge-meinwesen- oder Stadtteilarbeit verankert ist und Kennt-nisse über die sozialräumlichen Verhältnisse besitzt, inProzessen der Schulentwicklung einsetzen.

Schule und Familie: Ein neues Verhältnis von Familieund Schule kann durch Übernahme von Prinzipien derKinder- und Jugendhilfe – z. B. Kinder und Jugendlicheals kompetente Partner einzubeziehen – und mit einerAusweitung sozialer Dienstleistungen für Familien am OrtSchule begründet werden. So können Betreuungs-, Be-ratungs-, Förder- und Versorgungsleistungen für Kinderund Jugendliche, aber auch Beratungs- und Unterstüt-zungsangebote für Eltern neben Unterricht und Wissens-vermittlung einen selbstverständlichen Rang im schuli-schen Kontext erhalten. Die Kinder- und Jugendhilfesollte zur Unterstützung von Familien deshalb ihre Leis-tungen in Kooperationen mit der Schule einbringen und

Page 356: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 346 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

darauf beharren, dass Schule dies nicht nur als Dienstleis-tung, sondern als Bestandteil ihrer schulischen Aufgabeannimmt.

Kinder- und Jugendhilfe kann u. a. dazu beitragen, dassElternarbeit an Schulen auch Beratung für Eltern umfasstund Formen der Mitwirkung von Eltern ermöglicht wer-den, die über formale Mitbestimmung hinausgehen. Koo-perationen zwischen Schule und Kinder- und Jugendhilfekönnen dabei von gemeinsamen Projekten wie Eltern-cafés bis hin zu institutionalisierten Vertrauenspersonenreichen, die als Anwälte von Familien in der Schule fun-gieren. Gemeinsam sollten von beiden Seiten auch geeig-nete Instrumente, Lernorte und Gelegenheiten zur Stär-kung elterlicher Bildungs- und Erziehungskompetenzentwickelt und ambulante Unterstützungsangebote fürFamilien („Geh-Struktur“) aufgebaut werden.

Förderung und Unterstützung: Eine zentrale Zielgruppeder Kinder- und Jugendhilfe sind Kinder, Jugendliche undFamilien aus benachteiligten sozialen Verhältnissen, zudenen häufig auch Familien mit Migrationshintergrundzählen. Die Kinder- und Jugendhilfe verfügt über diffe-renzierte Kenntnisse dieser Milieus und kann ihre Kon-zeptionen und Erfahrungen aus der Einzelfallarbeit, derGruppenarbeit, der Gemeinwesenarbeit und der Netz-werkarbeit für die Kooperation mit Schule beisteuern,advokatorische Aufgaben für Kinder, Jugendliche undFamilien aus benachteiligten Lebenslagen übernehmenund so dazu beitragen, dass Diskriminierungen abgebautund Integrationsangebote am Ort Schule geschaffen wer-den.

Teilhabe und Verantwortung: Die Befähigung zur Eigen-verantwortung und die Förderung sozialen und politi-schen Engagements sind Aufgabenstellungen, denen einzentraler Stellenwert im Rahmen eines öffentlichen Sys-tems für Bildung, Betreuung und Erziehung eingeräumtwerden muss. Dies betrifft auch Möglichkeiten der Teil-habe und der Verantwortung von Kindern und Jugend-lichen am Ort Schule. Mit dem Ausbau ganztägiger An-gebote an Schulen stellt sich diese Frage umso mehr, alsSchule mehr Zeit von Kindern und Jugendlichen bean-sprucht. Teilhabe und Verantwortung können nicht nurabstrakte Lernziele der Schule sein, sondern müssen imAlltag erfahrbar sein sowie handelnd vermittelt und ange-eignet werden können. Teilhabe und Verantwortung sindals Prinzipien in der Jugendhilfe stärker verankert; des-halb müssen sie auch in der Schule mehr Gewicht als pä-dagogisches Handlungsprinzip bekommen.

In der schulischen Praxis ist (politische) Partizipation undÜbernahme von Verantwortung durch Kinder, Jugend-liche und deren Eltern nach wie vor eher selten anzutref-fen und auf wenige kleinere Nischen beschränkt. Inner-halb der Kinder- und Jugendhilfe werden im Vergleichdazu in der Regel weitaus mehr Möglichkeiten der Par-tizipation eingeräumt; insbesondere in der Kinder- undJugendarbeit sind Formen der Selbstorganisation selbst-verständlicher Bestandteil der Konzepte. Diese Formender Teilhabe und der Verantwortung sind deshalb alswichtige Prinzipien in die Kooperation mit Schule einzu-bringen und zu erhalten. Dabei liegt eine besondere

Chance darin, dass am Ort Schule alle Kinder und Ju-gendlichen erreicht werden, was für die Jugendarbeit invergleichbarer Weise nicht gilt.

(b) Öffnung der Schule und strukturelle Verankerung der Kooperation zwischen Kinder- und Jugend-hilfe und Schule

Kooperation von Schule und Kinder- und Jugendhilfebraucht verlässliche Strukturen und geeignete organisato-rische Voraussetzungen. Bisher erscheint Kooperation ausder Sicht der Schule immer noch als Zusatzleistung zurnormalen Arbeit; sie ist noch kein selbstverständlicherBestandteil im Arbeitsalltag der Lehrkräfte geworden.Eine Öffnung der Schule zum Stadtteil bzw. zur Ge-meinde und eine Kooperation mit den dort ansässigen undagierenden Institutionen werden ebenfalls immer noch alsein zusätzlicher Anspruch gesehen. Schulentwicklung er-folgt deshalb in dieser Logik überwiegend als Entwick-lung im eigenen sowie des eigenen Systems. Soll Schuleaber auf gewandelte Herausforderungen angemessen rea-gieren und den ihr gestellten Aufgaben gerecht werden,ist sie auf Unterstützung durch andere Institutionen,namentlich der Kinder- und Jugendhilfe, angewiesen.Schule kann sich angesichts knapper Ressourcen immerweniger legitimieren, wenn sie sich von ihrer Umgebungabschottet, sich nicht als Bestandteil des Gemeinwesensund als Ressource im Sozialraum definiert. Deshalb istSchulentwicklung als ein Prozess zu konzipieren, an demauch Personen und Institutionen aus dem lokalen Umfeldbeteiligt werden. Dazu bedarf es geeigneter Verfahrenund Organisationsformen; nur so können Schule, Kinder-und Jugendhilfe sowie andere Akteure ihre Angebote undihre Erfahrungen besser aufeinander beziehen und sich ineinen gemeinsamen Prozess begeben, mit dem Anspruch,Kinder und Jugendliche individuell bestmöglich zu för-dern und zu unterstützen.

Damit diese Form der Kooperation von Schule und Kin-der- und Jugendhilfe auf qualitativ anspruchsvollem Ni-veau zu realisieren ist, bedürfen beide Bereiche dafür ge-eigneter Strukturen:

– Die Schule hat in diesem Sinne eine Öffnung durchveränderte Strukturen zu gewährleisten. Dazu müssenSchulen Kooperation mit außerschulischen Akteuren,insbesondere der Kinder- und Jugendhilfe, als ihre ei-genständige Aufgabe begreifen und in ihrer Organisa-tions- und Personalstruktur entsprechend berücksichti-gen. Dies beginnt mit der Einrichtung individuellerArbeitsplätze für Lehrerinnen und Lehrer, für dieSchule nicht nur der Ort des Unterricht-Haltens seinkann. Darüber hinaus sollten an jeder Schule entspre-chende Personalkapazitäten ausgewiesen und identi-fizierbare Personen benannt werden, denen es obliegt,Kooperationen mit außerschulischen Partnern zu orga-nisieren und zu koordinieren. Strukturell geht es umeine Brücken- und Vermittlungsfunktion zwischen denaußerschulischen Fachdiensten der Kinder- und Ju-gendhilfe und dem in der Schule tätigen Personal:Lehrkräfte und sozialpädagogisches Personal fürschulbezogene Leistungen der Jugendhilfe. Die damit

Page 357: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 347 – Drucksache 15/6014

betrauten Personen benötigen gute Kenntnisse derKinder- und Jugendhilfe, um deren differenziertes An-gebot in Anspruch nehmen und deren Leistungen fürdie Schule nutzen zu können. Darüber hinaus mussdiese Funktion auch in den Prozess der Schulentwick-lung und in die Schulleitung eingebunden sein. Orga-nisations- und Koordinierungsfunktionen in Bezug aufdie Kinder- und Jugendhilfe ersetzen nicht sozialpäda-gogische Angebote an Schulen, wie sie u. a. von derSchulsozialarbeit erbracht werden. Bisher werden je-doch Vermittlungs- und Koordinierungsfunktionenhäufig von der Schulsozialarbeit nebenher erledigt.Hier ist eine Differenzierung sowie eine Spezialisie-rung der Aufgaben und Funktionen in der Schule inBezug auf Kooperationen mit der Kinder- und Jugend-hilfe dringend geboten.

– Auch die Kinder- und Jugendhilfe muss sich öffnenund die Leistungen der Schule für die Entwicklungvon Kindern anerkennen. In der Kinder- und Jugend-hilfe sind ebenfalls Bedingungen zu schaffen, die esermöglichen, Kooperation mit Schule zu organisierenund zu gestalten. Hier sind Kompetenzen und Res-sourcen der Horte, aber auch der Kinder- und Jugend-arbeit einzubringen. Zugleich sind in dieser Aufgabein elementarer Weise die kommunalen Jugendämtergefordert. Deshalb sollte in jedem Jugendamt ein eige-ner Arbeitsbereich, der für Kooperationen von Kinder-und Jugendhilfe und Schule zuständig ist, eingerichtetwerden. Hierfür wären entsprechende rechtliche Vorga-ben in den Gesetzen von Bund und Ländern hilfreich.Zusätzlich sollten auf lokaler Ebene Arbeitsgemein-schaften nach § 78 SGB VIII eingerichtet werden, da-mit einerseits Dialog und Austausch zwischen den un-terschiedlichen örtlichen Akteuren gewährleistet sindund andererseits die nicht-staatlichen Akteure von An-fang an angemessen einbezogen werden.

(c) Die Rolle der Kommunen bei der Entwicklung eines integrierten Systems von Bildung, Betreuung und Erziehung

Ziel eines Systems von Bildung, Betreuung und Erzie-hung muss es sein, die jeweiligen Stärken formaler undnon-formaler Bildungsorte, formeller und informeller Bil-dungsprozesse miteinander zu verknüpfen, damit ein um-fassender Kompetenzerwerb ermöglicht wird und ge-schlechtsspezifische, lebenslagen- und altersadäquateAngebote vorgehalten werden können. Das heißt, dass esum den Aufbau einer für alle Kinder und Jugendlichezugänglichen und nutzbaren Infrastruktur für Bildung,Betreuung und Erziehung im kommunalen Raum geht, diegetragen wird von Angeboten und Einrichtungen der Kin-der- und Jugendhilfe, der Schule, von kulturellen Einrich-tungen, Verbänden und Vereinen, Institutionen derGesundheitsförderung sowie von bildungsrelevanten pri-vaten und gewerblichen Akteuren. Allerdings wird sichdiese Infrastruktur nicht nur durch eine Umorganisationvorhandener Angebote erreichen lassen. Vielmehr ist eineAusweitung öffentlicher Leistungen erforderlich, damitein flächendeckendes System für Bildung, Betreuung undErziehung aufgebaut werden kann.

Ganztägige Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsange-bote sind auf eine Ein- und Rückbindung in den lokalenRaum angewiesen. Hierfür bedarf es einer neuen Formder kommunalen Bildungsplanung, die die gegenwärtigenVerengungen und Begrenzungen auf die Teilsysteme vonBildung, Betreuung und Erziehung – Schulentwicklungs-planung und Jugendhilfeplanung – überwindet und auchauf private Anbieter, selbst organisierte wie gewerbliche,einen systematischen Blick hat. Zentraler Akteur einersolchen Bildungsplanung muss die Kommune sein. Des-halb sind Sozialplanung, Jugendhilfeplanung und Schul-entwicklungsplanung als integrierte, zumindest aufeinan-der abgestimmte Planungen zu konzipieren mit dem Ziel,ein Angebot zu entwickeln, das den Bildungs-, Betreu-ungs- und Erziehungsbedarf des jeweiligen Sozialraumeserfasst. In einer solchen Planung sind gleichrangig le-bensweltliche Formen und Angebote außerhalb der insti-tutionellen Gegebenheiten mit zu berücksichtigen.Die Kinder- und Jugendhilfe soll dabei ihre partizipativenVerfahren in die Planung und die Gestaltung ganztägigerAngebote einbringen, insbesondere hinsichtlich der Be-teiligung der Adressaten: der Kinder und Jugendlichen.Entsprechende Instrumente wie Kinder- und Jugendforen,Kinder- und Jugendparlamente u. Ä. sind sozialraum- undanlassbezogen weiterzuentwickeln und zu evaluieren.

Gelingende Kooperationen zwischen einzelnen Schulenund Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sind aufeine Steuerung auf kommunaler Ebene angewiesen. Hilf-reich hierfür wäre etwa die Zusammenarbeit zwischenstaatlicher Schulverwaltung, kommunalem Schulträgerund kommunalem Jugendamt unter der Perspektive er-weiterter Bildungsgelegenheiten zur Ermöglichung einesumfassenden Kompetenzerwerbs von Kindern undJugendlichen. Solche Prozesse einer Stärkung der kom-munalen Verantwortung müssten mit einer Reform derstaatlichen Schulaufsicht einhergehen. Dabei sollten Kom-petenzen der staatlichen Schulaufsicht insgesamt stärkeran die Schulen und teilweise auch an die Kommunen ver-lagert werden.

Kooperationen zwischen Schule und Jugendhilfe solltennicht auf einen bilateralen Austausch zwischen einzelnenEinrichtungen der Jugendhilfe und Einzelschulen bzw.zwischen Jugendamt und Schulamt beschränkt werden.Eine wesentliche und unabdingbare Ebene für die Steue-rung der Kooperation von Jugendhilfe und Schule ist auchder Stadtteil bzw. der soziale Nahraum im Umfeld vonSchulen. Die Kinder- und Jugendhilfe verfügt, insbeson-dere in benachteiligten Stadtteilen mit erhöhten sozialenProblemen, über entwickelte und funktionsfähige Instru-mente der sozialraumbezogenen Kooperation. Dabei isteine Anbindung an die kommunale Steuerungsebene von-nöten.

7.2.3 Gemeinsame Perspektiven: Strukturen, Finanzen, Forschung

Eine bessere Zusammenarbeit von Schule und Jugend-hilfe sowie die Stärkung der Rolle der Kommunen beimAufbau eines integrierten Systems von Bildung, Betreu-ung und Erziehung erfordern auch vermehrte Anstren-gungen bei Bund, Ländern und Gemeinden sowie eine

Page 358: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die

Drucksache 15/6014 – 348 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

verbesserte Abstimmung zwischen ihnen. Damit Kom-munen stärker an der inhaltlichen Gestaltung von Schul-entwicklung beteiligt werden und Schule und Jugendhilfesich besser aufeinander beziehen können, bedarf es einerAnpassung bzw. Synchronisierung der administrativenund politischen Strukturen im Bereich der Bildungs- undJugendpolitik von Bund, Ländern und Gemeinden.

Eine verstärkte Kooperation von Schule und Jugendhilfesetzt voraus, dass rechtliche und administrative Regelun-gen dies nicht verhindern. Aufgrund langjähriger, ressort-mäßig getrennter Zuständigkeiten wirken diese Regelun-gen jedoch häufig wie unüberwindbare Hürden auf demWeg zu besserer Zusammenarbeit. In den Ländern sinddie Schulgesetze und die Ausführungsgesetze des SGBVIII deshalb besser aufeinander abzustimmen bzw., wodies notwendig oder möglich ist, einander anzupassen.Dabei sollten in einem ersten Schritt alle für die Koopera-tion von Jugendhilfe und Schule relevanten Bereiche inden jeweiligen Gesetzen und Verordnungen als regulärerBestandteil der Leistungen und Aufgaben von Schule undJugendhilfe definiert werden. Dies ist bislang allenfallsansatzweise der Fall. Auf der administrativen Ebene derLänder sollten die Strukturen so organisiert werden, dasseine Zusammenarbeit der bislang oftmals getrenntenRessorts optimiert wird. In Bezug auf Planungs- undSteuerungsfragen sind unabhängig von der Ressortzu-ständigkeit Verfahren zu etablieren, mit denen der Auf-und Ausbau ganztägiger Angebote als gemeinsamer Pro-zess gestaltet werden kann und in denen Wissen und Er-fahrungen der Schule und der Jugendhilfe zusammen-fließen.

Zu prüfen ist ferner, ob der Gestaltungsspielraum aufkommunaler Ebene, den die Jugendhilfe in vielen Fällennutzen kann, auch in den Kultusministerien der Länderdurch entsprechende administrative Strukturen ausgewei-tet werden kann. Damit sollen örtliche Gestaltungs- undHandlungsspielräume vergrößert sowie durch fachlicheund administrative Strukturen auf Landesebene unter-stützt werden. Eine Stärkung der fachlich-administrativenZuständigkeiten und eine Erweiterung der Gestaltungs-spielräume der Kommune könnten durch einen Transferfinanzieller Ressourcen vom Land auf die Kommunenbegleitet und unterstützt werden. Mit der Einrichtung vonFinanzierungssystemen können die Länder Ungleichhei-ten im Angebot und in der Qualität der kommunalenBildungslandschaften aufgrund der unterschiedlichen Fi-nanzstärke von Kommunen entgegenwirken.

Der Um- und Ausbau eines ganztägigen Systems von Bil-dung, Betreuung und Erziehung ist nicht zum Null-Tarifzu haben. Hierfür sind zusätzliche finanzielle Mittel un-abdingbar, die als Investitionen in die Zukunft der Gesell-schaft zu betrachten sind.

– Ein annähernd bedarfsgerechter Ausbau der Kinderta-gesbetreuung in den alten Bundesländern bis zum Jahr2010 erfordert, je nach Ausbauniveau, zusätzlicheKosten für die öffentliche Kinder- und Jugendhilfe inetwa zwischen 1 Mrd. Euro und 2,7 Mrd. Euro jähr-

lich. Zugrunde gelegt sind hierbei – bei der unterenAusbauvariante – ein Versorgungsangebot von 20 Pro-zent für unter 3-Jährige, von 75 Prozent für 3- bis un-ter 4-Jährige sowie eine durchgängige Anhebung derQuote an Ganztagsplätzen für alle unter 6-Jährigen auf50 Prozent; bei der oberen Variante wird darüber hi-naus – in Anlehnung an Sachsen-Anhalt – eine Ver-sorgungsquote von im Schnitt 42 Prozent für die unter3-Jährigen zugrunde gelegt. In allen Berechnungensind die zu realisierenden Einsparungen durch den de-mografiebedingten Rückgang der Kinderzahlen bis2010 und die Absenkung des Schuleintrittsalters auf6,0 Jahre bereits einkalkuliert.

– Der Ausbau von Ganztagsschulen erfordert im Ver-gleich zur Halbtagsschule ungefähr 30 Prozent höherePersonalkosten und zusätzliche Mittel für Infrastruk-turmaßnahmen. Da es sich bei den Angeboten amNachmittag nicht um Freizeit-, sondern um Bildungs-angebote handelt, sind Elternbeiträge zur Finanzie-rung der Angebote nicht vertretbar.

Mit dem Ausbau ganztägiger Angebote und dem Umbauöffentlicher Leistungen und Angebote für Kinder und Ju-gendliche zu einem neuen System von Bildung, Betreu-ung und Erziehung in der hier vorgestellten Weise wird invielen Bereichen Neuland betreten. Es besteht ein enor-mer Wissens- und Forschungsbedarf, damit Wirkungenund Effekte ganztägiger Angebote eingeschätzt und ver-bessert sowie pädagogische Angebote und Prozesse sogestaltet werden können, dass sie den Entwicklungsauf-gaben, Interessen und Bedürfnissen von Kindern und Ju-gendlichen gerecht werden. Die Kommission ist davonüberzeugt, dass Bildungsprozessen von Kindern und Ju-gendlichen jenseits schulischer Lernprozesse eine größereAufmerksamkeit gewidmet werden muss, und betrachtetdeswegen verstärkte Forschungsaktivitäten in diesemThemenfeld als unbedingt erforderlich. Zu Bildungspro-zessen im Lebenslauf von Kindern und Jugendlichen überdie Grenzen meist getrennt beobachteter Bildungsorteund Lernwelten hinweg zeigt sich in Deutschland ein er-hebliches Defizit an empirisch gesichertem Wissen.

Zusätzlicher Forschungsbedarf besteht darüber hinaus beider Umgestaltung und dem Aufbau eines neuen Systemsvon Bildung, Betreuung und Erziehung, weil in diesemProzess unterschiedliche Disziplinen und Institutionenauf neue Weise miteinander zu kooperieren haben, unter-schiedliche Rechtssysteme und Organisationsformen auf-einander abzustimmen und neue Formen der Organisationund der Steuerung aufzubauen sind. Erforderlich sind re-gelmäßige Evaluationen des Systems und seiner Bereichesowie organisationsbezogene empirische Forschungenmit dem Ziel, den Um- und Aufbau ganztägiger Angeboteauf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse durchzu-führen.

Damit sich der erhebliche Bedarf an Forschung ange-sichts der sich abzeichnenden Veränderungen des Sys-tems von Bildung, Betreuung und Erziehung abdeckenlässt, muss die vorhandene Infrastruktur ausgebaut wer-

Page 359: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 360: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 361: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 362: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 363: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 364: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 365: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 366: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 367: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 368: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 369: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 370: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 371: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 372: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 373: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 374: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 375: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 376: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 377: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 378: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 379: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 380: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 381: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 382: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 383: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 384: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 385: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 386: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 387: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 388: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 389: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 390: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 391: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 392: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 393: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 394: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 395: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 396: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 397: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 398: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 399: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 400: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 401: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 402: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 403: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 404: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 405: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 406: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 407: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 408: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 409: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 410: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 411: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 412: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 413: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 414: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 415: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 416: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 417: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 418: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 419: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 420: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 421: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 422: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 423: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 424: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 425: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 426: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 427: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 428: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 429: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 430: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 431: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 432: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 433: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 434: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 435: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 436: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 437: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 438: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 439: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 440: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 441: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 442: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 443: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 444: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 445: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die
Page 446: Zwölfter Kinder- und Jugendbericht - BMFSFJ...Zwölfter Kinder-und Jugendbericht – Stellungnahme der Bundesregierung – Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die