8/16/2019 Die Homerische Frage und das Problem der mündlichen Überlieferung aus volkskundlicher Sicht
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D i e t z - R ü d i g e r M o s e r , F r e i b u r g
i . B r .
Die
Homerische Frage
und das Problem der
mündlichen Überlieferung
aus volkskundlicher Sicht
Unter dem Einfluß der Oral-Poetry-Forschung ist in jüngster Zeit der
Anspruch
erhoben worden, daß man mittels Kenntnissen und Methoden
der vergleichenden Erzählforschung Wesentliches
zur
Klärung der Homeri-
schen
Frage
1
beitragen könnte: der Frage nach dem Dichter des homerischen
Epos und seiner Arbeitsweise. Ob diesem Anspruch Genüge getan werden
kann, erscheint jedoch eher zweifelhaft. In der vorliegenden Studie soll der
fragliche Ansatz an einem konkreten Beispiel aufgezeigt und diskutiert
werden.
I
In seinem Buch
uying
the
Wind
teilt der amerikanische Folklorist Richard
M .
Dorson eine Erzählung mit,
die ihm der
84jährige Hummerfischer Frank
Alley
in
West Jonesport/Maine
im
Jahre 1956 vorgetragen
hatte:
The
Sailor
W
ho
Went
Inland
2
.
Sie
besitzt,
leicht verkürzt, folgenden Inhalt:
[1] Ein Seemann entsdiließt sich, ein Mäddien zu heiraten, das nodi nie etwas
vom Salz des Meeres und von der Sdiiffahrt gehört hat. Er verfertigt
sich ein kleines Ruder,
steckt
es in die Tasche und zieht landeinwärts, bis
er zu
einer Farm gelangt,
wo ihn
eine junge Frau über Nacht aufnimmt.
Als sie zusammensitzen, zeigt ihr der Seemann sein Ruder und fragt sie,
was das
sei.
Sie
antwortet,
es
sehe
wie ein
Ruder aus.
So
zieht er weiter,
bis
er
eine Sedizehnjährige
trifft, die ihm auf die
Frage nach seinem Ruder
antwortet,
es
sehe
wie
ihrer Mutter
Kochlöffel
aus.
Der
Mann
ist mit
der
Antwort zufrieden
und
heiratet
das
Mädchen.
Als er in der
Hochzeits-
nacht das Sdilafzimmer
betritt,
findet er seine junge Frau, aller Kleider
entblößt, flach auf dem Rücken liegen, wie sie die
Beine
senkrecht in die
Luf t
streckt. A uf seine
Frage,
was das zu bedeuten habe, erklärt sie ihm:
„Ich
habe gemeint, eine Sturmböe kommt auf,
und
habe
alles
gerafft, um
bis zu den nackten Polen davonzusegeln." Sie wußte also etwas vom
Salz
des
Meeres
und von der
Sdiiffahrt.
1
Cf. Heubeck,
A.:
Die Homerische Frage. Ein Bericht über die Forschung der letzten
Jahrzehnte Erträge
der
Forsdiung, 27). Darmstadt 1974.
—
Lesky, A.: Homeros.
In: Paulys Realencyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft, Supplement-
band 11. Stuttgart 1968, 687—846. — Der Hinweis auf diese beiden umfang-
reichen
Forschungsberichte
muß aus
Raumgründen eine detailliertere Auflistung der
Homerliteratur ersetzen. Zur
E i n f ü h r u n g
ferner: Sdiadewaldt,
W.:
Homer und
die Homerische Frage.
In:
id.:
Von
Homers Welt
und
Werk. Stuttgart
4
1965,
9—
35. —
Wöhrmann,
J.: Die
Homerische Frage
in
ihrer
Bedeu tung für die
Homer-
interpretation. In: Der altsprachliche Unterricht, Reihe 8, Heft 3 Juni 1965) 5—14.
2
Dorson, R.
M.:
Buying the Wind. Regional Folklore in the United States. Chicago/
London M972, 38 sq.
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Die Homerisdne
Frage
und das Problem der
mündl.
Überlieferung 117
Das ist ein derb-erotischer Schwank, ähnlich den Intimen russischen Mär-
chen Aleksandr
N.
Afanas'evs
3
und
verwandten Geschichten
in den
Anthro-
pophyteia von Friedrich S. Krauss
4
oder in Vance Randolphs Sammlung
Pissing
in the
Snow
and
Other
Ozark
Folktales
5
.
Das
Ruder,
das der
Seemann
aus
seiner Tasche zieht und den jungen Frauen
zeigt,
versteht sich offenkundig
als
Phallus-Symbol
6
, ebenso wie die „Pole , denen die B raut in der Hochzeits-
nacht entgegenzusegeln
gedenkt
7
, und
auch
die
Bezeichnung
„Segeln fü r
Koitieren
ist in der
erotischen Folklore häufiger anzutreffen
8
.
Der
Witz
der
Erzählung liegt offenbar darin, daß der des Ruderns und Segeins, d. h. des
ausschweifenden Lebens, müde Seemann fern des Meeres die Unschuld vom
Lande
zu finden
hofft, damit aber,
wie
sich herausstellt,
nur
einem Wunschbild
nachjagt.
Denn
der
Schwank suggeriert,
daß man
nicht einmal
dort
ein
sexuell
unwissendes,
unerfahrenes Mädchen
finden
könne.
Die
weder
im
Typenver-
zeichnis
vo n
Aarne
und Thompson
noch
in Stith Thompsons
Motif-Index
of
olk-Literature gebuchte Erzählung müßte von daher zur Motivgruppe F 111
Journey to earthly paradise gestellt werden, wo sie als F 111.7 un te r der
Rubrik Journey
to
land where people
had
never seen
the sea
zu plazieren
wäre
9
. Im
Motivverzeichnis erotischer Volkserzählungen
von Frank A. HofT-
mann
10
ist sie ebenfalls nicht nachgewiesen. Wollte man ihren Hauptinhalt in
der Entlarvung der
scheinbaren
geschlechtlichen Unwissenheit des Mädchens
sehen,
ließe sie sich auch zu
Hoffmanns
Motivgruppe
X 712.4
Lack of
know-
3
(Anon.:) Russkie
zavetnye skazki, Genf
s.a.
— Französisdi:
Contes
secrets, tra-
duits de russe. In: Kryptädia l (Heilbronn 1883). — Deutsch (leicht gekürzt):
Erotische Märdien aus Rußland. Gesammel t von A. N. Afanasjew. Herausgegeben
un d übersetzt von A. Baar (Fischer-Taschenbuch 1823). F ra n k f u r t a. M. 1977. —
Cf. Levin,
L:
Afanas'ev.
In:
Enzyklopädie
des
Märchens
1.
B erlin/N ew York 1977,
col. 127—137.
4
Krauss,
F. S.
(ed.): Anthropophyteia
1—10.
Leipzig
1904—1913. —
id.: Beiwerke
zu m
Studium der Anthropophyteia
l—9.
Leipzig
1909—1929.
— Zahlreiche Er-
zählungen
auch in K ryptadia 1—12, Heilbronn/Paris 1883—1911.
5
Unveröffentlichtes Ms. 1954. — Über die Sam mlu ng unterrichtet (mit Typenver-
zeichnis): Hoff
mann ,
F.
A.: Analyt ica l Survey
of Ang lo -Amer ican Trad i t iona l
Erotica.
Bowling Green/Ohio 1973, 70—73.
* Cf. Borneman ,
E.:
Sex im Volksmund . Die sexuel le Umg angssprache des deutschen
Volkes. Reinbek bei Hamburg 1971, 1: Wörterbuch s. v. Ruder, mit der E rk l ä ru n g :
„Ruder" = Penis; „Das R u d e r einhängen**
= ko i t i e r e n .
2: Thesaurus, 26.25.
7
Englisch: pole = Pol und Stange,
Stößel,
Penis. — Cf. polecat = Dirne.
Cf. den erotischen Volkslied- und Schlagerrefrain
„Das
ko m m t vom Rudern , das
ko m m t vom
Segeln ,
der noch 1965 zum A nl aß des gerichtlichen Verbotes einer
Schallplatte
der
Deutschen Grammophon-Gesellschaft wurde.
—
Brednich,
R. W.:
Erotisches
Lied.
In:
Handbuch
des
Volksliedes, edd. Brednich,
R. W. /
Röhrich,
L. /
Suppan, W. 1. (Motive
1,1).
München 1973, 575—615, hier: 586, not. 43 („Eines
der verbreitetsten erotischen Volkslieder"). Zur äl teren Üb erl ieferu ng cf. Sauer-
mann, D.: Historische Volkslieder
des 18. und 19.
J a h rhu n d e r t s (Schriften
der
volkskundlichen
Kommission 18). Münster 1968, 483—485, num. 67.
Im
Anschluß
an
Mot.
F
1115: Land where
all
creatures
are
f r iendly
to one
another
un d
F
ili.6:
Voyage to land without evil.
11
Hoff ma nn (wie not.
5) .
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Dietz-Rüdiger Moser
ledge about gem'ta/s
11
stellen, in der
entsprechende
Enthüllungsgeschichten zu-
sammengefaßt
sind. Die vorgetäuschte Unwissenheit in
geschlechtlichen Din-
gen
12
bildet
jedoch ein sekundäres
Motiv,
das
nicht
von Anfang an zu ihr
gehört
hat.
Die
Erzählung
von der
Suche
nach dem Land der
meerunkundigen
Be-
wohner
findet sich
nämlich nicht erst Mitte des 20.
Jahrhunderts
an der
ame-
rikanischen Ostkiiste,
sondern
sie
gehört
schon zu dem jüngeren der
beiden
homerischen
Epen,
der Odyssee, in der sie
auffälligerweise zweimal begegnet:
als
Rat des
Sehers
Teiresias in der Unterwelt an
Odysseus
(Buch XI
[
],
Nekyia und als Bericht des
Odysseus gegenüber
Penelope im Anschluß an die
Wiedervereinigung
der Gatten
(Buch XXIII [ ] ;
in beiden
Episoden
er-
scheint sie
ohne
jedes schwankhafte
Element.
Wir hören sie das erste
Mal,
als
sich
Odysseus
auf den Rat
Kirkes
hin entschließt, in den
Hades
hinabzusteigen,
um von der Seele des
thebanischen Greises
zu
erfahren,
was zu
seiner Rettung
nötig sei. Teiresias zeigt ihm den Weg zur Aussöhnung mit
Poseidon
und
prophezeit
ihm zugleich ein
glückliches Lebensende
13
:
[2 ] Hast du jetzo die Freier, mit
Klugheit oder gewaltsam
120
Mit der
Sdiärfe
des Sdiwertes, in
deinem P alaste getötet,
Siehe, dann nimm in die Hand ein geglättetes Ruder und gehe
Fort
in die Welt, bis du kommst zu Mensdien,
weldie
das Meer nidit
Kennen,
und
keine Speise gewürzt
mit
Salze genießen,
Weldien
audi
Kenntnis fehlt
vo n rotgesdinäbelten
Sdiiffen,
125 Und von
geglätteten Rudern,
den Fittidien
eilender
SdiifFe.
Deutlich will ich sie dir
bezeidmen,
daß du nicht irrest.
Wenn
ein
W anderer
einst, der dir in der
Fremde begegnet,
Sagt, du
trägst
eine
Schaufel
auf
deiner rüstigen Schulter,
Siehe, dann steck in die Erde da s schöngeglättete R uder,
11
Hoffmann (wie not. 5) 251. — Cf. Mot.
X
712.4.2: M an determines to marry girl
so innocent she
doesn't
know what a member is. Finds one
w ho calls
it a tee-hee,
an d
marries
her.
When he later
asks
why she doesn't
call
it a
pecker
like
everyone
eise, sh e
answers
that
everyone knows
a
pecker
is
bigger than that.
— In dieser
Form bei Randolph (wie not. 5), 138 sq.
12
Cf. Legman, G.: Der unanständige Witz. Theorie und Praxis. Hamburg 1970,
121—155. Unter de n erotischen Witzen über Fellatio in der Ehe, ibid., 571 und
794, not., teilt Legman eine
Hochzeitsnachtsgeschichte
mit, die dem Ausgang unse-
re r Erzählung sehr nahesteht und
vielleicht
als
weitere Schwundstufe
(v . un ten
not.
89) zu ihm
angesehen werden kann:
Ein
Pastor kehrt
in der
H ochzeitsnacht
aus dem Badezimmer zurück,
nachdem
er
sich
die
Zähne
geputzt hat, und
sieht
seine
ju nge Gattin nackt
im
Bett
auf dem
Rücken liegen.
Er ist
entrüstet .
„Ich
habe
erwartet, dich
auf den
Knien
liegen zu
sehen",
sagt er
vorwurfsvol l.
— „N a
schön",
erwiderte
die
Neuvermählte, „aber
ic h bekomme
davon immer
den Schluckauf"
[oder:
„Eine solche
bin ich
nicht
—
außerdem
kriege
ich
immer Kopfweh
da -
von*]. — Die Tendenz dieses Übertrump fungswitzes richtet
sich hier auch
s tärker
gegen den Ehemann, weil er als Pastor moralisch einwandfreies Verhalten
zeigen
sollte, aber
vo n
seiner Frau oral-genitalen Kontakt verlangt (Zähneputzen). Doch
sie
übertrifft ihn, indem
sie ihm zu
verstehen gibt,
da ß
sein Verlangen
für sie
all-
täglich
ist. —
Herrn
Hans-Jörg Uther, Göttingen,
danke
ich für den Hinweis auf
diese Var ian te ,
die auch in einer
Limerick-Version verbrei tet war .
18
Homer: Odyssee, übertragen von J. H. Voß.
München
s. a., 130 sq., V. 119—137.
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Die Homerische Frage und das Problem der
m
und L Überlieferung 119
130
Bringe
stattliche Opfer
dem
M eerbeherrscher Poseidon,
Einen
Widder
und
Stier
und
einen mutigen Eber.
Und nun
kehre zurück
und
opfere heilige Gaben
Allen
unsterblichen
Göttern,
des
weiten Himmels Bewohnern,
Nach der Reihe herum. Zuletzt wird außer dem Meere
135
Kommen der Tod und dich vom hohen behaglichen Alter
Aufgelöseten sanft hinnehmen, wenn ringsum die Völker
Froh
und
glücklich sind.
Nun hab ich
dein Schicksal verkündet.
Zum
zweiten
Mal treffen wir auf die
Erzählung,
als Penelope den Heim-
gekehrten
erkannt
hat. Sie fragt Odysseus nach seinen Erlebnissen, und er
beginnt seinen Bericht
mit dem
Rückblick
auf die
Äußerungen
des
Teiresias,
wobei
er
diese fast wörtlich wiederholt
14
:
[3] Denn mir gebeut der erleuchtete Seher,
Fort
durch
die Welt zu gehn, in der
Hand
ein geglättetes Ruder,
Immerfor t ,
bis ich komme zu Menschen, welche da s Meer nicht
Kennen
und keine Speise gewürzt mit Salze genießen (usw.).
Der Rat des Teiresias, ein
Land aufzusuchen,
in dem man das
Meer nicht ken-
ne und das
Salz
des
Meeres nicht verwende, stellt offensichtlich
die
Bedingung
dafür dar,
daß der Held von Troja an den
Mühsalen
seiner Irrfahrt
nicht
zugrundegeht, sondern
fern vom Meer und
seinen
Gefahren an Altersschwäche
sterben
kann. Der
Seher nennt
als
Voraussetzung dieses glücklichen Endes
die
Beilegung des Konfliktes mit Poseidon und das Hineinstecken des Ruders in
die
Erde.
Der griechische
Folklorist Kosta
Romaios hat das Verständnis dieser For-
derung
durch den Hinweis erleichtert, daß das
senkrechte
Hineinstecken der
Kornschaufel in die
Erde,
wie Hesiod
bezeugt,
im
alten
Griechenland ein
apotropäischer
Abschlußbrauch
bei der
Ernte war,
mit dem die
Landwirte
die neue
Frucht vor dem
dämonischen Zugriff
der
Nera'iden
zu
schützen
suchten
15
. Wenn
Teiresias
Odysseus rät, das Ruder wie eine Kornschaufel in
die Erde zu stecken, ist
damit
das Verlangen
nach
einem grundlegenden
Lebenswandel des
Helden
ausgesprochen: Er soll vom Seemann zum Landmann
werden,
er
soll kein Ruder mehr halten, sondern
nur
noch
die
hölzerne
Dresch-
schaufel, und er
soll
damit von seiner Irrfahrt Abschied nehmen, die durch
das Rudern, das „Dreschen in den
Meeren**,
gekennzeichnet war
16
. „Das Ruder
auf der
Schulter
ist die
Bindung
ans
Meer
[. . .] Das
Meer
und sein
erzürnter
Gott lassen [Odysseus] nicht los, sie besitzen Macht
übe r
ihn, bis die unheim-
liche Macht des Meeres gebrochen ist**
17
.
14
Homer (wie not. 13), 269,
V.
266—283 (hier
gekürzt) .
15
, .:
[Das
Wasser der Unsterblichkeit] (Hellenike Lao-
graphia
1) .
Athen 1973.
76. — Für freundliche
Hinweise
ist der
Verfasser Frau
Marianne
Klaar, Freiburg i. Br., dankbar
verpflichtet.
16
(wie not. 15) 75.
17
Cf.
Dornseifr, F.: Odysseus' letzte Fahrt.
In:
Hermes. Zeitschritt
fü r
klassische Phi-
lologie
72 (1937) 351—355,
hier: 353.
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120 Dietz-Rüdiger
Moser
Zwischen der Odyssee-Episode und dem an der
amerikanischen Ostküste
aufgezeichneten erotischen Schwank bestehen bei grundsätzlich ähnlichem
Handlungsverlauf
so
erhebliche Unterschiede
in der
Bewertung der Suche nach
dem
Land
der
meerunkundigen Bewohner,
daß
sich
die
Zugehörigkeit
der
Belege zu
demselben Erzähltyp
nur
über
die
Einzelmotive ergibt.
Als
Beweis
fü r
die
Unkenntnis
des
Meeres soll hier
wie
dort
der
Umstand gelten,
daß der
Fremde,
dem der Held
begegnet, sein Ruder nicht kennt. Unter
dem
Meer
versteht Homer augenscheinlich das ruhelose Leben des Kämpfers um Troja,
während der Volkserzähler in ihm ein Sinnbild sexueller Ausschweifung außer-
halb der Ehe mit
einem unwissenden,
d. h.
unberührten, Mädchen sieht. Ent-
sprechend unterscheiden
sich
auch
die Schlüsse der
beiden Fassungen. Während
in dem
erotischen Schwank
die
Unwissenheit
der
Braut
zur
Enttäuschung
des
Seemanns als vorgeschoben entlarvt wird, steht in der antiken Ausprägung
des Stoffes die Verheißung eines friedvollen Lebens, das
letztlich
in der Ewig-
keit aufgeht: die
Ziel V orstellungen
der beiden Versionen weichen demnach
weit voneinander
ab.
Die Belege aus dem achten vorchristlichen Jahrhundert und aus dem Jahre
1956 trennt eine Oberlieferungslücke
von
rund
2 700
Jahren,
die nur
durch
die Beschäftigung mit der Oi/^55ee-Episode unterbrochen wird. Die
Auffassung,
daß es
sich
bei dem
griechischen Nationalepos
um
einen
historischen
Bericht
handelte,
der bis in alle
Einzelheiten geschichtliche Ereignisse wiedergäbe,
hatte schon antike Homerforscher zu der Annahme
veranlaßt,
daß der Ort,
zu dem Odysseus nach der Freiertötung mit dem Ruder auf der Schulter
gezogen sei, im Landesinneren
gefunden
werden könnte. Unter den Auto-
ren,
die
meinten,
daß
jener mythische
Ort der
Epirus gewesen sei,
finden
sich
Pausanias, Stephanos Byzantios, Johannes Tzetzes
(in den Scholien zu
Lyko-
phron)
und
Eusthatios
(um
1110—1196),
der
Metropolit
von
Thessalonike
und
berühmte Homerkommentator
18
. Eine andere Tradition verlegte den
vermeint-
lichen
Ort in die
arkadischen Berge.
Im
Jahre
1889 wies
der
Münzenforscher
J. Sboronos auf
zwei Münzen
aus dem
alten Mantineia hin, deren eine
das
Bild eines Mannes mit einem Ruder auf der Schulter zeigt, während auf dem
anderen
ein
Mann
ein
Ruder senkrecht
in die
Erde steckt. Sboronos
sah in
diesen Darstellungen bildliche Wiedergaben
der
beiden Handlungszüge
der
Odyssee-Episode:
die Fußwanderung des Odysseus in das Landesinnere und
seine Ankunf t in den arkadischen Bergen, nahe bei Mantineia. Die Entdeckung
eines
alten, dem Poseidon geweihten Tempels bei Ausgrabungen auf dem Berg
Pallantion durch
den
Athener Archäologen
K. A.
Romaios
im
Jahre 1916
führte
zu der
Vermutung,
daß
dieser
Poseidon-Tempel
die von Odysseus
errichtete Opferstätte für den Meeresgott gewesen sei, angesiedelt fernab
18
(wie not.
15) 75.
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8/16/2019 Die Homerische Frage und das Problem der mündlichen Überlieferung aus volkskundlicher Sicht
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Die Homerische Frage und das Problem der mtindl. Überlieferung 121
vom Meer am Weg von Tripolis nach
Kalamata ,
auf der Höhe des alten
Asseia
19
.
Wichtiger als
solche Lokalisierungsversuche,
die
sich nicht halten
lassen
20
,
erscheint
dabei die Tatsache, daß man
sich
immer wieder mit der
Odyssee-
Episode beschäftigt und so zu ihrer Ve rselb ständ igung beigetragen hat. Üb erdies
gab es
seit
de m
Altertum eine außerordentlich breite Homer-Rezeption,
die
weit über eine nur spezialistische Beschäftigung mit dem Dichter und seinem
Werk hinausreichte
21
. „Seine Epen b lieben nicht nur von der S chule vermitteltes
Bildungsgut,
sondern sie standen auch während des ganzen griechischen Alter-
tums im
Mittelpunkt einer lebhaften
Diskussion
22
. Die
„unermeßliche
ge-
schichtliche Wirkung" Homers
23
in allen von der griechischen Welt beeinflußten
Kulturen
reichte über das christliche
Mittelalter
24
bis in die Neuzeit hinein.
Es kann deshalb nicht überraschen, daß unsere Erzählung auch in der neu-
griechischen
Volksüberlieferung
der
Ägäis
und der Achaia des
Peloponnes
anzutreffen ist. Sie wird hier jedoch nicht mehr mit Odysseus, sondern mit den
Heiligen Nicolaus
25
und
Elias verbunden, wobei
sie in der
Regel dazu dient,
eine aitiologische
Erklärung für die Kultstätten des Propheten Elias auf den
Berggipfeln
Griechenlands zu geben
26
:
[4] Der hl. Elias
war
ein Seemann, und weil er auf dem Meer viel gelitten
hatte und viele Male nahe daran gewesen war, zu ertrinken,
wurde
er des
Seefahrens müde.
Er
entschloß sich,
an
einen
Ort
zu
ziehen,
an dem man
nicht
wüßte,
was das Meer und was Schiffe seien. Er nahm deshalb das
Ruder
auf die
Schulter
und zog
landeinwärts.
Und wem er
begegnete,
den f ragte er nach dem Gegenstand, den er trug. Solange man ihm ant-
wortete:
„Das
ist ein Ruder , zog er weiter, bis er auf den Gipfel des
Berges kam. Dort erhielt er die Antwort: „Ein Stück Holz . Da sah er,
daß die Leute niemals ein Ruder gesehen hatten, und er blieb bei ihnen
au f den
Höhen.
11
(wie not.
15) 76.
21
Cf.
Lesky (wie not.
1)
691.
Man mag zu
diesem Problem
mit
Lesky, 799,
au f
Eratosthenes verweisen,
der
meinte,
daß man die
Gegend
der
Irrfahrten erst
be-
s t immen werde, wenn man den Ledera rbeiter fänd e, der den Windschlauch des
Aiolos genäht
habe.
2:
Einen
Eindrudt von
dieser Rezeption,
die in der
Volksforschung sehr
untersdiä tz t
wurde, vermit te l t Glockmann, G.: Homer
in der
frühdir ist l ichen L i t e ra tu r
bis Ju-
stinus
(Texte
und U ntersuch ungen zur
Gesdiichte
der al tchrist l ichen L iteratu r 105).
Berlin 1968, bes. 17—30: „Die Wirkungsgeschidite Homers
im allgemeinen".
21
Glockmann (wie not.
21) 24.
2i
Glockmann (wie not. 21) 25.
24
Glockmann (wie not. 21) 47—95. Über Homers Rolle in der christ l ichen Literatur
der späteren Zeit unterric htet exemplarisch Rah ner,
H.:
Symbole
der
Kirche.
Die
Ekklesiologie der
Väter. Salzburg 1964, bes.
239—271:
„Odysseus
am Mas tbaum* ,
darin 260—271: „Der Christ als Odysseus .
25
Cf. Georges, R. A.: Addenda to Dorson's „The Sailor
W ho Went Inland .
In:
Journa l
of
American Folklore
79
(1966)
373 sq.
hier: 374, n u m .
2:
„[...]
the story
at t r ibuted
to
Saint
Nicholas is
quite common
in Greece ;
Dorson (wie not.
2) 38.
Cf.
(wie not.
15)
73—77, n u m .
18:
„Die Kirchen
des hl.
Elias
auf den
Gipfeln", hier:
73.
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8/16/2019 Die Homerische Frage und das Problem der mündlichen Überlieferung aus volkskundlicher Sicht
7/21
122
Dietz-Rüdiger Moser
In
einer
parallelen Aufze ichnung
2 7
nach dem
Vortrag
griechischer
Seeleute
wird der
Abschied
vom
Meer damit begründet,
daß das
Boot
des Elias
keine
Segel
besaß und er
deswegen ständig rudern mußte.
Auch
in
dieser
neugriechischen Version,
die im
Jahre 1837
zum
ersten
Mal dokumentiert wurde
28
, sucht der Held weitab vom Meer eine Bleibe, und
wieder
dient das
Ruder dazu,
das
Wissen
der
Landbewohner über
das
Meer
und die Schiffe zu prüfen. Das Schlußmotiv, daß sich der Held auf dem
Berggipfel niederläßt,
steht
dem
Opfer
an
Poseidon
in der
antiken Fassung
des
Stoffes nicht fern, wenn man bedenkt, daß der Anlaß dieser Niederlassung
die malerischen Eliaskapellen und -altäre auf den Berggipfeln sind, die dem
Kult dieses Propheten dienen. Offenbar ersetzt hier die Gestalt des mono-
theistischen christlichen Glaubens eine andere des vorchristlichen antiken
Götterglaubens. Wie Marianne
Klaar
aus Eindrücken in der Ägäis
berichtet
20
,
wissen viele
Volkserzähler
zu
dieser Geschichte
zu
sagen,
daß der
Prophet
Elias „eigentlich Odysseus sei, womit sich indirekt bestätigt,
daß sie
sowohl
die
homerische Fassung als auch die aitologische Ausprägung kennen. Kosta
Romaios
vermutet
30
,
daß sich die Erzählung zuerst von der Gestalt des
Odysseus gelöst
habe
und dann anonym
tradiert
worden sei, bis sie sich über
das
Bergmotiv (als Erklärung
für das
Phänomen
der
Eliaskapellen
auf den
Bergen) an die
Gestalt
des
Propheten gehängt habe. Dieses Bergmotiv
setzt
den
erwähnten Versuch voraus,
den
mythischen
Ort der
Wanderung
des
Odysseus
auf
einem
der
arkadischen Berge
zu
lokalisieren.
Die
Elias-Kapellen
mögen, wie sich aus der Namensgleichheit schließen
läßt
[
—
],
ältere Helios-Kultstätten abgelöst haben
31
, doch
war es
auch
so
sinnvoll,
dem
Propheten
auf den
Bergen Verehrungsstätten
zu
errichten, weil Elias
auf dem
Berge Karmel die heidnischen Baalspriester besiegt
32
und auf dem
Berge
Horeb
eine Erscheinung Gottes erlebt
hatte
33
.
Eine solche rein bio-
graphische und missionsgeschichtliche Erklärung setzte jedoch eine zu genaue
Kenntnis
der
Lebensgeschichte
des
alttestamentlichen
Propheten voraus, um
wirklich volkstümlich sein
zu
können.
Das
Volk suchte nach einer anderen
Erklärung, die es in der verfügbaren Odyssee-Episode fand und entsprechend
umformte. Auslösend
wirkte
dabei vielleicht
die
Gleichsetzung
von
Elias
und
27
(wie not. 26) 73. Aufzeid iner: Andreas Karkabitzas.
28
(wie not.
26) 73.
23
„Mir ist die
Geschichte
in der
Ägäis sehr
häufig begegnet",
freundliche
Mit tei lung
vom
4. März 1978.
30
(wie not. 15) 74.
31
Cf.
Megas, C:
Greek Calendar
Customs.
Athens
1958, 142—144, hier: 142.
—
Gegenüber der griechischen Originalausgabe um den
Abschnit t über
die
aitiologische
Seemannserzählung
gekürzt. — Weitere L i t e ra tu r zur K u l t u rü b e rn a hm e Helios
->·
Elias bei
Georges (wie not.
25)
374, not.
3.
32
l.Kön. 18,
16—40.
33
1. Kon. 19, 1—18.
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8/16/2019 Die Homerische Frage und das Problem der mündlichen Überlieferung aus volkskundlicher Sicht
8/21
Die
Homerische Frage
und
das
Problem
der
mündl. Überlieferung 123
Moses
34
mit Odysseus und Moses
35
, die eine Identifizierung von Elias mit
Odysseus nahelegte
36
.
II
Daß der Ratschlag des T eiresias an Odysseus in den Grundzügen mit dem
erotischen
Schwank des
Hummerfischers
Frank
Alley
von der amerikanischen
Ostküste übereinstimmt,
hat schon
Richard
M .
Dorson festgestellt
und aus
diesem Sachverhalt bem erkenswerte Schlußfolgerungen gezogen. Für ihn stellt
die Version der
Odyssee
keineswegs die literarische Erstausformung des
Stoffes dar, von der die mündlich überlieferten Fassungen der späteren Zeit
mittelbar oder unmittelbar abstammen würden. Vielmehr sieht er in ihr eine
dreitausend
Jahre alte „Variante" der in Jonesport aufgezeichneten Erzählung,
die
zudem von
Homer
ein bißchen geschönt worden sei („a
little
prettied
up
by Homer )
37
.
In der
Hierarchie
der
Volkstradition rangiere Homer unter
Frank Alley ( ), weil Hom er eine mü ndliche Quelle ang ezap ft habe
38
. Damit
meint Dorson wohl,
daß man bei
Homer gewissermaßen
auf
„Volkskultur
aus
zweiter
Hand , d. h. auf Folklorismus
39
,
stoße, während
man bei
Frank
Alley auf die
Quelle selbst
treffe, den unerschöpflichen,
ewig fließenden Strom
der
Volksüberlieferung
40
.
Mt.
17,3 sq.
35
Cf.
Glockmann
(wie not. 21),
35—38.
89
Die Struktur der
Erzählung ließe
sidi
demnach folgendermaßen
umreißen:
The Sailor Who Went Inland
I. Ein
Seemann (Odysseus, Nicolaus, Elias) zieht
mit
seinem Rud er landeinw ärts,
um
eine Gegend
zu
sudien,
in der man
nodi
nie das
Meer gesehen
und das
Salz
des
Meeres geschmeckt
(die
Speisen gesalzen)
hat [F 111.7: Journey to land where
people
had
never seen
th e
sea].
— II .
Er
trifft auf
e inen Mann (ein Mäddien),
der (das) das
Ruder
als
Kornschau fe l
(Kochlöffel, Holz)
ansieht
und
damit seine
Unkenntnis bezeugt [J
1772:
One object thought to be another]. —
III.
(a) Der
Seemann opfert den Göttern [V 11.9: Sacrifice to deity]; (b) er
läßt
auf den Berg-
gipfeln Altäre bauen
[cf. A
151.1: Home
of
gods
on
high
mountain]; (c) er hei-
ratet das Mädchen, das
sich
in der Hochzeitsnacht weniger unwissend zeigt, als es
zu
sein
vorgegeben
hat
[cf.
X 712.4:
Lack
of
knowledge
about
genitals]. Überliefe-
r u n g :
[1] USA l
Dorson,
R. M.:
B u y i n g
the
Wind . Chicago /London (M964),
5
1972,
38 ; id.: Collec t ing Folklore in Jonesport , M aine . In: Proceedings of th e
American
Philosophical Society 101 (1957) 287; id.: Ora l
L i t e ra tu re , Oral
H i s to ry ,
and
the Folklorist. In:
id.:
Folklore and Fakelore, Cambridge/Mass.
1976, 127—
144 ( A u s zu g ) ; id.: Foreword.
In:
Folktales
of
Greece,
ed. G. A.
Megas (Folktales
of
the wor ld ) . Chicago /London 1970, X I — X L V , h i e r : XIV sq. [2] Gre l H o m e r :
Odyssee,
l ib. XI [ ], V.
119—139.
[3]
Gre
2
Homer:
Odyssee, Hb.
XXIII
[ ],
V.
266-283. [4] Gre 3 ,
.: [Das Wasser
der Un-
sterblichkeit] .
Athen
1973, 73—77,
n u m .
18 (a).
A ufze ichner:
Ch. P . Kor i l lo s , 1890
=
Polites, N.:
Paradoseis.
A t h e n
1901, l,
num . 208.
Cf.
H am i l to n , M.: Greek Saints
an d Their
Fest ivals . London
1910, 2 3,
n u m .
1. [5] Gre 4
ibid., num.
18 (b). Auf-
zeichner:
Andreas Karkab i t zas .
37
Dorson
(wie not.
2) 38.
38
Dorson (wie not. 2) 3:
„ In
th e
hierarchy
of folk tradition, Homer ranks below
Frank Alley
of Jonesport,
Maine...
[Homer]
must have
tapped an oral
source.
39
Cf. Moser, H.: Der Folklor ismus als Forschungsproblem der Vo lkskunde . In: Hes-
sische
Blät ter für Volkskunde 55 (1964)
9—57.
— Baus inge r ,
H.:
Vo lkskunde .
B er l i n /D a r m s ta d t s. a. [1970], 158—209,
hier :
159.
40
Zu Frank Alley cf . Dorson (wie not. 2) 26.
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9/21
12 4 Dietz-Rüdiger Moser
In einer jüngeren Untersuchung geht Dorson noch einen Schritt weiter. Im
Zusammenhang mit
Versuchen,
übe r die
Formeltheorie
der
Parry-Lord-Schule
41
und
die übrige
Oral-Poetry-Forschung
42
Einblick in die Entstehung
der
homerischen
Epen
zu gewinnen, gelangt er
zu
der Überzeugung, daß die
Folkloristik aus ihrer
Kenntnis traditioneller
Erzähls toffe und
-motive
in der
Lage sei,
das
mündliche Erzählgut dieser Epen
von
deren sonstigen Stereo-
typen zu unterscheiden. Die
folkloristische
Erzählforschung könne, wie er
argumentiert,
dazu
beitragen, den Anteil des Bearbeiters
Homer
von dem des
„mündlichen Dichters
zu
trennen
43
— was in der Tat ein
bedeutsamer
methodischer Beitrag zur Lösung der Homerischen Frage wäre.
Offensichtlich
beruht dieser Gedanke
auf der
weiten räumlichen
und
zeitlichen Distanz
der
Belege,
die als
Beweis
d a f ü r
genommen wird,
daß die
Erzählung
zum festen
Bestand der Volksüberlieferung gehört habe. Homer habe nur auf dieses Er-
zählmuster zurückzugreifen brauchen, um es seinen
Zwecken
entsprechend zu
bearbeiten, z. B. indem er es „schönte
44
. An Polygenese im Sinne Joseph
Be*diers und damit an
jederzeit
mögliche
Neuentstehung
der
relativ
einfach
strukturierten Geschichte, wie Robert A.
Georges
45
,
glaubt Dorson of fenbar
nicht.
Nach
seiner
Auffassung muß die
Erzählung lange
vor Homer
vorhanden
gewesen
und unabhängig von der literarischen
Tradition
durch Weitergabe
von Mund zu Mund über Länder, Kontinente und Zeiten hinweg verbreitet
worden sein.
Aber aus welchem Grund, unter welchen Bedingungen und in welcher
Gestalt sie
offenbar schon
in
mykenischer, wenn nicht vormykenischer Zeit
entstanden sein soll, wird aus dieser Argumentation nicht ersichtlich. In der
Odyssee
besitzt
die
Erzählung eine zweckmäßige
und für den
Gesamtverlauf
entscheidende
Funktion,
zumal unter Berücksichtigung ihrer typologischen
Sinngebung,
auf die
Kosta
Romaios aufmerksam gemacht hat:
sie
motiviert
einerseits
die Hadesfahrt,
weist andererseits
aber
auch über
die
Schilderung
der Heimkehr des Odysseus weit in die Zukunf t voraus. Es ist deshalb wohl
denkbar, daß der Verfasser des
Epos
46
sie neu entwarf, um mit ihrer Hilfe zu
41
Cf. Lord, A.
B.:
The
Singer
of Tales.
Cambridge/Mass. *1964.
— Heymes, E. R.:
A Bibliography of
Studies Relating
to Parry's and
Lord's Oral Theory.
(Publi-
cations of the M i l ma n
Parry
Collection. Documenta t ion and
P lann ing
Series 1 ).
Cambridge/Mass.
1973; Haymes,
E . [sie]: Mündliches Epos in mittelhochdeutscher
Zeit. Diss. phil. Er langen-Nürnberg 1969, bes. 12—42: „Das mündl iche Epos .
42
Cf. Haymes, E .
R.:
Das
mündliche
Epos.
Eine E i n f ü h r u n g
in die „Oral Poetry -
Forschung (Sammlung Metzler
151). Stuttgar t 1977;
Finnegan, R.:
Oral Poetry.
Its
na ture , significance, and social context . Cambridge
1977.
43
Dorson, Oral Literature (wie not.
36) 136—138.
44
Dorson (wie not.
2) 38;
Dorson,
Foreword
(wie not.
36) X V, spricht von der Z i rku -
la t ion
der
Erzählung
„over
centur ies among
the
internat ional f r a te rn i ty
of
sca-
farers."
45
Georges (wie not.
25)
373.
—
Zu
J.
6 Standpunk t
cf. Kloocke, K.:
Joseph
I^diers
Theorie
über den Ursprung der
chanson
de geste und die
daran
anschlie-
ßende Diskussion
zwischen
1908 und 1968.
Göppingen
1972.
46
Die
Frage,
ob der Verfasser der
Odyssee (oder
nur der „Urodyssee") mit dem
Verfasser
der Ilias identisch
war,
braucht uns hier
nicht
zu beschäftigen. Cf.
aber
Lesky, A.
(wie not.
1)
692.
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8/16/2019 Die Homerische Frage und das Problem der mündlichen Überlieferung aus volkskundlicher Sicht
10/21
Die Hotnerische
Frage
und das Problem der mündl. Überlieferung 125
zeigen, daß der Abschied von dem gefahrvollen Leben auf dem Meer und die
Hinwendung zu dem beschaulicheren, in den Jahresrhythmus eingebundenen
Landleben die Voraussetzung für das Erreichen eines hohen Alters und
natür-
lichen Lebensendes darstellte.
Der
Annahme einer nachhomerischen
Interpo-
lation
der Teiresiasszene wird wegen ihrer bedeutsamen Rolle im Ganzen
heute niemand mehr das
Wort
reden. Wolfgang Schadewaldt, der in einem
weithin
überzeugenden Ansatz
die Urodyssee (A) von der
überlieferten
Bearbeitung (B) unterscheidet
47
, hat sie mit Grund dem
Autor
der ersteren
zugewiesen
48
.
Andererseits fällt es schwer, die Vorstellung anzuerkennen, daß
so
hoch organisierte Dichtungen
wie
Ilias
und
Odyssee
aus dem
Nichts, ohne
die Grundlage einer älteren, zudem hoch entwickelten Volkserzählungstradition
und
ohne sonstige Vorbilder entstanden sein könnten,
allein dank des
schöp-
ferischen
Genies eines einzelnen.
Daß den
homerischen
Epen
andere Dichtun-
gen vorausgegangen sind, darunter epische Heldengesänge und
kollektives
Erzählgut unterschiedlichster Art, wie Sagen, Märchen,
Anekdoten,
Legenden
oder Exempel, erscheint wohl auch dem überzeugtesten
Umtarier
nicht zweifel-
haft,
weil ihre hohe
Qualität
einen längeren Entwicklungsprozeß der dichte-
rischen Gestaltung wahrscheinlich macht; einzelne
Epen
vorlagen, etwa für die
Ilias, sind ja auch überliefert
49
. Eine ganz andere Frage besteht jedoch darin,
in welchem Umfang und in welcher Form die ältere
Volkserzählungstradition
auf
die beiden Epen eingewirkt hat. Möglicherweise lieferte sie einen
beträcht-
lichen
Vorrat
an Einzelmotiven, Motivgruppen
oder
auch selbständige Volks-
erzählungen,
aus dem der
Dichter nach Belieben schöpfen
konnte.
Ohne
ge-
sicherte
Belege
aus
vorhomerischer Zeit
muß
diese Möglichkeit
aber
reine
Vermutung bleiben. Es erscheint deshalb höchst problematisch, Ilias und
Odyssee — wie Rhys Carpenter, der darin im wesentlichen F. A. Wolf und
K. Lachmann folgt — als Ausarbeitungen von Volkserzählungen
(„elabora-
tions of
folk
narrative**)
50
anzusehen,
d. h. von
Vorlagen
aus der Erzähl-
tradition (nicht
aus den
Rhapsodenschulen),
die ein
Bearbeiter, nämlich
Homer, zu der geschlossenen Gestalt zusammengefügt hätte, in der sie über-
liefert
sind. Man darf dabei nicht übersehen, daß
Homer,
wie heute weithin
47
Sdiadewaldt,
W.:
Die Heimkehr des Odysseus. In: id.: (wie not. 1) 375—412; dazu:
Heubeck (wie not. 1) 90 sq., 109—110 (mit Hinweisen au f Gegenauffassungen) . Die
Argumente Sdiadewaldts
sind
am besten
übersdiaubar
in seiner Studie: Neue Kri-
terien zur Odyssee-Analyse. Die Wiedererkennung des Odysseus und der Penelope.
In: Sitzungsberichte der Heidelberger Akad. der Wiss., Phil.-hist. Klasse (1959)
Ab h a n d l u n g 2. Heidelberg 1959.
48
Schadewaldt , Heimkehr (wie not. 47)
486—488;
Lesky (wie not. 1) 812, hat
„nicht
de n
Eindruck einer organischen Ausweitung
des Stoffes* an
dieser Stelle, doch
is t
ih r
planvoller
Au fb a u
u. a.
schon
von
Dornseiff
(wie not.
17)
dargelegt worden.
Cf. ferner
Reinhardt, K.:
Die
Abenteuer
der
Odyssee.
In:
id.:
Von
Werken
und
Formen. Vorträge und
Aufsä tze,
Godesberg 1948, 52—162, hier: 126—132. Zu
Teiresias-Odysseus
bes. 129 sq.
49
Cf. Schadewaldt, W.: Einblick in die
Er f indung
der Ilias. Ilias und Memnosis. In :
d. (wie not. 1) 155—202.
50
Carpenter, R.: Folk Tale,
Fiction,
and Saga in the Homeric Epics.
Berkeley/
los Angeles 1946; cf. Dorson, Foreword (wie not. 36)
XXXIV.
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8/16/2019 Die Homerische Frage und das Problem der mündlichen Überlieferung aus volkskundlicher Sicht
11/21
126 Dietz-Rüdiger Moser
anerkannt ist, zwar die Orale-Formel-Technik beherrscht und verwendet hat,
darüber hinaus aber in unerhörter Weise einen neuen dichterisdien Bau schuf,
der in der
sog.
Oral
Poetry,
wie
Wolfgang
Schadewaldt zu
Recht
bemerkt*
1
,
ohne Analogie ist.
Der
Plan
zu
diesem
Bau
blieb immer dominant, auch dort,
wo vielleicht verfügbare Motive zu der eigenen Lebenserfahrung und den neu
erdachten Konstellationen hinzutraten.
Das
Problem
ist
nicht
neu und
deshalb oftmals diskutiert worden
52
. Schon
Ludwig Radermacher
hat in
einer Studie über
die
Erzählungen
der
Odyssee
vor dem
Versuch einer Auflösung
des
Epos
in
einzelne „Märdien
[=
Volks-
erzählungen] gewarnt, weil
sie
sich weit
von der
antiken Denkweise ent-
ferne
53
. Trotz dieser Warnung griffen manche Autoren die von Radermacher
im
selben
Zusammenhang
nachgewiesenen Parallelen zwischen Episoden der
Odyssee
und
noch umlaufenden Volkserzählungen auf,
um sie als
Beweis
für
die Abhängigkeit dieser Episoden von einer vorhomerischen Erzähltradition
in Anspruch
zu
nehmen.
Z. B.
hatte Radermacher
aus dem
Zaubertrank,
den
Kirke den Gefährten des Odysseus reicht, die Folgerung gezogen, daß sie eine
Märchenhexe sei, und ausgeführt, daß sie sich der gleichen Mittel bediene, die
von den Hexen zur Bezauberung ihrer Opfer sonst benutzt würden. Er
überging dabei
die Tatsache, daß der
Hexenglaube mancher Volkserzählungen
seinen kulturgeschichtlichen Hintergrund
in
weit jüngeren Epochen besitzt
und
deshalb nicht ohne weiteres
bis in das
Altertum zurückprojiziert werden darf.
Aber Radermacher
war
nicht
so
unvorsichtig,
auf
Grund einzelner Ähnlich-
keiten zwischen der O
8/16/2019 Die Homerische Frage und das Problem der mündlichen Überlieferung aus volkskundlicher Sicht
12/21
Die Homerische
Frage
und das Problem der
miindl.
Überlieferung 127
Das Bemühen Radermachers, zwischen der Handlungsschicht des homeri-
schen Epos und ähnlichen Volkserzählungen zu vermitteln, war an sich förder-
l ich, weil es die Volksnähe der
Odyssee,
die wohl in ihrer Bildhafttigkeit
beg ründe t ist, deutlich hera us stel lte. B egreiflicherweise mu ßte diese Verm itt-
lung
auf den
Vergleich
von
Abläufen beschränkt bleiben,
die
sich äußerlich
entsprechen, weil er für den inneren Aufbau des
Epos,
etwa die Symmetrie der
Ha nd lungs z üge ,
nichts ergab. B ei dieser Methode bestand jedoch die Gefahr ,
daß man über dem Vergleichbaren das Unvergleichliche übersah. Was die
Hochdichtung Odyssee
von den
Heimkehrergeschichten
der
Volksüberliefe-
rung
57
unterscheidet, sind gerade solche Sym metrien, plan voll organisierte
Steigerungen, Vorausverweisungen,
Rückgriffe und
wechselseitige innere
B e-
zugnahmen auf Ereignisse, die hier mit großem Verständnis für die Ökono-
mie
des
Erzählten angelegt sind. Derartige Struktu ren,
die
einem übergeord-
neten Konzept folgen, verringern in erheblichem Maße die Wahrscheinlich-
keit ihrer Herkunft aus präexistentem Material. Denn fü r die Volkserzäh-
l ung
ist die
Reihung
von
Motiven
und Motivgruppen
weit typischer
58
als
eine
Motivverknüpfung über weite Distanzen wie in der Odyssee. Die Suche nach
traditionellen
Mustern aus der Volksüberlieferung erscheint
daher
in allen
Fällen zwecklos, in denen
sich
der Bau der Einzelelemente zwingend aus den
Erfordernissen
des erzählerischen Gesamtplanes ergibt. Nun ist die innere
Logik des Szenenaufbaus der homerischen Epen bis in die „Werkstücke
hinein
immer wieder hervorgehoben worden,
vor
allem
von
Altphilologen,
die
sich deshalb auch der An nahm e einer überwiegend technisch-formelhaften
„mündl ichen
Dichtung"
im
Sinne Milman Parrys lange
widersetzt haben. Die
logische Organisation läßt eher absichtsvolle
Neusdiöpfung
als Weiterverwen-
dung gegebener Vorlagen
erwarten.
Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt die Teiresias-Szene der Nekyia
und ihre Wiederholung, wird offenkundig, daß mit einer älteren
Volks-
erzählung
gleichen Inhaltes nicht geredinet werden kann. Denn die beiden
Abschnitte,
an denen die Darlegung des Teiresias erscheint, sind unmittelbar
aufe inander bezogen; die erste wurde für die zweite geschrieben
59
. Das Motiv,
daß Odysscus sogleich nach der ers ten W iedersehensfreu de Penelope vom Rat
des
Teiresias erzählt, dient nicht der Verzögerung des Handlungsflusses,
sondern der Absicht, Penelope verständlich zu machen, daß die I r r f a h r t des
Helden mit seiner Rückkehr nach Ithaka noch nicht zuende ist , solange die
Versöhnung mit Poseidon aussteht. Und Penelope begreift und akzeptiert,
57
Cf.
Lesky (wie not.
1) 801
sq.; Heubeck (wie not. 1)155 sq.; Schmitt,
F.
A.: Stoff-
und
Motivgeschichte der Deutschen Literatur. Eine Bibliographie. Berlin
M
965,
92 sä., s.v. Heimkehrer (Li tera tur) ; Frenzel ,
E.:
Motive der Wel t l i tera tur (Kröners
Taschenausgabe
301). Stuttgart 1976, 329—341.
58
Cf. z. B. Andrejev, N. P.: Die Legende vom Räu ber M ad ej (FFC 69). H elsinki 1927,
262—263 (Motivkombinat ionen) .
59
Cf.
Dornseiff
(wie not. 17) 352.
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128 Dietz-Rüdiger Moser
indem sie der b estürz enden Nachricht allein die Verheiß ung des glücklichen
Ausganges entnimmt
60
:
„Nun ,
wenn
dir
von den Gö ttern ein frohes Alter bestimmt ist,
Können
wir
hoffen,
du wirst dein Leiden
glüddidi
vollenden."
Der
Zusammenhang zwischen
der
vorbereitenden
Teiresias-Szene im Hades
und dem Rückgriff auf sie im funk tion al entscheidenden Augenblick der
scheinbaren Lösung aller Konflikte belegt
die
planvolle Gestaltung
der
Episode,
die
ihrerseits
die W eiterverwendung eines vorhandenen E rzählmusters unw ahr -
scheinlich werden läßt. Ludwig Radermacher traf den Kern des Problems, als
er zu fragen forderte, was ein Motiv innerh alb der Dichtung wolle, und meinte,
daß es in der Regel genügend erklärt sei, wenn es im Rahmen des Gesamt-
werkes seinen
Zweck erfülle
61
.
Die
Frage
der
Neuschöpfung oder
der
Übernahme eines
Stoffes
aus der
Volksüberlieferung
muß in
jedem Einzelfall gesondert untersucht werden.
Allzuleicht
hat die
Homerforschung
aus dem „märchenhaften
Charakter
bestimmter Elemente
auf die
Abhängigkeit
von
einer älteren Tradition
geschlossen
62
,
ohne immer nachzuprüfen,
ob sich die
Struktur dieser Elemente
nicht zwingend
aus den
übergeordneten Intentionen
des
Dichters ergibt.
Man
könnte
der
Teiresias-Episode
als
Gegenstück
die
Po/ypAerrc-Erzählung
zur
Seite stellen, die von Folkloristen in ganz ähnlicher Weise als Beispiel für die
Einverleibung eines vorhomerischen Stoffes in die
Odyssee
genannt worden ist.
Auch
in
diesem
Fall
hatte schon Radermacher
auf
parallele volkstümliche Men-
schenfresser-Geschichten hingewiesen,
in
denen
die
Täuschung durch
den
Namen, die Blendung des Unholds und die Flucht mit Hilfe des W idders vor-
kommen, dabei aber überlegt, „ob alle späteren verwandten Geschichten
tatsächlich
etwas nützen können,
um den
ursprünglichen Charakter
der Poly-
phemdichtung zu bestimmen; denn gesetzt den Fall, daß sie aus der
Odyssee
stammen, haben sie keine Beweiskraft mehr
63
. W er immer die Polyphem-
Episode
als
Volkserzählung ansehe, müsse sich
„in
gleicher Weise
der
Verant-
wortung bewußt bleiben,
die in
einer
solchen
B ehauptung enthalten
ist
64
.
Das
Problem besteht auch hier darin,
daß die
homerische Fassung
mit
ihrem
bis
in jedes Detail geplanten
Aufbau
0 5
die
einzige Vollform
der Episode aus dem
60
Homer (wie not.
13)
269,
V. 285 sq.
61
Radermach er (wie not . 53) 35.
62
Cf.
Lesky (wie not.
1)
794;
Heubeck
(wie not.
1)
154.
—
Obwohl
kaum eine S t o f f -
geschichtliche
Unte rsuchung
der homerisdien
Epen ohne
den
Begriff „Märdien" aus-
kommt, sollte
man von seiner
kri t iklosen Verw endung warnen, weil
mit ihm
Vor-
stellungen ve rbunden werden, die einer ernsthaften
Würd igung
nidit s tandhal ten .
Fast
zwangsläufig
gehört dazu,
die „Märdien" und „Seefahrermärchen" der
Odyssee
als
„ural tes
Gut
anzusehen, da s
lange
vor Homer vorhan den war . Cf. z. B. Fried-
ridi, R.:
Stilw and el im Hom erischen Epos. Studien zur Poetik un d Theorie der
epischen
Gat tung (Bibl iothek
der klassischen
Altertumswissenschaften, Neue Folge,
Reihe
2,
55). Heidelberg 1975, 130.
63
Raderm acher (wie not.
53) 15.
64
Radermacher (wie not. 53) 16.
65
Cf.
Waldsdorff ,
F.: Odysseus bei
Polyphem.
In: Der altsprachliche Unte rr ich t ,
Reihe 8,
Hef t
3
(Juni 1965) 15—39, bes.
15—31.
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8/16/2019 Die Homerische Frage und das Problem der mündlichen Überlieferung aus volkskundlicher Sicht
14/21
Die H omerische
Frage
und das
Problem
der
mündl.
Überlieferung 129
Altertum darstellt,
und daß
daneben
nur
neuzeitliche
Volkserzählungen
ent-
sprechenden oder ähnlichen Inhaltes bekannt
sind
66
.
Dazwischen liegen
mehrere literarische Belege des christlichen Mittelalters und der Neuzeit, dar-
unter
der
lateinische
Dolopathos
des
Zisterziensers
Johannes
von
Alta
Silva
mit
seinen deutschen Obersetzungen,
die in
verschiedenen
Punkten von der
Oifyssee-Erzählung abweichen. Lutz Röhrich, der diese Abweichungen unter-
sucht hat, unternahm zugleich den originellen Versuch, das Fehlen außer-
homerischer sprachlicher Überlieferungen des Stoffes in der Antike durch die
Einbeziehung bildlicher Darstellungen
der Po/^p/?em-Geschichte in der
frühen
Vasenmalerei Griechenlands wettzumachen.
Er
gelangte
zu dem
Schluß,
daß
die
mittelalterlichen Redaktionen
in
entscheidenden
Zügen mit der
Volksüber-
lieferung der Neuzeit übereinstimmten, in denselben Zügen aber zugleich von
der
Fassung
der
Odyssee
abwichen;
die
mittelalterliche schriftliche
Über-
lieferung
müsse
auf
einer älteren mündlichen Überlieferung
aufbauen
67
.
Wird
man
dieser These schon
im
Hinblick
auf die
breite Homer-Rezeption
seit der
Antike zustimmen, scheint doch offen zu sein, ob es in homerischer Zeit „ho-
merunabhängige
und
vielleicht sogar vorhomerische, mindestens aber neben-
homerische Formen
der Sage
gegeben hat
68
.
Wie
Röhrich
argumentierte,
habe
der
Dichter
der
Odyssee „diese Geschichten sicherlich nicht erfunden,
sondern
aus
älterer Überlieferung
geschöpft. Die
vergleichende Märchen-
und
Sagenforschung könne beweisen, „daß es sich schon damals um einen
Stoff
der
Volkserzählung gehandelt
haben
müsse
69
.
Zustimmend
stellte
Sigfrid
Svensson dieses Ergebnis
an den
Anfang seiner Einführung
in die
Europäische
Ethnologie™ und
folgerte weiter,
daß die
„Märchen
und Sagen der Odyssee
unabhängig
von ihr bis in die Gegenwart
weitergelebt hätten. „Eine späte
mündliche Überlieferung kann also
in
diesem Fall
ein
besseres Bild
der Volks-
tradition liefern als die geschriebene homerische Dichtung, die ursprünglich
getrennte Motive entlieh, bearbeitete
und
zusammenfaßte.
Prinzipiell muß
man
sich daran erinnern,
daß die
älteste Niederschrift einer Tradition nicht
die
ursprünglichste sein
muß
71
. Wie
Dorson überbrückt Svensson
die
2700
Jahre
zwischen der
Odyssee
und den Aufzeichnungen aus der Erzählpraxis des
19. und 20. Jahrhunderts durch die Annahme einer mündlichen Tradition, die
sowohl
von
Homer
als
auch
von den
literarischen Fassungen
der
späteren Zeit
unabhängig
sei.
6
*
Cf. Röhridi, L.: Die mittelal terl idien Redaktionen des Polyphem-Märdiens und ihr
Verhältnis zur außerhomerisdien Tradition. In: id.: Sage und Märdien. Erzählfor-
schung
heute. Freiburg/Basel/Wien 1976,
234—252
und
326—328
gegenüber der in
Fabula 5 [1969] 48—71
abgedruckten Fassung erweitert).
67
Röhridi wie not. 66) 251.
·* Röhrich wie not. 66) 252.
69
Röhrich wie not.
66)
252.
70
Svensson,
S.: E in füh rung in die
Europäische Ethnologie Textbücher
zur
Europä-
ischen Ethnologie 1) . Meisenheim am Glan 1973, 5—8.
71
Svensson wie not. 70) 7.
9
abu l a
20
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8/16/2019 Die Homerische Frage und das Problem der mündlichen Überlieferung aus volkskundlicher Sicht
15/21
130 Dietz-Rüdiger
M oser
III
Zwangsläufig drängt sich
hier die
Frage auf,
ob man mit der mündlichen
Überlieferung als einer festen Größe wirklich ernsthaft rechnen kann. Lutz
Röhrich
hat
festgehalten,
daß
„die Kontinuität,
die die
Brüder Grimm
den
Volkserzählungen als
Resten
uralter Götter- und Heldensagen zuerkannten,
und
die
Fortsetzung dieses wissenschaftlichen Gebäudes
in den
Mythologen-
schulen des 19. Jahrhunderts sich nur in den seltensten Fällen als tragfähig
erwiesen hat*
72
. Warum? Im Ansatz der Brüder Grimm waren verschiedene
geistesgeschichtliche Strömungen
zusammengekommen
73
: die evolutionistische
Theorie, daß sich Gesellschaften von niederen zu höheren Schichten fortent-
wickelten
und
dabei „survivals einer älteren Schicht
in
eine jüngere hin-
überreichen könnten; der Glaube an den kollektiven Ursprung der Kultur;
das Rousseausche
Ideal
einer Rückkehr
zur
„Natur ;
die
Abkehr
von der
eigenen Zeit und Mitwelt, verbunden mit dem Sehnen nach einem fernen
Unerreichbaren; und der aufkommende Nationalismus, der die
Suche
nach
den Ursprüngen des jeweils eigenen Volkes veranlaßte. Diese und andere
Strömungen hatten zu der Vorstellung geführt , daß man in den Volksüber-
lieferungen die Relikte einer besseren, zunehmend vergehenden Welt finden
könnte,
mit
deren Abgang auch unschätzbare nationale Werte verlorengehen
würden. Kennzeichnend
sah J. G.
Herder „die Reste aller lebendigen Volks-
denkart mit beschleunigtem letzten Sturze in den Abgrund der Vergessenheit
hinabrollen *
74
und forderte, die
Zeit
zum Einbringen des Auff indbaren zu
nutzen, bevor es zu spät wäre. Bei den zahllosen Sammlungs- und „Rettungs -
Aktionen,
die seinen
Anstößen
folgten, gelang es in der Tat, viele Volksüber-
lieferungen aufzuzeichnen,
die den
Kenntnisstand über
das
Erzählte, Gesun-
gene und Gedachte beträchtlich vergrößerten. Doch was man entdeckte, war
keineswegs überwiegend alt oder „uralt . Vielmehr fand sich überall Modi-
sches
neben
(scheinbar)
Zeitlosem, und es bereitete erhebliche Schwierigkeiten,
den Ansatz,
daß man über die
Funde
bis in die
Kindheitsgeschichte
der
Mensch-
heit
vordringen könnte, empirisch
zu bestätigen. Was
sich
bei der
Unter-
suchung des Überlieferten als jung herausstellte, was von schriftlichen oder
gedruckten Quellen abstammte, oder was gar auf einen konkreten, namentlich
faßbaren Autor zurückgeführt werden konnte, verlor schnell
das
Interesse
der
Sammler
und
Forscher.
Der
Umstand,
daß
gerade
die
„uninteressanten Funde
den Hauptteil des Überlieferten ausmachten, verursachte dabei waghalsige
Unterscheidungen zwischen „Volkhaftem , „Volkstümlichem und „Echtem ,
die ihrerseits wieder theoriebildend wirkten. Als „echt wurde in der Folge
72
Röhrich, L.: Das Kontinuitätsproblem bei de r
Erforsdiung
der
Volksprosa.
In :
Bausinger, H . / Brückner, W . (edd.):
Kont inui tä t?
Gesdiiditlidikeit und Dauer als
volkskundliches Problem. Berlin 1969, 117—133, h ier : 123.
73
Cf.
Finnegan
(wie not. 42)
30—41.
74
Suphan, B . (ed.): Herders
sämtliche
Werke 1—33. Berlin
1877—1913
(Nachdruck
Hildesheim
1967—1968),
hier:
II
25,
11; II 24,
267.
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8/16/2019 Die Homerische Frage und das Problem der mündlichen Überlieferung aus volkskundlicher Sicht
16/21
Die
Homerische Präge
und das
Problem
der mündl. Überlieferung
131
nur
noch
das „mündlich überlieferte"
Volksgut anerkannt ,
von dem m an
meinte ,
daß es von Gen eration zu Generation w eitergegeben
worden
sei
und dabei seine
gültige
Ausprägung erlangt habe; Variantenbi ldung
gilt
von
daher noch heute
manchen
Folkloristen
als
Argument
fü r
langlebige münd-
liche Überlieferung.
Diese Überlieferung
auf
andere Weise,
etwa
durch Reper-
toireuntersuchungen,
zu
beglaubigen,
war
indes wenig erfolgreich.
Die
individu-
ellen Volkslieder z. B., die sich nur vom 15. oder 16. bis zum 19. Jahrhundert
in ununterb roch ener oraler Tradition erhalten haben, belaufen
sich
auf ganz
wenige
Stücke
75
und betreffen nur
einen Bruchteil dessen,
was in den
Samm-
lungen
dieser Zeit zu finden ist.
Offenbar
besaß jede Zeit ihr eigenes Kultur-
gut,
das
sich
von dem
anderer Zeiten unterschied
76
. Ruth Finnegans Versuch,
„einige schlagende Fälle mündlicher Überlieferung* aufzuführen, erbrachte
neben
einem Hinweis
auf die
indische
Regveda,
die
einen Sonderfall
darstellt,
im
wesentlichen
nur
Belege
für das
Liedgut englischer Emigranten,
das
sich
in den
neuen Wohngebieten länger
als im
Binnenland
erhalten haue
77
.
Zeug-
nisse nachweisbar sehr langer mündlicher Überlieferung, etwa über Jahrtau-
sende, fehlen.
Diese Tatsache kann an
sich
nicht überraschen. Sozial wissenschaftliche Un-
tersuchungen
über
die
Diffusion
von Neuerungen
78
, zu
denen auch
die ge-
nannten Kulturmuster gehören, haben gezeigt, daß der Innovations- und
Desintegrationsprozeß gesetzmäßig verlaufen.
Neu
eingeführte Objekte ver-
breiten
sich
in der Art, wie sie die gewöhnliche
(Sinus-)
Zuwachskurve dar-
stellt, außerordentlich rasch und über weite Entfernungen, werden dann aber
auch
wieder fallengelassen
und
gehen unter, wenn nicht besondere Gründe
diesem
Verschwinden entgegenstehen.
Die
Verm utung mancher Migrations-
theoretiker, daß eine W ande rung solcher Objekte übe r Län der und K onti-
nente
Jahrhunderte dauere
und man
deshalb
aus der
Verbreitung
der
Funde
75
Cf. die
spärliche,
aber gerade deshalb
sehr
aufschlußreiche
Zusammenstellung im Ab-
sdmitt über „Die Bewahrung individueller Lieder bei Wittrock, W.: Die ältesten
Melodietypcn im ostdeutsdien Volksgesang (Sdiriftenreihe der K omm ission fü r ost-
deutsche Volks kund e in der Deutschen G esellschaft für Vo lksku nde 7). Ma rbu rg
1969, 113—116.
76
Siuts,
H.:
Phasen von Be ha r ru n g und W a n d e l im Volksleben Mitteleuropas. In:
Kulturel ler Wandel im 19. Jahrhundert , ed. G. Wiegelmann. Verhandlungen des
18. Deutsch en Volksku nde-K ongres ses in Trier vom 13. bis
18.
Septem ber 1971 (Stu-
dien
zum
Wandel
der
Gesellschaft
und B i ldung im 19.
Jahrhundert
5).
Göt t ingen
1973, 242—250, hier: 243.
77
Cf. Finnegan (wie not. 42) 135—139.
78
Cf. Moser, D.-R.:
Kri t ik
der
oralen Tradition. Bemerkungen zum Problem
der
Lied-
und
Erzählungspopularisierung.
In: Folk
Narrative
Research.
Some
Papers
Presented at the VI. Congress of the International Society for Folk Narrative
Research
(Studia Fennica 20). Helsinki 1976,
209—221,
mit Hinweisen auf Kiefer ,
K.:
Die
Diffusion
von
Neuerungen. Tübingen 1967; Reimann,
H.:
K o m m u n i ka -
tionssysteme. Umrisse einer Soziologie der Verm itt lun gs - und M itteilungssy steme.
Tübingen 1968,
u. a. —
Über
die
Transmissionssysteme handelt auch Pentikäi-
nen,
J.: Oral Transmission of Knowledge. In: The Anthropologica l Study of
Educat ion , edd. J. Craig Calhoun et al. The Hague 1976,
11—28.
Cf. not. 83.
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8/16/2019 Die Homerische Frage und das Problem der mündlichen Überlieferung aus volkskundlicher Sicht
17/21
132
Dietz-Rüdiger Moser
über
weite Areale
den
Schluß
auf
deren hohes Alter ziehen
dürfe
79
, findet
insofern keine
Bestätigung.
Für das vorindustrielle Zeitalter wird man die
Dauer
des
Diffusionsprozesses, grob geschätzt,
mit ein bis
zwei Generationen
annehmen dürfen, während
der
gleiche
Vorgang
im
Zeitalter
der
Massen-
kommunikation
in
Tagen oder Wochen abläuft. Tradition über einen längeren
Zeitraum läßt sich deshalb
als
etwas Normwidriges ansehen,
das der
Erklärung
bedarf, nicht
als den
Regelfall,
den Folkloristen
gerne
in ihr
gesehen haben
80
.
Ist eine Erzählung von den Akzeptanten aufgenommen worden, bleibt sie so
lange im Gebrauch, bis sie
ihren
Novitätscharakter verliert, von jüngeren
Innovationen überlagert wird und untergeht. Der Desintegrationsprozeß kann
jedoch unter bestimmten Bedingungen gehemmt oder aufgehalten werden,
so
daß
tatsächlich langfristige Tradition entsteht.
Zu
diesen Bedingungen gehört
die Isolierung
der
Überlieferungsträger
in
Randzonen eines Sprachgebietes
oder
in
Außensiedlungen
mit
fremdsprachlicher Umgebung,
in
denen
die
Trennung vom Mutterland und ein geringer interethnischer Kulturaustausch
zur langfristigen Bewahrung des Vorhandenen führen. Eine andere Bedingung
betrifft
die
Bindung tradierbarer Gestalten
an
Rituale
und
Objekte.
Der
indischen
Regveda
sicherte nur die Einbeziehung ihrer Hymnen in die Liturgie
die jahrtausendelange Überlieferung. Sagen, die sich um Grabhügel rankten,
ließen sich mehrfach durch Ausgrabungen als Erzählungen mit geschichtlichem
Kern nachweisen
81
, weil
die
„Objektkonstanz
der
Hügel
den
Abgang
der
aitiologischen
Überlieferungen
verhindert hatte.
Daneben gibt
es das
bewußte
Festhalten
an
hochbewerteten Gegenständen, durch
das
diese gegen
den
modi-
schen Strom
des
Hinzu-
und
Abtretenden abgesetzt werden.
Das ist
häufig
der
Fall
bei
Überlieferungen, deren Inhalt
mit
menschlichen Grunderfahrungen
korrespondiert und deshalb eine Faszination auf die Akzeptanten
ausübt.
79
Diese Vermutung liegt
den meisten
Arbeiten zugrunde,
die der
historisch-geographi-
sdien
Methode der Finnischen Sdiule folgen und die
versudien,
sich über die Vari-
anten
zur
„Ur form"
einer Erzählung
zurüc kzutas ten.
Z ur Kritik dieser Methode c f.
Finnegan
(wie not. 42)
41—44;
ead.: Oral
Literature in
Africa.
Oxford 1970,
320—
330. — Zum
Grundsätzlidien audi: Moser-Rath,
E.:
Gedanken
zur
historisdien
Er-
zählforschung.
In:
Zeitschrift fü r Volkskunde 69 (1973), 61—81, bes. 64 sq.
80
Aus dem
offenkundigen
Widerspruch zwischen der
Vorstellung
von einer
langen
mündlichen
Überl ieferung und dem tatsächlichen
Befund
folgerte Walter Wiora
z. B ., offenkundig im Anschluß an
Herder,
den Untergang mündlich überl ieferten
Volksgutes:
„Die Fortpflanzung
in mündlicher
Tradition
[...]
hört zumeist a u f " ,
und: „A m Untergang [...]
ist
nicht
zu zweifeln, wenn man auf den
Prozeß
a ls
ganzes schaut, und wenn m an einräumt, daß einzelne Bäche oder Rinnsale noch
weiteriließen,
während der Strom im ganzen versiegt. Siehe: Der Untergang des
Volksliedes und sein
zweites
Dasein. In : Musikalische Zeitfragen 7. Kassel 1959,
10
sq.,
13 . Bedenklich scheint auch die Darlegung Wioras in seinem Buch: Das
Deutsche
Lied.
Wolfenbüt te l /Zürich
1971,
81
sq.:
„Es ist ein
Vorur tei l ,
daß wir
allein auf schriftliche Aufzeichnungen angewiesen seien, um
dunkle
Zeiten zu er-
hellen.
Wäre
die Forschung
weniger zaghaft ,
so
wüßten
wir über
diese Epoche sdion
mehr,
und
zwar
erstens durch Kombinat ion der schriftlichen
Zeugnisse
mi t mün d -
lichen
Traditionen in
entlegenen Rückzugsgebieten
und
zweitens
durch Erweiterung
des Gesichtsfeldes auf ganz
Europa.
—
81
Ranke,
K.:
Orale
und
literale Kontinuität.
In: Bausinger /
Brückner (wie not.
72)
102—116,
hier: 108—110.
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8/16/2019 Die Homerische Frage und das Problem der mündlichen Überlieferung aus volkskundlicher Sicht
18/21
Die Homerische
Frage
und das
Problem
der
mündl. Überlieferung 133
Solche „anthropologischen
Modelle
82
sind unter
de r
Masse
des
Alltägliche
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