Museumsblätter
Mitteilungen des
Museumsverbandes Brandenburg
Spurensicherungen: Zeitgeschichte zum Mitmachen
Partizipation der Mitlebenden
Jenseits der Gegenstände
Projekt „Spurensicherung 1945“
Generationen im Dialog
Dezember 2015 27
Autorinnen und Autoren
Dr. Jürgen Danyel Stellv. Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam
Thomas Drewing Geschichts- und Heimatverein Gusow-Platkow e. V.
Julia Dilger Sammlungsleiterin des Museums Neukölln
Bianca Ely Anne Frank Zentrum Berlin
Dietmar Fuhrmann Referent in der Geschäftsstelle des Museumsverbandes des Landes Brandenburg e. V.
Dr. Georg Goes Museumsleiter Museum Baruther Glashütte
Anke Grodon Museumsleiterin Stadtmuseum Schwedt/Oder
Roman Guski Projektkoordinator im Projekt „Spurensicherung 1945“
Beatrice Häusler Kleist-Museum Frankfurt (Oder)
Dr. Christian Hirte Kurator und Museumsberater, Berlin
Alexis Hyman Wolff freie Kuratorin und Museologin, Berlin
Hans-Peter Jakobson Kurator und Publizist, Gera
Anette Klumb Friedensscheune e. V.
Dr. Susanne Köstering Geschäftsführerin des Museumsverbandes des Landes Brandenburg e. V.
Christine Matt Jugend Museum Berlin-Schöneberg
Leontine Meijer-van Mensch Stellv. Direktorin des Museums Europäischer Kulturen in Berlin
Karin Melzer Leiterin des Referats 33 (Museen, Denkmalschutz und Denkmalpflege, Erinnerungskultur)
im Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg
Astrid Peters Bildungs-und Begegnungsstätte Halbe
Katja Rosenbaum Museumsleiterin Stadt- und Brauereimuseum Pritzwalk
Alexander Sachse Referent in der Geschäftsstelle des Museumsverbandes des Landes Brandenburg e. V.
Claudia Schlaier Projektmitarbeiterin im Projekt „Spurensicherung 1945“
Wolf-Heinrich von Wolzogen Potsdam
Bildnachweis
Titelbild, S. 4, 32, 33, 35, 71 Museumsverband des Landes Brandenburg e. V. (Foto: Lorenz Kienzle)
S. 6 Museumsverband des Landes Brandenburg e. V. (Foto: Alexander Sachse)
S. 8 DHM (Foto: Thomas Bruns)
S. 16 Peter van Mensch, Berlin
S. 19 Wilma Wesselink, Amsterdam
S. 22, 24–26 Alexis Hyman Wolff
S. 23 Märkischer Markt, Redaktion Bernau
S. 28 o. li., 29 li. Museumsverband Brandenburg (Foto: Christian Rasemann)
S. 28 u. li, re. Museumsverband Brandenburg (Foto: Roman Guski)
S. 29 re. Museumsverband Brandenburg (Foto: Martin Bock)
S. 36, 39 Anne Frank Zentrum
S. 40, 42, 43, 45 Jugend Museum Berlin-Schöneberg
S. 46 historisches museum frankfurt (Foto: Petra Welzel)
S. 48 historisches museum frankfurt (Foto: Uwe Dettmar)
S. 49 Stefanie Kösling
S. 50, 51 Museum Neukölln (Foto: Friedhelm Hoffmann)
S. 53 Museum Neukölln
S. 54 Stadt- und Regionalmuseum Perleberg
S. 55 Beate Vogel, Märkische Allgemeine Zeitung
S. 56 Friedensscheune e. V.
S. 57 Patrick Pleul
S. 58 Museum Platkow
S. 59 Astrid Peters, Halbe
S. 60–61 Stadtmuseum Schwedt
S. 62 Christian Hirte
S. 63 li., u. re. TMB Fotoarchiv Steffen Lehmann
S. 63 o. re. Landkreis Elbe-Elster(Foto: Kai Hüttner)
S. 64 re., 65 Förderverein Ofen- und Keramikmuseum Velten e. V.
S. 64 li. Stadt Velten
S. 66 Spreewald-Museum Lübbenau (Foto: Dietmar Fuhrmann)
Inhalt
Inhalt 5
Forum
Spurensicherungen: Zeitgeschichte zum Mitmachen
6 „Grabe, wo du stehst.“
Grußwort zur Herbsttagung des Museums-
verbandes im Potsdam Museum
Karin Melzer
8 Partizipation der Mitlebenden
als Herausforderung
Zeitgeschichte im Mitmachmuseum
Jürgen Danyel
16 Zeitgeschichte zum Mitmachen
Oder: wie wäre es, wenn alle ihre einstige
Gegenwart mitsammeln?
Leontine Meijer-van Mensch
22 Jenseits der Gegenstände
Ein Museum im Kantorhaus Bernau
Alexis Hyman Wolff
28 Projekt „Spurensicherung 1945“
Ansatz, Arbeitsschritte, Ausstellung
Roman Guski, Claudia Schlaier
36 Generationen im Dialog über Geschichte
Ein Projekt des Anne Frank Zentrums
Bianca Ely
40 HEIMAT BERLIN. Migrationsgeschichte
für Kinder
Ein Modellprojekt des Jugend Museums
Schöneberg
Christine Matt
46 Die Bibliothek der Alten
Ein Projekt am Historischen Museum
Frankfurt am Main
Wolf-Heinrich von Wolzogen
50 Eins von 99
Der Grabstein für Lucie als Beispiel
der Sammlungs- und Ausstellungspraxis
im Museum Neukölln
Julia Dilger
Fundus
54 Portrait
57 Schon gesehen?
66 Schatztruhe
68 Lesestoff
40 Forum Spurensicherungen
Gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen auf eine stadtgeschichtliche und alltagskulturelle Forschungsreise gehen, nach Orten, Dingen und Menschen suchen, die von Ein- und Auswanderung und dem Alltag von Berlinern und Berlinerinnen erzählen und lokale Migrationsgeschichte(n) multiperspektivisch als gemein-same Erzählung gestalten – das war Ziel und Gegen-stand des Modellprojekts „HEIMAT Berlin. Migrations-geschichte für Kinder“, das von 2011 bis 2014 am Jugend Museum in Berlin-Schöneberg durchgeführt wurde und an dessen Ende die Neukonzeptionierung der bereits bestehenden interkulturellen Ausstellung „Villa Global“ stand.
Das Jugend Museum ist ein Geschichtsmuseum, das sich der Auseinandersetzung mit lokaler Stadt ge-schichte, aber auch mit aktuellen Themen – zu denen seit Beginn auch das Thema Migration zählte – widmet. Die Idee zu seiner Gründung entstand 1994, in einer Zeit, in der rassistische Übergriffe und Anschläge auf Asylbewerberheime das wiedervereinigte Deutsch-land erschütterten. Das Museum sollte ein Ort sein, der unterschiedlichen Menschen eine Auseinander-setzung mit der Vergangenheit, aber auch der Gegen-wart ermöglicht, in der Hoffnung, über die Beschäfti-gung mit dem Gestern Situationen und Konflikte heute besser verstehen zu können.
HEIMAT BERLIN. Migrationsgeschichte für Kinder
Ein Modellprojekt des Jugend Museums Schöneberg1
Christine Matt
Vor der Eröffnung trafen sich die VILLA-Bewohner_innen zum Kennenlernen im Jugend Museum.
Spurensicherungen Forum 41
2003 wurde die Ausstellung „VILLA GLOBAL – Im Labyrinth der Kulturen“ eröffnet, in deren Mittelpunkt Bio-grafien von Migrant_innen der ersten und zweiten Generation standen, die repräsentativ für die demogra-fische Zusammensetzung der Bevölkerung des Be-zirks Schöneberg nach ethnisch-nationalen Zugehörig-keiten ausgewählt wurden. Dem damaligen Diskurs über „Multikulturalität“ entsprechend, war Ziel der Ausstellung, mehr Verständnis für „fremde“ Kulturen zu schaffen und zu einem von Toleranz und Respekt geprägten Zusammenleben beizutragen. Um den Ver-änderungen in der Gesellschaft sowie den neuen Diskursen und Perspektiven auf Migration und Vielfalt Rechnung zu tragen, stand nach mehr als sieben Jahren eine Überarbeitung und Aktualisierung der ur-sprünglich nur für zwei Jahre geplanten Ausstellung an. Angesichts der wachsenden Diversität der Gesell-schaft Deutschlands, besonders in den Großstädten – mehr als ein Fünftel der Berliner_innen hat einen sogenanten Migrationshintergrund, unter den jungen Menschen sogar ein Drittel2 – konnte in der Ausstellung der Fokus nicht mehr auf dem Kennenlernen fremder „anderer“ Kulturen liegen. Vielmehr ging es darum, die Dichotomie zwischen „Wir“ und den „Anderen“ auf-zuheben, Vielfalt in unserer Gesellschaft anhand einer Fokussierung auf die Individualität von Menschen zu zeigen und nationale und homogene Vorstellungen von Kultur und Gesellschaft zu hinterfragen. Die 2014 neueröffnete Ausstellung „Villa Global“ trägt deshalb auch den Zusatz: „The Next Generation“.
Im Vorfeld bedurfte es intensiver Vorbereitungen und Forschungen, um Aufschlüsse über aktuelle Lebens-realitäten, Zugehörigkeiten und Identitäten von Berli-ner_innen zu erlangen. So entstand die Idee zu dem Modellprojekt „HEIMAT Berlin. Migrationsgeschichte für Kinder“, in dessen Rahmen eine dreijährige Forschungs- und Projektphase durchgeführt wurde, an der über 1.600 Kinder und Jugendliche aus Berliner Schulen teil-nahmen. In Lernwerkstätten und Theaterprojekten begaben sie sich mit dem Team des Jugend Museums auf die Suche nach Menschen, Orten und Dingen, die Geschichten über Ein- und Auswanderung erzählen. Schüler_innen sollten historisches Lernen mit dem multiperspektivischen Blick und einer selbstbestimmten Aneignung von Geschichte(n) erleben, Geschichte zu
sich selbst und ihren Lebenswirklichkeiten in Beziehung setzen und so neue Perspektiven auf ihr Leben in einer vielfältigen Gesellschaft entwickeln.
Bei der Konzeption und Durchführung der Workshops standen folgende Prinzipien im Vordergrund, welche die pädagogische Arbeitsweise des Jugend Museums kennzeichnen: 1. Partizipative Workshopformate mit der Möglichkeit
der aktiven Teilhabe 2. Die Anwendung einer Vielfalt von Methoden für
kognitive und emotionale Zugänge 3. Die Einbeziehung künstlerisch-ästhetischer Arbeits-
weisen bei der Ergebnissicherung 4. Anerkennung, Akzeptanz und Wertschätzung als
Leitprinzip der pädagogischen Arbeit im Museum.
„Erzähl (d)eine Geschichte“: Unter diesem Motto er-kundeten Schüler_innen von vier 6. Klassen in mehrtägi-gen Lernwerkstätten ihr persönliches Umfeld und suchten Spuren zur Migrationsgeschichte im Bezirk. Im Mittelpunkt standen dabei die Fragen: Was wissen die Menschen auf der Straße, in der Nachbarschaft über die Geschichte der Einwanderung der letzten Jahr-zehnte? Welche Geschichten werden in den eigenen Familien, von Verwandten und Bekannten erzählt? Nach einer Schulung als „Expert_innen“ und mit Forschungs-ausweisen und Forschungstagebuch ausgerüstet, interviewten die Kinder Nachbarn, Familie, Freunde und Zeitzeug_innen. Dabei sammelten sie lustige und traurige Geschichten über das Ankommen in Berlin, aus denen in jeder der vier Projektwochen ein anderes Produkt entstand: eine Filmreportage über Migrant_innen der ersten Generation aus der Türkei, kurze Spielfilme mit Episoden des Ankommens, Trickfilme über Gegen-stände, die ihre Einwanderungsgeschichte erzählen und Radiofeatures über das Thema Sprache und „einge-wanderte“ Worte.
„Heimatspuren“ – Kinder suchen ihre Geschichte
vor Ort
Mit einer „sinnlichen Bestandsaufnahme“ begann die Spurensuche im Schöneberger Norden: Was höre ich? Was sehe ich? Was rieche ich? Ausgestattet mit eigener
42 Forum Spurensicherungen
entstand die Filmreportage „Heimatspuren“. Sie zeigt das große Engagement der Kinder und bietet einen
facettenreichen Einblick in die Gegend um die Potsda-
mer Straße und ihren Wandel.
Eine weitere 6. Klasse beschäftigte sich mit dem Medium
Schreiben. Die Kinder untersuchten Orte in unmittel-
barer Nähe von Schule und Zuhause, brachten Gegen-
stände, die von „Heimat“ erzählen und setzten sich
mit dem Begriff „Heimat“ auseinander. Was bedeutet
Heimat für mich? Ist es ein Ort? Sind es mehrere Orte?
Kann Heimat ein Gefühl sein? Ein Geruch, ein Gericht,
eine Person...? Die Ergebnisse hielten sie in einem per-
sönlichen „Heimatspuren“-Buch fest.
„Heimat muss nicht ein Ort sein, sondern kann auch
ein Gefühl sein“, kann man da lesen, oder: „Man kann
mehrere Heimaten haben.“ Durch die Wertschätzung
der mitgebrachten Gegenstände und das respektvolle
gegenseitige Zuhören beim Erzählen der Geschichten
machten die Kinder ihre eigene Familiengeschichte
sichtbar. Ein Junge resümierte: „Ich fand es toll, mal die
verborgenen Geschichten, die jeder hat, zu hören.“
„Israelis in Berlin“ – Bilder, Vorurteile,
neue Perspektiven
Mittlerweile leben 15.000 bis 20.000 Israelis in Berlin.
Was bedeutet Berlin für sie? Haben sie Angst vor anti-
semitischen Übergriffen? Und sind alle Israelis jü-
disch? Diese und andere Fragen standen im Mittelpunkt
der einwöchigen Lernwerkstatt „Israelis in Berlin“, an
der drei Schöneberger Schulklassen der Klassenstufen
6–8 teilnahmen. Die Kinder und Jugendlichen setzten
sich mit ihren eigenen Bildern zu Israel und Israelis
auseinander und hatten die Gelegenheit, diese anhand
von Begegnungen und ausführlichen Gesprächen mit
in Berlin lebenden Israelis zu überprüfen. Die Interviews
mit den Gesprächspartner_innen, die so ausgesucht
wurden, dass sie die Diversität der israelischen Gesell-
schaft widerspiegeln, fanden am Arbeitsplatz, im
Lieblingscafé, in der Wohnung, im Museum und in der
Synagoge statt, wurden zuvor sorgfältig inhaltlich
vorbereitet und mit der Kamera aufgezeichnet.
Kameratechnik, vorbereiteten Interviewfragen und in Begleitung eines professionellen Filmteams suchten sie Menschen auf, die über die Potsdamer Straße und deren Veränderung in den letzten Jahren Auskunft geben konnten. Sie besuchten ein Fischrestaurant, einen Supermarkt, eine Frauenkneipe, ein Leihhaus, einen Kosmetiksalon und befragten Passant_innen. Die meisten Kinder der Klasse lebten im Umfeld der Straße und stellten immer wieder Bezüge zu ihrem eigenen Alltag her. Als Ergebnis dieser intensiven Recherche
oben: Filmreportage zum Thema „Menschen erzählen ihre Migrationsgeschichte“
unten: Spielfilm zum Thema Ankommen in Deutschland
Spurensicherungen Forum 43
Theaterworkshops: Perspektivwechsel durch
Rollenspiel
In drei Theaterworkshops mit unterschiedlichen Themen setzten sich zehn Schulklassen mit der Geschichte der Zuwanderung verschiedener Bevölkerungsgruppen in den letzten drei Jahrhunderten auseinander. In Zusammenarbeit mit Historiker_innen und Theaterpäda-gog_innen wurde jeweils um eine überlieferte historische Begebenheit eine besondere Theaterform entwickelt, die sich durch einen offenen Spielverlauf ohne festen Text und ohne Publikum auszeichnet. Die Schüler_innen erhielten Rollen, die zum Teil auf realen historischen Personen basierten und erlebten nach einer Einführung fünf Tage lang den Alltag der jeweiligen historischen Epoche.
Der Workshop „Achtung, die Böhmen kommen!“ thema-tisierte die Einwanderung böhmischer Glaubensflüchtlinge nach Schöneberg im 18. Jahrhundert. In den Rollen der Alt-Eingesessenen und der Neuankömmlinge mach-ten die Kinder authentische Erfahrungen – sie webten,
Eindrucksvoll war, dass trotz großer Wissensunterschiede in Bezug auf das Thema die Assoziationen der Schü-ler_innen zu Israel überwiegend gleich lauteten: „Krieg“, „Rache“, „Gewalt“; die meisten gingen ebenfalls davon aus, dass alle Israelis jüdisch und religiös seien. Einigen Jugendlichen war durch ihr Elternhaus und Internet-foren ein starkes Feindbild gegenüber Israel und seiner Be völkerung vermittelt worden. Nur wenige der Schü-ler_innen hatte tatsächlich Kontakt zu Israelis. In diesem Kontext erwiesen sich die Gespräche mit „real existie-renden“ Israelis als überaus wirksam. Diese entpuppten sich zur Überraschung vieler Jugendlicher als „ganz normale Menschen“, als Individuen mit unterschiedlichen Interessen und Positionen. „Ich dachte, der wird so aggressiv sein, aber er war richtig nett!“, erzählt ein Schüler im Anschluss an ein Gespräch. Aus ihren Lebens-geschichten entwickelten die Schüler_innen Figuren-porträts, die zusammen mit den Interviews einen zentralen Bestandteil der im Mai 2013 eröffneten Werk-stattausstellung „Israelis in Berlin“ bildeten.
oben: „Israelis in Berlin“ – Interview mit Samuel in seinem Lieblingscafé
unten: Gestalten eines biografischen Porträts auf Grundlage der Interviews. Der Rapper Ben Salomo wurde in Israel geboren und wuchs in Berlin Schöneberg auf.
oben: „Achtung, die Böhmen kommen!“ – eine Schöneberger Bauern-familie bereitet ein Fest vor.
unten: Bürokratische Hürden auf der Ausländerbehörde
44 Forum Spurensicherungen
Zwischen Partizipation und Inszenierung – Die neue
Ausstellung „VILLA GLOBAL. The Next Generation“
Die Überarbeitung und Neueinrichtung der „VILLA GLOBAL“ war für alle Beteiligten ein spannender, intensiver Prozess. Der Fokus sollte auf individuellen Lebensgeschichten liegen, anhand derer Vielfalt und der heutige Alltag in unserer Gesellschaft multi-perspektivisch thematisiert wird. Statt einer stell-vertretenden Repräsentation sollten konkrete Menschen selbst zu Wort kommen und sich selbst präsentieren.
Kriterien für die Auswahl der fünfzehn neuen Bewoh-ner_innen waren nicht die ethnisch-nationale Zuge-hörigkeit im Sinne einer proportionalen Abbildung von Bevölkerungsgruppen, sondern vielmehr von uns und den teilnehmenden Kindern und Jugendlichen als wichtig erachtete Themen wie Flucht, Glaube, sexuelle Vielfalt (in den Workshops machten wir wiederholt Erfahrungen mit homophoben Einstellungen unter Jugend lichen), Zugehörigkeit(en), Familie, Arbeit und Alltag. Zwei der neuen Bewohner_innen hatten bei dem Projekt „Israelis in Berlin“ mitgemacht, einige waren bereits in der alten VILLA präsent, und andere fanden sich durch private oder berufliche Kontakte. Die zwölfjährige Sadaf fragte selbst nach einem Zimmer in der Ausstellung.
Zunächst führten wir, von einem Kamerateam begleitet, mehrstündige biografische Interviews durch, aus denen Kurzporträts und Themenfilme für die Medien-stationen in der Ausstellung geschnitten wurden. Die Transkripte der Interviews wurden ausgewertet in Hinblick auf relevante Themen und mögliche Objekte für die Ausstellung. Gemeinsam mit den Kurator_innen und den Raumpat_innen (für jeden Raum war eine Person des Museumsteams verantwortlich) richteten die neuen Bewohner_innen nun einen eigenen Raum ein. Das Prinzip der Partizipation forderte von den Kura-tor_innen Zurückhaltung – dies beinhaltete zuweilen auch das Akzeptieren von abweichenden Vorstellungen der Bewohner_innen hinsichtlich der Aussagen oder der Einrichtung ihres Raums. So stellte einer der Bewoh-ner, der vor vielen Jahren aus dem Iran geflüchtet war, klar, dass er weniger über sich selbst – „ich bin uninteressant“ – als über sein Land erzählen wollte, das
bauten Zäune und backten Brot über dem offenen Feuer – erlebten Konflikte um Glauben, Landrechte und Privilegien und mussten Lösungen für ein friedliches Zusammenleben finden.
Der Workshop „Schuften für den Neuanfang“ beschäf-tigte sich mit der Schlesischen Einwanderung nach Schöneberg um 1900 und drehte sich um Arbeitsrechte, Streik und Gewerkschaften. Ein dritter Workshop mit dem Titel „Almanya, Almanya: von der Türkei nach Berlin“ thematisierte die Arbeitsmigration aus der Türkei seit den 1970er Jahren. Die Kinder schlüpften in die Rollen der Zugewanderten und tauchten ein in den Alltag der 1970er und 1980er Jahre. Sie erlebten Sprachschwierig-keiten, Akkordarbeit, Ärger mit der Ausländerbehörde, überfüllte Wohnräume und Rassismus.
Für die meisten Schüler_innen und auch für die Lehr-kräfte war die Projektwoche nach eigenem Bekunden eine wichtige Lernerfahrung. Die thematische Nähe des Workshops „Almanya“ zur eigenene Lebenswelt bot den Kindern einen guten Zugang zur historischen Situa-tion und ermöglichte den Transfer ins Heute. „Ich hab nach dem ersten Spieltag meine Oma angerufen. Sie ist als Gastarbeiterin aus der Türkei nach Deutschland gekommen und hat bei Siemens gearbeitet. Sie hat in genau so einem Wohnheim gewohnt wie bei uns im Spiel und hat ihren Mann dort kennengelernt“, erzählte ein Mädchen. Ein Junge berichtete: „Meine Mutter findet es immer noch schwer, Deutsch zu verstehen. Ich muss immer für sie übersetzen.“ Die Kinder ohne einen so genannten Migrationshintergrund erfuhren durch den Perspektivwechsel viel über die „Anderen“. Die Kinder, deren Eltern oder Großeltern eingewandert sind, began-nen – häufig zum ersten Mal – sich mit ihrer eigenen Einwanderungsgeschichte auseinanderzusetzen. Umge-kehrt spiegelten sich die Lebenswirklichkeiten der Akteur_innen auch in der Rollengestaltung und der unterschiedlichen Gewichtung von Themen und Konflik-ten, wodurch sich für unser Erkenntnisinteresse wert-volle Rückschlüsse ziehen ließen. Deutlich wurde zum Beispiel der hohe Stellenwert von Familie und Arbeit. Ein Junge äußerte im Abschlussgespräch: „Schwierig war: ich wusste nicht, ob ich mich an den Demos beteiligen sollte, weil ich sonst meine Arbeit verlieren könnte.“
Spurensicherungen Forum 45
Die im dreijährigen Modellprojekt HEIMAT Berlin gesammelten Erfahrungen und erprobten Methoden flossen in die Konzeption von zwei vierstündigen Workshops ein, die begleitend zur Ausstellung ange-boten werden.
Jugend Museum Schöneberg
www.jugendmuseum.de
Mo–Do, Sa–So 14–18 Uhr, Fr 9–14 Uhr
1 Der nachfolgende Text basiert auf den Beiträgen der Projektdokumentation
„ Heimat Berlin. Migrationsgeschichte für Kinder“, Modellprojekt im Rahmen
des Bundesprogramms „Toleranz fördern-Kompetenz stärken“ (2011–2014)
2 Vgl.: http://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-
deutschland/61646/migrationshintergrund?
er schmerzlich vermisst. Daneben galt es jedoch auch, den Bildungsauftrag des Museums – die altersgemäße Vermittlung von kulturhistorischen und alltagskulturel-len Inhalten – zu berücksichtigen. So gestaltete sich die gemeinsame Arbeit an den Räumen immer auch als Aushandlungsprozess, bei dem angesichts der Ausstel-lung der eigenen Lebensgeschichte bei den zukünftigen Bewohner_innen manchmal auch Zweifel auftraten: Was will ich von mir zeigen? Ist meine Person und Ge-schichte überhaupt interessant? Besonders wichtig war in diesem Kontext, Respekt für persönliche Grenzen und Privatsphäre zu wahren.
Die Überwindung all dieser Hürden lohnte sich: Im März 2014 wurde die neue Ausstellung eröffnet und alle Beteiligten blickten mit Stolz auf das gemeinsame Ergebnis. Hanadi, eine der Mitbewohner_innen äußerte: „Es ist mir eine Ehre, hier dazuzugehören.“
Eine Werkschau im Museum zeigt Dokumentationen der einzelnen Projekte.
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