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2 Die europäische Friedensordnung des Wiener Systems

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2 Die europäische Friedensordnung

des Wiener Systems S. 60–93

Auftaktseiten S. 60–63

S. 60, M 1: Wiener Kongress, Kaiser Franz I. empfängt Kaiser Alexander I. von Russland

und König Friedrich Wilhelm III. von Preußen vor Wien am 25. September 1814, Lithografie

von Franz Wolf, 1830

Zum Bild: Der österreichische Kaiser Franz I. (Bildmitte) empfing am 25. September 1814 an der

Taborbrücke, über die die Fernstraße von Wien nach Böhmen und Mähren verlief, Zar Alexan-

der I. von Russland (rechts in dunkelgrüner Uniformjacke) und König Friedrich Wilhelm III. von

Preußen (links in blauer Uniformjacke) zur Teilnahme am Wiener Kongress. Die Taborbrücke

überquerte damals in Zwischenbrücken – eine nördliche Vorstadt Wiens – den Donau-Strom.

Kaiser, Zar und König haben sich freundschaftlich an den Händen gefasst. Halbkreisförmig, die

drei Monarchen umschließend, heben sich neben dem rotgekleideten Gefolge des österreichi-

schen Kaisers die blauen (preußischen) und die grünen (russischen) Uniformen der militärischen

und diplomatischen Begleiter der beiden anderen Herrscher aus der Menschenmenge ab.

Franz Wolf schuf seine Lithografie 1830 nach einer Vorlage von Johann Nepomuk Hoechle.

Dieser Maler, bekannt für seine Militärmalerei, hatte im Gefolge des österreichischen Kaisers

Franz I. die großen Ereignisse der Jahre 1814 und 1815 in zahlreichen Skizzen als Augenzeuge

festgehalten. Diese Arbeiten flossen anschließend in die großen historischen Ereignisbilder ein,

die er in den nächsten Jahren in seinem Atelier in Wien schuf. Die abgebildete Lithografie von

Franz Wolf entstand dann mehr als zehn Jahre später.

Zum Hintergrund: Zwei Kaiser nahmen am Kongress teil, der russische Zar Alexander I. und

Franz I. von Österreich. Die Könige von Preußen, Dänemark, Württemberg und Bayern waren

angereist, dazu etliche regierende Herzöge, Großherzöge und Fürsten aus den deutschen Län-

dern und Vertreter der Reichsstädte. Bevollmächtigte der Herrscher und Regierungen Spaniens,

Portugals, der diversen italienischen Staaten, Schwedens und der Niederlande, des Papstes, der

Schweizer Eidgenossenschaft hatten sich ebenfalls zum Kongress nach Wien begeben. Auch

Frankreich war beteiligt. Die vier alliierten Siegermächte England, Russland, Österreich und

Preußen dominierten die nachfolgenden Verhandlungen, das Gewicht der übrigen Teilnehmer

war differenziert geringer.

S. 62, M 1: „Der grosse Wiener Friedens-Congres zur Wiederherstellung von Freiheit und

Recht in Europa“, kolorierter Stich, 1815

Zum Bild: Nach dem Gemälde von Jean-Baptiste Isabey (1767–1855) zum Wiener Kongress

entstanden verschiedene zeitgenössische Kupferstiche. Der französische Künstler Isabey, Schü-

ler Jacques Louis Davids und später Hofmaler Napoleons, arbeitete nach dessen Sturz weiter für

die Bourbonen. Im Auftrag von Talleyrand reiste er 1814 nach Wien, um eine großformatige

Darstellung der am Kongress teilnehmenden Fürsten, Minister und Diplomaten zu zeichnen. Der

wiedergegebene kolorierte Stich von 1815 ist wahrscheinlich auch durch das Gemälde von Isa-

bey inspiriert worden. Anders als in der Vorlage sind hier der russische Zar (stehend), der öster-

reichische Kaiser und der preußische König (beide sitzend) ins Zentrum der Darstellung gerückt.

Sie sind vor der großen Zahl der Kongressteilnehmer platziert. Der russische Zar, in grüner Uni-

formjacke, legt seine rechte Hand auf den Globus und mit der linken Hand deutet er auf die vor

ihm liegende Karte. Auch die beiden anderen Monarchen zeigen jeweils mit ihrer linken Hand auf

die Karte. Der Künstler hat, ebenfalls abweichend vom Original, an der hinteren Wand links und

rechts neben der wappengekrönten Tür Justitia und Victoria in seine Arbeit eingefügt. Globus,

Karten, Zeichengeräte, Papiere und Dokumente auf dem Tisch in der Bildmitte sollen sicherlich

die Arbeitsweise und den Charakter des Kongresses unterstreichen.

Zum Hintergrund: Vom 18. September 1814 bis zum 9. Juni 1815 versammelten sich in Wien

Vertreter all jener Staaten zu einem Kongress, die gegen Napoleon gekämpft hatten bzw. ihre

Interessen in einer europäischen Nachkriegsordnung durchsetzen wollten. Auch die Abgesand-

ten des wieder errichteten französischen Königreiches nahmen am Kongress teil. Die Anwesen-

den berieten über eine europäische Friedensordnung für die nachnapoleonische Ära. Vorausge-

gangen waren die Besetzung von Paris durch die Koalitionstruppen am 30. März 1814, der nach-

folgende Sturz Napoleons am 11. April und die Wiedererrichtung der Bourbonenmonarchie unter

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König Ludwig XVIII. Am 30. Mai 1814 wurde der Erste Pariser Frieden zwischen den Koalitions-

mächten und der französischen Regierung geschlossen. Der Artikel 32 dieses Friedensvertrages

sah vor, einen Kongress zu Friedensregelungen nach Wien einzuberufen, um eine dauerhafte

europäische Nachkriegsordnung zu etablieren. Im März 1815 wurden die Kongressabgesandten

durch die Rückkehr Napoleons nach Frankreich aufgeschreckt, die Beratungen kurzzeitig unter-

brochen und dann beschleunigt bis zum 9. Juni zu Ende geführt. Mit der Niederlage Napoleons in

der Schlacht bei Waterloo am 18. Juni 1815 endeten seine Einhundert-Tage-Herrschaft und

damit auch sein Versuch einer Rückkehr zur Macht.

2.1 Der Wiener Kongress 1815 S. 64–78

S. 64, M 1: Grundsätze des Wiener Kongresses 1814/15

Die drei Grundsätze Restauration, Legitimität und Solidarität waren zwar auf die europaweite

Wiederherstellung des Ancien Régime gerichtet, konnten aber in der politischen Realität so nicht

durchgesetzt werden. Der Status quo nach dem Wiener Kongress sollte außen- und innenpoli-

tisch verteidigt werden. Auf dem europäischen Kontinent war ein Staatensystem ohne Hegemo-

nialmacht vorgesehen: Mit der europäischen Pentarchie schufen Großbritannien, Russland, Ös-

terreich und Preußen – unter Einbindung des nachnapoleonischen Frankreichs unter den

Bourbonen – ein in ihrem Sinne wirkendes europäisches Stabilitätssystem. Es war in erster Linie

als Verteidigung gegenüber Frankreich gedacht, wo nach wie vor revolutionäre Potenzen vermu-

tet wurden. Ein Übergreifen revolutionärer Bewegungen auf andere europäische Länder sollte

unbedingt verhindert werden. Um das monarchische Prinzip zu erhalten und weiterhin voll durch-

zusetzen, vereinbarten die konservativen Mächte Russland, Österreich und Preußen eine Heilige

Allianz gegen jegliche revolutionäre, demokratische und nationale Entwicklungen.

S. 64, M 2: Zeitgenössische Karikatur zum Wiener Kongress, Radierung, 1815

Zum Bild und zu möglichen Deutungen: Sechs Männer und ein Junge machen sich an einer

imaginären Europakarte zu schaffen und „verteilen“ die Länder.

Unter der Karte kniet der französische Außenminister Talleyrand und hält mit seiner linken Hand

eine Medaille mit dem Porträt Ludwigs XVIII.

Links im Bild bittet ein Junge seinen Papa, seinen Erbanteil zu sichern (papa garde ma part). Der

Papa (Napoleon) trennt mit dem Ausspruch, die Rechnung nicht ohne den Wirt zu machen (qui

compte sans sa hôte compte deux fois) und einem Säbelhieb Frankreich entlang der Rheinlinie

einschließlich der Niederlande (pays bas) von den Nachbarländern. Die Anspielung auf den na-

poleonischen Familienclan und auf den Versuch der Rückkehr zur Macht durch Napoleon wäh-

rend seiner Hundert-Tage-Herrschaft 1815 ist offensichtlich. In der Bildmitte steht Metternich mit

einer Waage. In der oben befindlichen (leichteren) Waagschale ist der Blutzoll (le prix du sans) in

einer Sprechblase platziert, in der schweren, gut gefüllten unteren Waagschale sind die zu vertei-

lenden Reichtümer angedeutet. Die übrigen vier stehenden Männer symbolisieren die Sieger-

mächte in Wien. Der rechts von Metternich Stehende mit seinem Ausspruch „Ich fürchte die Wie-

dergänger“ (je crains le remont) und der Dokumentenrolle mit der Aufschrift „Polen“ (Pologne)

könnte eventuell der russische Zar Alexander I. sein könnte. Rechts daneben wird vermutlich

Preußen mit seinem Zugriff auf Sachsen (saxe) und dem Spruch „Greifen wir zu!“ (pernons bien

les chose) karikiert. Die ganz rechts stehende Person fasst mit ihren Worten „Die Abwesenden

haben Pech!“ (les absens ent tort) den Geist des Verhandlungen und den Länderschacher in

Wien zusammen, so wie es der Karikaturist sieht.

S. 65, M 3: Urkunden-Deckel der Schlussakte des Wiener Kongresses, 1815

Die Schlussakte des Wiener Kongresses umfasst 121 Artikel. Nach dem Ende der napoleoni-

schen Herrschaft war klar, dass man nicht einfach zu den staatlichen Verhältnissen, wie sie im

Ancien Régime existierten, zurückkehren konnte. Ursprünglich wollten die vier Siegermächte

Großbritannien, Russland, Österreich und Preußen in Wien nur über Gebietsabtrennungen nach

der französischen Niederlage (ohne Beteiligung anderer Staaten) verhandeln. Die Ausweitung

der Beratungen in Wien zu einem allgemeinen Friedenskongress, der für alle kriegsbeteiligten

Mächte zugänglich war, ergab sich nach der Restauration der Bourbonenherrschaft in Frank-

reich. Das Programm des Kongresses wurde durch den Ersten Pariser Friedensvertrag vom 30.

Mai 1814 bestimmt, der ein dauerhaftes Gleichgewichtssystem in Europa einforderte. Auf dem

europäischen Kontinent sollte ein Staatensystem ohne Hegemonialmacht errichtet werden. Da-

raufhin wurde im September 1814 von den vier Großmächten unter Einbeziehung von Frankreich

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und Spanien zunächst ein Sechserausschuss gebildet. Schließlich wurden auch Portugal und

Schweden einbezogen und ein Komitee der Acht etabliert. Dem Verhandlungsgeschick des fran-

zösischen Außenministers Talleyrand war es zuzuschreiben, dass er für Frankreich – als Kriegs-

verlierer – so günstige Bedingungen aushandeln konnte, dass es in seinen Grenzen von 1792

bestehen blieb. Im Zweiten Pariser Frieden vom 20. November 1815 wurden dann die Grenzen

auf den Stand von 1789 revidiert.

S. 66, M 4: Der Deutsche Bund 1815–1866

Auf dem Wiener Kongress wurde Europa im Sinne der vier Siegermächte Großbritannien, Russ-

land, Österreich und Preußen neu geordnet („System Metternich“). Die Absicht war, auf dem

europäischen Kontinent ein Staatensystem ohne Hegemonialmacht zu schaffen. Dieses System

bezeichnete man auch als „Europäisches Konzert der Mächte“ (europäische Pentarchie). Es

schloss neben den vier genannten Siegermächten auch das nachnapoleonische Frankreich ein.

An den unter Napoleon geschaffenen staatlich-territorialen Tatsachen wurde im Deutschen Bund

ebenso wie an der Rangerhöhung einiger deutscher Fürsten durch Napoleon festgehalten. Die

Kleinstaaterei blieb in der dadurch geformten gemäßigten Variante erhalten und es kam nicht zur

Gründung eines deutschen Nationalstaates. Vielmehr wurde der Deutsche Bund als ein Zusam-

menschluss von 39 Einzelstaaten (35 Fürstenstaaten und vier freie Städte) gebildet, die ihre

Souveränität behielten. Österreich und Preußen gehörten nur mit jenen Teilen zum Bund, die

zuvor dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation angehört hatten, d. h. Österreich ohne

Ungarn und Preußen ohne Ost- und Westpreußen.

Die Bundesakte hatte nicht den Rang einer bindenden Verfassung, sondern trug – so die Auffas-

sung Metternichs – eher den Charakter einer Absichtserklärung. Das einzige gemeinsame Organ

des Deutschen Bundes war die Bundesversammlung, die bis 1866 (mit einer zweijährigen Unter-

brechung infolge der Revolution 1848/49) als Gesandtenkongress in Frankfurt am Main tagte.

S. 67, Aufgabe 1

Siehe Visualisierung 2.1 „Ergebnisse des Wiener Kongresses“.

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.1 Ergebnisse des Wiener Kongresses

• territoriale Neuordnung Mitteleuropas nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft

• Rückkehr zur souveränen Fürstenherrschaft (Restauration)

• europäisches Stabilitätssystem (Pentarchie) der fünf Großmächte

(Großbritannien, Russland, Österreich, Preußen und Frankreich)

• „Heiligen Allianz“ Russlands, Österreichs und Preußens zur Abwehr revolutionärer

Bewegungen (später treten alle übrigen europäischen Mächte bei –

außer Großbritannien und der Vatikan)

• Gründung des Deutschen Bundes (statt eines deutschen Nationalstaates)

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.1

S. 67, Aufgabe 2

Siehe die Erläuterungen zu M 4.

S. 67, Aufgabe 3

Die Fähigkeit des europäischen Staatensystems, Krisen zu bewältigen und trotz unterschiedli-

cher Interessen militärische Konflikte in Europa zu vermeiden, funktionierte nach dem Wiener

Kongress im Wesentlichen bis in die Zeit der Revolution von 1848/49. Für die außereuropäischen

kolonialen Auseinandersetzungen und auf dem Balkan galten diese Aussagen nicht. Mögliche

künftige Konfliktfelder zeichneten sich sowohl im Deutschen Bund als auch auf europäischer und

außereuropäischer Ebene ab.

• Im Deutschen Bund:

– Die in den Befreiungskriegen entstandene und bewusst genutzte nationale Begeisterung

führte nach 1815 nicht zur Gründung eines deutschen Nationalstaates und enttäuschte bür-

gerlich-liberale Hoffnungen.

– Der Dualismus zwischen Preußen und Österreich und das Ringen beider Mächte um die

Führungsrolle im Deutschen Bund barg latentes Konfliktpotenzial.

– Das Nebeneinander von Ländern ohne Verfassung, mit landständischer Verfassung und Re-

präsentativverfassung führte zu einem Gefälle zwischen den während der französischen Be-

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setzung modernisierten Staaten im Südwesten und den übrigen Mitgliedern des Deutschen

Bundes.

• Auf europäischer und außereuropäischer Ebene:

– Auf dem Balkan entstanden mit dem Unabhängigkeitskampf der Griechen zunächst gemein-

same Frontstellungen von Großbritannien, Frankreich und Russland gegen das Osmanische

Reich, das in der Seeschlacht bei Navarino 1827 geschlagen wurde. Die siegreichen Mächte

garantierten 1830 die Selbstständigkeit Griechenlands.

– Die Auseinandersetzungen zwischen Frankreich und Großbritannien um Kolonialbesitz und

Einflusszonen in Nordafrika und im Nahen Osten spitzen sich zu.

– Großbritannien ging im 1. Opiumkrieg 1840–1842 gegen China vor und führte 1845/46 einen

Kolonialkrieg gegen die Sikhs in Indien.

S. 67, Aufgabe 4

Siehe „Stabilität der Friedensordnung nach 1815“ im Darstellungstext, S. 67.

S. 68, M 5: Die Wiener Kongress-Akte vom 8. Juni 1815

Mit der Annahme der Wiener Kongress-Akte endete der Wiener Kongress. Eine Fülle territorialer

Veränderungen wurde in der Kongress-Akte fixiert. Dabei belasteten die polnische und die säch-

sische Frage die Wiener Verhandlungen in besonderer Weise. Die Auseinandersetzungen über

die Zukunft Polens und Sachsens gefährdete zeitweise die Allianz erheblich und führten fast zu

einem militärischen Konflikt der vier Siegermächte Großbritannien, Russland, Österreich und

Preußen.

a) Polen

Anknüpfend an die drei polnischen Teilungen (1772, 1793, 1795) wird das Großherzogtum War-

schau zum Königreich Polen (Kongresspolen) unter russischer Herrschaft umgewandelt, Galizien

wird Österreich und das Großherzogtum Posen wird Preußen zugeschlagen. Wage werden den

polnischen „Untertanen von Russland, Österreich und Preußen […] Ständeversammlungen und

nationale Einrichtungen“ (Z. 11 ff.) versprochen, soweit es die jeweiligen „Regierungen […] für

nützlich und zweckmäßig halten“ (Z. 13 f.). Eine von den Polen erhoffte Wiederherstellung natio-

naler Eigenständigkeit ist kategorisch ausgeschlossen. Nur in Krakau und Umgebung wird die

von den drei polnischen Teilungsmächten garantierte Republik Krakau eingerichtet.

b) Sachsen

Die von Napoleon am 20. Dezember 1806 erfolgte Erhebung des sächsischen Kurfürsten zum

König von Sachsen blieb erhalten. Der sächsische König Friedrich August I. musste aber, da er –

anders als andere Rheinbundherrscher – noch in der Völkerschlacht am Bündnis mit Napoleon

festhielt, um seinen Besitz fürchten. Preußen wollte als Strafe und Entschädigung ganz Sachsen

in sein Staatsgebiet eingliedern. Gegen diese Forderung sprachen sich Großbritannien, Öster-

reich und auch Frankreich aus. Der massiven Intervention Metternichs war schließlich der staatli-

che Erhalt Sachsens zuzuschreiben, wenn auch auf weniger als die Hälfte seines Vorkriegsterri-

toriums verkleinert. Preußen erhielt den größeren, nördlichen Teil des Landes. In Artikel 17 wer-

den Österreich, Russland, Großbritannien und Frankreich als Garantiemächte für das an Preu-

ßen gekommene Gebiet genannt.

c) Niederlande

Die alten Vereinigten Provinzen der Niederlande (nördliche Niederlande) und die habsburgisch-

österreichischen Niederlande (südliche Niederlande) sowie einige kleinere Gebiete aus der Kon-

kursmasse des alten Reiches werden zum Königreich der Niederlande vereint. Das 1815 eben-

falls nominell zu einem selbstständigen Großherzogtum gewordene Luxemburg wird in Personal-

union mit dem Königreich der Niederlande vom Herrscherhaus Oranien-Nassau regiert. Es bleibt

aber – anders als das niederländische Königreich – Teil des Deutschen Bundes und in der

Hauptstadt Luxemburg wird eine deutsche Bundesfestung mit preußischer Garnison eingerichtet.

Die niederländische Monarchie und die damit verbundenen Ansprüche des Hauses Oranien-

Nassau werden von den Signatarmächten anerkannt.

d) Schweiz

Die inneren und äußeren Grenzen der Schweiz und ihrer Kantone werden auf dem Wiener Kon-

gress anerkannt und die Zugehörigkeit der neuen Kantone Wallis, Neuenburg und Genf bestätigt.

Gleichzeit verliert die Schweiz die Stadt Mülhausen und im Süden das Veltlin. Den Einwohnern

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des Bistums Basel und der Stadt Biel, die mit den Kantonen Bern und Basel vereinigt werden,

räumt Artikel 77 freie (katholische) Religionsausübung und dieselben politischen Rechte wie den

alteingesessenen Kantonsbewohnern ein. Durch die europäischen Großmächte werden in Wien

die immerwährende bewaffnete Neutralität sowie die Unabhängigkeit von jedem fremden Einfluss

für die Schweizerische Eidgenossenschaft anerkannt.

S. 68, Aufgabe 1

Siehe die Erläuterungen zu M 5 a bis d.

S. 68, Aufgabe 2

Siehe die Erläuterungen zu M 6 und Visualisierung 2.2.

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Territoriale Neuordnung in Europa nach 1815 (Auswahl)

• Personalunion Polens mit Russland

• Krakau und Umgebung wird zur Republik Krakau, garantiert von Russland,

Österreich und Preußen

• Expansion Österreichs in Oberitalien (Königreich Lombardo-Venetien Königreichs

und die Toskana)

• Zusammenschluss der österreichischen Niederlande mit den Vereinigten Provinzen

zum Königreich der Niederlande

• Preußen erhält den nördlichen Teil Sachsens, die Rheinprovinzen und Pommern

• Dänemark muss Norwegen an Schweden abtreten und erhält dafür das Herzogtum

Lauenburg

• Königreich Sardinien-Piemont erhält Savoyen, Piemont und Nizza zurück

und zusätzlich Genua

• Wiederherstellung des Kirchenstaates

• Anerkennung der immerwährenden Neutralität der Schweiz und Eintritt der Kantone Genf,

Neuenburg und Wallis in die Schweizerische Eidgenossenschaft

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S. 68, Aufgabe 3

Die Großmächte von 1815 wollten eine Neuordnung Europas, die sich deutlich von der napoleo-

nischen Herrschaft über den Kontinent unterscheiden sollte. In der politischen Realität nach dem

Wiener Kongress lebte aber vieles der napoleonischen Ära fort. Eine einfache Rückkehr zu den

vorrevolutionären Zuständen war nicht mehr möglich. Vielmehr war die Zeit nach 1815 in Europa

von einer Gemengelage aus restaurativen und modernen Elementen geprägt. So wurden bei-

spielsweise mit den Beschlüssen zur territorialen Neuordnung Europas größere, lebensfähigere

politische Einheiten geschaffen, die den Nationalstaaten des späteren 19. Jahrhunderts in vielen

Fällen entsprachen. Im Deutschen Bund blieb zwar die Kleinstaaterei erhalten, aber im Vergleich

zum alten Reich wurde die Anzahl der Staaten durch die in Wien beschlossenen Säkularisierun-

gen und Mediatisierungen deutlich reduziert. Auch an den Rangerhöhungen einiger deutscher

Fürsten zu Königen durch Napoleon wurde schon aus Eigeninteresse festgehalten.

S. 68, Aufgabe 4

Das von den fünf Großmächten Großbritannien, Russland, Österreich, Preußen und Frankreich

in Wien installierte System des „Europäischen Konzerts der Mächte“ (Pentarchie) funktionierte

als stabilisierender Faktor für etwa 30 Jahre. Es gelang, trotz unterschiedlicher Interessen, militä-

rische Konflikte in Europa weitgehend zu vermeiden. Gleichzeitig wurden revolutionäre Bewe-

gungen in vielen Ländern gebremst, teilweise auch militärisch unterdrückt und damit Modernisie-

rungsprozesse auf dem Kontinent verzögert. Außerhalb Europas lebte dagegen der Kampf um

Kolonien und Einflusszonen fort und dehnte sich sogar aus, wie die Konflikte zwischen Frank-

reich und Großbritannien in Nordafrika und im Nahen Osten zeigten. Schließlich ist die Ausei-

nandersetzung mit dem Osmanischen Reich an den Rändern Europas (in wechselnden Bündnis-

sen mit oder gegen Russland) ein weiteres Beispiel für die Grenzen der Gleichgewichtspolitik.

S. 69, M 6: Mitteleuropa nach dem Wiener Kongress

Die Karte veranschaulicht die staatsrechtlichen Verhältnisse in Mitteleuropa nach dem Wiener

Kongress. In Europa dominierte die monarchische Herrschaftsform, wenn auch in verschiedenen

Ausprägungen. Während in Großbritannien eine parlamentarische Monarchie (minimale Macht

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des Monarchen) existierte, herrschten in Frankreich, den Vereinigten Niederlanden, Schweden

und den süd- und mitteldeutschen Staaten konstitutionelle Monarchien (durch eine Verfassung

begrenzte Macht des Monarchen) in abgestufter Qualität. In Dänemark, Österreich, Preußen, in

einigen deutschen Mittel- und Kleinstaaten sowie in Russland bestanden absolute Monarchien

(alleinige, uneingeschränkte Macht des Monarchen) in unterschiedlicher Ausprägungsform. Nur

in der Schweiz und in der Republik Krakau (bis 1846 ein gemeinsames Protektorat von Russland,

Österreich und Preußen) existierten republikanische Herrschaftsformen.

Während der Erste Pariser Frieden (30. Mai 1814) die Grenzen Frankreichs auf den Stand von

1792 (revidiert durch den zweiten Pariser Frieden vom 20. November 1815 auf den Stand von

1789) festlegte und die Grenzen der süddeutschen Staaten durch Sonderverträge mit Österreich

garantiert wurden, entstanden im Osten schwere Differenzen durch den russischen Anspruch auf

den größten Teil Polens (der Hauptteil des Großherzogtums Warschau – Kongress-Polen – wur-

de auf Kosten Preußens mit Russland vereinigt). Als Entschädigung beanspruchte Preußen ganz

Sachsen, da der sächsische König Friedrich August I. bis zur Völkerschlacht am Bündnis mit

Napoleon festhielt. Gegen diese Forderung sprachen sich Großbritannien, Österreich und auch

Frankreich aus. Sachsen wurde schließlich geteilt. Preußen erhielt den größeren, nördlichen Teil

sowie das Rheinland, Westfalen und Pommern. Österreich verzichtete auf seine alten Besitzun-

gen am Oberrhein und auf die österreichischen Niederlande (die – auf Betreiben Großbritanni-

ens – mit den Vereinigten Provinzen der Niederlande zum Königreich der Vereinigten Niederlan-

de zusammengeschlossen wurden), sicherte sich jedoch mit dem Lombardo-Venezianischen

Königreich die Vorrangstellung in Italien sowie mit Galizien in Osteuropa und mit der Bukowina

im Donauraum entscheidende Positionen.

S. 69, M 7: Die Historiker Hans-Werner Hahn und Helmut Berding über die polnisch-

sächsische Frage, 2010

In der polnisch-sächsischen Frage prallten die Interessengegensätze der vier Großmächte Groß-

britannien, Russland, Österreich, Preußen und des wieder einbezogenen Frankreichs aufeinan-

der. Zentraleuropa stand am Rand eines neuen Krieges und der Erfolg des Wiener Kongresses

war gefährdet. Großbritannien wollte die Westausdehnung Russlands verhindern, dass eine

Integration des Großherzogtums Warschau in das Zarenreich anstrebte. Preußen war bereit, die

russischen Ansprüche auf seine polnischen Teilungsgebiete zu akzeptieren. Als Kompensation

und als Strafe für die Vasallentreue des sächsischen Königs sollte dessen gesamtes Königreich

in das preußische Staatsgebiet eingliedert werden. Die Dreiergruppierung (Großbritannien, Ös-

terreich und Frankreich) stellte sich – wenn auch aus jeweils unterschiedlichen Motiven – gegen

die russischen Pläne. Auf der anderen Seite wollte der preußische König seien guten Beziehun-

gen zum russischen Zaren nicht gefährden und stellte sich gegen das Dreierbündnis. Ein Krieg

wurde schließlich durch einen Kompromiss verhindert:

• Sachsen blieb als Rumpfstaat erhalten, nur sein größerer nördlicher Teil fiel an Preußen.

• Der russische Zar überließ die Stadt Thorn und ihr Umland Preußen.

• Polen wird als Königreich (Kongresspolen) mit Autonomiestatus und in Personalunion mit

Russland verbunden.

Im Februar 1815 war die polnisch-sächsische Frage nach komplizierten Verhandlungen friedlich

geregelt.

S. 69, Aufgabe 1

Siehe die Erläuterungen zu M 7.

S. 70, M 8: Der Historiker Wolf D. Gruner über Ergebnisse und die langfristige Bedeutung

des Wiener Kongresses, 2014

Wolf D. Gruner hebt die „Bereitschaft der europäischen Großmächte zur Konfliktkontrolle, zum

gemeinsamen Krisenmanagement und zum Machtausgleich“ (Z. 8 ff.) als das Kennzeichen für

das „lange 19. Jahrhundert“ hervor. Konkret sei mit dem Wiener Kongress ein neues Völkerrecht

für ein multipolares europäisches Gleichgewichtssystem gesetzt worden. Bedeutungsvoll sei

auch die Einbindung des nachnapoleonischen Frankreichs – des Verlierers von 1814 – in diese

„Wiener Ordnung“. Schließlich erwähnt Gruner die in Wien durchgesetzten Neuerungen in der

internationalen Diplomatie:

• Entscheidungs- und Verantwortungsträger der beteiligten Mächte waren vor Ort und die zu

regelnden Fragen konnten unmittelbar entschieden werden.

• Neue Verhandlungstechniken wurden in Wien praktiziert:

– Es gab informelle bi- und multilaterale Kontakte unterschiedlichster Art.

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– Es wurde in 13 Kommissionen verhandelt.

– Die wichtigsten Entscheidungen wurden durch Vereinbarungen der fünf europäischen Groß-

mächte getroffen.

– Die Beschlüsse der Expertenrunden wurden dem Plenum des Kongresses zur Annahme

vorgelegt.

S. 70, Aufgabe 1

Didaktisch-methodischer Hinweis: Die Schülerinnen und Schüler bestimmen den „sozialkonser-

vativen“ Charakter der Wiener Ordnung als den Versuch der Wiederherstellung der vorrevolutio-

nären Verhältnisse in Europa. Eine vollständige Wiederherstellung des Ancien Régime war aber

weder möglich noch wünschenswert.

S. 70, Aufgabe 2

Siehe die Erläuterungen zu M 6.

S. 70, Zusatzaufgabe 3

Didaktisch-methodischer Hinweis: Die Schülerinnen und Schüler finden für ihre Recherchen zum

Syrien-Konflikt eine gute Zusammenfassung im Informations-Portal zur politischen Bildung.

Linktipp: www.politische-bildung.de/syrien.html (Download vom 1. November 2017)

S. 70 f., M 9: Die Deutsche Bundesakte vom 8. Juni 1815

• Mit der Deutschen Bundesakte wird am 8. Juni 1815 in Wien das Grundgesetz des Deutschen

Bundes unterzeichnet und am 9. Juni 1815 in die Schlussakte des Wiener Kongresses einge-

fügt. Die Bundesakte legt in 20 Artikeln die Grundzüge der neuen staatlichen Organisation

Deutschlands als Teil der europäischen Gleichgewichtsordnung fest. Auf der Basis monarchi-

scher Legitimität wird der Deutsche Bund als lockerer Staatenbund und nicht als bundesstaatli-

cher deutscher Nationalstaat konstituiert. Damit bleiben die demokratischen und nationalen

Vorstellungen vieler Patrioten aus der Zeit der Befreiungskriege unerfüllt. In Artikel 2 der Bun-

desakte wird als einziger „[…] Zweck die Erhaltung der äußeren und inneren Sicherheit

Deutschlands und der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit der einzelnen deutschen Staaten“

(Z. 19 ff.) formuliert, d. h. die Sicherung der Fürstenmacht.

• Folgeregelungen werden in der Schlussakte der Wiener Ministerkonferenzen (eine Ergänzung

der Deutschen Bundesakte) vom 15. Mai 1820 und in der Kriegsverfassung vom 9. April 1821

festgeschrieben.

• Bei seiner Gründung gehören 39 souveräne Staaten – 35 Fürstentümer und vier freie Städte –

zum Bund. Einerseits befinden sich darunter auch Territorien, die ausländischen Königshäu-

sern unterstanden – dem König von Dänemark (Herzogtümer Holstein und Lauenburg), dem

König der Niederlande (Großherzogtum Luxemburg) und dem König von Großbritannien (Kö-

nigreich Hannover). Andererseits gehören Österreich und Preußen dem Bund nicht mit ihrem

gesamten Staatsgebiet an, sondern nur mit ihren Provinzen, die innerhalb der Grenzen des

Deutschen Bundes liegen. Diese beiden Großmächte dominieren den Bund bis zu seiner Auf-

lösung 1866, trotz der in Artikel 3 formal festgeschriebenen gleichen Rechte aller Mitgliedsstaa-

ten.

• Das oberste Bundesorgan ist die Bundesversammlung in Frankfurt am Main, ein permanent

tagender Gesandtenkongress unter österreichischem Vorsitz. Die Bundesversammlung ist für

die äußere und innere Sicherheit Deutschlands zuständig. Sie sollte sich darüber hinaus per-

spektivisch mit bundeseinheitlichen Bestimmungen und Regeln befassen. Wage wird dazu in

Artikel 6 von „gemeinnützige[n] Anordnungen sonstiger Art“ (Z. 39) geschrieben. Die Befugnis-

se der Bundesversammlung sind also weit gefasst und ausbaufähig. Zu einem – auch födera-

len – Staatswesen fehlen dem Deutschen Bund aber ein Staatsoberhaupt, eine Bundesregie-

rung, eine Volksvertretung für das gesamte Bundesterritorium und ein oberstes Bundesgericht.

Die Mitgliedsstaaten bleiben weitgehend souverän und dürfen nach Artikel 11 sogar Bündnisse

mit fremden Staaten abschließen, solange sich diese nicht „gegen die Sicherheit des Bundes

oder einzelner Staaten“ (Z. 78 f.) richten.

• Für eine engere Verbindung zwischen den Mitgliedsstaaten bietet der Deutsche Bund zwar

theoretisch Möglichkeiten, praktisch blockiert er aber diese Wege. Trotz wiederholter Reform-

bemühungen funktioniert der Bund aufgrund der restaurativen Politik Metternichs nur bei der

Unterdrückung nationaler und freiheitlicher Bestrebungen. Der Deutsche Bund bleibt in den 51

Jahren seiner Existenz eine umstrittene Institution.

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Die europäische Friedensordnung des Wiener Systems 2

45

S. 72, Aufgabe 1

Der Historiker Reinhard Rürup schrieb, der Deutsche Bund sei „eine Art fürstlicher Versiche-

rungsverein auf Gegenseitigkeit zur Erhaltung des politischen und gesellschaftlichen Status quo“

[Reinhard Rürup, Deutschland im 19. Jahrhundert 1815–1871, in: Joachim Leuschner (Hrsg.),

Deutsche Geschichte, Bd. 8, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1992, S. 128]. In den 20 Arti-

keln der Bundesakte dominiert die ausführliche Darstellung der Rechte der regierenden Fürsten.

In Artikel 14 wird die herausgehobene, bevorzugte Behandlung der übrigen „Fürstlichen und

gräflichen Häuser“ (Z. 92) nach der Mediatisierung ihrer Herrschaften deutlich, denen als „ers-

te[…] Standesherren in dem Staate, zu dem sie gehören“ (Z. 96 f.) politische und steuerliche

Privilegien zugestanden werden.

Nach Artikel 13 wird „allen Bundesstaaten […] eine Landständige Verfassung“ (Z. 85 f.) unver-

bindlich zugesagt. In Artikel 18 wird den Untertanen aus jedem deutschen Bundestaat der Erwerb

von Grund und Boden in jedem anderen deutschen Bundestaat erlaubt und zwar zu den gleichen

Bedingungen, die für die dortigen Untertanen gelten. Auch ein eingeschränktes Freizügigkeits-

recht innerhalb des Deutschen Bundes wird den Untertanen zugestanden, „jedoch nur insofern

keine Verbindlichkeit zu Militärdiensten gegen das bisherige Vaterland im Wege stehe“

(Z. 116 ff.). Im (nicht abgedruckten) Artikel 19 werden zukünftige Beratungen zu Handels-, Ver-

kehrs- und Schifffahrtsfragen zwischen den Bundesstaaten in Aussicht gestellt.

Von Volkssouveränität ist in der Deutschen Bundesakte keine Rede und das Demokratiedefizit ist

offensichtlich. Diese Feststellung gilt nicht nur im historischen Rückblick, schon seit der Französi-

schen Revolution gehen zeitgenössische Verfassungen weit über die Festlegungen der Bundes-

akte hinaus.

S. 72, Aufgabe 2

Die Bestimmungen der Deutschen Bundesakte waren gewissermaßen die Konkretisierung der

drei Grundsätze des Wiener Kongresses – Restauration, Legitimität und Solidarität – auf die

Verhältnisse im Deutschen Bund nach der Niederlage Napoleons. Es ging vor allem um die Wie-

derherstellung der gesellschaftlichen Bedingungen vor der Französischen Revolution, um die

Durchsetzung des monarchischen Prinzips und um die fürstliche Solidarität gegen nationale,

liberale und demokratische Bewegungen. Eine völlige Rückkehr zum Ancien Régime war aber

nicht mehr möglich. Die regierenden Fürsten im Deutschen Bund und ihr aristokratischer Anhang

mussten nach den Befreiungskriegen Zugeständnisse in Verfassungsfragen, bei den bürgerli-

chen Eigentumsverhältnissen und der Freizügigkeit schon aus Selbsterhaltungstrieb machen.

S. 72, Aufgabe 3

Siehe die Erläuterungen zu M 9 und die Visualisierung 2.3.

VIS

UA

LIS

IER

UN

G 2

.3

Verfassungsrechtliche Bestimmungen der Deutschen Bundesakte

Artikel 1–3 Benennung der Bundesmitglieder, Gleichstellung der Mitglieder des

Bundes, Bündniszweck

Artikel 4–9 Festlegung der Stimmenverteilung in der Versammlung und im Plenum,

Regelung des Vorsitzes (Österreich) und Festlegung des Tagungsortes

(Frankfurt am Main)

Artikel 11 und 13 Nennung der Pflichten der Bundesmitglieder (Garantie der Sicherheit

des Bundes und jedes Mitgliedes, keine Gewaltanwendung gegen-

einander, Versprechen einer „Landständigen Verfassung“)

Artikel 14 privilegierte Rechtsstellung für die seit 1806 mediatisierten Reichstände

(Standesherren)

Artikel 1–3 Benennung der Bundesmitglieder, Gleichstellung der Mitglieder des

Bundes, Bündniszweck

VIS

UA

LIS

IER

UN

G 2

.3

S. 72, M 10: Der Historiker Heinrich August Winkler über den Deutschen Bund, 2000

Zehn Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung und der Einführung des Euro (ab 1. Januar

1999 gesetzliche Buchungswährung) waren für Heinrich August Winkler die Festlegungen des

Wiener Kongresses durchaus auch „als Kampfansage an den deutschen Nationalismus“ (Z. 2 f.)

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2 Die europäische Friedensordnung des Wiener Systems

46

gedacht. Winkler erfasst die zwiespältigen Situationen der alten Mächte auf dem Wiener Kon-

gress, die einerseits in den Versuchen der europaweiten Wiederherstellung des Ancien Régime

bestanden und andererseits sich nicht „über den vielstimmigen Ruf nach einer neuen und wirk-

samen Form von deutscher Einheit“ (Z. 9 f.) hinwegsetzen konnten. Der Kompromiss hieß Deut-

scher Bund mit dem Erhalt der einzelstaatlichen Souveränität, all seinen Interventionsmöglichkei-

ten und den verfassungsrechtlichen Unzulänglichkeiten. Nach Winkler mussten die nationalen,

liberalen und demokratischen Kräfte „vom Ausgang des Wiener Kongresses bitter enttäuscht

sein“ (Z. 34 f.).

S. 72, Aufgabe 1

Heinrich August Winkler stellt die Zwiespältigkeit der Wiener Entscheidungen in den Mittelpunkt.

Den Versuchen der Wiederherstellung des Ancien Régime einerseits und dem Zwang zur An-

passung an die vielfachen Wünsche nach deutscher Einheit und liberalen Verhältnissen anderer-

seits wurde als Kompromisslösung der Deutsche Bund entgegengesetzt. Mit seinen verfassungs-

rechtlichen Unzulänglichkeiten und Demokratiedefiziten war dieser lose Staatenbund eine Ent-

täuschung für die nationalen, liberalen und demokratischen Kräfte in Deutschland.

S. 72 f. M 11: Allianzvertrag zwischen dem russischen Zaren Alexander I., dem Kaiser von

Österreich Franz II. und dem König von Preußen Friedrich Wilhelm III. vom 26. September

1815

Zur Quelle: Im Text werden die Gemeinsamkeiten der drei christlichen Religionen (katholische,

orthodoxe und protestantische Konfession) betont. Der Sieg über Revolution und Napoleon (nur

indirekt benannt) wird letztendlich der „göttliche[n] Vorsehung“ (Z. 4 f.) zugeschrieben und damit

ein neues Zeitalter begründet. Innen- und Außenpolitik der Allianzpartner sollen in einem über-

konfessionellen Ansatz den Geboten der Religion folgen:

• Art. I: Aus religiösen Grundwerten wird die Verpflichtung für jeden beteiligten Herrscher abge-

leitet, „bei jeder Gelegenheit und an jedem Orte Beistand und Hilfe [zu] gewähren“ (Z. 25 ff.).

Diese Unterstützung der monarchischen Standesgenossen wird mit der, ebenfalls religiös be-

gründeten, patriarchalische Rolle des Herrschers verknüpft.

• Art. II: In Abgrenzung zum sich seit der Französischen Revolution ausbreitenden Nationalismus

wird die übernationale Einheit der „christlichen Nation“ (Z. 37 f.) beschworen und die Monar-

chen werden „als Beauftragte der Vorsehung“ (Z. 39) herausgestellt. Gewissermaßen wird da-

mit ein internationalisiertes Gottesgnadentum der drei Herrscher angedeutet.

• Art. III: Die Aufnahme aller europäischen Mächte, die sich zu diesen Grundsätzen bekennen,

wird in diesem Artikel empfohlen.

Zum Hintergrund: Nach dem endgültigen Sieg über Napoleon unterzeichneten am 26. September

1815 in Paris der österreichische Kaiser Franz I. und der preußische König Friedrich Wilhelm III.

eine vom russischen Zar Alexander I. verfasste Erklärung. In diesem Allianzvertrag (Heilige Alli-

anz) verpflichten sich die drei Monarchen, ihre Völker in brüderlicher Verbundenheit wie Famili-

enväter im Auftrag Gottes nach den Grundsätzen der christlichen Religion zu regieren. Der Hei-

ligen Allianz schlossen sich alle europäischen Mächte an – ausgenommen der Papst (er lehnte

das überkonfessionelle Engagement ab) und der König von Großbritannien und Irland. Die Heili-

ge Allianz hatte keine unmittelbare politische Funktion, doch in den nächsten Jahren prägte sie in

Europa die gemeinsame russisch-österreichisch-preußische Politik, die sich auf die Grundsätze

der Heiligen Allianz stützte. Die ursprünglich als religiös-moralischer Bund konzipierte Allianz

wurde von Metternich im Verlauf der Zeit zu einem Staatenverbund im Sinn des Ancien Régime

umgewandelt.

S. 73, Aufgabe 1

Siehe die Erläuterungen zu M 11.

S. 73, Aufgabe 2

Siehe die Erläuterungen zu M 11 und M 12.

S. 73, Aufgabe 3

Großbritannien lehnte den Beitritt zur Heiligen Allianz ab. Zwar stimmte der britische Prinzregent

Georg IV. persönlich der Erklärung zu und trat in seiner Eigenschaft als König von Hannover

auch bei. Das Königreich Großbritannien und Irland blieb der Allianz jedoch fern, weil sie nur ein

Bekenntnis zu abstrakten Grundsätzen, aber keine realen Verpflichtungen enthielte. Hinter dieser

formalen Begründung der Ablehnung standen britische Großmachtinteressen innerhalb und vor

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Die europäische Friedensordnung des Wiener Systems 2

47

allem außerhalb Europas, die mit russischen Großmachtambitionen konkurrierten und später

häufig kollidierten.

S. 73, M 12: „Die Heilige Allianz“ (Bündnis der drei Monarchen Russlands, Österreichs und

Preußens nach dem Sieg über Napoleon I., geschlossen in Paris am 26. September 1815),

Gemälde von Heinrich Olivier, 1815

Zum Bild: Das Gemälde zeigt inmitten gotischer Architektur – ein romantischer Rückgriff auf das

Mittelalter – die drei Herrscher sich die Hände reichend. In der Mitte der Gruppe ist der österrei-

chische Kaiser Franz I. platziert. Zu seiner Rechten (im Bild links von ihm) steht Alexander I. von

Russland. Der Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. (im Bild rechts von Franz I.) ist mit erhobener

Schwurhand zu seiner Linken dargestellt. Die drei Fürsten sind in prächtige, fantasievolle mittelal-

terliche Gewänder und Rüstungen gekleidet. Die Bedeutung des Bildes liegt nicht in der künstle-

rischen Leistung, sondern in dem Versuch, das Fürstenbündnis durch eine allegorische Darstel-

lung zu verherrlichen.

Das Bild gehört zum Bestand der Anhaltischen Gemäldegalerie in Dessau und war bei der Aus-

stellung „Europa in Wien – der Wiener Kongress von 1814/1815“ im Wiener Schloss Belvedere

zu sehen.

Zum Hintergrund: Das 1815 entstandene Gemälde Heinrich Oliviers (1783 in Dessau geboren,

am 3. März 1848 in Berlin gestorben) verherrlicht gleichnishaft die Heilige Allianz. Dieses Fürs-

tenbündnis vereinigte schließlich alle europäischen Mächte mit Ausnahme Großbritanniens, des

Kirchenstaates und der Türkei. Es basierte auf mittelalterlich-christlichen Vorstellungen und sollte

die vom Wiener Kongress fixierten politischen Verhältnisse überkonfessionell absichern. Die

Heilige Allianz entstand 1815 auf Betreiben des russischen Zaren Alexander I., der sich als Welt-

befreier sah.

S. 73, Aufgabe 1

Siehe die Erläuterungen zu M 12.

S. 74, M 13: Der Historiker Golo Mann, 1958

Der Text von Golo Mann entstand vor dem zehnten Jahr der Bundesrepublik. Für ihn begann mit

dem Wiener Kongress eine „Politik der europäischen Kongresse, insofern Metternich sie beein-

flusste, […] [die] einen bewegungsfeindlichen, angstvollen, gehässigen Akzent“ (Z. 12 ff.) besa-

ßen. Die die nachnapoleonische Ordnung in Europa garantierenden Großmächte Großbritannien,

Russland, Österreich, Preußen und auch das besiegte Frankreich verbanden – nach Golo

Mann – einerseits die gegen liberale und nationale Bewegungen gerichteten Absichten. Anderer-

seits formte jede europäische Großmacht „die Prinzipien nach ihren Interessen“ (Z. 34 f.) um und

trug damit letztendlich zum Zerfall des nach 1815 in Wien installierten europäischen Systems bei.

S. 74, M 14: Der Historiker Anselm Doering-Manteuffel, 1991

Anselm Doering-Manteuffel betont den Widerspruch zwischen einer „Vision des totalen Gleich-

gewichts und der Harmonie der Großmächte“ (Z. 21 ff.) in einem in Wien neu geordneten Europa

einerseits und der realpolitischen Interessenlage der europäischen Großmächte andererseits. Auf

der Basis der in Wien formulierten europäischen Rechtsordnung wurden nach 1820 die Macht-

verhältnisse in Europa realpolitisch ausbalanciert, die innenpolitischen und gesellschaftlichen

Verhältnisse in den europäischen Staaten sozial-konservativ stabilisiert und revolutionären Be-

drohungen flexibel begegnet. Diese gemeinsamen Anstrengungen der Großmächte für eine vor

allem in ihren Interessen liegenden Friedenssicherung in Europa musste in den Folgejahren in

Konferenzen und Vereinbarungen immer wieder neu verhandelt werden, funktionierte aber

grundsätzlich für einen längeren Zeitraum im 19. Jahrhundert.

S. 74 f., M 15: Der Historiker Wolf D. Gruner, 2014

Für Wolf D. Gruner gab das sich „ausbildende europäische Konzert der Großmächte als Sicher-

heitsrat“ der nachnapoleonischen europäischen Staatenwelt die notwendige Sicherheit und Stabi-

lität auf dem Weg in die Moderne. Die durch 25 Jahre Revolution und Krieg in Europa unterbro-

chene Industrialisierung konnte nun – so Gruner – durch „[di]e Stabilität des neuen internationa-

len Systems“ (Z. 23] fortgesetzt und intensiviert werden. Für ihn „beförderte [sie] Reformen im

poltisch-sozialen und ökonomischen Bereich“ (Z. 27 f.). Dabei bleibt die Initialzündung der Fran-

zösischen Revolution (z. B. Menschenrechte, Volkssouveränität) und der napoleonischen Epoche

(z. B. Code civil, moderne Staatsverwaltung) unerwähnt. Gruner betont die Bedeutung des Wie-

ner Kongresses für den „Transformationsprozess Europas in die Moderne“ (Z. 33 f.) und erwähnt

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2 Die europäische Friedensordnung des Wiener Systems

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„seine Bedeutung für die Gegenwart und für die Lösung europäischer und internationaler Fragen“

(Z. 42 ff.) bis heute. Damit wird von ihm indirekt die Bedeutung der Französischen Revolution für

Europa (und die Welt) relativiert.

S. 75, Aufgabe 1

Siehe die Erläuterungen zu M 13, M 14 und M 15.

S. 75, Aufgabe 2

Siehe die Erläuterungen zu M 13, M 14 und M 15.

S. 75, Aufgabe 3

Siehe die Erläuterungen zu M 13, M 14 und M 15.

S. 75, Aufgabe 4

Siehe auch die Erläuterungen zu Aufgabe 3, S. 67.

S. 75, M 16: Die Historiker Stella Ghervas und Mark Jarrett zum 200. Jahrestag der

Eröffnung des Wiener Kongresses in der Wochenzeitung „Die Zeit“, 15. September 2014

Beide Historiker konstruieren eine Linie vom Wiener Kongress 1814 über den Ausbruch des

Ersten Weltkrieges 1914 bis zum Ausschluss Russlands aus der G 8-Runde im Gefolge der

Ukraine-Krise. Sie konstatieren dabei gegenwärtig einen Umbruch der „politische[n] Beziehungen

in Europa von einem System der Verhandlungen zu einem der Konfrontation“ (Z. 5 ff.) in sehr

kurzer Zeit. Für Ghervas und Jarrett war das „lange 19. Jahrhundert“ eine „Periode relativer Sta-

bilität in Europa“ (Z. 14 f.). Der Wiener Kongress habe dabei historisch erstmals einen „innovati-

ven Weg zum Frieden: den der internationalen Kooperation“ (Z. 21 f.) beschritten. Dieser Erfah-

rungsschatz sei von den Politikern und Militärs 1914 in den Wind geschlagen worden. Heute

könnten diese Qualitäten von Wien 1814 „als Inspiration dienen“, um die Ukraine-Krise (und

andere Krisen) zu lösen.

S. 75, Aufgabe 1

Didaktisch-methodischer Hinweis: Die Schülerinnen und Schüler finden für ihre Recherchen zum

Ukraine-Konflikt eine gute Zusammenfassung im Dossier „Ukraine-Analysen“ der Bundeszentrale

für politische Bildung.

Linktipp: www.bpb.de/internationales/europa/ukraine (Download vom 1. November 2017)

S. 75, Aufgabe 2

Siehe die Erläuterungen zu M 16.

2.2 Nationalismus und Liberalismus im Vormärz S. 79–93

S. 79, M 1: Burschenschaften ziehen zum Wartburgfest 1817 auf die Wartburg, kolorierter

Stich, 19. Jahrhundert

Zum Bild: Der kolorierte Stich zeigt die in disziplinierter Ordnung in Richtung Wartburg marschie-

renden Burschenschaftler. Auffällig ist das Fehlen von schwarz-rot-goldenen Fahnen und ande-

ren nationalen Symbolen. Nur ein Feuer ist links oben im Bild zu erkennen.

Siehe hierzu auch die Erläuterungen zu M 1: „Studenten mit schwarz-rot-goldenen Fahnen zie-

hen auf die Wartburg zum Wartburgfest, zu dem die Jenaer Urburschenschaft alle deutschen

Studenten eingeladen hatte, 18. Oktober 1817“, im Schülerband, Kapitel 1, S. 12.

S. 80, M 2: M 2 Klemens Fürst von Metternich, Gemälde von Sir Thomas Lawrence,

um 1800, Ausschnitt

Zur Person: Siehe Personenlexikon im Schülerband, S. 624.

S. 80, M 3: Heinrich Heine (1797–1856), Ölgemälde von Moritz Daniel Oppenheim, 1831,

Ausschnitt

Zur Person: Der deutscher Dichter und Publizist Heinrich Heine gehörte in 1830er-Jahren zu

den Jungdeutschen, deren Schriften 1835 auf Grund der Zensurregelungen und des

Press(e)gesetzes nach den Karlsbader Beschlüssen im Deutschen Bund verboten wurden. Hein-

rich Heine ging ins Exil nach Paris.

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Die europäische Friedensordnung des Wiener Systems 2

49

S. 81, M 4: „Die Pressfreiheit“, Radierung, um 1819

Siehe die Erläuterungen über dem Bild.

S. 82, M 5: Zug auf das Hambacher Schloss am 27. Mai 1832, kolorierte Federlithographie,

19. Jahrhundert, Ausschnitt

Zum Bild: Die vorliegende Variante der Darstellung des Hambacher Festes stellt eine frühe und

somit ursprüngliche Wiedergabe dieser Demonstration dar. Die Vielfalt der Festteilnehmer, ihre

nationale Begeisterung und das bunte Treiben sind für den Betrachter gut zu erkennen. Das

Schloss selbst und der in großen Serpentinen nach oben verlaufende Festzug sind demgegen-

über in weite Ferne gerückt. Zahlreiche Buden und Festzelte säumen den Weg. Farblich hervor-

gehoben sind die gold-rot-schwarzen Trikoloren auf der Lithographie. (Die heute festgeschriebe-

ne Farbanordnung in der deutschen Nationalflagge [Schwarz-Rot-Gold] war 1832 noch nicht

offiziell fixiert. So finden sich auf den verschiedenen zeitgenössischen Darstellungen des Ham-

bacher Festes Fahnen in verschiedenen Varianten: Gold-Rot-Schwarz, Rot-Gold-Schwarz und

Schwarz-Rot-Gold.)

Zum Hintergrund: Die Hambacher Schlossruine bei Neustadt an der Hardt (heute: Neustadt an

der Weinstraße) wurde im Jahr 1832 Schauplatz der bislang größten politischen Demonstration,

die auf die Zeit des Vormärz einstimmte. Eigentlich als Gedenkfeier zum Jahrestag der bayeri-

schen Verfassung von 1818 geplant, bekam das Volksfest schnell politischen Charakter und

weitete sich zum politischen Forum aus. Auf dem Schloss hatten sich Menschen aller gesell-

schaftlichen Schichten, vom Bauern bis zum Kleinbürger, vom Handwerker bis zum Studenten,

sowie Vertreter verschiedener liberaler Vereine aus ganz Deutschland versammelt, um gemein-

sam ihrem Unmut kundzutun. Schnell wurden Rufe nach mehr Freiheit, nach Maßnahmen gegen

die herrschende soziale Not sowie einem „einigen deutschen Vaterland“ laut. Die Versammelten

solidarisierten sich auch mit anderen europäischen Freiheitsbewegungen, vor allem mit denen in

Frankreich und Polen. Die erhoffte Wirkung dieser bis zum 1. Juni andauernden friedlichen

Kundgebung blieb jedoch aus. Um möglichen revolutionären Entwicklungen Einhalt zu gebieten,

initiierte Metternich im Deutschen Bund rigorose Repressionsmaßnahmen: Politische Vereine

und Versammlungen wurden in der Folge verboten und die Zensur wurde verschärft. Es kam zu

einer strengen Überwachung verdächtiger Personen und auch die Farben Schwarz-Rot-Gold, die

symbolisch für die Einheit standen, wurden verboten.

S. 83, Aufgabe 1

Didaktisch-methodischer Hinweis: Folgende Aspekte sollten die Schülerinnen und Schüler in ihre

Diskussion über die Rolle des Deutschen Bundes für die politische Entwicklung in Deutschland

einbinden:

• Die friedenssichernde Funktion des Bundes in Deutschland und Europa.

• Die in der Bundesakte angelegten potenziellen Möglichkeiten für bundeseinheitliche Bestim-

mungen und Regeln.

• Das Demokratiedefizit und der restaurative Charakter des Bundes.

• Der Bund war als lockerer Staatenbund und nicht als bundesstaatlicher deutscher National-

staat errichtet.

• Trotz Reformbemühungen funktionierte der Bund aufgrund der restaurativen Politik Metternichs

vor allem bei der Unterdrückung nationaler und freiheitlicher Bestrebungen.

S. 83, Aufgabe 2

Ausgehend von der Aufklärung und den Einflüssen der Amerikanischen und Französischen Re-

volution waren Nationalismus und Liberalismus im frühen 19. Jahrhundert in Deutschland vielfach

miteinander verwoben. Die Schülerinnen und Schüler stellen Übereinstimmungen von Liberalis-

mus und Nationalismus in ihren Forderungen nach politischer Freiheit und nationaler Einheit fest.

Der gemeinsame Nenner bestand also in einem angestrebten deutschen Einheitsstaat, in anti-

feudaler und (teilweise) antiklerikaler Ausrichtung.

Der frühe Liberalismus wollte einen Rechts- und Verfassungsstaat durchsetzen, der sowohl die

Rechte und Freiheiten des Individuums gegen den Staat absicherte als auch den Einzelnen zur

Mitsprache in staatlich-politischen Angelegenheiten befähigte. Dieser Anspruch stellte eine

Kampfansage an die alte, feudal-ständische Ordnung im staatlich zersplitterten Deutschland dar.

Nur im Rahmen eines nationalen Einheitsstaates (in welcher Form auch immer) konnte diese

Zielstellung durchgesetzt werden. Dabei stellte die Idee der Nation durch ihren bürgerlichen

Gleichheitsanspruch, ihren säkularen Charakter und die Anerkennung der Volkssouveränität den

entsprechenden Rahmen her.

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2 Die europäische Friedensordnung des Wiener Systems

50

S. 83, Aufgabe 3

Siehe „Aufbruch und Stagnation im Vormärz“ im Darstellungstext, S. 83.

S. 84, M 6: Kritik der Deutschen Bundesakte durch Freiherr von Stein in einer Denkschrift

für das russische Kabinett, 24. Juni 1815

Mit zwei rhetorischen Fragen leitet Stein seine Textpassage ein, die in die Hauptfrage münden,

ob die Deutschen „in dieser Urkunde Gewähr ihrer bürgerlichen und politischen Freiheit“ (Z. 9 ff.)

entdecken? Stein kritisiert vor allem, dass an die Stelle des untergegangenen Heiligen Römi-

schen Reiches deutscher Nation der lose Zusammenschluss von Gliedstaaten (Staatenbund)

getreten sei, „ohne Haupt, ohne Gerichtshöfe, schwach verbunden für die gemeine Verteidigung“

(Z. 14 ff.), d. h. ohne geeignete Institutionen. Stein befürchtet die politische Zersplitterung Deutsch-

lands durch die übergroße Selbstständigkeit der deutschen Staaten, verstärkt durch politische

Handlungsunfähigkeit des Bundestages infolge des Einstimmigkeitsprinzips. Außerdem kritisierte

er die unzureichenden rechtlichen Absicherungen und fehlenden verbindlichen Regelungen für

den Einzelnen und für die Körperschaften im Deutschen Bund sowie die nicht explizite Erwäh-

nung der Abschaffung der Leibeigenschaft.

Steins Kritik wurde von den Anhängern der nationalen und liberalen Bewegung geteilt, die an die

Stelle eines losen Staatenbundes die Einheit der Nation, zum Teil föderalistisch gedacht, setzen

wollten. Die Argumente des Freiherrn wirken – trotz der scharfsichtigen Kritik – teilweise anti-

quiert, da sie von einer idealistisch-romantischen Verklärung des alten Reiches ausgehen.

S. 84, Aufgabe 1

Siehe die Erläuterungen zu M 6.

S. 84, M 7: Ansprache des Studenten Heinrich Herrmann Riemann auf dem Wartburgfest

1817

Zur Person: Riemann, geboren 1793, gestorben 1872, stammte aus Mecklenburg. Er studierte

protestantische Theologie in Jena. Durch Heinrich Luden beeinflusst, beteiligte er sich an den

Befreiungskriegen und trat 1813 den Lützower Jägern bei. 1815 zählte er zu den Begründern der

Jenaer Burschenschaft. Er war an der Abfassung der „Grundsätze und Beschlüsse des 18. Okto-

ber 1818“ beteiligt. Als Burschenschaftler wurde er verfolgt. 1848 wurde Riemann vom Wahlbe-

zirk Strelitz als Abgeordneter in den ersten demokratischen Landtag von Mecklenburg gewählt.

Er unterstützte die Reichsverfassungskampagne und solidarisierte sich mit der Badischen Revo-

lution. 1871 bekannte er sich zur Reichsgründung.

Zur Quelle: Der vorliegende Auszug der Ansprache ist zweigeteilt. Im ersten Teil (vgl. Z. 1–16)

macht Riemann deutlich, dass die nationalen Erwartungen aus der Zeit der Befreiungskriege

nicht erfüllt worden sind. Die Hoffnungen auf einen deutschen Nationalstaat und auf eine Verfas-

sung wurden enttäuscht. Riemann sieht daher die Gefahr der politischen Resignation (vgl. Z. 9–

16). Im zweiten Teil (vgl. Z. 16–38) appelliert er an seine Zuhörer, den Weg der Resignation nicht

einzuschlagen, sondern sich weiterhin für die einmal bejahten Ziele einzusetzen, insbesondere

dann, wenn sie dereinst im Berufsleben stehen werden (vgl. Z. 19 f.).

Der Nationalismus Riemanns geht von der Vorstellung einer Volksnation aus. Er sieht das deut-

sche Volk in einer gemeinsamen Herkunft, Geschichte und Kultur geeint, denn seine Zuhörer

seien „alle Brüder, alle Söhne eines und desselben Vaterlandes“ (Z. 30 f.). Der Begriff „Volk“ wird

außerdem von ihm in einer politischen Bedeutung verwendet. Das deutsche Volk hätte „schöne

Hoffnungen gefasst“ (Z. 2). Insbesondere die akademische Jugend solle sich politisch betätigen

und auch unter den veränderten Bedingungen an ihren Zielen aus der Zeit der Befreiungskriege

festhalten. Er wendet sich gegen den Absolutismus und tritt ein für „das starke freie Wort“

(Z. 34 f.). Der Nationalismus Riemanns ist politisch noch sehr allgemein gefasst, intendiert aber

Selbstbestimmung des Volkes, Freiheit vom Absolutismus, eine Verfassung, einen deutschen

Nationalstaat. „Volk“ und „Vaterland“ sind die zentralen Begriffe. Zugleich wird der Nationalismus

religiös und moralisch artikuliert. Es geht darum, „Gottes Willen“ (Z. 25) zu erkennen, im „Geist

der Wahrheit und Gerechtigkeit“ (Z. 28 f.) zu handeln. Sein Nationalismus ist jedoch nicht affirma-

tiv, sondern noch offen (vgl. Z. 37–40). Die Rede ist vor dem Hintergrund seiner politischen Tätig-

keit in der Burschenschaft einzuordnen. Hier will er Kontakte zwischen den Universitäten herstel-

len, ihm steht die Arbeit an einem nationalen Programm der Burschenschaften bevor. Seine

Rede ist insofern als Teil eines politischen Selbstfindungs- und Lernprozesses im Rahmen frühli-

beraler Bestrebungen zu verstehen.

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Die europäische Friedensordnung des Wiener Systems 2

51

S. 84, Aufgabe 1

Siehe die Erläuterungen zu M 6 und M 7.

S. 84, Aufgabe 2

Didaktisch-methodischer Hinweis: Eine eindeutige Aufforderung zur Bücherverbrennung (und zur

Auswahl der Titel dabei) ist aus der Rede nicht herzuleiten. Die Rede ist zwar von Emotionen

getragen, die Wortwahl religiös und moralisch emotional aufgeladen. Aber auch Reflexion, Arbeit

an sich selbst und politischer Einsatz werden gefordert. Es geht also um mehr als um Protest,

obwohl noch nicht von einem politischen Programm gesprochen werden kann. Der situative

Zweck der Rede und die Stimmung während des Wartburgfestes muss berücksichtigt werden.

Sie sollte zu politischem Engagement auffordern. Ferner wird – wenn auch unscharf und sehr

allgemein – eine vaterländisch gefärbte, nationalliberale politische Richtung angegeben.

S. 85, M 8: Bücherverbrennung durch Studenten auf dem Wartburgfest, 18. Oktober 1817,

anonymer Holzstich, um 1880

Zum Bild: Der Holzstich zeigt eine Gruppe von Studenten, (erkennbar an ihren Mützen, einer

trägt eine schwarz-rot-goldene Schärpe), die während des Wartburgfestes um ein offenes Feuer

herumstehen. Es werden Gegenstände in die Flammen geworfen, die die alte absolutistische

Ordnung bzw. die napoleonische Herrschaft symbolisieren: ein Buch, ein Perückenkopf mit Perü-

cke, ein Schnürleib, ein Schlag- oder Offiziersstock.

Bei der Bildinterpretation werden die Schülerinnen und Schülern feststellen, dass das Wartburg-

fest nicht nur Auftakt zu einer sich immer mehr ausbreitenden deutschen Einheitsbewegung

bildete, sondern bereits erste Tendenzen zu überzogenem – vor allem antifranzösischem –

Chauvinismus spürbar waren, wie sie in der Bücherverbrennungsszene deutlich zum Ausdruck

kommen.

Zum Hintergrund: Das Wartburgfest vom 18. Oktober 1817 markiert in zweierlei Hinsicht eine

Zäsur in der politischen Kultur des 19. Jahrhunderts. Es handelte sich um den ersten öffentlichen

Festakt, der nicht, wie bis dahin üblich, im Rahmen von dynastischen oder kirchlichen Anlässen

stattfand. Die staatlichen Obrigkeiten verloren ihr Vorrecht auf symbolträchtige, repräsentative

Feierlichkeiten – die Untertanen feierten sich selbst (vgl. auch Hambacher Fest 1832).

Ferner erscheint ein neuartiges Phänomen auf der politischen Bildfläche: die politische Jugend-

bewegung. Den Veranstaltungsort hatte der Großherzog Karl-August von Sachsen-Weimar zur

Verfügung gestellt, wofür er von Metternich als „Altbursche“ beschimpft wurde. Auf der Wartburg

bei Eisenach in Thüringen erschienen 468 Studenten aus Berlin, Erlangen, Gießen, Heidelberg,

Jena, Kiel, Leipzig, Marburg, Rostock, Tübingen und Würzburg. Die Burg, einst Zufluchtsort Mar-

tin Luthers, galt vielen schon damals als nationales Symbol. Die Verbindung von Nationalismus

und Protestantismus unterschied die Burschenschaften des Vormärz von ähnlichen Verbindun-

gen in den europäischen Nachbarstaaten.

Neben dem Code civil wurden während des Wartburgfestes weitere Bücher verbrannt, deren

Autoren oder Inhalte von den Studenten als reaktionär oder antinational eingestuft worden waren,

wie z. B. „Die Geschichte des deutschen Reichs“ von August von Kotzebue, oder Schriften, die

sich gegen die Burschen- und Turnerschaften richteten. Statt der Originale wurden allerdings

entsprechend beschriftete Makulaturen ins Feuer geworfen.

S. 85, M 9: Aus den Karlsbader Beschlüssen 1819

a) Aus dem Universitätsgesetz:

b) Aus dem Pressgesetz:

c) Aus dem Untersuchungsgesetz:

Die autoritäre Zielsetzung der Karlsbader Beschlüsse wird in den Maßnahmen gegen Universitä-

ten und Presse deutlich, freiheitlicher Geist wird unterdrückt. Hauptgegner ist dabei die nationale

Bewegung mit ihrer Kritik am Ancien Régime, die sich vor allem in den Burschenschaften formier-

te.

S. 85, Aufgabe 1

Die Schülerinnen und Schüler formulieren die zentralen Anliegen der Karlsbader Beschlüsse von

1819:

• gegen die Freiheit von Forschung und Lehre gerichtetes Universitätsgesetz und Berufsverbote;

• gegen studentische Verbindungen [Burschenschaften] gerichtetes Universitätsgesetz;

• gegen Pressefreiheit und für Zensurregelungen formuliertes Press(e)gesetz;

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2 Die europäische Friedensordnung des Wiener Systems

52

• Einrichtung einer gemeinsamen „Außerordentlichen Zentral-Untersuchungskommission“ des

deutschen Bundes zur Aufdeckung jeglicher „revolutionärer Umtriebe“ (Z. 8) gegen die beste-

hende Ordnung.

S. 85, Aufgabe 2

Die Festlegungen der Karlsbader Beschlüsse werden von den Schülerinnen und Schülern analy-

siert und als undemokratische und Freiheitsrechte einschränkende Gesetze bewertet.

Politisch wird diese Zeit als Restaurationszeit beschrieben, d. h. als Versuch der Wiederherstel-

lung der alten Zustände vor der Französischen Revolution (Ancien régime). Eine Folge ist der

weitgehende Rückzug vieler Menschen ins Private, eine Entpolitisierung von großen Teilen der

Gesellschaft. In Kunst und Lebensstil wird das Biedermeier in der Zeit zwischen Wiener Kon-

gress und der 1848er-Revolution eine prägende Stilrichtung.

S. 86, M 10: „Der Denker-Club“, Karikatur auf die Unterdrückung der Meinungs- und

Pressefreiheit durch die Karlsbader Beschlüsse von 1819, kolorierte Radierung, um 1825

Zum Bild: Um einen Tisch haben acht professorale Herren in typischer Biedermeier-Kleidung

Platz genommen. Auffällig, das Bild bestimmend, sind die den Männern angelegten Maulkörbe.

Sie haben keine Chance etwas zu sagen, ihnen bleibt nur noch das Denken. Trotz bestimmter

Gesten und Haltungen scheint es zwischen ihnen auch kaum nonverbale Kommunikation zu

geben.

Auf dem rechten Schild sind die Regeln des Denker-Clubs notiert:

„I. Der Präsident eröffnet präcise 8 Uhr die Sitzung.

II. Schweigen ist das erste Gesetz dieser gelehrten Gesellschaft.

III. Auf das kein Mitglied in Versuchung geraten möge, seiner Zunge freyen Lauf zulassen … so

werden beim Eintritt Maulkörbe ausgeteilt.

IV. Der Gegenstand, welcher in jedesmaligen Sitzung durch ein reifes Nachdenken gründlich

erörtert werden soll, befindet sich auf einer Tafel mit großen Buchstaben deutlich geschrieben.“

Über den Köpfen der Männer hängt die in IV. genannte Tafel mit der den Gegenstand der Sit-

zung beschreibenden Aufschrift: „Wichtige Frage welche in heutiger Sitzung bedacht wird: Wie

lange mochte uns das Denken noch erlaubt bleiben?“

Interpretationsansätze: Der Denker-Club steht stellvertretend für die vielen Clubs und Vereine,

die sich in der Restaurationszeit innerhalb des (Bildungs-)Bürgertums etabliert haben: für Ge-

sangs-, Wander-, Schützen- und Turnvereine. Die mit Maulkörben am Sprechen gehinderten

Männer – ergänzt durch die Texttafeln – symbolisieren die mit den Karlsbader Beschlüssen mas-

siv verstärkten Beschränkungen der freien Meinungsäußerung. Die Karikatur kritisiert das auf

Betreiben Metternichs eingeführte Überwachungs- und Zensursystem in den meisten Staaten

des Deutschen Bundes nach 1819. Die auf der Tafel in der Bildmitte formulierte Frage „… Wie

lange mochte uns das Denken noch erlaubt bleiben?“ kann sowohl als Ausdruck pessimistischer

Ausweglosigkeit („Es kommt noch schlimmer!“) als auch als Aufforderung zum schnellen Handeln

gegen die bestehenden Zustände gelesen werden. Die zweite Lesart ist die unwahrscheinliche

Interpretation.

S. 86, Aufgabe 1

Siehe die Erläuterungen zu M 10.

S. 86, M 11: Instruktion Metternichs an den österreichischen Gesandten in der Schweiz,

Baron von Binder, vom 9. Juni 1826

Zur Quelle: Bei einer Instruktion handelt es sich um ein diplomatisches Aktenstück. Metternich

weist damit den Gesandten an, nach den dargelegten Grundsätzen zu handeln. Der Text macht

deutlich, dass Metternich die nationalen Freiheitsbewegungen als Bedrohung der alten Ordnung

wahrnimmt. Dadurch kann er sie nur als „destruktive Kraft“ (Z. 33) ansehen, die es „auszutilgen“

(Z. 33) gilt. Die Folge sind die Etablierung von harten Repressionsmaßnahmen (z. B. Karlsbader

Beschlüsse) und die Etablierung des Systems Metternich im Deutschen Bund.

Zum Hintergrund: Die Schweiz war nach 1815 ein loser Staatenbund, organisiert ähnlich wie der

Deutsche Bund; auch dort sollten die Grundsätze der Restauration zur Geltung kommen und der

Adel der führende Stand bleiben. Auf dem Wiener Kongress wurde allerdings der Grundsatz der

Neutralität von den Großmächten anerkannt und der Schweiz zugestanden. Erst nach 1848 ent-

stand nach kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den katholischen und protestanti-

schen Kantonen der heutige Bundesstaat.

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Die europäische Friedensordnung des Wiener Systems 2

53

Österreich sieht sich nicht nur Problemen im Deutschen Bund gegenüber, sondern seit dem

liberalen Aufstand in Spanien von 1820 auch in Italien. 1825 war es sogar im Zarenreich zum

Dekabristenaufstand gekommen. Daher spricht Metternich die europäische Dimension des Libe-

ralnationalismus im zweiten Teil seiner Instruktion deutlich an.

S. 86, Aufgabe 1

Metternich nimmt die nationalen Freiheitsbewegungen als europäisches Phänomen wahr (vgl.

Z. 25 ff.). Diese unterminieren aus seiner Sicht den Bestand der auf dem Wiener Kongress formu-

lierten restaurativen Prinzipien und machtpolitischen Ordnung. In seiner Perspektive werden sie

sprachlich nur negativ, herabsetzend und diffamierend umschrieben. Als Leitbegriff benutzt er die

Bezeichnung „Übel“. Der zentrale Satz lautet: „Dieses Übel ist der revolutionäre Geist“ (Z. 7 f.).

Um den Leitbegriff gruppiert er ein religiöses Wortfeld wie „unheilvolle Betätigung“, „gottlose

Sekte“, „Unglauben und Freigeisterei“ und ein moralisches wie „tiefe Entsittlichung“, „lichtscheues

Treiben“.

S. 86, Aufgabe 2

Didaktisch-methodischer Hinweis: Beispielsweise können die Schülerinnen und Schüler neben

der Nutzung der Quelle M 9 und der Karikatur M 10 zum Stichwort „Demagogenverfolgung“ re-

cherchieren und damit ihre Mindmap mit weitere Elemente anreichern.

S. 87, M 12: Aus der Rede Philipp Siebenpfeiffers auf dem Hambacher Fest, 1832

Zur Person: Philipp Jakob Siebenpfeiffer (1789–1845) trat nach seinem Studium in Freiburg als

Beamter in österreichische und bayerische Dienste. Von 1818 bis 1830 war er als „Landcommis-

sär“ (nach heutigem Verständnis eine Art Landrat) im rheinbayrisch-pfälzischen Homburg tätig.

Ab 1830 verstärkte er seine kritische journalistische Tätigkeit gegen die wachsenden Missstände

im Land. U. a. griff er in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Rheinbayern“ Probleme des

Landes auf und forderte Reformen, eine Revolution auf friedlichem Weg ohne Waffen. Seine

liberal-demokratischen Äußerungen stießen bei seinem bayerischen Dienstherrn nicht auf Ge-

genliebe. Siebenpfeiffer wurde von seinem Posten abberufen und nach Kaisheim als Zuchthaus-

direktor zwangsversetzt. Er stand mehrfach vor Gericht, saß im Gefängnis ein, floh in die

Schweiz. Dort arbeitete er in Bern bis zu seinem Tod als Professor für Polizeirecht und Staats-

wissenschaften.

Zur Quelle: Siebenpfeiffer gehört zu den Initiatoren und war Hauptredner des Hambacher Festes.

In pathetischem Überschwang formuliert er vor allem folgende Ziele:

• einheitlicher Nationalstaat ohne Binnengrenzen und Zollschranken,

• bürgerliche Freiheiten ohne „feudalistische[…] Gottstatthalterschaft“ (Z. 10 f.).

S. 87, Aufgabe 1

Siebenpfeiffers Intention ist es, die Patrioten zum Kampf für einen demokratischen Nationalstaat

aufzurufen und die restaurativen Kräfte zu stürzen. Als Zukunftsvision strebt er einen National-

staat als wirtschaftliche und politische Einheit an, fordert bürgerliche Freiheiten sowie Friede und

Verständigung unter den (europäischen) Völkern, besonders mit Frankreich (vgl. Z. 31). Sieben-

pfeiffer appelliert wiederholt an das Volk, sich selbst für einen freien deutschen Nationalstaat

einzusetzen und zum Motor der Bewegung zu werden.

S. 87, Aufgabe 2

Der von Siebenpfeiffer vertretene Liberalnationalismus hat eine revolutionäre und emanzipative

Funktion. Seinen Inhalt fasst er am Schluss in die Kurzformel „Vaterland – Volkshoheit – Völker-

bund hoch!“ (Z. 36) zusammen.

S. 87, M 13: M 13 Der Historiker Thomas Brendel zum Hambacher Fest, 2005

Zum Autor: Thomas Brendel, Jahrgang 1974, Dr. phil., studierte Mittlere und Neuere Geschichte,

Politikwissenschaften und Romanistik in Frankfurt am Main und Messina (Italien).

Zum Text: Brendel stellt heraus, dass auf dem Hambacher Fest die Vision von republikanischen

und souveränen Nationalstaaten ergänzt wurde um die Idee eines europäischen Staatenbundes.

S. 87, Aufgabe 1

Diesen Gedanken eines europäischen Staatenbundes können die Schülerinnen und Schüler

sowohl anhand der Rede Siebenpfeiffers als auch mit den Ausführungen Brendels belegen und

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2 Die europäische Friedensordnung des Wiener Systems

54

erläutern. Die internationale und europäische Ausrichtung des Hambacher Festes lässt sich auch

am Spektrum der Teilnehmer aufzeigen.

S. 87, Aufgabe 2

Didaktisch-methodischer Hinweis: Die Schülerinnen und Schüler können besonders folgende

Aspekte beleuchten:

• Die im Rahmen der Europäischen Union erreichten Fortschritte bei der europäischen Integrati-

on, die viel weitergehen, als dies 1832 vorstellbar war.

• Die Konflikte zwischen nationalen Interessen und europäischer Union in der Gegenwart.

S. 87 f., M 14: Aus der Denkschrift des preußischen Finanzministers Friedrich von Motz

zum preußisch-hessischen und bayerisch-württembergischen Zollsystem, 1829

Zur Person: Friedrich Christian Adolf Motz, seit 1780 von Motz (1775–1830) war ein preußischer

Beamter und Staatsmann, der eine fortschrittliche Wirtschafts- und Verwaltungspolitik verfocht.

1825 wurde er vom preußischen König zum Geheimen Staats- und Finanzminister ernannt. Sei-

ne bedeutendste Leistung als preußischer Finanzminister waren die Vorarbeiten für den Deut-

schen Zollverein, dessen Gründung 1834 er nicht mehr erlebte. Sein Wirken stand im Zeichen

Zur Quelle: Motz verstand die zu seinen Lebzeiten schon existierenden Zollvereine als Stationen

auf dem Weg zu einer staatlichen Einigung Deutschlands, wobei er die kleindeutsche Lösung

unter preußischer Hegemonie propagierte. Einen Automatismus vom Zollverein zum einheitlichen

deutschen Nationalstaat gab es aber nicht. Der preußisch dominierte Deutsche Zollverein löste

1834 den Preußisch-Hessischen Zollverein, den Mitteldeutschen Handelsverein und den Süd-

deutschen Zollverein ab.

S. 88, M 15: Zweiter Bundesbeschluss über Maßregeln zur Aufrechterhaltung der

gesetzlichen Ruhe und Ordnung im Deutsche Bunde, 1832

Vor dem Hintergrund der revolutionären Ereignisse im Jahr 1830 (Pariser Julirevolution, polni-

schen Novemberaufstand, revolutionärer Aufstand in Belgien) war es auch in mehreren deut-

schen Städten zu Erhebungen und Auseinandersetzungen gekommen. Schließlich stellte das

Hambacher Fest Ende Mai 1832 einen Höhepunkt der liberalen und nationalen Bewegung in

Deutschland dar. Die restaurativen Kräfte im Deutschen Bund reagierten darauf mit dem zweiten

Bundesbeschluss und verstärkten die Repressionen.

• In Art. 1 wird die Einfuhr deutschsprachiger Presseerzeugnisse in das Gebiet eines jeglichen

Staates des Deutschen Bundes von der ausdrücklichen Genehmigung durch die jeweilige Re-

gierung abhängig gemacht und die Übertretung dieses Verbots soll geahndet werden.

• In Art. 2 werden sämtliche politischen Vereine in allen Staaten des Bundes verboten und die

Bestrafung der Organisatoren und Teilnehmer angedroht.

• In Art. 3 werden „[a]ußerordentliche Volksversammlungen und Volksfeste“ (Z. 21) an strenge

Auflagen geknüpft und sind von staatlichen Behörden zu genehmigen. Auch hier erfolgt Straf-

androhung bei Zuwiderhandlungen.

S. 88, M 16: Protestschreiben der Göttinger Sieben, 1837

Zum Hintergrund: Nach langwierigen Verhandlungen trat 1833 im Königtum Hannover eine Ver-

fassung, das „Staatsgrundgesetz“, in Kraft. Der Göttinger Professor Christoph Friedrich Dahl-

mann, Staatsrechtler und Historiker, hatte an der Ausarbeitung dieses Grundgesetztes mitge-

wirkt. Hannover gehörte mit dieser Verfassung zur Gruppe der vergleichsweise liberalen konstitu-

tionellen Staaten des Deutschen Bundes. Am 5. Juli 1837 hob der gerade inthronisierte König

Ernst August I. von Hannover die seit 1833 gültige Verfassung auf. Auf diesen Beschluss reagier-

ten sieben Professoren der Universität Göttingen am 18. November 1837 mit einem Protest-

schreiben. In diesem Text äußerten die Gelehrten, dass sie sich weiterhin an ihren Eid auf die

1833er-Verfassung gebunden fühlten. Sie leisteten damit offenen Widerstand gegen eine autori-

täre Herrscherentscheidung und forderten die Rücknahme der Verfügung. Der König reagierte

auf das öffentliche Bekenntnis der Professoren mit deren Entlassung im Dezember 1837 aus

dem Staatsdienst. Obwohl die Aufhebung der Verfassung von 1833 und die Entlassung der „Göt-

tinger Sieben“ in großen Teilen der deutschen und europäischen Presse Empörung auslöste,

blieb ein politisches Aufbegehren der Bevölkerung im Königreich Hannover aus.

Zu den „Göttinger Sieben“ gehörten der Staatsrechtler Wilhelm Eduard Albrecht, der Historiker

Friedrich Christoph Dahlmann, der Orientalist Heinrich Ewald, der Literaturhistoriker Georg Gott-

fried Gervinus, die Germanisten Jacob und Wilhelm Grimm und der Physiker Wilhelm Eduard

Weber.

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Die europäische Friedensordnung des Wiener Systems 2

55

S. 88, Aufgabe 1

Siehe die Erläuterungen zu M 14, M 15 und M 16.

S. 89, Aufgabe 2

Didaktisch-methodischer Hinweis: Die Schülerinnen und Schüler sollten in ihrer Diskussion auch

auf das ambivalente Verhältnis zwischen staatlichen Repressivmaßnahmen (M 14 und M 16) und

Maßnahmen der wirtschaftlichen Modernisierung (M 14) eingehen. Dabei könnte beispielsweise

auf das Problem der Investitionen großer multinationaler Unternehmen in den armen und ärms-

ten Ländern einerseits und den Einschränkungen der individuellen Freiheitsrechte und kollektiven

Sozialrechte in diesen Ländern durch autoritäre Regime andererseits verwiesen werden.

S. 89, Aufgabe 3

Siehe die Erläuterungen zu M 14.

S. 89, M 17: Der Philologieprofessor Karl Biedermann in einem Zeitschriftenartikel über die

Entwicklung des Nationalismus in Deutschland, 1842

Karl Biedermann hebt neben den bereits in den deutschen Staaten erreichten Stand der Wis-

senschaft die Rolle des Deutschen Zollvereins „zur Verschmelzung der Interessen Preußens

mit denen des übrigen Deutschland“ (Z. 35 f.) hervor. Seine deutlich propreußische Haltung führt

ihn zu der Aussage, dass der Liberalismus endlich erkannt habe, „dass die politische Freiheit

nicht Zweck, sondern Mittel sei“ (Z. 41 ff.). Primär sei die erfolgreiche „industrielle […] und kom-

merzielle[…] Tätigkeit“ (Z. 45 f.). Aus dieser werde sich – unter Ausnutzung der vorhanden politi-

schen Institutionen – später die Freiheit und eine liberale Ordnung entwickeln. Biedermann greift

damit faktisch der späteren nationalliberalen Position „erst Einheit – dann Freiheit“ mit seinen am

Primat der ökonomischen Verhältnisse ausgerichteten Äußerungen vor.

S. 89, Aufgabe 1

Siehe die Erläuterungen zu M 17.

S. 89, Aufgabe 2

Siehe die Erläuterungen zu M 17.

S. 89, Aufgabe 3

Siehe die Erläuterungen zu M 17.

S. 89, M 18: Volksunruhen in Deutschland 1816−1847

Siehe die Erläuterungen zu Aufgabe 1.

S. 89, Aufgabe 1

In der Übersicht zeigt sich eine deutliche Zunahme der sozialökonomisch determinierten Unruhen

zwischen 1840 und 1847. Sie sind Ausdruck der expandierenden gewerblichen Verhältnisse und

der sich immer stärker abzeichnenden „sozialen Frage“. Dagegen haben studentische und religi-

ös motivierte Unruhen abgenommen. Die politischen Volksunruhen sind nach ihrem Höhepunkt in

den 1830er-Jahren etwa auf die Hälfte zurückgegangen. Sicherlich muss bei diesen Zahlen von

vielen „gemischten“ Volksunruhen ausgegangen werden, da häufig Motive und Beteiligte nicht

eindeutig zuzuordnen sind. Auch die Veränderungen der gesellschaftlichen und politischen Rah-

menbedingungen sind zu berücksichtigen.

S. 90, M 19: Demonstration auf dem Roßplatz in Leipzig in der Nacht vom 12. auf den

13. August 1845, Zeichnung nach zeitgenössischer Vorlage, 1948

Zum Hintergrund: Am 12. August 1845 besucht Prinz Johann, der Bruder des sächsischen Kö-

nigs, Leipzig. Johann ist bei den protestantischen und papstkritischen Leipzigern unbeliebt. Er gilt

als ein katholischer Scharfmacher. Leipziger Bürger versammeln sich am Abend vor dem Hotel

des Prinzen, aufrührerische Lieder ertönen, Steine fliegen gegen die Fenster. Das Militär wird

herangeführt die Soldaten feuern in die Menge, es gibt Tote und Verletzte Zivilisten. Am nächsten

Tag eilen mehrere Tausend Leipziger zu einer Kundgebung am Schützenhaus. Der Ruf nach

Rache ertönt, eine Revolte liegt in der Luft. Am Nachmittag des 13. Augusts trifft Robert Blum in

Leipzig ein. Begeistert wird er empfangen. Er mahnt die aufgebrachten Demonstranten, den

Boden des Gesetzes nicht zu verlassen. Erfolgreich bittet Blum die Menschen, schweigend zum

Marktplatz zu ziehen. Die Menschenmenge versammelt sich still vor dem Rathaus. An der Spitze

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2 Die europäische Friedensordnung des Wiener Systems

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einer Delegation stellt Blum seine Forderungen: Eine Untersuchungskommission soll eingesetzt

und die Führung der Garnison ausgetauscht werden. Für ein paar Tage ist er jetzt Herr der Stadt.

Täglich trifft man sich im Schützenhaus, Blum organisiert die Volksversammlungen. Er hat be-

wiesen, dass die Opposition vernünftig bleibt und kein Chaos stiftet, wie es die Wortführer der

Reaktion behaupten. Ein gewaltiger Imagegewinn für die freiheitliche Bewegung. Bei den Kom-

munalwahlen im selben Jahr erhält Blum die meisten Stimmen und wird Stadtverordneter. Er sitzt

nun zwischen Leipzigs Verlegern, Kaufleuten, Ärzten und Professoren, den Honoratioren der

Stadt.

S. 90, Aufgabe 1

Siehe die Erläuterungen zu M 19.

S. 90, M 20: „Lesekabinett“, Ölgemälde von Heinrich Lukas Arnold, um 1840

Lukas Arnold zeigt eine Gruppe eifrig lesender Männer, die sich in einer Stube getroffen haben.

Der Hausherr – als Einziger ist er, links im Bild, mit Hausrock bekleidet – ist ebenso in die Lektü-

re vertieft wie seine zahlreichen Gäste. Der Lesestoff scheint vielfältig zu sein. Doch erweckt die

Herrenrunde nicht den Eindruck, politisch aktiv werden zu wollen. Sie erscheint hier mehr wie

eine Karikatur von Vertretern der Maxime „Ruhe und Ordnung“ aus der Biedermeierzeit, als dass

man von ihr Protest oder gar Revolte erwarten könnte.

Zit. nach Linktipp: www.dhm.de/lemo/bestand/objekt/k1000389 (Download vom 1. November 2017)

S. 90, Aufgabe 1

Siehe die Erläuterungen zu M 20 und den Text in der Marginalspalte.

S. 91, M 21: Die Historiker Hans-Werner Hahn und Helmut Berding über Wandel und

Beharrung im Vormärz, 2009

Beide Historiker setzen sich mit unterschiedlichen Sichtweisen auf den Vormärz, den gesamten

Zeitraum von 1815 bis 1848, auseinander. Weder eine Entwicklung in Richtung Revolutionsau-

tomatismus noch der Begriff „Biedermeier“, der die statischen Elemente der Restaurationszeit

überzeichnet, werden der Epoche gerecht, obwohl ständische und traditionelle Elemente in vielen

Regionen und Bevölkerungsgruppen noch präsent sind. Unverkennbar vollzieht sich aber durch

die rasche Industrialisierung in vielen deutschen Territorien wirtschaftlicher Wandel und die „noch

vorhandene[n] ständische[n] Gesellschaftsstrukturen“ (Z. 19 f.) erodieren. Diese Veränderungen

der sozialökonomischen Verhältnisse verstärkten die nationalliberale Bewegung. Die Orientie-

rung auf die nationalstaatliche Einigung in Deutschland war der Erkenntnis geschuldet, dass

Freiheit und Demokratie eine gesamtstaatliche Klammer benötigen und wurde außerdem durch

die anwachsenden Nationalbewegungen in ganz Europa vorangetrieben.

Entscheidend für Hahn und Berding war aber, dass im Vormärz „Tradition und Moderne […]

vielfältige Verbindungen“ (Z. 65 f.) eingingen. Dabei kam es einerseits zu mannigfaltigen „Misch-

formen“ von überkommenen und modernen Freiheits- und Politikvorstellungen im deutschen

Liberalismus und andererseits bedienten sich die konservativen Gegner von Freiheit und Einheit

moderner Formen und Mittel der Propagierung ihrer politischen Vorstellungen.

S. 91, Aufgabe 1

Siehe die Erläuterungen zu M 21.

S. 91, Aufgabe 2

Siehe die Erläuterungen zu M 21.

S. 91, Aufgabe 3

Siehe die Erläuterungen zu M 21.

S. 91, Aufgabe 4

Didaktisch-methodischer Hinweis: Die Schülerinnen und Schüler sollten bei ihrer Bewertung

berücksichtigen, dass in diesen Jahren eine „Agrarrevolution“, die „Industrielle Revolution“, eine

„Verkehrsrevolution“ und auch eine „Leserevolution“ die deutsche Gesellschaft erfassten und

daneben die Repressionen der Restaurationszeit wirkten. Im Vormärz bereiteten sich teilweise

die bis in die Gegenwart wirkenden rechtlichen und gesellschaftlichen Strukturen, politischen

Ordnungen und kulturellen Erfahrungsmuster vor.

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Die europäische Friedensordnung des Wiener Systems 2

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Kompetenzen überprüfen Anwendungsaufgabe: Interpretation einer fachwissenschaftlichen Darstellung mit gegliederter Aufgabenstellung S. 92/93

S. 92, M 1: Der Historiker Thomas Nipperdey über Restauration und Vormärz, 1983

Siehe die Erläuterungen zu Aufgabe 1 bis 3.

S. 92, Aufgabe 1

• Die Restrauration im Vormärz war nicht allumfassend:

– da in den Führungsriegen der deutschen Staatenunterschiedliche Meinungen herrschten;

– die Interessenlage der deutschen Staaten unterschiedliche war;

– die Stärke des Deutschen Bundes wie seiner Einzelstaaten war begrenzt.

• Die Restrauration im Vormärz war aber die bestimmende Tendenz:

– Obrigkeits- und Beamtenstaat herrschten vor;

– allgemeine Kontrolle und zuweilen ein Polizeiregime waren bestimmend;

– es herrschte – verallgemeinert – ein System der Repression.

• Hauptfolgen dieser Repression waren:

– Rückzug ins Innerliche, ins Biedermeierlich-Philiströse, in die „Gemütlichkeit“;

– ein anderer Ausweg führte in Kunstreligion, Wissenschaft, ins Reich des Gedankens, ins

Apolitische;

– Nichtanpassungswillige zogen sich in Untergrund und Protest zurück

S. 92, Aufgabe 2

Für Nipperdey habe das Repressionssystem im Vormärz „die natürlichen politischen und sozialen

Spannungen immer wieder verschärft“ (Z. 49 f.) und damit natürliche „Ventile“ zum Abbau der

Spannungen beseitigt bzw. verstopft. Damit sei auch die „Theoriesucht der Deutschen“ (Z. 37)

bestärkt und „pragmatische[…] Elemente innerhalb der deutschen politischen Kultur“ (Z. 50 f.)

gehemmt worden.

S. 92, Aufgabe 3

Didaktisch-methodischer Hinweis: Die Schülerinnen und Schüler sollten bei ihrem Vergleich

neben den übereinstimmenden Positionen (sowohl Hahn/Berding als auch Nipperdey betonen

die Ambivalenzen im Vormärz) auch die abweichenden Auffassungen (Hahn/Berding heben die

rasche Industrialisierung und den sozialökonomischen Wandel hervor, Nipperdey weist beson-

ders auf die Theorielastigkeit und die fehlenden pragmatischen Elemente innerhalb der deut-

schen politischen Kultur hin) einbeziehen.

S. 92, M 2: „Der Anti-Zeitgeist“ von Johann Michael Voltz, kolorierte Radierung, 1819

Zu Bild und Deutung: Als störrischer Esel dargestellt, hat der Adel die Zeichen der Zeit nicht

verstanden und beharrt auf seinen überlebten Positionen. Volz illustriert seine Botschaft mit ver-

schiedenen Elementen: Auf der rechten Hand trägt der aristokratische „Esel“ einen Falken, ein

Symbol für die aufwendige, prestigeträchtige Beizjagd des Adels. Er „reitet“ auf einem als Ste-

ckenpferd ausgearbeiteten Stammbaum, der auf „Adam“ zurückgeführt wird. Gleichzeitig miss-

achtet er die Aufklärung, versinnbildlicht durch die fallende Kerze und die aufgehende (unterge-

hende?) Sonne am Horizont. Außerdem tritt er die Errungenschaften der Französischen Revolu-

tion, symbolisiert durch die Phrygischen Mützen, mit Füßen. Geschöpfe der Nacht umkreisen den

„Esel“. Seit dem Mittelalter stehen in der europäischen Mythologie Eulen für „Hexenvögel“ und

gelten als Unglücksboten. Fledermäuse sind seit der Antike in Europa vorwiegend negativ be-

setzt und werden in der Bibel mit düsteren Eigenschaften belegt und zu den unreinen Tieren

gezählt. In der bildenden Kunst werden häufig dämonische Wesen mit Fledermausflügeln darge-

stellt. Fledermäuse werden außerdem mit dem Tod assoziiert und sind mit den europäischen

Vampirsagen verknüpft. Am Boden bewegen sich eine Kröte, Symbol für Unreinheit und schwar-

zer Magie, und eine Eidechse oder ein Salamander.

S. 92, Aufgabe 1

Siehe die Erläuterungen zu M 2.

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S. 93, M 3: „Die Freiheit führt das Volk“, Ölgemälde von Eugène Delacroix, 1830

Zu Bild und Künstler: Das Bild zeigt eine allegorische Darstellung der Freiheit. La Liberté ist als

barbusige und barfüßige Kämpferin, von hellem Licht umgeben, dargestellt. In ihrer linken Hand

hält sie ein Gewehr, in der erhobenen rechten Hand die Trikolore – die von den Bourbonen nach

1814 verbotene Flagge der Revolution. Als entschlossene Anführerin stürmt sie einer mit Geweh-

ren, Pistolen und Säbeln bewaffneten Menschenmenge voran. Im Vordergrund liegen zwei getö-

tete Revolutionäre, ein am Boden kniender, wahrscheinlich verletzter Junge schaut zu ihr auf.

Der Hintergrund des Bildes ist vom Widerschein des Feuers, von Rauch und dunklen Wolken

bestimmt. Links im Bild (rechts von La Liberté) ist ein Mann mit einem Zylinder, mit beiden Hän-

den ein Gewehr haltend, zu erkennen. In dieser Figur stellt sich der Maler selbst dar.

Mit diesem Ölgemälde von beträchtlichem Ausmaß (260 x 325 cm, Louvre/Paris) schuf Eugène

Delacroix (1798–1863) eines der bekanntesten Revolutionsbilder der Historienmalerei. Der Maler

hielt sich zur Zeit der Juli-Revolution von 1830 zwar in Paris auf, nahm aber an den Barrikaden-

kämpfen nicht teil. Fälschlicherweise wird das Gemälde häufig mit den revolutionären Ereignis-

sen vom 14. Juli 1789 in Verbindung gebracht.

Hintergrund: Das Gemälde greift Ereignisse vom 28. Juli 1830 in Paris auf. Die Revolutionäre

besetzten das Pariser Rathaus und hissten auf einem Turm der Kathedrale Notre Dame die Tri-

kolore. Entscheidend war aber an diesem zweiten Tag der Juli-Revolution der Sturz König Karl X.

Als zweiter Bourbonenkönig herrschte er in der Restaurationszeit seit 1824.

Interpretationskompetenz

S. 93, Aufgabe 1

Didaktisch-methodischer Hinweis: Bei ihrer Erläuterung des Nebeneinanders und des Zusam-

menspiels von reaktionären und fortschrittlichen Entwicklungen in Deutschland zwischen 1815

und 1848 können die Schülerinnen und Schüler von Hahn und Berdings These ausgehen, dass

im Vormärz Tradition und Moderne vielfältige Verbindungen eingingen. Konkret können sie bei-

spielsweise die „Bauernbefreiung“, die „Industrielle Revolution“, die „Verkehrsrevolution“ und die

„Leserevolution“ in der deutschen Gesellschaft mit den Repressionen der Restaurationszeit in

Beziehung setzen.

S. 93, Aufgabe 2

Siehe die Erläuterungen zu M 3.

Narrative Kompetenz

S. 93, Aufgabe 3

Didaktisch-methodischer Hinweis: Der Artikel für eine fiktive liberale deutsche Zeitung des

19. Jahrhunderts könnte beispielsweise eine Verbindung zwischen der französischen Julirevolu-

tion 1830 und dem Hambacher Fest Ende Mai 1832 herstellen. Dabei sollte der Schreiber auf die

dort gehaltenen frankreich- und polenfreundlichen Reden besonders eingehen. Als konservativen

Leserbrief dazu könnte ein Text entstehen, der die von Metternich nach dem Hambacher Fest im

Deutschen Bund eingeleiteten Repressionsmaßnahmen aufgreift: Verbot politischer Vereine,

Versammlungen und auch der Farben Schwarz-Rot-Gold, Verschärfung der Zensur.

Geschichtskulturelle Kompetenz

S. 93, Aufgabe 4

Didaktisch-methodischer Hinweis: Am Beispiel der Auseinandersetzung mit der These vom so-

genannten „deutschen Sonderweg“ können die Schülerinnen und Schüler recherchieren und

Stellung nehmen. Beispielsweise finden sie auf den Seiten der Bundeszentrale für politische

Bildung zum „deutschen Sonderweg“ materialreiche Informationen und Zusammenhänge.

Linktipp: www.bpb.de/apuz/202981/bismarck-und-das-problem-eines-deutschen-sonderwegs?

(Download vom 1. November 2017)