DIESCHICKSALSSAGADritte Kampagne des Aventurischen Karmakorthäons
Johannes Hild, Oktober 2016 ‐ März 2017
Anfang PHE 1008 BF: Der von Firun gesandte Winter hatte sich aus der Hjaldingstadt Thorwal zurückgezogen und die milde Ifirn brachte den Frühling. Die Rekker schliffen ihre Schwerter und Äxte, die Skipmader kletterten die Maste der Ottas auf und ab, die im mittlerweile eisfreien Bodirhafen dümpelten, und die größten Thore der stolzen Nordmänner sammelten sich am traviagefälligen Herdfeuer der Methallen, um von neuen Questen und Herferds zu erzählen, die sie in den kommenden Monden in Swafnirs Namen begehen wollten.
In den vergangenen Tagen konnte man immer wieder Herolde hören, die auf den Plätzen und in den Schänken Thorwals eine Botschaft von besonderer Brisanz ausriefen: „Im Namen der obersten Hetfrau Garhelt sind alle tapferen Rekker gefordert, sich zum Tag von Ifirns Dank in der großen Halla in Thorwal einzufinden. Auf Geheiß der gütigen Travia und des stolzen Swafnir ist die Zeit gekommen, den größten Helden dieses Zeitalters, den Thor Askir, zu erwählen.“
Viele Gerüchte gab es um die Erwählung des Thor Askir, die traditionell nur alle 100 Jahre statt fand und von den Göttern selbst gewährt wurde. Der letzte Thor Askir war der berühmte Hetmann Hyggelik, der die Zyklopeninseln brandschatzte und die verfluchte Zyklopenklinge Grimring trug. Ein jedes Kind der Thorwaler kannte die Legenden, gemäß denen sich Hyggelik nach seiner Ernennung zum Thor Askir auf die Suche nach dem sagenumwobenen Swafnirland machte, aber nie mehr von seiner Reise zurückkehrte.
Manch einer wusste jedoch auch, dass Hyggelik damals der legendären Schicksalssaga von Orozar Siebenhieb folgte, um auf den Spuren des größten Volkshelden der Thorwaler zu wandeln. Viele alte Sagas besingen Orozars Heldentaten, wie er vor 1.800 Jahren die Schlangenkultisten von Harangor besiegte, die Schicksalsklinge erbeutete und die Krötenhaut erfand. Bekannt waren auch die Geschichten, in denen Orozar den heiligen Berg bestieg, auf dem sich ihm der Herr Firun offenbarte. Berühmt war auch sein Kampf gegen die Eiselfe Pyrdona, die er in die Niederhöllen stieß, sowie sein letztes Gefecht gegen den Basilisken Krötenkopp, dem er mit sieben Hieben der Schicksalsklinge den schuppigen Kopf abtrennte.
Auf den Plätzen Thorwals sangen die Skalden in diesen Tagen oft die Sagas sowohl von Orozar als auch jene von Hyggelik. Und nicht selten träumte so mancher Jüngling davon, ebenfalls große Heldentaten zu verbringen und in den Sagas ewigen Ruhm zu erlangen. Doch nur wenigen Rekkern sollte ein solches Schicksal vergönnt sein.
Mitte PHE 1008 BF: Viele Wochen waren vergangen, seitdem der reisende Norbarde Wlad und sein elfischer Freund Alriel ihr Winterquartier in Riva verlassen hatten. Mit ihrem Kastenwagen waren sie über Lowangen und Andergast bis nach Thorwal gereist und hörten voller Neugier von den Gerüchten um die Erwählung des Thor Askir. Wlad zog es daraufhin in die Hjaldingstadt, denn er witterte dort nicht nur ein gutes Geschäft, sondern hoffte auch, seinen alten Freund Tore dort wiederzufinden. Und tatsächlich konnte er in Erfahrung bringen, dass Hetmann Tore mitsamt seiner Wogenreiter‐Otta in der Hjaldingstadt darauf wartete, am Wettstreit um den Titel des Thor Askir teilzunehmen.
Wlad und Alriel spürten den tapferen Hetmann und dessen Mannschaft in einem der Langhäuser der Hjaldingstadt auf, wo diese in einem typisch thorwalschen Gelage die Kaperfahrten des vergangenen Sommers begossen und den baldigen Frühlingsbeginn vorfeierten. Wlad und Alriel wurden herzlich von den Nordmännern empfangen und zum Mitfeiern eingeladen. Bei Dinkelbier und Honigmet
erzählten sich die alten Freunde, die sich seit einem Jahr nicht mehr gesehen hatten, Geschichten von vergangenen Sommers und von ihren Plänen für den zukünftigen Sommer. Als das vierte Bier Wlads Kehle passiert hatte, ließ er sich ebenso wie Alrik dazu überreden, den kommenden Sommer mit Tores Ottajasko auf Kaperfahrt zu gehen. Tores Freund Hjalmar Bjarnison, ein geweihter Bruder des Walgottes Swafnir, der auf Grund seiner nivesischen Abstammung nur wenig Gesichtsbewuchs vorweisen konnte und deshalb gerne auch Möchtebart genannt wurde, war gerne bereit, noch an Ort und Stelle eine Ottajara für Wlad und Alriel auszurichten, um die beiden Gefährten rituell in die Gemeinschaft der Wogenreiter‐Otta aufzunehmen.
Grölend zogen die Thorwaler um Mitternacht zum hinteren Bodirhafen, um dort das Drachenschiff der Ottajasko zu Wasser zu lassen. Wlad und Alriel mussten dann, wie es der Tradition entspricht, mit jeweils einem Beil und einem Methorn unter dem Schiff hindurch tauchen, mit Hilfe des Beils an der Bordwand empor klettern und das Methorn leer trinken. Anschließend schwuren beide der Wogenreiter‐Otta die Treue mit Herz und Schwert, wie es sich für waschechte Thorwaler gehörte. Die Smidja der Otta, Sindara Andrason, war allerdings wenig begeistert davon, dass die beiden neuen Gefährten die Beile nicht in das dafür vorgesehene Enterschild geschlagen hatten, sondern stattdessen in die kostbare Bordwand ihres geliebten Drachenschiffs. Doch auf den anschließenden Feierlichkeiten zu Ehren der neuen Otta‐Mitglieder vergaß sie ihren Zorn und feierte ebenfalls kräftig mit, bis die Sonne am nächsten Tag im Zenit stand.
Wie es der weise Godi Jorge Viderusson in den Knochenrunen vorgesehen hatte, war der 19te Tag des Phexmonds tatsächlich der erste Sonnentag des Jahres und wurde von den Geweihten Thorwals zum Tag von Ifirns Dank bestimmt. Somit war nun auch die Zeit gekommen, in der großen Halla bei den obersten Hetleuten den Frühlingsbeginn zu feiern und den Thor Askir zu erwählen. Mit einem leichten Kater schleppte sich Tores Ottajasko zu den Langhäusern der obersten Hetleute, wo bereits die Festlichkeiten vorbereitet wurden. Ochsen wurden am Spieß gebraten, Bier wurde ausgeschenkt und Skalden besangen die Heldentaten der großen Hetleute. Etwa 1.000 Gäste nahmen an den Feierlichkeiten im Hof der Langhäuser teil.
Als der Abend hereinbrach, stellte sich die oberste Hetfrau Garhelt vor ihr Volk und sprach:
„Willkommen, edle Rekker und große Thore, vor den Hallen der obersten Hetleute. Ich bin erfreut, dass so viele meinem Aufruf gefolgt sind und zum Tag von Ifirns Dank hier sind, um den Thor Askir zu erwählen. Ein jeder von euch mag den Sagas der Skalden gelauscht haben und deshalb wissen, dass der Thor Askir nur alle 100 Jahre erwählt wird und damit eine neue Ära einläutet. Der letzte Thor Askir war der legendäre Hetmann Hyggelik, der die Zyklopenklinge Grimring erbeutet hatte.
Vielen ist die Geschichte bekannt, nach der Hyggelik in seiner letzten Reise den Spuren unseres größten Thors, Orozar Siebenhieb, auf der Suche nach dem Swafnirland nachfolgte, indem er die Verse der Schicksalssaga entschlüsselte. Doch weniger bekannt ist, dass Hyggelik vor seiner letzten Reise zum Einsiedlersee zog, um einen großen Krieg mit den Orks abzuwenden: Zu jener Zeit sammelten sich die Schwarzpelze in großen Scharen im Bodirtal, um das südliche Thorwal zu überfallen. Doch Hyggelik gelang es, unter dem Banner des Friedens an die Orks heranzutreten und den obersten Anführer der Orks, den Aikar Brazoragh, zu einem göttlichen Duell zu fordern. Hyggelik obsiegte in dem Duell und befahl den Schwarzpelzen, das Land der Thorwaler zu verlassen. Und tatsächlich wandten sich die Orks von Thorwal ab, da sie in dem verlorenen Duell den Willen ihres stierköpfigen Gottes erkannten.
Zu meinem Bedauern erreichte mich im letzten Mond die Kunde, dass die Orks einen neuen Aikar Brazoragh erwählt haben und einen neuen Orkensturm vorbereiten. Gleichwohl ich auch zuversichtlich bin, dass jeder Mann und jede Frau Thorwals mit Freude zur Axt greifen würde, um den Schwarzpelzen den Einmarsch in unser Reich zu verwehren, sehen die Priester von Travia und Swafnir die Zeit gekommen, einen neuen Thor Askir zu erwählen, der dem Aikar Brazoragh im ehrenvollen Duell die Rübe einschlägt und den Schwarzpelzen zeigt, wo die Skraja hängt.
Doch ein Thor Askir wird man nicht, indem man den Gefolgsleuten seine Heldenhaftigkeit beweist. Vielmehr muss man bereit sein, den Göttern sein eigenes Schicksal zu opfern. Die Priester von Travia und Swafnir haben deshalb den Willen der Götter gedeutet. Die Götter wollen, dass Orozars Schicksalsklinge wieder in das Reich der Thorwaler zurückgebracht wird, um die orkische Bedrohung abzuwenden. Die tapferen Thore, die bereit sind, ihr Schicksal den Göttern zu opfern, sollen sich auf die Suche nach der Schicksalsklinge machen, die wohlmöglich noch immer im Grab von Orozar Siebenhieb ruht. Und wer von euch vollendet, was der große Hyggelik nicht vollbrachte, wer von euch die Schicksalsklinge heimführt, soll Thor Askir geheißen werden und die Klinge im Namen aller Thorwaler gegen die Schwarzpelze führen.
All jene Hetleute, die bereit sind, ihr Schicksal den Göttern anzubieten, die bereit sind, ihr Leben für die Suche nach der Schicksalsklinge zu opfern, mögen nun nach vorne treten und den heiligen Thor‐Eider leisten.“
Kurze Zeit waren nur Raunen und Gemurmel aus den Reihen der Thorwaler zu hören, dann jedoch eilten drei bekannte und berühmte Hetleute zur Bühne, um den heiligen Thor Eider zu leisten. Als erstes betrat Hetmann Beorn der Blender von der Seeschlangen‐Otta die Bühne. Beorn war einer der erfolgreichsten Hetleute der vergangenen Jahre, der vor allem dafür bekannt war, Sklaven in der Charyptik zu befreien und alanfanische Handelsposten zu überfallen. Als Markenzeichen lässt er Sklavenhaltern gerne die Augen ausbrennen, was ihm letztlich zu seinem Spitznamen verhalf. Beorn erhob das Wort und schwor, diesen Sommer zu opfern, um die Schicksalsklinge zu suchen und nach Thorwal zurückzubringen.
Als nächstes trat Hetmann Tore nach vorne, der im Sommer vor zwei Jahren das legendäre Donnersturmrennen gewonnen hatte und im letzten Sommer erfolgreich eine wertvolle Grangorer Handelsschivone überfallen hatte. Er versprach unter dem Jubel der anwesenden Thorwaler, die nächsten fünf Sommer für die Suche nach der Schicksalsklinge zu opfern und dabei jeden Orkmann zu erschlagen, der ihm auf der Suche im Weg steht.
Als letztes trat Asleif Phileasson vor die versammelten Thorwaler. Der idealistische Asleif hatte in den vergangenen Sommern mehrfach Ifirns Ozean bereist und dort das eisige Yetiland erforscht. Asleifs Expeditionen waren dafür bekannt, dass sie nur wenig Beute einbrachten, dafür aber das Wissen der Thorwaler über fremde Gestade mehrten. Asleif trat ebenfalls nach vorne und schwor, die nächsten sieben Sommer für die Suche nach der Schicksalsklinge zu opfern und diese gegen den Aikar Brazoragh der Orks zu führen.
Da kein weiterer Hetmann den Schwur von Asleif zu übertreffen vermochte, forderte Garhelt die drei Thore auf, am kommenden Tag zur Mittagszeit zum Tempelplatz zu kommen, die ihnen dort die Schicksalssaga überreicht werden sollte: „Die Schicksalssaga wird euch führen und euch den Weg zur Schicksalsklinge offenbaren.“
Tores Rekker beglückwünschten den Hetmann zu seinem Schwur und träumten bereits von dem Ruhm, der mit der Bergung der Schicksalsklinge einherging. Insbesondere Ingram Gemeson, der sein Leben der milden Göttin Ifirn geweiht hatte, spürte den göttlichen Auftrag, der mit der Suche nach der Schicksalsklinge verbunden war. Die Feierlichkeiten zu Ifirns Dank wurden anschließend fortgesetzt, bis der Morgen graute.
Doch Tores Rekker waren bereits zum Sonnenaufgang wieder munter, um Tores Schwur zu folgen. Hjalmar erkundigte sich bei einigen Skalden nach der Schicksalsklinge fand heraus, dass in den verschiedenen Sagas gleich drei Klingen als Schicksalsklinge bezeichnet wurden: Die Klinge Siebenstreich, die von Orozar Siebenhieb, dem ersten Thor Askir, vor 1800 Jahren aus Grangor geraubt wurde, die Klinge Grimring, die Hetmann Hyggelik von den Zyklopen erbeutet hatte, und die Klinge Tyrfing, die von der legendären Thor Askir Thorfinna geführt wurde, die vor knapp 600 Jahren das Reich der Thorwaler aus der Knechtschaft der Priesterkaiser befreit hatte. Siebenstreich soll von
den Göttern geschmiedet sein, aus gleißendem Göttergold bestehen und aus dem Grab des bosparanischen Helden Geron erbeutet worden sein. Grimring soll von Zyklopen aus Zyklopenstahl geschmiedet worden sein. Hyggelik hat mit der Klinge gemäß den Sagas einen gefürchteten Minotauren auf den Zyklopeninseln erschlagen, die Klinge in dessen Blut geweiht und dessen Hörner als Parierklingen einbinden lassen. Es wird vermutet, dass die Orks die Klinge deshalb so fürchten, da dieses das Blut und die Seele des erschlagenen Minotauren aufgenommen hatte. Denn Minotauren gelten bei den Orks als unbesiegbare, heilige Wesen ihres Gottes Brazoragh. Tyrfing wiederum ist aus der Hand Hjaldinger Runenschmiede und wurde gezielt geschaffen, um die Besatzung durch die Priesterkaiser zu beenden. Tyrfing ist angeblich mit magischen Runen besetzt und leider auch verflucht.
Tore hatte mittlerweile die Schule der Hellsicht zu Thorwal aufgesucht, denn er konnte in Erfahrung bringen, dass der Hellsichtsmagier Aleya Ambareth sich in den vergangenen Monaten mit der Schicksalssaga beschäftigt hatte. Der alte Magier empfing Tore und dessen Konkurrenten Beorn und erklärte beiden, was er zur Schicksalssaga zu sagen hatte:
„Es begann alles beim Thorwaler Konvent der Magiergilden: Die Magister der Runajasko von Olport hatten alte Aufzeichnungen in ihren Hallen gefunden, die so verblasst waren, dass kein Zeichen mehr auf den Pergamenten zu erkennen war. Doch die beim Konvent anwesende Meisterillusionistin Methelessa ya Comari hatte ein Idee, wie man mit Hilfe von Hellsichtsmagie und Illusionistik einen Zauber entwerfen könnte, der die Informationen in den Pergamenten wieder zum Leben erwecken könnte. Die Idee war bestechend gut und wir brauchten einige Monate, um eine erste Version des Spruchs zu entwickeln. Methelessa stand uns dann nicht mehr zur Verfügung, doch sie schickte ihre Assistentin Viviane von Grangor, um mir bei der Anwendung des Zaubers zu helfen. Den kompletten vergangenen Sommer haben wir Pergamente wiederhergestellt und einige davon haben sich tatsächlich als Teile der legendären Schicksalssaga herausgestellt. Allerdings handelt es sich dabei wohl nicht um die Originalschrift von vor 1800 Jahren, sondern um die Niederschriften von Hetmann Hyggelik, der wohl nur jene Teile der Saga niederschrieb, die er für bedeutsam hielt. Noch dazu war die Reihenfolge der einzelnen Verse völlig durcheinander, so dass wir nicht mit Sicherheit sagen können, wo die Saga beginnt und wo sie endet. Zu Beginn des vergangenen Winters ist es dann aber passiert: Viviane hat alle Aufzeichnungen, Pergamente und Niederschriften aus dem Entschlüsselungsprojekt geraubt und ist mit den Unterlagen nach Norden verschwunden. Wir haben versucht, sie zu verfolgen, doch es ist uns nicht gelungen, die Diebin zu ergreifen. Doch dank meines meisterlichen Gedächtnisses konnte ich die entschlüsselten Sagatexte erneut niederschreiben. Die Hochgeweihte der Traviakirche, Mutter Jadhelia, hat mich wenige Tage später gebeten, ihr eine Abschrift der Schicksalssaga aus meinem Gedächtnis zur Verfügung zu stellen. Ich kann nur vermuten, dass diese Saga wichtig ist, um die Schicksalsklinge zu bergen und es kann gut sein, dass diese diebische Viviane das Gleiche im Sinne hat.“
Tore bedankte sich bei Magister Ambareth für die Informationen und ging zum Traviatempel, wo er ebenso wie Hetmann Beorn und Hetmann Asleif von Mutter Jadhelia empfangen wurde. Die hohe Mutter überreichte jedem der drei Hetleute ein Bündel mit Pergamenten und sprach: „Dies ist eine Abschrift der Schicksalssaga, wie sie uns zur Verfügung steht. Die Verse sind nicht in korrekter Reihenfolge, doch die Informationen dürften euch helfen, das Ziel eurer Queste zu erreichen.“ Anschließend zeigte sie auf drei Travianovizinnen, die an ihrer Seite standen und stellte diese vor: „Dies sind Schwester Lenya, Schwester Freya und Schwester Shaya. Eine jede von diesen wird einen euch geleiten und euch zur Schicksalssaga und dem Willen der Götter beraten. Doch bringt die drei heil wieder nach Hause, denn es ist ihre erste Queste fernab der Heimat.“
Schwester Freya wurde Hetmann Tore zugewiesen und stellte sich ihm schüchtern vor. Dann schlug sie dem Hetmann vor, an einen ruhigen Ort zu gehen, um die Verse der Schicksalssaga zu studieren. Tore folgte ihrem Rat und holte seine besten Gefährten hinzu, um die 18 Einzelverse der Saga zu analysieren. Nach stundenlanger Diskussion vermuteten die Gefährten, dass die Verse der Saga in etwa folgende Reihenfolge einnehmen sollten:
(1) Ein Jahr ward vergangen, seitdem Orozar Siebenhieb das verfluchte Harangor gebrandschatzt und dort die legendäre Schicksalsklinge und den kristallenen Tidenschild erbeutet hatte. Doch die Klinge sprach zu ihm und wies ihm den Weg zu einer Queste, um den Ruhm der Hjaldinger zu mehren. Also sammelte Siebenhieb seine Ottajasko und schwor im Rund der Olafjord‐Hetmannen den heiligen Eider, der Queste Weg zu Ende zu gehen. Und so erreichte Orozars Ottajasko die Siedlung Torwjald am Mund des Bogdhir. Von dort aus führte Orozar die Ottajasko den Quellwassern entgegen, die tief im Land der Schwarzpelzigen lagen.
(2) Breite, flache Klippensteine erhoben sich zur linken und zur rechten des Flusses, wie der gewaltige Huf eines Auerochsen. Die Sagas sprechen von dem Gott Brazoragh, der hier den Schlamm zu hartem Stein getreten haben soll. Die Drachenmücken fraßen sich durch die Haut der Recken und dreiköpfige Drakkars zogen wolkenartig über den Himmel. Doch Orozars Wille war ungebrochen und sein Ziel lag klar vor Augen.
(3) Die Krötenbrut hatte angegriffen. Durch die Schilfe waren sie geschlichen, die Ottajasko anzugreifen. Doch Orozar führte seine Mannen in die Schlacht und ließ die Schicksalsklinge herniederfahren und das Blut der Krötlinge färbte das Quellwasser rot. Hier, wo das Quellwasser die Otta nicht mehr tragen konnte, hielt die Ottajasko Rast und beriet Tag um Tag, was tun war. Aus der Haut der Krötlinge schnitten die Smidja sieben Rüstungen, je eine für Orozar und sechs für seine treuesten Gefährten, denn die Sieben waren erwählt im Namen Swafnirs weiterziehen. Orozar wies seine verbliebene Ottajasko an, nach Torwjald zurück zu fahren und zu berichten, dass er das Ende seiner Queste noch nicht erreicht hatte.
(4) Tapfer zogen die sieben Rekker durch die hohen Gräser, immer weiter auf die Bergflanke zu. Wie auf dem Rücken eines Drakkars ragten die vor ihnen liegenden Felsstacheln empor und leuchteten wie Flammen im Feuer der Mittagssonne. Ein seltsam strammes Pferd mit einem Horn auf dem Kopf kreuzte ihren Weg, doch es ließ sich nicht vor den Wagen spannen und auch das Fleisch des Hornpferds war wenig schmackhaft. In der Ferne erblickte Orozar einen gewaltigen Monolithen. Er hatte eine Länge von zehn Skeidhs und war geformt wie ein Stalagtit, der vom Himmel gefallen war. Fremdartige, geflügelte Leuen hatten einen Horst auf dem Monolithen errichtet und kamen herangeflogen, um Orozar ihre Aufwartung zu machen.
(5) Die Rekker folgten den Pfadewegen entlang der brennenden Felsen und der aufgehenden Sonne entgegen. Gleichwohl trocken war das Land zu ihren Füßen und durch die Felsen zur linken Hand zogen sich gewaltige Kavernen und Furchen, in deren Inneren die Gebeine von riesenhaften Kreaturen ruhten. Schädel von einäugigen Riesen, Knochen von geflügelten Leuen und leere Panzer von gewaltigen Spinnenwesen schliefen in der Dunkelheit.
(6) Dort, wo der purpurne Turm aus den Ruinen der Alfenstadt empor ragte, folgte Orozar dem nördlichen Pass und erreichte eine Siedlung der Grolmur. Die Grolmur kannten die güldenländische Zunge, so dass der weise Godi Stalve mit ihnen Verhandlung führen konnte. Der Jarl der Grolmur lud Orozar zum Festmahl in seine reichen Hallen aus Gold und Silber ein, doch er sprach mit falscher Zunge und führte Böses im Sinn. Also forderte Orozar den Jarl der Grolmur zum Holmgang und dieser schickte einen Unhold, um den Kampf zu entscheiden. Doch mit der Schicksalsklinge erschlug Orozar den Unhold und den Jarl der Grolmur und ein jeder Rekker plünderte, was er in Händen halten konnte.
(7) Die smaragdene Spinne war weder feige noch angriffslustig. Sie wickelte den kleinen, goldenen Kärpfling in einem weichen Kokon aus Spinnenseide und überreichte ihn vorsichtig an Orozar. Der weise Godi Stalve behauptete, dass die Spinne um ein Tauschgeschenk für den Fisch bat. Doch da der alte Stalve gerne zu oft und zu viel von Rauschpilzen speiste, ignorierte Orozar das Geschwätz des Godi und erschlug das Spinnentier mit seiner Wurfaxt.
(8) Das Land war nicht mehr trocken und dörrig, sondern von grünen Bäumen und Gräsern gesäumt. In der Ferne konnte Orozar ein gemauertes Flussbett sehen, welches das Wasser der Berge sammelte
und in Kaskaden in das fruchtbare Tal transportierte. Dort, wo das Wasser sich in einem großen Brunnen sammelte, fanden sich Ruinen eines alten Haines. Die Gefährten tranken vom heilsamen Wasser des Brunnens und folgten den Pfaden weiter an der Bergflanke entlang, bis diese an einem großen steinernen Tor im Felsen endete. Das Tor war von prächtiger Bauart und von Runen verziert und ein jeder Torflügel zeigte einen einäugigen Riesen, der vor einem Amboss kniete und Hammer und Sichel an die Brust hielt.
(9) Froh waren Orozars Mannen, als sie das Dunkel der verlassenen Berggänge hinter sich hatten. Frische Luft strömte den Rekker entgegen, als sie sich an den Abstieg machten und weiter dem hellroten Bachlauf folgten, der sie aus den Höhlen geführt hatte. Die hellrote Farbe verlor sich erst, als der Bach in einen großen See mündete, in dem riesige, schmackhafte Salme schwammen. Von hier aus konnte Orozar des Nächtens das bunte Glitzern des Polardiamanten am Horizont sehen.
(10) Die Rekker genossen die traviagefällige Gastlichkeit der Rika‐Lie und halfen diesen beim Hüten der Karene. Auf dem Weg zum Ozean sprachen die Hersir der Rika‐Lie von drei uralten Seidkonas, die die Zeichen zu deuten vermochten und den Weg zum Swafnirland weisen konnten. Orozar suchte die drei alten Klageweiber auf und forderte die Antwort auf seine Fragen im Namen Swafnirs ein. Die Seidkonas antworteten ihm: "Folgt dem nebligen Pfad der Füchsin, deren Feuer Eure Lenden brennen lässt. Folgt den ziehenden Tieren, die über verwunschene Wege wandern. Doch nur die Auserwählten hören den Ruf der dunklen Halle, in der der Weg zum Swafnirland verzeichnet ist. Und wisset, dass die dunkle Halle im Reich des frostigen Wintergottes Firun liegt. Und er wird alle prüfen, die sein Reich aus Eis und Schnee betreten wollen."
(11) Als sich der Sommer dem Ende neigte, brachen die Rika‐Lie auf und Orozars Mannen folgten ihnen. Nachdem die Karene den Strand von Schwarz und Weiß hinter sich gelassen hatten, begann ein starker Regen und die Wasser des Flussdeltas traten über die Ufer. Die Karene flüchteten auf höhere Gefilde und einige der kleineren Rika‐Lie kletterten gar ängstlich auf die schwarzen, toten Bäume, um nicht zu ertrinken. Im lendenhohen Wasser schwammen Schildkröten wie reife Früchte in einer Schüssel voller Feuerwasser.
(12) Orozar bestattete den großen Hjalme zu den Füßen der versteinerten Frau und bewachte drei Tage und Nächte das Grab. Die Rika‐Lie trugen bunte Tiermasken aus Holz und tanzten zur Musik der Flöten, um die Geister der Verstorbenen zu ehren, die im Kampfe gegen die Angreifer gefallen waren. Da erkannte Orozar die schönste Frau unter den Rika‐Lie. Ihr Haar war rot wie der Sonnenuntergang, ihr Körper zart wie gebackener Salm und ihre Maske trug das Antlitz des Fuchses. Ihre Ohren waren lang wie die der Alfen und ihr Name war Doloe Feuerhaar. Und somit nahm sich Orozar die junge Doloe zur Frau und teilte mit ihr das Lager.
(13) Die Fjarninger betrauerten den Ausgang des Holmgangs nicht lange und luden die Rekker in ihre Zelte. Am kommenden Tage zeigten sie den Rekker den Weg zu Frunus Thron, einem kalten Gipfel, der die Heimstatt des gnadenlosen Gottes Firun war. Nur Orozar selbst war stark genug, den kalten Schneestürmen zu trotzen und dem Wintergott zu begegnen. Der Wintergott fand Gefallen an Orozars Tapferkeit und sprach: "Dort, wo die Donnerwanderer dem Elderlicht entgegen wandern, wirst du den gefrorenen Pfad ins Swafnirland finden. Doch dort ist auch die Heimstadt der finsteren Eisalfin Pyrdona. Mit namenloser Macht brütet sie das letzte Krötengezücht aus, welches von den Alfen Bha’za’lisk genannt wird. Führt die Schicksalsklinge auch in meinem Namen ins Swafnirland und schlagt dem Gezücht des Goldenen den geschuppten Kopf ab. Doch wisset, dass dies eure letzte Queste sein wird."
(14) Das Elderlicht leuchtete weit durch das Dunkel der Nacht. Die Fjarninger kannten den gefrorenen Pfad der Donnerwanderer und führten Orozars Mannen zum leuchtenden Turm der Eisalfin Pyrdona. Doch die eisernen Tore des Turmes öffneten sich und finstere Draugeralfen krochen aus den Löchern, um die Angreifer zurückzuschlagen. Auf den Raupen der Winterdrachen ritten sie in die Schlacht und erschlugen die Fjarninger, bis das Eis rot war vom Blut der Winterkinder.
(15) Doch der Wind drehte sich und die Alfen der Eislande vergaßen ihren Schwur nicht und kamen Orozars tapferen Rekkern und Hrn‐Hrns Schneetrollen zur Hilfe. Seite an Seite durchbrachen die drei ungleichen Völker die Reihen der Feinde und erklommen den finsteren Turm der Eisalfin Pyrdona. Im höchsten Raum begegneten sie der bösen Frau. Ihr Haar war golden wie ihre Augen, doch ihre Haut war blass wie Schnee. Dann sang sie eine schöne Melodie und Orozars Rekker ließen ihre Waffen sinken, um der Melodie zu lauschen. Doch Orozar ließ sich nicht täuschen und forderte die Alfin zum Holmgang. Doch die Alfin sprach in der Zunge der Daimonen und eine Pforte des Grauens öffnete sich, aus der sich die Klauen niederhöllischer Kreaturen streckten. Orozar zerbrach den Tidenschild und nutzte die gefangene Zeit, um Pyrdona in die Pforte des Grauens zu stoßen. Schreiend kreischte die Eisalfin, als die Daimonen sie in die Niederhöllen zerrten, bis die Pforte sich hinter ihr geschlossen hatte.
(16) Der Blick des Basilisken lastete schwer auf Orozar, doch der tapfere Krieger hielt dem Frost in seinen Gebeinen stand und trieb die Schicksalsklinge tief in den Hals der bösartigen Kreatur, bis diese an Kraft verlor und reglos liegen blieb. Die Schlacht war gewonnen, doch die Verluste waren groß. Viele der Alfen, der Schneetrolle und so manche Gefährten Orozars waren durch den Blick des Basilisken zu Eis erstarrt und kein Feuer und keine Magie konnten die Gefrorenen erlösen.
(17) Die zweizahnigen Kopfschwänzler stampften durch die nebeligen Hänge und Orozars Gefährten folgten ihnen Tage und Nächte in das Winterland. Da hörte Doloe ein Lied von wundersamer Schönheit, doch den anderen blieb der zauberhafte Klang verborgen. Die tapferen Rekker folgten dem Lied und fanden die dunkle Halle in einem Panzer aus Eis. Doloe lauschte dem Singsang der Statuen im Inneren der Halle, doch auch sie konnte die Zeichen der Alfen nicht deuten. Dennoch erkannte Orozar das Swafnirland auf der Kristallkarte der Alfen und schöpfte Hoffnung, sein Schicksal nach so vielen Monden nun endlich finden zu können.
(18) Orozars Kräfte waren fast geschwunden, als die Gefährten die dunkle Halle erreichten. Orozar sprach zu seiner geliebten Doloe: "Hier sollen meine Gebeine ruhen, hier will ich zu Swafnir gehen." Und als der große Hetmann seinen Lebensatem aushauchte, weinte Doloe sieben Tränen, die zu sieben Eiskristallen erstarrten. Orozar wurde in der Tracht der Krieger in der dunklen Halle zur Ruhe gelegt, doch es heißt, dass er einst wiederkehren wird, wenn der Herr Firun seine Dienste benötigt.
Die Rekker und Freya vermuteten, dass die Verse (1) ‐ (3) Orozars Reise von Thorwal zu den Bodirquellen beschrieben. In Vers (4) konnten die Rekker Hinweise auf das Greifengras nördlich der Bodirquellen entdecken. Die Verse (5) – (9) beschrieben wohlmöglich Geschehnisse im Orkland und vielleicht handelte es sich bei dem Zyklopentor von Vers (8) sogar um den Zugang zum legendären Orkenhort? Vers (10) – (12) ließen erahnen, dass Orozar längere Zeit mit den Nivesen vom Stamm der Rika‐Lie umherzog, die Wlad in der Nähe von Riva vermutete. Die verbliebenen Verse sprachen von einer Schlacht im Eis beim Turm der Eisalfin Pyrdona sowie von der dunklen Halle, die den Weg nach Swafnirland weisen konnte und in der Orozar wohl bestattet war. Diese Orte waren wohl irgendwo im hohen Norden, nördlich von Riva, zu finden.
Tore überlegte, seine Otta auf Grund der Hinweise direkt nach Riva zu führen, um von dort aus dann die dunkle Halle zu finden. Doch sowohl Freya als auch der weise Godi Jorge stimmten überein, dass es der Wille der Götter sein musste, der Schicksalssaga von Anfang an zu folgen. Jorge erklärte überzeugend: „Die Runen sagen, dass die Reise nach Riva nicht zur Schicksalsklinge führt. Vielleicht hat Hyggelik die dunkle Halle bereits gefunden, hat die Schicksalsklinge erbeutet und ist auf der Rückreise nach Thorwal im Orkland umgekommen?“ Und Freya fügte feierlich an: „Wenn die Götter nicht wollen würden, dass wir Orozars und Hyggeliks Reise durch das Orkland nachvollziehen, hätten sie uns diese Teile der Schicksalssaga wohl auch nicht überlassen.“
Ende PHE 1008 BF: Tore hatte entschieden, zunächst die Quellen des Bodir mit seiner Ottajasko zu erkunden, und schickte Sindara und Wlad zunächst aus, um auf dem Eisenmarkt von Thorwal Proviant und Ausrüstung für die Reise zu besorgen. Da Tore aber auf Grund der Ausführungen in der
Schicksalssaga damit rechnete, dass die Expedition im Quellgebiet des Bodirs auf dem Landweg fortgesetzt werden muss, ließ er auch Wlads Kastenwagen und zwei Pferde mit auf das Drachenschiff laden. Der Hetmann der Wogenreiter‐Ottajasko ließ sich bei der Planung der Reise nicht hetzen und startete seine Expedition am dritten Tag nach Ifirns Dank. Jedermann hatte allerdings mitbekommen, dass Hetmann Beorn einen Tag vor den Wogenreitern abgereist war, und somit vor Tore das Quellgebiet erreichen würde. Hetmann Asleif befand sich hingegen noch immer in Thorwal, als die Wogenreiter‐Otta den Flusshafen verließ und den Bodir stromaufwärts ruderte.
Während der Fahrt passierte die Ottajasko die thorwalschen Siedlungen Rukian, Angbodirtal und Vilnvad am Bodirstieg und es dauerte nur fünf Tage, bis die Wogenreiter die Mauern der großen Stadt Phexcaer erreichten. Auf dem Weg nach Phexcaer hatten die Rekker beunruhigende Berichte gehört: Eine kleine Armee von räuberischen Orks soll angeblich zu Beginn des Frühlings vor den Toren Phexcaers erschienen sein, um die Stadt zu belagern. Und als Tores Wogenreiter in den Flusshafen der Stadt einfuhren, hörten sie tatsächlich von den etwa 120 Schwarzpelzen, die in einem Wäldchen vor der Nordwestmauer der Stadt ein Lager errichtet hatten und aus den Birnbäumen der umliegenden Gehöfte angeblich krude Belagerungswaffen zimmerten. Die Phexcaerer Bürger waren zwar verärgert, dass die Felder außerhalb der Stadtmauern wegen der Orks nicht bewirtschaftet werden konnten, zeigten sich aber ansonsten nicht besonders beunruhigt, da die Stadt selbst nicht nur durch eine gut ausgebaute Stadtmauer geschützt war, sondern den Belagerern auch ein Dreifaches an Verteidigern entgegensetzen konnte. Der Hafenmeister von Phexcaer versuchte, die Thorwaler für die Verteidigung der Stadt zu gewinnen, doch Tore hatte wenig Interesse daran, seine Expedition für mehrere Tage Mauerdienst zu verzögern. Der Tag on Phexcaer war zwar schon vorangeschritten, doch Tore wollte das vorhandene Tageslicht nutzen, um noch einige Meilen stromaufwärts zu fahren. Immerhin war Phexcaer als anrüchige Stadt der Diebe und Beutelschneider verschrien, in der man leicht sein Ansehen und sein Gold verlieren konnte.
Die Wogenreiter‐Otta glitt elegant unter der berühmten, 300 Schritt langen Phexbrücke hindurch, die den Bodir zwischen Phexcaers Nordstadt und der Südstadt überspannte und damit den Bodirstieg mit dem Steineichenpass verband, und erreichte schließlich den Oberlauf des Bodir. Alriel konnte mit dem Fernglas einen Blick auf die Orks erhaschen, die fernab des Ufers zwei versklavte Oger dazu brachten, birnhölzerne Katapulte zu errichten. Besonders auffällig war dabei ein von Ochsen gezogener Kriegswagen der Orks, der mit Tierfellen, Standarten, Schädeln, Hörnern und Spießen verziert war und wie ein barbarischer, fahrender Thron wirkte. Tore ergriff ein ungutes Gefühl beim Anblick der Orks und er bat den Godi Jorge, aus den Innereien eines Orakelfisches die Zukunft zu lesen. Während der Godi einen der Fische zerlegte, bemerkte Alriel Holzstücke und mehrere Leichen, sowohl von Thorwalern als auch von Orks, die den Bodir hinab trieben. "Das sind Teile von Beorns Seeschlangen‐Otta! Und einige seiner Rekker!", erkannte Ingram voller Sorge.
Vorsichtig ruderten Tores Rekker weiter den Bodir flussaufwärts und trafen kurze Zeit später auf eine beeindruckende Kriegsflottille der Orks. Die Flottille bestand aus mehreren großen Flößen auf denen über 150 schwer gerüstete Orks sowie einige Zwinger voller Kriegshunde flussabwärts fuhren. Auffällig war, dass die Flöße nur von schmächtig wirkenden, braunpelzigen Orks gelenkt wurden, während die bewaffneten Orks allesamt größer und kräftiger waren, ein rabenschwarzes Fell unter den Lederrüstungen trugen und ihr Haupthaar wie blutrot gefärbte Hahnenkämme zur Schau stellten. Hjalmar war sich sicher, dass es sich bei den braunpelzigen Floßfahrern um die an sich friedfertigen Mokolash‐Orks handelte, während die schwarzpelzigen Orks wohl zum blutrünstigen, kriegerischen Stamm der Zholochai gehörten. Die Orks bemerkten die Wogenreiter wenige Augenblicke später, doch bevor diese in die Nähe der Otta kamen, ließ Tore das Drachenschiff wenden und zurück nach Phexcaer fahren. "Diese Orks versuchen bestimmt, über den Fluss in die Stadt einzufallen. Wir müssen Phexcaer vor dem Angriff warnen!", rief Tore und der Godi fügte besorgt hinzu: "Ich kann Blut und Feuer in den Gedärmen des Fisches lesen!"
Tores Rekker waren zwei Stunden vor Sonnenuntergang zurück in Phexcaer und landeten am Stadtstrand nordwestlich der Phexbrücke an. Eilig hasteten die Rekker zur Magistratur am
Phextempel, um dort von der Ankunft der orkischen Flottille zu berichten. In der Magistratur war zu dieser Tageszeit allerdings niemand zu finden, der die Verteidigung der Stadt organisieren konnte. Stattdessen traf Tore die Phexhochgeweihte der Stadt, die Vogtvikarin Delia, die ihm erzählte, dass die Orks an der Nordwestmauer vor wenigen Stunden die Kapitulation der Stadt eingefordert hatten und mittlerweile begannen, die Stadtmauern mit den selbstgebauten Katapulten zu beschießen. Delia nahm die orkische Bedrohung sehr ernst und berichtete mit angsterfüllter Stimme von mysteriösen Ereignissen: "Vor wenigen Tagen hatten wir wie jedes Jahr das Glücksfest hier in Phexcaer gefeiert. Es ist dabei Tradition, dass die Banden der Stadt ein heiliges Idol in einem Wettkampf über traditionelle Wegpunkte durch die Stadt tragen müssen. Die Banden können sich dabei gegenseitig das Idol zu stehlen und diejenige Bande, die das Idol zum Ende des Wettstreits zum Phextempel bringt, wird vom Herrn Phex für ein Jahr mit großem Glück belohnt. In diesem Jahr ging der Wettkampf allerdings kurz vor seinem Ende unglücklich aus, da der Anführer der Schnapsbande das Idol außerhalb der Stadtmauern vom Nordtor zum Westtor bringen wollte und bei dem Versuch von einem orkischen Bogenschützen erschossen wurde. Niemand aus der Stadt hat sich getraut, den Leichnam zu bergen und in der kommenden Nacht war dieser verschwunden. Die Orks haben das Idol wohl erbeutet und damit das Glück des Herrn Phex von dieser Stadt genommen. Der Herr Phex wird uns bestimmt für diese Torheit bestrafen."
Tore ließ sich von der Erzählung der Geweihten nicht entmutigen und suchte weiter nach handlungsfähigen Mitgliedern des Magistrats. Da Phexcaer von einer Reihe von Bandenführern gelenkt wurde, die jeweils für sich ein autonomes Bandenrevier führten, wurde Tore letztlich von der Geweihten an Reykir verwiesen, den Anführer der Bodirbande, der für die Sicherung des Hafens zuständig war. Reykir nahm den Bericht von der Flottille ebenfalls sehr ernst und konnte Tores Otta anwerben, um den Oberlauf vor der Phexbrücke mit zu verteidigen. Er bot den Rekkern auch an, Wlads Wagen und die Pferde in den Kontoren des Hafenviertels sicher zu verwahren. Die Brückenbande und die Südstädter und die Oststädter konnten ebenfalls mobilisiert werden, um die Phexbrücke und die Mauern am Oberlauf des Bodir dichter zu bemannen.
Tores Otta dümpelte kampfbereit vor der Phexbrücke, als die Dunkelheit der Nacht über die Stadt hereinbrach. Da mit der Dunkelheit auch ein schwerer Regenschauer einsetzte und auf die Verteidiger niederprasselte, konnte man trotz der Öllaternen an Bord kaum die eigene Hand vor Augen sehen. Nur die schwach leuchtenden Feuerschalen auf der Brücke und auf den Mauern ließen sich noch erkennen und konnten zur Orientierung genutzt werden. Die Witterung war eindeutig auf Seiten der Orks, da diese im Dunkeln besser sehen konnten als Menschen und im Schutz des Regens keine Bogenschützen fürchten mussten. Alarmrufe vom Südufer ließen Tores Rekker aufschrecken und der tapfere Hetmann gab den Befehl, mit der Wogenreiter‐Otta nach Süden zu fahren. Auf halber Strecke erkannte Alriel mit seinen scharfen Elfenaugen ein feindliches Floß und rief: "Da vorne sind die Orks!".
"Rammenmanöver volle Kraft voraus!", befahl Tore und hielt sich an der Bordwand fest, als die Wogenreiter‐Otta mit voller Wucht auf eines der Floße prallte und dieses unter Wasser drückte. Einige Zholochai versuchten an Bord der Otta zu kommen, doch Tore und Ingram konnten die unerwartet zähen Angreifer über Bord werfen. Ein zweites Floß voller orkischer Bogenschützen brachte die Wogenreiter in schwere Bedrängnis, doch Tore konnte das Drachenschiff gegen das Floß lenken und durch ein geschicktes Manöver abdrehen.
In einem zweiten Anlauf versuchte Tore, das Drachenschiff erneut auf das Floß zu lenken, doch dieses war im Schutz der Dunkelheit entkommen. Stattdessen erreichte die Ottajasko mehrere verlassene Flöße, die am Südufer des Bodir angelandet waren. Ein brennendes Haus in der Südstadt, Spuren am Strand, orkische und menschliche Schreie sowie das Bellen der Kriegshunde machten den Rekkern schmerzhaft bewusst, dass die Orks in der Südstadt angekommen waren. Alriel ließ seine Blicke schweifen und berichtete: "Ich kann viele der Schwarzpelze beim südlichen Brückenkopf sehen, sie versuchen wohl, die Brücke zu erobern. Einige sind aber auch an der östlichen Mauer der Südstadt." Tore fasste einen Entschluss und ging mit dem kampfstärksten Teil seiner Mannschaft von
Bord. Er wies die übrigen Mitglieder der Ottajasko an, die Wogenreiter in die Nähe der Brücke zu fahren und führte dann seine kleine Streitmacht zum Brückenkopf, um den Orks in den Rücken zu fallen. Zwischen den Häusern stellte er die Zholochai, die gerade versuchten, die Barrikaden vor dem südlichen Brückenhaus einzureißen und die Phexcaerer Verteidiger zu erschlagen.
Doch ebenso wie die Phexcaerer hatte Tore die Anzahl und das Kampfgeschick der Zholochai drastisch unterschätzt: Während feindliche Bogenschützen Alriel und Wlad von den Dächern der Häuser vertrieben, pfiff ein orkischer Hundeführer seine Kampfhunde herbei und hetzte diese auf Tores Nachhut. In geschickter Formation nahmen die Zholochai Tores Rekker in die Zange und erschlugen den tapferen Herger und die wilde Algrid. Als die orkische Streitaxt eines besonders großen Zholochai nur um Haaresbreite an Tores Gesicht vorbei rauschte, befahl der Hetmann den taktischen Rückzug: "Zieht euch zurück! Zu den Flößen!"
Alriel und Wlad eilten voraus und konnten erkennen, dass die Südmauer in die Hände der Orks gefallen war und immer mehr der Schwarzpelze von außerhalb der Stadt über die Wälle kletterten. Die Südstadt war offensichtlich verloren. Sindara und Ingram eilten dem Elfen und dem Norbarden panisch hinterher, doch Tore und Hjalmar konnten den Zholochai nur entkommen, weil sich der wagemutige Svenkar und die gutherzige Ragnild den Orks in den Weg stellten und durch ihr Opfer den Rückzug ihres Hetmanns deckten. Mit Wut, Trauer und Verzweiflung erreichten die Rekker den Südstrand und konnten mit einem der Orkflöße auf die andere Seite übersetzen. Dort konnten sie die Wogenreiter‐Otta herbeiwinken und zu ihren Gefährten an Bord steigen. Mit brüchiger Stimme musste Tore seiner Ottajasko erklären, dass einige ihrer Brüder und Schwestern tapfer im Kampf gegen die Orks gefallen waren und dass die Südstadt nicht gerettet werden konnte. Während sich die Orks in der Südstadt neu sammelten und die Phexcaerer in der Nordstadt den nördlichen Brückenkopf versiegelten, ließ Tore die Otta unter der Phexbrücke hindurch zum menschenleeren Hafen am Nordwestufer fahren, um dort den Wagen und die Pferde wieder aufzuladen. Der Kampf um die Brücke hatte noch immer nicht begonnen, so dass die Wogenreiter erneut den Brückenlauf kreuzte und die Stadt Phexcaer in Richtung Bodirquellen verließ. Stumm und in Gedenken an die Gefallenen ruderten die Wogenreiter durch die Dunkelheit. Sie hatten einen Blick auf die hässliche Fratze des Orkensturms erhascht, der ihr Heimatland bedrohte. Es mag sein, dass der göttliche Phex seine heilige Stadt tatsächlich wegen der Torheit der Phexcaerer verlassen hatte. Doch ebenso hofften die Wogenreiter, dass ihre Volksgötter ihnen den richtigen Weg weisen würden, um mit der Schicksalsklinge den Orkensturm von Thorwal fernzuhalten.
Ende PHE 1008 BF: Tores Rekker zogen sich in den Schilfgürtel östlich von Phexcaer zurück, versorgten ihre Wunden und entzündeten nach einer kurzen Ruhephase ein Totenfeuer für die gefallenen Freunde. Obwohl der Orkensturm bereits bis Phexcaer vorgedrungen war, hielt sich Tore an seinen Schwur und führte seine Ottajasko weiter stromaufwärts, um die Schicksalsklinge zu finden. Die Rekker entdeckten während der Ruderfahrt weitere Streitkräfte der Orks, die mit schwerem Kriegsgerät und wuchtigen Ochsenkarren über die Pfade am südlichen Bodirufer in Richtung Phexcaer marschierten, doch diese interessierten sich nicht für die Ruderer. Einen Tag später passierte die Otta die geplünderten und zerstörten Reste der Ortschaft Groenvelden, die als letzte Bastion der zivilisierten Völker am Rande der wilden Orkschädelsteppe galt. Die Orks hatten alle Siedler, die ihnen nicht entkommen waren, auf grausigen Pfählen aufgespießt.
Zwei weitere Tage ruderten Tores Rekker den Bodir hinauf, bis sie wieder auf andere Menschen trafen: Beorns Ottajasko lag an einem sandigen Streifen am nördlichen Ufer des Bodir an. Tores Wogenreiter gesellten sich zu den Stammesbrüdern, die offensichtlich ein Nachtlager aufbauten, um wurden von diesen freundlich willkommen geheißen. Doch Beorn selbst war nicht unter den anwesenden Thorwalern, wie Laske, der Mannschaftsführer der Seeschlangen‐Otta erklärte: "Wir haben Beorn und seine sieben engsten Vertrauten an den Bodirquellen abgesetzt, da er von dort aus zu Fuß weiter nach Norden zum Greifengras reisen wollte. Dort im Osten bei den Quellen ist aber alles voller Schlamm und es wimmelt von nervigen Echslingen. Wir haben zwei Tage gebraucht, um Beorns Planwagen von der Otta zu hieven und zu den schlammfreien Hügeln außerhalb der
Bodirsümpfe zu zerren. Einige dieser hässlichen Echslinge haben sich nicht vertreiben lassen. Wir konnten diese zwar leicht erschlagen, aber wir haben ständig mit Vergeltung rechnen müssen, was die Anlandung weiter erschwert hat. Wenn ich euch einen Rat geben darf: Versucht lieber, hier von Bord zu gehen, die Bodirsümpfe sind hier noch nicht so ausgeprägt und dürften sich leichter umfahren lassen."
Nachdem Tore sich bei Laske für den Ratschlag bedankt hatte, setzten sich beide Sippen an ein gemeinsames Lagerfeuer, um in einem Abendgelage den Tag ausklingen zu lassen. Die beiden Ottajaskos aßen und tranken und tauschten Geschichten über die Orkangriffe in Phexcaer aus. Als der Morgen graute, gab Tore die Anweisung, Wlads Kastenwagen und das Packpferd aus der Otta zu laden. Denn auch Tore hatte vor, die Reise ebenso wie Beorn von nun an zu Fuß weiterzuführen. Mit ihm reisen sollten seine alten Freunde Wlad und Alriel, der tapfere Ingram und der stolze Hjalmar, der weise Jorge und die geschickte Sindara sowie die gütige Traviageweihte Freya. Seiner Mannschaftsführerin Gudhild übergab er das Kommando über die Wogenreiter‐Otta und wies Gudhild an, zusammen mit Laskes Seeschlangen‐Otta nach Thorwal zurück zu reisen, um den obersten Hetleuten von den Ereignissen in Phexcaer zu berichten.
Anfang PER 1008 BF: Mit Wlads Wagen zogen die Rekker zunächst nach Nordosten und erreichten das Greifengras, einen über 100 Meilen durchmessenden Talkessel, der von üppigen, mannshohen Gräsern bewachsen war. Von hier aus konnten die Recken in der Ferne die stachelartigen Gipfel eines Gebirgszuges erkennen, bei denen es sich möglicherweise um die Felsstacheln aus dem vierten Vers der Schicksalssaga handelte. Das Greifengras zu durchqueren dauerte mehrere Tage. Die Graslandschaft war Heimat von kleinen Nagern, äsenden Karenherden und kleinen Gruppen von Nashörnern. Aber auch die Greifen waren hier heimisch und offenbarten sich den Rekkern, als diese einen einsamen Hügel im Zentrum des Greifengrases ansteuerten. Die Greifen hatten wohl ein Nest auf einer Steinsäule errichtet, die wie eine Nadel aus dem zentralen Hügel ragte, und kamen von dort angeflogen, um Tores Rekkern entgegenzutreten. Die anmutigen Greifen waren groß wie Nashörner und trugen ein prächtiges, güldenes Federkleid, welches wirkte, als würde das Licht der Sonne beständig durch dieses hindurch scheinen. Die übernatürlichen Wesen wirkten ebenso mystisch wie Einhörner und Drachen und sprachen auf magische Weise in den Köpfen der Gefährten: "Willkommen, tapfere Rekker, im Gras der Greifen. Der Herr der Sonne weiß von eurer wichtigen Queste und so weiß auch ich, der Greifenherr Garafan, von eurer Suche nach der Schicksalsklinge. Euer Ziel liegt im Osten, wo die Lindwurmberge ihre Gipfel aus der Erde strecken. Doch haltet Abstand von dem Hügel, von dem wir herangeflogen kamen. Es ist das Grab eines alten Wesens, welches nicht in seinem Schlaf gestört werden soll." Im Gegensatz zu vielen seiner Sippengenossen respektierte Tore den Herrn Praios, den Gott der Sonne, der von den verfeindeten Bosparanern angebetet wurde. Er dankte Garafan höflich für die Auskunft und führte die Gefährten weiter nach Osten. Dort trafen sie nach einigen weiteren Tagen auf den Spinnenwald, ein großes Waldgebiet, dessen Bäume großflächig von Spinnweben umwoben waren. Die Rekker folgten dem Waldrand nach Norden, schlugen ein paar Bäume, um den Brennholzvorrat aufzufüllen, und erreichten schließlich einen weitläufigen, kargen Korridor, der zwischen dem Spinnenwald im Süden und dem Lindwurmgebirge im Norden weiter nach Osten führte.
Wlads Wagen ließ sich leicht durch diesen Korridor fahren, da dort weder Bäume noch Sträucher wuchsen und auch keine großen Felsen den Weg blockierten. Auffällig waren jedoch mehrere Fußspuren von einem sehr großen Zweibeiner, die Alriel im Lehm lesen konnte: "Ein Riese muss das sein, der wohl größer als fünf Elfen ist. Doch die Spuren sind mehrere Tage alt." Die Rekker folgten weiter der Passage am Fuß des Lindwurmgebirges und fanden mehrere Höhlen in den nördlichen Gebirgswänden. In vielen dieser Höhlen konnte man Ablagerungen aus Ton und Lehm erkennen, aus der die verwitterten Gebeine uralter, toter Wesen ragten. So als wären diese vor Jahrhunderten unter dem Fels des Gebirges begraben worden und erst im Lauf der Zeit wieder zum Vorschein getreten.
Während ihrer Reise durch das Vorgebirge hatten die Rekker regelmäßig das Gefühl beobachtet zu werden, doch sie konnten kein anderes intelligentes Wesen erspähen. Dies änderte sich schlagartig, als das Rauschen mächtiger Schwingen zu hören war und ein fauliger Geruch in der Luft lag, der Alriel, Wlad und Tore an den doppelköpfigen Lindwurm erinnerte, den diese vor zwei Jahren im Windhaggebirge erschlagen hatten. Wie aus dem nichts wurde ein dreiköpfiger Riesenlindwurm vor den Augen der Gefährten sichtbar und bäumte sich majestätisch auf. Der Drache war in etwa so groß wie eine Otta und wahrlich furchteinflößend. Während Wlad und Sindara versuchten, die ängstlichen Pferde unter Kontrolle zu kriegen, und Hjalmar und Freya ein Stoßgebet zu ihren Göttern sandten, zeigte sich Tore voller Respekt und verbeugte sich vor dem Ungeheuer und dem Lindwurm schien diese Geste der Unterwürfigkeit zu schmeicheln. Seine drei Schädel musterten die Gefährten gelassen, dann spürten diese die Gedanken des Drachen in ihren Köpfen:
Die Rekker sahen sich plötzlich selbst in ihren Gedanken, wie sie in das Reich des mächtigen Lindwurms Meneltin eingedrungen waren. Sie spürten, wie Meneltin sie auf seinen Pfaden hat wandeln sehen, wie lästige, kleine Ameisen. Sie merkten auch, dass der Drache einen Dienst von ihnen fordert, damit sie sein Reich unbescholten durchqueren dürfen. Sie sahen plötzlich in ihren Köpfen andere Wimmelkrieger, die Meneltins geheimen und überaus wertvollen Schatzhort gefunden hatten. Sie sahen die widerlichen, kleinen Wimmelkrieger mit der Beute davonlaufen. Immer wieder versteckten sie sich, als Meneltin sich ihnen näherte. Oh, wie Meneltin diese Diebe hasste! Denn sie haben seinen liebsten Schatz geraubt! Die Rekker sahen vor ihrem geistigen Auge ein kleines, geflammtes Schwert mit ledernem Griff, Parierstangen in Form von Löwenköpfen und besetzt mit Aquamarinen. Sie liebten dieses Schwert, denn damit kann man sich so wunderbar die Fleischfetzen aus den Reißzähnen puhlen. In ihren Köpfen sahen die Rekker das Orkland aus den dreifachen Blicken des Drachen, wie die einzelnen Augenpaare das Greifengras und die nahen Wälder absuchten, wie sie plötzlich die dreisten, garstigen Diebe erspähten, die sich tarnende Anzüge aus Gras geschneidert hatten, und in deren Schutz zum großen Hügel im Zentrum des Greifengrases eilten. Sie sahen, wie Meneltin an den wachsamen Greiflingen vorbei flog, in der Nähe des Hügels landete und zu den Dieben hastete, um diese zu stellen. Doch die Diebe waren in einem Loch am östlichen Fuß des Hügels verschwunden. Mit großem Zorn blies Meneltin Feuer und Rauch in das Loch, doch niemand kam aus dem winzigen Löchlein heraus. Dann kamen diese kaltherzigen Greiflinge hinzu und erinnerten Meneltin an den Pakt mit dem Sonnenkönig. Und Meneltin musste davon fliegen und wartete Tage um Tage, bis die garstigen Wimmelkrieger wieder aus dem Loch kommen. Doch sie kamen nicht. Sie kamen einfach nicht und das machte Meneltin sehr wütend. Meneltin wollte dieses kostbare Schwert zurück, hier an dieser Stelle nach sieben Sonnenläufen. Dann würde er den Wimmelkriegern zu seinen Füßen die Passage durch sein Reich erlauben. Die Rekker spürten, dass Meneltin sie weiterhin beobachten würde und ihre Leiber knusprig brennen und verspeisen würde, wenn sie ihm nicht den Dienst erwiesen.
Als die Gedanken der Rekker wieder ihre eigenen war, sprach Tore: "Wir werden dein Schwert zurückbringen, oh mächtiger Meneltin". Der Drache nickte dreifach, hob seine Flügel an und flog in die Lüfte, wo er plötzlich wieder unsichtbar wurde. Das Gefühl, beobachtet zu werden, lastete aber weiterhin auf den Gefährten.
Tore sammelte seine Mannschaft und stellte fest, dass sie kaum eine andere Wahl hatten, als dem Willen des Drachen zu folgen. Sie wollten allerdings die Greifen um Rat und Hilfe fragen. Zunächst mussten sie also wieder zurück zum Greifengras und erreichten dieses nach mehreren Tagen. Sie fuhren mit dem Wagen auf den Hügel im Zentrum zu und wurden kurze Zeit später wieder von einer Delegation von Greifen aufgesucht, die vom zentralen Horst auf der Felssäule herangeflogen kamen. Erneut landete der Greifenkönig Garafan vor Tore im Gras und streckte majestätisch seine Flügel aus. Tore verbeugte sich und schilderte dem anmutigen Wesen das Dilemma: "Oh großer Garafan, Herr der Greifen. Der Lindwurm Meneltin verlangt einen schweren Dienst von uns. Wir sollen eine Gruppe von Dieben verfolgen, die dem Drachen ein Schwert geraubt haben und sich im zentralen Hügel
versteckt haben. Erhalten wir Erlaubnis von dir, den Hügel aufzusuchen, um die schändlichen Diebe zu stellen?"
Der Greif lauschte den Worten Tores und entgegnete streng: "Keinem Wesen ist es erlaubt, den Totenhügel des Vergessenen zu betreten, solange wir Wacht halten. Wir haben keine Diebe erblickt, also können sie dort nicht sein, denn unsere Wacht ist unfehlbar. Kehrt um, denn dieser Ort ist euch verboten."
Tores Rekker bemerkten zwar, dass die hochmütige Logik hinter diesen Worten brüchig war, doch die Greifen machten nicht den Eindruck, dass sie ihre Regeln für Tores Belange brechen würden. Wlad führte den Wagen zunächst wieder weg vom Zentrum des Hügels, um dem Willen der Greifen gerecht zu werden, doch Sindara hatte bereits einen wagemutigen Plan ausgearbeitet, mit dem die Gruppe auch ohne Erlaubnis Garafans zum Grabhügel vordringen konnte: "Ich könnte aus den Transportbrettern des Wagens und einigen Planen zwei robuste Sonnensegel zimmern, auf denen wir frische Grassoden auslegen und diese dadurch tarnen könnten. Diese könnten wir über unseren Köpfen tragen und uns so von den Blicken der Greifen verbergen." Tore stimmte dem Plan zu und alle halfen zusammen, um die Grasschirme fertigzustellen. Während Freya und Hjalmar beim Wagen blieben und diesen langsam in Richtung Spinnenwald lenkten, krochen Tores verbliebene Gefährten unter die Grasschirme und schlichen vorsichtig in Richtung Hügelgrab. Die Wanderung dauerte viele Stunden und immer wieder mussten die Rekker die Grasschirme ruhen lassen, um die Tarnung Aufrecht zu erhalten. Glücklicherweise regnete es am Abend, so dass die Rekker die letzten Meilen zunächst im Schutz des Regens und anschließend im Schutz der Dunkelheit ungestört zurücklegen konnten. Alriels scharfe Sinne versagten auch in der Dunkelheit nicht und er konnte den Eingang zum Grabhügel zielsicher ausfindig machen. Die Gefährten drangen durch ein waagrechtes, lehmiges Loch in den Grabhügel ein und entzündeten einige Fackeln, um die Anlage zu erkunden.
Die Rekker befanden sich zunächst in einer künstlich angelegten, staubtrockenen Aushöhlung. Hier befand sich ein Altar in Form eines gewaltigen Backenzahns, der wohl vor Jahrhunderten für Blutopfer gebraucht worden war. Erschrocken stellte Ingram fest, dass es sich bei dem tischgroßen Altar wohl tatsächlich um den Backenzahn eines gewaltigen Wesens handeln musste. Außer dem Altar war der Raum leer, auch wenn einige der stützenden Säulen eher aus Rippenbögen als aus Steinblöcken zu bestehen schienen. Vom Altarraum führte ein Gang in eine kreisrunde, natürliche Felskammer von etwa 80 Schritt Durchmesser, deren Boden mit den Knochen verschiedenster Kreaturen gefüllt war. Es wirkte fast wie ein großer Teich aus bleichen Gebeinen, der sich im Schein der Fackeln vor den Gefährten offenbarte. Noch verwunderlicher war eine Wendeltreppe, die sich am Rand des Knochenbeckens aus den Gebeinen empor streckte und im Wesentlichen aus der Wirbelsäule einer gewaltigen Kreatur geformt war. Die Kreatur musste eine halbe Meile groß sein, um solch große Knochen zu besitzen. Die Wendeltreppe führte durch einen Beckenknochen in einen hohlen Brustkorb, der zu einem großen Altarraum umfunktioniert worden war. Gewaltige Rippenbögen formten einen Knochendom, und auch die Wirbelsäule setzte sich hier fort und führte wie ein Laufsteg an gigantischen Schulterblättern vorbei zu einem Schädel, der auf den zerdrückten Schulterknochen lag. Zwischen zwei trollgroßen Schneidezähnen konnte man in die Schädelkammer dieser Anlage vordringen und eine granitharte, fremdartige Felssäule bewundern, die diesen Raum ausfüllte. Mittlerweile waren die Gefährten fest davon überzeugt, dass sie sich nicht in einer künstlichen Anlage, sondern tatsächlich in den vergänglichen Überresten eines Giganten befanden, der unter Lehm und Gras bestattet war. Und dass die gewaltige Felssäule wohl wie ein Speer in dessen rinderartigen Schädel steckte und möglicherweise zum Fall des Giganten geführt hatte.
Die Rekker untersuchten die Schädelkammer genauer und fanden am Boden zwei vertrocknete Goblinleichen, die das geflammte Schwert aus den Erinnerungen des Drachen Meneltin bei sich trugen. Tore nahm das Schwert erleichtert an sich und stellte fest, dass es sich dabei wohl um den Zweihänder eines Rondrianers handelte. Am Boden befanden sich aber auch zwei Dutzend mannsgroße, uralte Säcke aus Rinderfell, in denen uralte Mumien von Orks zu finden waren. Zunächst dachten die Rekker, dass es sich bei den Rinderfellsäcken um Leichensäcke handelte, doch
in vielen Fällen schien es eher so, als hätten die verstorbenen Orks versucht, wie Schmetterlinge aus einem Kokon auszubrechen. Und einige der Orks wiesen auch tatsächlich anatomische Besonderheiten wie Hufe, Hörner oder eine fast schon ogerhafte Körpergröße auf.
Kupfermondscheiben an der Decke und rituelle Wandmalereien an den Zahnwänden der Kammer deuteten darauf hin, dass dieser Ort von den Orks vor Jahrhunderten als Heiligtum genutzt worden war. Die primitiven Wandmalereien zeigten dabei eine weißbefellte Orkenfrau in einer weißen Mondscheibe, die von einem rotbefellten Ork in einer roten Mondscheibe beschützt wurde, da ein schwarzbefellter Minotaurus beide mit einer Axt bedrohte. In einem weiteren Bild hat der Minotaurus aber dem roten Ork den Schädel abgeschlagen und sich die weiße Orkfrau mit Gewalt genommen. Wlad erinnerte sich an eine alte Geschichte gemäß der es einst zwei Monde gab, einen roten Mond und den noch heute sichtbaren weißen Mond, der die Heimstatt der Göttin Mada war. Der kupferrote Mond war das Zeichen des orkischen Totengottes Tairach, der im Glauben der Orks vor Äonen von seinem stierköpfigen Sohn Brazoragh erschlagen worden war. Den Rekkern war nicht klar, welche Geheimnisse an diesem Ort versteckt waren, doch die Greifen hatten gewiss einen Grund, warum sie das Grab des Vergessenen vor den Blicken der Sterblichen schützten.
Mitte PER 1008 BF: Mit Ehrfurcht im Herzen und dem geflammten Schwert des Drachen in Händen wandten sich Tores Rekker von den Mumien zu ihren Füßen ab und gingen zurück zum Eingang dieses ungewöhnlichen Heiligtums. Dort jedoch mussten sie mit Entsetzen feststellen, dass die Greifen wohl gezielt das Grasland nach den Rekkern absuchten: Tores Gefährten beobachteten aus dem Schutz ihres Erdlochs heraus, wie die anmutigen Wesen langsam über den verregneten Nachthimmel schwebten und aus ihren Schwingen ein gleißendes Leuchten erstrahlen ließen, welches wie der Lichtstrahl einer Sturmlaterne durch die Gräser wanderte und alles erleuchtete, was sich in der Dunkelheit versteckt hielt.
Alriel wartete einen günstigen Moment ab und führte seine Gefährten im Schutz der Grasschirme durch das klamme Greifengras. Immer wieder mussten die Gefährten anhalten und sich unter den Gräsern verstecken, wenn der Lichtschein einer Greifenschwinge näher kam. Die ganze Nacht hindurch wanderten die Rekker durch die grüne Steppe und erst im Morgengrauen des neuen Tages legten sie eine kurze Pause ein, nutzten dann jedoch den frühen Nebel, um sich weiter vor den Blicken der Greifen zu verbergen. Als die Sonne jedoch zum Zenit kroch, hatte das Phexensglück die Rekker verlassen: Zwei Greifen landeten in den Gräsern neben den Gefährten und sprachen drohend und wütend in deren Köpfen: „Gebt auf, sterbliche Würmer, wir haben Euer umtriebiges Schurkenstück durchschaut. Ihr habt das Siegel des Totenhügels gebrochen und müsst nun für Eure Frevel bestraft werden!“.
Die Greifen stießen die Grasschirme beiseite und blickten in die Seelen der vor Schreck erstarrten Rekker. Doch bevor Tore die passenden Worte finden konnte, um seine Taten zu rechtfertigen, fiel ein totes Nashorn vom Himmel und schlug direkt neben einem der Greifen in den Boden ein. Der Gestank von Drachenleder lag in der Luft und plötzlich wurde der dreiköpfige Meneltin sichtbar, der seinen dreifachen Flammenstrahl auf die Greifen richtete. Die Greifen wichen jedoch geschickt aus und sprangen in die Luft, um von dort aus den feindlichen Lindwurm anzugreifen. Doch dieser lockte die Sendboten des Herrn Praios zunächst von Tore weg und flog dann einen weiten Bogen, um zu den Rekkern aufzuschließen, die mittlerweile in wilder Panik Wild die Flucht nach vorne angetreten hatten. Meneltin landete vor den Rekkern und teilte ihnen in Gedanken mit, dass sie auf seine sechs Beine klettern sollten. Tore nahm seinen Mut zusammen, stellte sich auf die vorderste Klaue des Drachen, schmiegte sich an die stinkende, warme Haut und hielt sich an den Hörnern fest, die aus dem Schienbein des Lindwurms wuchsen. Seine Gefährten taten es ihm gleich und wenig später schwang sich der Riesenlindwurm in die Lüfte und trug die Rekker davon. Die Greifen verfolgten den Drachen noch eine Weile, doch sie waren nicht schnell genug, um zu ihm aufzuholen.
Als die Greifen und das Greifengras bereits seit einer Flugstunde außer Sicht waren, konnten die Rekker bei den Birken am Fuße des Lindwurmgebirges den Kastenwagen von Freya und Hjalmar
erblicken. Meneltin landete in der Nähe des Wagens und ließ die Rekker frei. Er freute sich sehr, dass er sein wertvolles Schwert wieder erhalten hatte und ließ sich erzählen, was im Inneren des Grabhügels verborgen war. Zum Dank für ihre Heldentat ließ er Tore wissen, dass er und seine Gefährten nun freies Geleit im Reich des Drachen genießen durften. Er ließ Tore auch an seinen Erinnerungen teilhaben und zeigte ihm gedanklich, welche Landschaften sein Reich umfassten. Tore konnte dabei erkennen, dass sich der Spinnenwald im Süden noch weit nach Osten zog und dort an die Höhlensiedlungen der Schmiedeorks angrenzte. Er konnte aber auch sehen, dass in etwa 5 Tagesreisen ein großer Pass nach Norden führte, wo in einer fruchtbaren Senke zwischen zwei Wäldern ein von Bluttblattranken überwucherter, purpurner Turm aus einer Stadt der Schwarzpelze ragte. In den Gedanken Meneltins konnte Tore auch spüren, dass der Purpurturm, die Stadt der Schwarzpelze und das umliegende Gebiet von einer Drachin namens Nahema beschützt wurde, die Meneltin aus unbekannten Gründen fürchtete. Tore dankte dem Drachen für die Information und verbeugte sich, als der Lindwurm sich in die Lüfte erhob und mit seinem Schwert in den Klauen davon flog. Tore wandte sich an seine Gefährten: „In den Gedanken zeigte mir der Lindwurm das Gesicht einer Menschenfrau namens Nahema, die er als Drachin bezeichnete und die den Purpurturm beschützt. Die Frau in der Erinnerung des Lindwurms sieht aber aus wie jene Nahema, deren Portrait wir damals in Grangor in der Villa Neitmaler gesehen hatten. Ihr wisst schon, die Gildenmeisterin der Gilde der Gelehrten, die vor 300 Jahren in Havena und Grangor lebte. Vielleicht haben meine Erinnerungen sich mit denen des Drachen vermischt?“
Mit Wagen und Packpferd reiste die Gruppe an der Südflanke des Lindwurmgebirges weiter nach Osten. Unterwegs fanden sie die Spuren eines Riesen, der wohl mehrere Bäume aus dem Spinnenwald in die höher gelegenen Gebirgszüge geschleppt hatte. In einer der darauffolgenden Nächte wurde das Schlaflager der Rekker von einer Hand voll keulenschwingender Oger überfallen, doch die kampferprobten Gefährten konnten die tumben, menschenfressenden Zweibeiner taktisch in die Zange nehmen und ohne eigene Verluste erschlagen.
Der Perainemond neigte sich dem Ende zu, als die Reisegruppe auf einen einsamen Karrenweg stieß, der von Osten kam und sich nach Norden durch einen breiten Pass in die Berge schlängelte. Alriel konnte die Spuren eines Wagens auf dem Weg erkennen, die nur wenige Stunden alt waren. Graue Haarspuren deuteten allerdings darauf hin, dass es sich nicht um Beorns Wagen, sondern eher um ein orkisches Gefährt handelte.
Die Rekker folgten dem Pfad nach Norden und holten nach einige Stunden zu dem Gefährt auf, dessen Spuren Alriel zuvor gefunden hatte: Es handelte sich um eine Gruppe von sieben graupelzigen Orks, die mit einem Ochsenfuhrwerk voller Orkwaffen nach Norden unterwegs waren. Auch wenn diese Orks weit weniger blutlüstern wirkten, als ihre schwarzpelzigen Vettern in Phexcaer, wollte Tore deren Wege nicht kreuzen. Im Pass war es auch nicht möglich, die Waffenhändler ungesehen zu überholen, so dass Tores Mannschaft eine längere Pause einlegte, um den Abstand zum Ochsenfuhrwerk zu erhöhen.
Einen Tag später erreichten die Reisenden den höchsten Punkt der Passstraße und hatten einen wunderbaren Eindruck über die vor ihnen liegenden Landschaften: Etwa 40 Meilen im Norden konnten sie den Purpurturm erkennen, der sich geschätzt an die 100 Schritt in die Höhe schraubte. Mit Mühe konnte man die Reste einer Stadtmauer erkennen, die den Turm umgab. Die Felder vor den Mauern waren jedoch deutlich sichtbar und deuteten darauf hin, dass die Umgebung des Turms tatsächlich besiedelt war. Weit hinter dem Purpurturm konnten die Rekker schneebedeckte Berggipfel entdecken, die wohl zum nördlich gelegenen Firunswall gehörten. Sowohl nach Westen als auch nach Osten schien sich aber endloser Wald zu erstrecken.
Freya und der Godi Jorge deuteten die Schickssalssaga und kamen zu dem Schluss, dass Orozar wohl zunächst den Purpurturm erkundet und dann einen Pass weiter im Norden gefunden hatte. Tore wollte sich der Orksiedlung aber nicht nähern und wies Wlad stattdessen an, den Wagen in den westlichen Wald zu fahren, um den Purpurturm im Schutz der Bäume zu umrunden.
Im dichten Wald spähten Alriel und Ingram regelmäßig voraus, um einen geeigneten Pfad für den Wagen zu finden. Doch felsige, dünenartige Hügellandschaften, Wurzelwerk und dichtes Unterholz machten dies zu einem schwierigen Unterfangen. Der Wald war uralt und es gab weder Pfade noch Orientierungshilfen im dichten Gestrüpp. Im Laufe des Nachmittags musste Tore dann feststellen, dass Alriel und Ingram bereits seit mehreren Stunden nicht mehr beim Wagen waren, um von den vorausliegenden Gefahren zu berichten. Wlad lenkte den Wagen zwar noch ein Stück tiefer in den Wald, doch als Sindara zwischen den Bäumen mehrere mannshohe Spinnennetze erblickte, hielt es die Gruppe doch für sinnvoller, auf die abhanden gekommenen Späher zu warten.
Die Nacht verging im düsteren Wald, doch von den beiden Vermissten fehlte am Morgen immer noch jede Spur. Tore überlegte, ob er einen Suchtrupp ausschicken sollte, um die beiden Späher zu finden, doch er musste fürchten, dass noch weitere seiner Gefährten vom Wald verschluckt werden würden. Die Stimmung in der Expedition war am Boden, da auch am kommenden Vormittag kein Lebenszeichen von den Verschollenen gefunden werden konnte. Dann jedoch erreichte Alriel die Gefährten und schrie aufgeregt: „Gut, dass ich euch gefunden habe! Wir haben uns verlaufen und mussten alleine am Waldrand übernachten. Am Morgen haben uns dann aber seltsame Orks entdeckt. Ingram haben sie gefesselt und mitgenommen, ich konnte aber entkommen. Die gehören bestimmt zu der Orksiedlung beim Purpurturm. Sie haben mehrmals das Wort Nahema genannt.“ Alriel erklärte auch, dass die seltsamen Orks für Schwarzpelze recht wenig stanken und keine Rundohren wie die Menschen hatten, sondern stattdessen lange, spitze Elfenohren besaßen: „Ich habe solche Elfenorks schon einmal gesehen, oben in der Stadt Riva. Dort nennen sie sich Holberker.“ Wlad kannte keinen orkischen Begriff, der wie Nahema klang, so dass davon auszugehen war, dass die Entführer von der Drachin Nahema sprachen. Die Holberker von Riva waren ihm aber als handelsfreudiges und wenig aggressives Volk wohl bekannt.
Tore beriet sich mit Wlad, Freya, Hjalmar und dem Godi Jorge, was nun zu tun war. Wlad schlug einen Handelskontakt zu den Holberkern vor. Freya und Hjalmar waren ebenfalls beide dafür, Ingram vor einem möglicherweise grausamen Schicksal zu retten. Der Godi Jorge hingegen las aus den Gedärmen eines Eichhörnchens: „Ich sehe deutlich die Präsenz einer mächtigen Seidkona in diesem Tal. Sie ist uns aber wohlgesonnen.“ Tore vertraute den Worten seiner Berater und ließ den Wagen zurück zur Passstraße führen. Wlad erklärte, dass er die orkische Sprache gut genug beherrschte, um Verhandlungen mit den siedelnden Holberkern zu führen: „Ich habe bei meinen Reisen in den Regionen der Nordlande schon viele friedfertige Schwarzpelze getroffen, die sich auf einen guten Handel einlassen. Vielleicht können wir Ingram freikaufen!“
Ohne sich die Nervosität anmerken zu lassen, reisten die Rekker mit Wagen und Packpferd entlang der Straße direkt auf die Stadtmauern und den prägnant hervorstechenden Purpurturm zu. Die schwarzpelzigen Bauern auf den Feldern bemerkten die fremden Glatthäute und blickten diesen neugierig entgegen. Aggressive oder kriegerische Handlungen blieben allerdings aus. Am Stadttor sammelte sich derweil eine kleine Delegation aus Einheimischen die die Neuankömmlinge neugierig und höflich begrüßten. Wlad erkannte voller Erleichterung, dass es sich bei den Stadtbewohnern tatsächlich überwiegend um Holberker handelte, Mischlinge mit Elfen‐ und Orkenblut. Die Holberker waren in Mänteln und Westen aus gefärbtem Leder und Leinen gehüllt und trugen Kappen aus Seide, die an die Kaufmannstracht in Tiefhusen erinnerte. Hosen oder Schuhe kannten sie aber nicht. Einer der Holberker trat nach vorne und sprach in einer Mischung aus Orkisch und einer Vielzahl von garethischen Lehnwörtern: „Willkommen Fremdere. Ich bin Oberhändler Zurak Krinak. Ich heiß willkommen in Ohort von Statterin Nahema. Du Freund von Nahema?“
Wlad antwortete freundlich und gab sich tatsächlich als Freund von Nahema aus, auch wenn er das Gefühl hatte, dass der Holberker vor ihm nur die Hälfte von dem verstand, was Wlad zu sagen hatte. Dennoch konnte Wlad dem Holberker klar machen, dass er und seine Gefährten dringend eine Audienz bei der Statterin Nahema wünschten. Zurak Krinak hatte dagegen wohl nichts einzuwenden und führte die Rekker in die Stadt hinein. Bei den Behausungen von Ohort handelte es sich wohl um alte Ruinen aus der elfischen Besiedlungszeit, die mit Brettern und Verschlägen zu wetterfesten
Wohnlöchern umfunktioniert worden waren. Im Schatten des gewaltigen Purpurturms folgten die Rekker einer ringförmigen Hauptstraße und wurden dabei von einer Traube neugieriger Holberker begleitet.
Die Karawane stoppte vor einer befestigten, aber prächtigen Stadtvilla, die direkt gegenüber dem Eingang des Purpurturms lag. Höflich wirkende Oger bewachten den Zugang zur Villa, in deren blumigen Gartenanlagen versteinerte Orks, Holberker und Oger gleichermaßen als Mahnmal und Zierde aufgestellt waren. Die Oger trugen festliche Uniformen am Leib und horasische Lammperücken auf den Köpfen und zeugten damit von der Macht der Statterin Nahema, die dieser Stadt wohl ihren persönlichen Stempel aufgedrückt hatte. Holberkische Bedienstete in sauberer Kleidung öffneten schüchtern und flink die Türen der Villa, aus der eine liebreizende Frau mit kastanienbraunen Augen und tulamidisch‐dunklen Haaren trat, deren charismatische Aura die Luft regelrecht zum Knistern brachte. „Vorsicht, sie ist eine mächtige Zauberin!“, flüsterten Jorge und Alriel zeitgleich.
„Ich bin Statterin Nahema von Ohort, Wächterin von Satinavs Auge, Herrin der sieben Elemente, Oberste der Gilde der Gelehrten, Erzmagierin der Zauberschule von Khunchom, Letzte der Rohalsschülerinnen, Erbin des Diamantenen Sultanats und Meistermalerin der Tiefhusener Malerei‐Schule“, verkündete die Zauberin stolz, „doch ihr könnt mich Nahema nennen. Kommt herein, das Abendmahl wird kalt und das Bier wird warm. Ihr mögt doch ein Tiefhusener Dunkles?“
Die Rekker waren überrascht von so viel traviagefälliger Gastfreundschaft und vergaßen jede Scheu und Vorsicht. Freya wollte sich nach dem Schicksal von Ingram erkundigen, doch sie kam kaum zu Wort, da Nahema sich gerade einmal die Namen ihrer Gäste anhörte, diese dann zum Speisesaal führte und sogleich begann, löchernde Fragen an die Thorwaler zu richten. Sie wollte wissen, wie es um das Mittelreichische Kaiserhaus steht, woher Tore, Wlad und Alriel die hübschen Korundiumwaffen bezogen hatten, was die Rekker in diese abgelegene Gegend verschlagen hatte und wie ihnen die Stadt Ohort gefällt.
Während ein Abendmahl aus glasierten Wachteln, Bier, Schnaps und Wein gereicht wurde, gewann Wlad mehr und mehr den Eindruck, dass Nahema schon seit langer Zeit keine menschlichen Gäste mehr empfangen hatte. Gleichzeitig musste er feststellen, dass Nahema ein großes Redebedürfnis hatte und besonders gerne von sich selbst und ihren glorreichen Taten schwärmte. Die Zauberin war dermaßen von sich selbst überzeugt, dass sich ihr ganzes Universum nur um sie selbst zu drehen schien. Nichtsdestotrotz war es spannend, ihr zuzuhören, da sie tatsächlich schon über 300 Jahre alt war und angeblich auch den letzten Thor Askir, Hetmann Hyggelik, vor einem guten Jahrhundert hier empfangen hatte.
Nahema war die Tochter eines lange verstorbenen Akademiemeisters der Khunchomer Zauberschule und Tochter einer tulamidischen Hexe, die in der Rohalszeit lebten. Nahema wurde als junge Frau vom Magierkaiser Rohal selbst ausgebildet und nahm auch an seiner Seite am magischen Krieg gegen den Dämonenmeister Borbarad teil, bei dem ihre Eltern ums Leben kamen. Sie überlebte jedoch die verlustreiche Schlacht in der Gor und kam in den Besitz des Kristallherzens von Borbarad, welches dem Dämonenmeister Unsterblichkeit verlieh. Mit dem Kristallherz
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