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Die vier Weisheiten
Orient ierung in Raum und Zeit
Die vier Weisheiten ist der Name für eine neue und gleichzeitig sehr alte Prozessarbeit
mit den Himmelsrichtungen, die ich in den vergangenen 20 Jahren aus meiner
praktischen Arbeit heraus entwickelt habe. In diesem Aufsatz beschreibe ich den
aktuellen Stand und den Kontext der Arbeit mit den Richtungen, die zur persönlichen
Orientierung und kreativen Selbsterfahrung angewendet werden kann.
In der spürenden Wahrnehmung des aufrechten Körper-Selbst im Hinwenden zu den 4
Himmelsrichtungen erhalten wir bewussten Zugang zum intuitiven Wissen im Feld: zu
symbolischen Hintergründen, inneren Bildern und energetischen Kräften.
In dieser erfahrungsbezogenen und prozessorientierten Arbeitsweise ist es möglich,
Botschaften aus sehr tiefen Schichten des Selbst zu erhalten, und dadurch bedeutsame
Themen und Probleme zu verstehen und zu lösen, aktuelle Situationen und ihre
Hintergründe zu erkennen, und auf eine wirksame Weise neue Orientierung, Ziele und
Visionen für künftige Handlungen und Entscheidungen zu finden.
Neue Horizonte können sich öffnen.
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Wie ich die Bedeutung der Himmelsrichtungen entdeckte
Viele Jahre habe ich mich aus persönlichem Interesse mit ursprünglichen Instrumenten
und ihrem Spiel befasst. Was war ihr Geheimnis? Ist da eins? Das Spiel mit diesen
Zeugen alter menschheitsgeschichtlicher Erfahrungen öffnete Bereiche meiner
Wahrnehmung, die ich zuvor nicht kannte, und die meine bisherigen Arten, die Welt zu
verstehen, gründlich in Frage stellten.
Ich experimentierte auch mit dem Spielen im Freien, so wie das früher üblich war, in der
Zeit, aus der die ursprünglichen Instrumente wie Rahmentrommeln und Gongs stammen.
Ich fand eines Tages heraus, dass es einen deutlichen Unterschied macht, in welche
Richtung hinein ich spiele, wenn ich aufrecht stehe1. Eine erstaunliche Vertiefung meiner
Erfahrungen war die Folge. Im Spiel auf der Bühne ist die Richtung für Musiker und
Publikum von der Baulichkeit her klar vorgegeben, das war für mich bisher
selbstverständlich. In der Natur ist das anders. Alle Richtungen, 360 Grad, sind möglich!
In den Workshops mit den ursprünglichen Instrumenten, die ich viele Jahre gegeben
habe, nahm ich dieses Thema in einer Übung auf, und die Teilnehmer und
Teilnehmerinnen berichteten mir dann von intensiven Erlebnissen mit den Richtungen,
die in unserer Kultur als andere Bewusstseinszustände oder Erfahrungen anderer
Wirklichkeiten bezeichnet werden.
Irgendwann entdeckte ich: das geht auch ohne Instrumente. Ich experimentierte ohne
sie, spürte in die Himmelsrichtungen allein von meiner körperlichen Zentriertheit
ausgehend, und erhielt ähnlich tiefgehende Erfahrungen wie mit den Instrumenten. Sie
waren dazu offensichtlich gar nicht nötig, doch sie zu spielen verhalf mir zur Entdeckung
der tiefgründigen Bedeutung des Spürens in die vier Richtungen. Jede Richtung gab mir
andere differenzierte Informationen, andere Bilder, Gefühle, Botschaften, Zugang zum
intuitiven Wissen im Feld.
Die Arbeit mit den Himmelsrichtungen in Kombination mit
Systemaufstellungen
Der nächste Schritt ergab sich während einer Prozessbegleitung eines Kollegen, der mir
von der Trennung von seiner Frau, dem eventuell anstehenden Hausverkauf und
möglichen Neukauf eines Hauses mitsamt der emotional schwierigen
Trennungsproblematik und den damit zusammenhängenden finanziellen Unwägbarkeiten
berichtete. Sehr konkrete und aktuelle Themen also, die sorgfältige Prüfung und
Entscheidungen brauchten.
Ich bat ihn, seine Themen jeweils einzeln auf ein Blatt Papier zu schreiben und dann, so
wie das in den Systemaufstellungen in der Arbeitsweise mit den Bodenmarkern
gehandhabt wird, die Blätter mit den verschiedenen Themen nach Gefühl auf den Boden
zu legen. Dort ordnete er sie, bis er mit ihrer Anordnung im Raum einverstanden war,
fühlte die Themen aus und ging mit ihnen in Dialoge, wie ich das aus der Gestalttherapie
mit den Stuhlarbeiten kenne.
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Mir fielen spontan die Himmelsrichtungen ein und ich erklärte ihm, wie er sich aufrecht in
die Mitte seines Themenfeldes stellen könnte, sich dort zuerst einige Minuten sammeln
und zentrieren, um dann erst in eine, danach in die anderen Himmelsrichtungen hinein
zu spüren. Er tat das, es dauerte ca. 15 Minuten. Danach malte er die so gefundenen
bildhaften Symbole mit ihren Bedeutungen auf je ein Blatt Papier. Ich schlug ihm nun vor,
die vier Blätter in die Ecken seines Themenfeldes auf den Boden zu legen, so dass jeweils
im Norden, im Süden, im Osten und im Westen ein Symbolbild zu liegen kam.
So wurde die Darstellung seiner persönlichen Themen in Kontakt mit dem größeren Feld
gebracht. Auf diese Weise erhielten die Alltagsthemen eine Verbindung zu tiefer
liegenden inneren Wirklichkeiten, die in den Symbolen repräsentiert waren. Es entstand
mehr Ganzheit, klarere Bedeutungen, eine Ordnung der Weisheit, die sich aus dem
Kontakt zu den Himmelsrichtungen ergab. Kurz gesagt, er wusste nun deutlicher, was in
Bezug zu den anstehenden Themen zu tun war.
Das Selbst ist gleichzeitig Zentrum und Element des Feldes, wie es seit Fritz und Lore
Perls und Kurt Lewin in der Gestalttherapie und Gestalt-Organisationsentwicklung
gesehen wird, oder anders, aber im selben Sinne gesagt: Erfahrungen einer Person
geschehen im Kontext eines Systems, wie es die Heidelberger Systemiker nach Helm
Stierlin in Folge von Virginia Satir und Paul Watzlawick formulieren würden.
Das klingt komplex, und tatsächlich sind wir ja recht komplexe Wesen. Aber gleichzeitig
ist das Ganze sehr, sehr einfach. Zu dieser Einfachheit kehren wir zurück:
Jeder ist, tatsächlich, der Mittelpunkt seiner Welt. Aus der Mitte erschließt sich unsere
Welt. Gehen wir achtsam und bewusst in unsere tatsächliche Position auf der Erde,
befinden wir uns jeweils in der Mitte des Universums. Ganz gleich, wo wir uns aufhalten.
Von unserer gefühlten Mitte aus gesehen, können wir alle Richtungen und Perspektiven
erkunden und so herausfinden, welchen Weg wir gehen wollen. Kommen wir an eine
Kreuzung, und wissen nicht, welche Straße wir nehmen sollen, lassen wir uns Zeit, um
die Situation genau zu erkunden. Genau das tun wir hier.
Wesentliche Merkmale der 4 Weisheiten
Die vier Weisheiten sind in unserem Kulturkreis eine neue und gleichzeitig sehr alte
Orientierungsarbeit, die mit den Wurzeln alter taoistischer Anschauungen und mit
lebendigen indianischen Traditionen verbunden ist.
Die Arbeit mit den 4 Weisheiten ist eine Form strukturierter und gleichzeitig offener
Prozessarbeit, die in klarer und wirksamer Weise den Kontakt zum Kontext, zum
größeren universalen Feld, zur intuitiven Intelligenz und zum Schöpferischen öffnet.
Die Prozessarbeit mit den Himmelsrichtungen ist so natürlich, wie sich Erde und Sonne
miteinander bewegen, und so einfach, wie der Kompass die vier Himmelsrichtungen des
Ostens, Westens, Nordens und Südens anzeigt.
Die 4 Weisheiten ist eine Übung des fühlenden, achtsamen Selbst-Gewahrseins im
Kontakt mit der natürlichen Struktur der Himmelsrichtungen in Kombination mit
systemischen Arbeitsweisen.
Bilder, Symbole, Gefühle und Sinn gebende Themen tauchen spontan durch das
Hinwenden zu den einzelnen Richtungen im Selbst auf. So kann man Schritt für Schritt,
im eigenen Tempo und auf eigene Weise forschen, die persönliche Bedeutung der
Erfahrungen selbst ergründen und unmittelbar erfassen.
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Die Prozessarbeit mit den 4 Weisheiten ist nicht-zeremoniell und verzichtet auf
die Vorgabe von symbolischem Material aus anderen Kulturen und Zeiten, sie
verzichtet auf Deutungen und Interpretationen aus theoretischen und religiösen
Ansätzen. Was zählt, ist die unmittelbare eigene Erfahrung.
Zum Kontext der 4 Weisheiten
Die Arbeit mit den vier Weisheiten findet statt im historisch vielfältig gewachsenen
Kontext der tiefenpsychologischen Arbeit nach Freud und Jung, mit einer Erweiterung hin
zur aktuellen humanistischen, potentialorientierten Psychologie, vor allem zur
relationalen Prozessarbeit der Gestalttherapie: Achtsames Gewahrsein im Hier & Jetzt im
offenen Raum der Begegnung von Ich & Du (Martin Buber).
Eine mit der Gestalttherapie und der Gestaltberatung verknüpfte theoretische Grundlage,
die hier besonders von Bedeutung ist, ist die Feldtheorie Kurt Lewins mit seiner Arbeit
über energetische Beziehungen von Person und Feld. Auf der Grundlage eines
phänomenologischen Ansatzes sind weiter Ansätze der Hypnotherapie Milton Ericksons
vor allem bezüglich des Umgangs mit Trance-Aspekten ein integrierter Bestandteil der
Arbeit mit den vier Weisheiten, ebenso wie Systemaufstellungen und Zeitlinienarbeit.
Die Praxis der vier Weisheiten basiert auf der Grundlage des Körper-Selbst-Gewahrseins
in Raum und Zeit. So ergibt sich eine Nähe zur Körpertherapie und zu körperbezogenen
Achtsamkeitsübungen wie dem Tai Chi, Yoga, Feldenkrais oder Sensory Awareness, zur
Meditation, und zu indianischen und anderen indigenen Traditionen.
Die Wurzel der vier Weisheiten ist wesentlich älter als die Eingrenzung auf bestimmte
therapeutische Schulen. Diese stellen jedoch einen guten zeitgenössischen Rahmen zur
Verfügung, in den die Arbeit mit den Richtungen integriert werden kann.
Die Hinwendung zu den vier Himmelsrichtungen fördert mehrperspektivisches Denken
und Handeln und erleichtert das Verstehen von komplexen Feldern. Die Praxis der vier
Weisheiten kann in verschiedenen Handlungsfeldern zum Einsatz kommen: In Beratung,
Organisationsentwicklung, im Coaching, in Selbsterfahrung, Psychotherapie, im sozialen
und pädagogischen Feld.
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Zum anthropologischen Kontext der 4 Weisheiten
Der Kontakt zu den Himmelsrichtungen ist ein wesentlicher Aspekt der lebenspraktischen
wie der spirituellen Kultur nicht nur der Jäger und Sammler, sondern in vielen älteren
Zivilisationen. Geistige und materielle Bereiche wurden nicht, wie heute, als getrennt
voneinander gesehen. Die in vielen tausend Jahren gewachsenen Fähigkeiten der
Orientierung im Innen und Außen, die von den meisten Ethnien genutzt wurden, sind
eine Basis unserer heutigen Existenz. Hier sind einige Beispiele über den älteren
Gebrauch der Himmelsrichtungen für die persönliche Orientierung:
Hinweise auf die überlieferte Bedeutung der Himmelsrichtungen finden sich im I
Ging, dem über 2000 Jahre alten chinesischen Buch der Wandlungen. Auch die
Bewegungsformen des Tai Chi, zum Beispiel, sind den Himmelsrichtungen
zugeordnet.
Chinesischer Kompass mit Symbolen u.a. aus dem I Ging, die auf die Richtungen bezogen sind.
Im tibetischen Buddhismus sind die Himmelsrichtungen als Tore auf den Thangkas
abgebildet und haben verschiedene symbolische Bedeutungen.
Bei den indigenen Völkern Nord- und Südamerikas wird in unterschiedlicher Weise
der Kontakt der Individuen und der Gruppe zu den Natur- und Lebenszyklen in
der Verbindung zu den Himmelsrichtungen zeremoniell gefasst und gelebt.
Praktische Aspekte der Alltagsbewältigung, der Spiritualität und der
Persönlichkeitsentwicklung sind aufeinander bezogen. Sie werden nicht als
voneinander getrennt angesehen, wie das meist bei uns der Fall ist.
Es gibt viele Hinweise auf sehr alte Bedeutungen der Himmelsrichtungen, wenn
wir uns mit dem befassen, was kulturell übergreifend und oft postmodern-
eurozentristisch als Schamanismus bezeichnet wird. Hier geht es im Kern um das
authentische, auf Erfahrung gegründete oral tradierte Wissen älterer Zivilisationen.
Symbole und Zeremonien, die in Beziehung zu den Himmelsrichtungen stehen, haben
seit Jahrtausenden eine wichtige Funktion für die Entwicklung und Wandlung der
individuellen Persönlichkeit. Die indianischen Medizinräder sind dafür ein Beispiel. Sie
sind auf der Grundlage tatsächlicher Erfahrungen entstanden und sind in der
Alltagspragmatik der jeweiligen Kulturen verankert.
In den westlichen Kulturen – recht verschieden davon, aber doch in einem
grundlegenden, nämlich entwicklungsbezogenen Sinne ähnlich – wird vor allem von den
humanistischen und relational orientierten Psychotherapien ein Rahmen und Wissen zur
Verfügung gestellt, innerhalb dessen die Kenntnis der Bedeutung der Himmelsrichtungen
sinnvoll genutzt werden kann.
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Wozu brauchen wir überhaupt Orientierung?
In den 4 Weisheiten geht es um die persönliche Orientierung in Raum und Zeit. Wozu
brauchen wir das? Ich hole ein bissel aus, beschreibe einen Bogen, denn ohne
Darstellung der aktuellen Situation, die hier als verkürzende Kulturkritik doch etwas grob
und holzschnittartig ausfallen muss, komme ich nicht aus, um die Bedeutung der
Orientierung für unser Leben herauszuarbeiten. Ich greife nur einige Punkte heraus:
In der heutigen Zeit ist das Wissen um die Bedeutung der Richtungen für die
innere und äußere Orientierung weitgehend verloren gegangen oder wird meist
nicht bewusst genutzt. Gleichwohl ist die grundlegende Fähigkeit zur
Raumwahrnehmung in uns nach wie vor vorhanden.
Die Arbeit am technischen Außen und am Komfort, die Hereinnahme großer
Mengen extern vorgegebenen Wissens über viele Jahre hinweg hat die
Wahrnehmung der Bereiche des unmittelbar sinnhaften und der intuitiven
Informationen vielfach überlagert oder verschüttet. Viele Menschen haben die
berechtigte Sehnsucht, wieder mehr Kontakt zu den bildhaften, intuitiven und
sinnlichen Bereichen des Selbst zu bekommen, um beide Pole, Außen und Innen,
mehr in Verbindung und damit in eine Balance bringen zu können.
Die heutigen westlichen Gesellschaften – und nicht nur diese - mit ihren vielfach
brüchigen Sicherheiten und fraktionierten Traditionslinien sind hinsichtlich der
Bedeutung von sozialen Werten und ethischen Verbindlichkeiten geradezu als
zentrifugal zu bezeichnen. Für viele stellt sich – nicht nur deshalb - die Frage nach
dem persönlichen Sinn moderner Lebensweisen.
Den menschlichen Individuen wird heute ein hohes Maß an
Selbstverantwortlichkeit jenseits der Einflüsse der sozialen Systeme
zugeschrieben, was als Freiheit ausgegeben wird. Welche die meisten Menschen
aber schon deshalb nicht einlösen können, wenn sie es denn aus ihren
gesellschaftlich geprägten Herkunftserfahrungen heraus könnten, weil die
gesellschaftlichen Systeme und ihre Institutionen die von ihnen propagierte
individuelle Verantwortung durch das immense Ausmaß an Bürokratisierung,
Vorschriften und Überwachungsmöglichkeiten geradezu minimieren2.
Die Ideologie, dass jeder seines Glückes Schmied sei und selbst Schuld, wenn er
keinen Erfolg hat – du hast es wohl nicht genug gewollt! – sieht völlig ab von den
gesellschaftlichen und familiären Bedingungen, die uns von frühester Kindheit an
prägen, in denen wir aufwachsen und in denen wir uns entwickeln.
Dazu stelle ich und viele andere Organisationsberater eine massive Diffusion von
Verantwortung in den Organisationen fest – in Kirchen, in Firmen, in staatlichen
Bürokratien, Universitäten und anderen Institutionen.
Hinzu kommt dieser wesentliche Punkt: Die Geschwindigkeiten der technischen
und sozialen Änderungen haben im Vergleich zu früher deutlich zugenommen. Der
Bedarf für immer wieder neue Standortbestimmung in einer schnell sich
wandelnden Welt mit ihrem riesigen Ausmaß an Informationen ist groß.
Orientierung ist ein zentrales Thema in der heutigen Zeit.
War das in der Jäger- und Sammlerzeit und in den älteren Zivilisationen anders? Erst
einmal, schon. Die Menschen damals arbeiteten näher an, in und mit der Natur, so wie
sie ist. Aber mit sehr komplexen und existentiellen Unwägbarkeiten hatten sie sehr wohl,
in weit ungesicherterer Weise als wir, zu tun. Und so hatten sie in der Wildnis und ihren
Herausforderungen täglich, dauernd, mit Neu-Orientierung zu tun. Dies geschah ohne
Landkarte.
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Ohne die Präsenz der offenen Sinne und wacher Intuition wäre Überleben nicht möglich
gewesen. So entwickelten die Menschen Techniken zum Orientieren in der Wildnis, um
überleben zu können. Sie entwickelten ihre Fähigkeiten hierzu durch den Kontakt mit den
Funktionen des Selbst, die wir heute als unbewusste, intuitive Prozesse bezeichnen. Eine
dieser Techniken zur Orientierung besteht im Hinwenden zu den Himmelsrichtungen.
Mit und nach Freud, Jung und ihren Nachfolgern kann ich das heute recht einfach und
kulturell akzeptabel sagen: Wir arbeiten hier mit Bereichen des Unbewussten.
Die Besinnung auf die Fähigkeit zur Wahrnehmung sinnlich-intuitiver Informationen
erweitert die Begrenzungen des rationalen Verstandes und seinen oftmals
kontrollierenden Über-Ich Funktionen.
Beide Aspekte, Logischer Verstand und Intuitive Intelligenz, können sinnvoll und
vernünftig aufeinander bezogen werden. Genau das geschieht in der Arbeit mit den
Himmelsrichtungen.
Position in Raum und Zeit – die vier Weisheiten als relationale
Positionsarbeit
Wesentlich, sowohl im Raum wie in der Zeit, ist unsere jeweilige Position. In dieser
Position erfahren wir unsere spezifische Relation zum Raum, zur Zeit, zu anderen
Personen, zur natürlichen und von uns so gemachten Umwelt, im Kontext des gesamten
Universums. Dieses äußere Feld oder System ist ein relationaler Bestandteil des Selbst,
nicht von uns getrennt, wir können es immer – und nur – persönlich erfahren.
Es macht einen großen Unterschied in den möglichen Erfahrungsräumen, ob wir liegen,
sitzen, oder stehen. Freud arbeitete mit liegenden Patienten, er selbst saß dabei im
Hintergrund, so dass die freien Assoziationen unterstützt wurden und in der Introspektion
der offene Kontakt zum Unbewussten entstehen konnte. Lore und Fritz Perls änderten
dieses Setting und führten den regressiven Modus der Patienten bei Freud in den eines
erwachsenen Gegenübers: sie setzten sich ihren Klienten auf Stühlen gegenüber, sie
arbeiteten wahrnehmungsbezogen und dialogisch vornehmlich im Sitzen – hin und wieder
auch in der Bewegung, ähnlich wie im Psychodrama Jakob Morenos und später in Virginia
Satirs Familienskulpturen. In den heutigen Systemaufstellungen3, die an diese Arbeiten
anknüpfen, stellen die Teilnehmer auf. Ausgangspunkt dieser Arbeit ist hier zuerst das
Stehen und dann das intuitive Finden von Positionen und Relationen im Raum. In den 4
Weisheiten wenden wir uns ebenso aus der bewussten aufrechten, zentrierten Position
des Stehens den jeweiligen Himmelsrichtungen zu. Dazu sind wir sind eine Weile still,
gesammelt, aufmerksam für innere und äußere Wahrnehmungen.
Aufrecht auf der Erde stehen, die eigene Position erforschen, in Relation sein: Die 4
Weisheiten ist eine relationale Positionsarbeit. Positionsarbeiten nenne ich auch die
Zeitlinienarbeit und die Systemaufstellungen mit den Familien-, Organisations- und
Themenaufstellungen:
In der Zeitlinienarbeit geht es vorrangig um die Position einer Person in Relation
zur Zeit, zu den vergangenen, jetzigen und zukünftigen Erfahrungen.
In den Systemaufstellungen sind vor allem die Beziehungen zu Personen und
Vorgängen in Raum und Zeit Thema. In den verschiedenen Positionen im Raum
erleben wir bedeutsame Erfahrungsinhalte und finden eine für uns günstigere und
angemessenere Position mit den jeweiligen zugehörigen Erfahrungsräumen, die zu
einer neuen guten Gestalt wird.
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In den 4 Weisheiten steht ein anderer wesentlicher Aspekt im Vordergrund: die
Wahrnehmungen aus unserer Position bezogen auf die Weite der jeweiligen
Himmelsrichtungen.
Die Informationen, die wir hieraus erhalten können, erleben wir im bewussten
Kontakt mit dem größeren Feld, auf einer Ebene, die in der Betrachtung der
heutigen Kultur sozusagen als „hinter“ der alltäglichen Wirklichkeit gedacht wird –
aber da gibt es kein dahinter, die Informationen öffnen sich einfach, so wie wenn
man durch eine Tür tritt in einen neuen Raum hinein.
Die verschiedenen Erfahrungsinhalte, die wir im Kontakt mit den vier Richtungen jeweils
erleben, geben uns Sicht auf die Welt aus verschiedenen Perspektiven. Das Eine erkennt
sich im Andern. So entsteht mehrperspektivisches Denken und Wissen, dessen Aspekte
und Polaritäten wir in Relation zueinander setzen, und damit als Teile einer Ganzheit
erkennen können.
Dies geschieht im natürlichen Prozess des Selbst-Gewahrseins im Kontakt mit der Welt.
Auch wenn das in dieser Beschreibung alles recht komplex klingen mag: In der Praxis ist
das sehr einfach.
Vier Richtungen? Oder wie viele?
Es gibt zwar die vier Himmelsrichtungen, doch es gibt auch die vielen
Zwischenrichtungen, die jeder Seemann, Pfadfinder, Geograph und Wetterkundler kennt:
das sind alle Zwischenabstufungen im Kreis von 360 Grad. Die Einteilung in die vier
Richtungen ist aus der Betrachtung der Natur entstanden: den Höchststand der Sonne
nennen wir Süden, da wo sie aufgeht, das nennen wir Osten, dort, wo sie untergeht, das
nennen wir Westen. Im Norden ist das, wo keine Sonne erscheint. Erdmagnetismus, der
vom Kompass mit seiner Nadel gemessen wird, und Sonnenstand: das sind beobachtbare
natürlich-physikalische Phänomene, die unserer Alltagserfahrung zugrunde liegen. Wie
immer, wenn wir etwas näher betrachten, gibt es verschiedene Anschauungen in den
Weltgegenden und Kulturen. Da gibt es vier, fünf, sechs oder sieben Himmelsrichtungen.
Was hat es denn damit auf sich?
Als fünfte Richtung wird die gedachte Achse des Körpers bezeichnet, die Boden
und Himmel verbindet, also die aufrechte Position des Stehens
Genauso gut kann man von sechs Richtungen sprechen: die Richtung von der
Körpermitte zu den Füßen bis zum Erdmittelpunkt, und die Richtung von der
Körpermitte zur Schädeldecke und darüber hinaus weit bis ins Universum gedacht.
Eine vertikale Richtung nach unten, eine nach oben, plus die horizontalen vier
sind sechs
Ein Cherokee (Tsalagi) Freund4 berichtete mir von einer Auffassung in der
Tradition der Tsalagi mit 7 Richtungen, in deren Mitte wir uns befinden: der Osten
wird hier als Tor gesehen, das von zwei Richtungen gebildet wird. Hier bleibt die
Richtung des Ostens offen, wird nicht von irgend etwas definiert, sondern bildet
das Tor zur Schöpfung, zur andauernden Kreativität
Wesentlich in der Arbeit mit den vier Himmelsrichtungen ist zuerst die deutliche
Zentrierung in der Mittelachse, soll das Ganze funktionieren. Ohne unser integrierendes
Zentrum verlieren wir uns sonst wo im Universum, wenn wir uns diesem weiträumig
öffnen. Sonderlich sinnvoll wäre das nicht.
Sammlung und Zentrierung im aufrechten Stehen sind also nicht peripher,
sondern der Ausgangspunkt der Selbsterkundung mit den 4 Weisheiten.
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Zum Verzicht auf vorgegebene Mythologien, Symbole und
Deutungen
Die Bedeutung der Himmelsrichtungen wird in den Mythologien verschiedener Kulturen
jeweils in bestimmter Weise bildhaft erklärt und definiert. Dies ist ein wichtiger
Sachverhalt, auf den ich weiter eingehen möchte. Denn die Arbeitsweise der vier
Weisheiten, wie ich sie hier vorschlage, unterscheidet sich von überlieferten
Auffassungen und Traditionen gerade dadurch, dass sie auf jegliche vorgegebene
Symbolik verzichtet.
Es ist zum Beispiel so, dass verschiedene Stämme in Nordamerika sehr verschiedene
Sprachen sprechen, auch für die Himmelsrichtungen gibt es verschiedene Symbole und
Bedeutungen. Die große Vielfalt spiegelt die verschiedenen Lebenswirklichkeiten der
Völker wieder. Die Zeremonien und Gebete, die Symbole und ihre Bedeutungen sind in
sehr langer Zeit in diesen Kulturen gewachsen und gelebter Bestandteil von Identität,
Weltsicht und Weisheit, die heute noch lebendig sind. Ich bin dankbar, dass ich Einblicke
in dieses profunde und lebendige Wissen erhalten habe.
Diese Frage tauchte in mir auf: Welche der vielen Symbole, welche Zeremonie sollen wir
nun heute benutzen in unserer Kultur? Welche dieser vielfältigen alten Mythologien wäre
denn für uns verbindlich? Schwierig, das zu entscheiden. Die tatsächliche Lebensweise
der älteren Zivilisationen über viele tausende von Jahren hinweg bildet die Grundlage der
Entwicklung ihrer unterschiedlichen mythologischen Erzählungen und Zeremonien. Wie
gehen wir damit um, dass alte Mythen keine Wurzeln in unserer Alltagsrealität haben, da
wir in der Fabrik oder im Büro arbeiten, in der Schule oder Universität oder im
Beratungszimmer sitzen, Autos fahren und Computer spielen statt dass wir tagelang in
der Savanne mit Pfeil und Bogen Jagen gehen? Sollen wir den Verlust und die Leere an
verbindlichen mythologischen Erzählungen in unserer Kultur durch postmoderne
Abziehbilder anderer Völker und Zeiten füllen, und unsere Kassen füllen mit dem Verkauf
von geliehenen Mythen?
Mit diesen Fragen schließe ich keineswegs aus, dass eine oder einer von uns eine ganz
besondere Verbindung zur Erfahrungswelt und Mythologie eines Stammes oder zu einer
bestimmten ethnischen Überlieferung hat und daraus wertvolle Anregungen und
Inspiration bezieht.
Was mich dazu bewegt, in der Arbeit mit den vier Weisheiten auf jegliche vorgegebene
Bilder, Symbole und Deutungen zu verzichten, also zum Beispiel nicht von vorne herein
zu sagen, der Adler ist im Norden und bedeutet Weisheit, das Meer ist im Westen und
bedeutet Schönheit und Tod, ist die einfache Tatsache, dass wir durch das direkte
unmittelbare Spüren in der Lage sind, unsere eigenen tiefgründigen Bilder zu finden, und
ihre persönliche Bedeutung unmittelbar fühlend erkennen können. Das hat den Vorteil,
dass man sich nicht mit dem Nachbarn streiten muss, der sagt: wieso kommst du denn
darauf, der Tod ist doch bei uns keineswegs im Westen, der ist doch tatsächlich im
Norden.
Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, unsere Festplatte – die unbewussten Bereiche des
Selbst– mit immer weiteren, wenn auch faszinierenden und interessanten, externen
Konzepten, Deutungen und Interpretationen zu formatieren. Ich vertraue darauf, und das
Vertrauen ist in vielen Jahren aus meiner Erfahrung mit den vier Weisheiten gewachsen,
dass dann, wenn wir uns unbefangen und offen unseren ureigenen vordem unbewussten
Bereichen zuwenden, die passenden und sinnvollen Bilder und Botschaften von selbst
und aus dem eigenen Selbst heraus erscheinen und uns bewusst werden.
Die Grundlage des Vorgangs, wie Mythologien überhaupt entstanden sind: sie
sind verdichtete gesammelte Erfahrungen. Der Wurzel ihrer Entstehung wenden
wir uns zu.
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Die 4 Weisheiten sind eine Prozessarbeit
Prozessarbeit bedeutet, andere Menschen in einem ziel-, inhalts- und ergebnisoffenen
Dialog in der Zeit zu begleiten. Schritt für Schritt. Der Pfad ist nicht vorgegeben, er
entsteht direkt im Gehen.
Die Relationalität, die Begegnung, das Miteinander in Beziehung ist hier Grundlage der
Zusammenarbeit, wie auch immer sie sich gestalten mag und wie wir sie gestalten. Ein
gutes Maß an Sympathie und Vertrauen gehört von vorne herein zur Zusammenarbeit im
Auftrag persönlicher Selbst-Entwicklung. Gut, nennen wir das also Beratungsarbeit oder
Psychotherapie, wie das im Westen heute heißt: älter ist diese Art des miteinander
Teilens der Gegenwart aber schon. Sokrates, vom Schatz seines Nicht-Wissens
ausgehend, war bekannt dafür, anderen dabei beizustehen, existentiellen Sinn und
Wahrheit gerade im alltäglichen Kontext zu ergründen. Den Sinn für andere, den lieferte
er eben nicht5. Aber er half dabei, ihn herauszufinden.
Greifen wir die vier Richtungen heraus, erhalten wir eine deutliche und übersichtliche
Struktur, die auch in unserem Kulturkreis mit wenigen Erklärungen verständlich ist.
Interessant ist, dass trotz meiner anfänglichen Skepsis die meisten Personen, die ich zu
dieser Arbeit angeleitet habe, ob in Einzelarbeiten im therapeutischen Setting, in kleinen
Gruppen oder auf einer Tagung in einem großen Hotel unter Neonlicht, in der Lage waren,
spezifische sinnliche und bildhafte Erfahrungen im Kontakt mit den Himmelsrichtungen zu
erleben. Offensichtlich haben wir einfach die Fähigkeit dazu, auch wenn sie kaum noch
bekannt ist und sehr wenig genutzt wird.
Die Strukturarbeit mit den Richtungen ist nicht rigide zu verstehen: In einer Einzelarbeit
kann es schon mal geschehen, dass die Winkel der verschiedenen Richtungen nicht
rechtwinklig zueinander sind, oder dass der Norden sich im Süden befindet. Oder dass es
vollauf genügt, nur mit einer Richtung Kontakt aufzunehmen, oder zuerst nur mit dem
zentrierten Stehen zu arbeiten, oder im Sitzen oder im Liegen mit bildhafter Vorstellung
die Bedeutung der Richtungen zu erforschen. Ich habe auch erlebt, dass im Hinwenden
zu den Richtungen spontane Gesten entstehen, in denen sich wesentliche
Bedeutungsgehalte erschließen, oder ein in Kontakt mit den Richtungen entstehender
Tanz voll tiefer Bedeutung.
Es ist gut, wenn wir uns vom aktuellen sinnlichen Erleben überraschen lassen und die
Erfahrungsarbeit mit den Richtungen in offener Weise als Anregung und Experiment,
nicht aber als normatives System auffassen.
In diesem Sinne spreche ich von der Polarität und der Gleichzeitigkeit offener und
strukturierter Prozessbegleitung. Der lebendige persönliche Prozess, die persönliche
Bedeutung hat hier Vorrang vor der gesetzten Struktur. Diese bildet in den vier
Weisheiten jedoch eine klare Form, sie bietet damit Übersichtlichkeit und Halt, ist
Wegweiser –gleichsam ein Geländer für Erfahrungen.
Und manchmal verlassen wir auch den Weg mit Geländer, und gehen einen Pfad, den
vorher noch niemand gegangen ist, und jeder Schritt ist neu.
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In der Mitte
von Raum
und Zeit
Du
Selbst
stehst
an Deinem Ort
aufrecht, verbunden
im Zentrum
des Universums
Die vier Weisheiten in der Praxis
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Eine Orientierungsarbeit mit Lena
Hier ist zur Illustration der vier Weisheiten ein Kurzprotokoll einer ca. zweistündigen
Arbeit mit Lena, die ich im 2016 im Verlauf einer Beratung begleitet habe. Die Namen
habe ich geändert. Lena ist eine erfahrene Organisationsberaterin, sie berät
Führungskräfte, Firmen und Institutionen. Sie gab mir ihr Einverständnis, meine
Mitschrift zur Illustration der Arbeit mit den vier Weisheiten hier zur Verfügung zu stellen.
Vielen Dank dafür!
Diese Arbeit zeigt die Kombination der Arbeit mit den Himmelsrichtungen mit
Themenaufstellungen.
Zuerst besprechen wir ausführlich die anstehenden Themen und Fragestellungen, die
Lena gerade beschäftigten. Ich bitte Lena dann, jedes Thema einzeln auf eine
Moderationskarte zu schreiben. Die Karten wurden danach erst einmal beiseite gelegt.
Wir kommen dann zum Klären der zentralen Anliegen von Lena für die heutige Arbeit. Sie
sagt mit Herzklopfen, was sie heute gern klären möchte:
Den beruflichen Kontext
Die Beziehung zum Partner (Semjon) und zum gemeinsamen Haus
Dazu entwickelt sie die Frage: Wie kann ich in der Beziehung zu meinem Partner
bei mir bleiben?
Ihr Wunsch: Auflösung der Lähmung, der Erstarrung
Danach begleite ich Lena zuerst beim Sammeln und Zentrieren im Stehen, und dann
beim Spüren jeweils in die vier Richtungen. Es folgt ein langsamer, intensiver, stiller
Prozess, voller emotional bewegender Intensität.
Norden
13
Lena spürt zuerst, nach dem sie sich eine Weile in der Mitte des Raums still zentriert hat,
in welche Richtung sie sich wenden möchte. Sie schaut zuerst nach Süden, spürt dabei
ein bedrohliches Gefühl im Rücken. Sie dreht sich um und wendet sich nach Norden. Sie
erkundet das Gefühl der Bedrohung. Vor Lena erscheint ein dunkler Wald. Ihr steigen
Tränen in die Augen.
„Vater und Mutter erscheinen ab und zu im Bild, sie rennen wie Kobolde hin und
her.“ Nach einer Weile: „Sind mit sich beschäftigt. Nicht weiter wichtig.“
Semjon, der Partner, ist nah am dunklen, bedrohlichen, fast im Dickicht, neben dem Weg.
Er schaut in Richtung Lena, aber er sieht sie nicht. Er zeigt keine Reaktion.
Lena verweilt, schaut und spürt weiter in diese Richtung, und sagt dann, mit langen
Pausen, „Ich komme nicht an ihn ran“, „er bewegt sich nicht“, „Ich stehe hier gut,“ und
weiter: „Was willst Du von mir?“, „Ich bin bereit Dir einen Schritt entgegenzugehen, aber
ich gehe nicht ins Dunkle“, sagt sie zu Semjon, und dann schließlich: „Das Erstarrte –
das ist Deins“.
Sie erkennt, es geht um ihren guten Abstand, es wird gefährlich für sie, wenn sie zu nah
in die Richtung des Dunklen, Bedrohlichen geht.
Osten
14
Lena wendet sich, nach lockernden Bewegungen und Ausschütteln des Körpers, als
nächstes zum Osten, zentriert sich zunächst erneut im Stehen. Sie ist neugierig, sagt sie,
wackelig, ihr Herz schlägt, die Beine schwankend. „Ich bin in der Natur, vor mir ist
Wasser, ich guck in die Unendlichkeit“. Sie steht aufrecht, gerade, öffnet ganz langsam
die Handflächen, wendet sie nach vorne.
„Hier bin ich“, sagt sie. „Es ist total schön“. „Vertrau Dir, Du kannst das alles“, hört sie
eine Stimme sagen. Sie spürt, wie Energiestrahlen in ihre Hände fließen, in die Arme.
Minuten später hat sie, ganz langsam, nach und nach, die Arme zur Seite emporgehoben,
die Handflächen weiter nach vorne zum Osten geöffnet. Es ist sehr still, eine Grazie geht
von ihr aus.
„Ich bin sehr offen für alles – für Menschen, Probleme, Themen. Ihr könnt gern zu mir
kommen.“ Und: „Ich spüre eine göttliche Kraft.“
Im weiteren Verlauf, sie wirkt völlig offen und zentriert, kommen diese Sätze von ihr:
„Ich brauche die Weite – ich schöpfe Kraft – um andere einzuladen, brauche ich dieses
Gefühl. Den unverstellten Blick in die Weite“.
Und zum Ende dieser Sequenz hin: „Kommt doch“ – „das ist gut“ – „keine Selbst-Zweifel“.
Sie verneigt sich, verabschiedet sich damit von dieser Richtung: „Ich verneige mich und
spüre eine große Dankbarkeit“.
Westen
15
Nach dem erneuten Ausschütteln wendet sich Lena dem Westen zu, sammelt sich eine
Weile. „Ich bin wachsam, beweglich im Körper“.
„Vor mir ist eine Begrenzung, eine Mauer“ – Lena scheint irritiert von dem Bild.
„Hab Acht – das hat was Anstrengendes – der Kopf arbeitet dauernd –
Gedankentischtennis – Kopflastig – Druck im Kopf – Anstrengend – Das ist mir nix!“
Und dann: „Ich will Dir nur zeigen, wo Deine Grenzen sind“ – „nüchtern, ohne
Emotionen“. „Grenzen selber setzen, Grenzen gesetzt bekommen...“, „wachsam sein…“
Lena geht spontan zwei Schritte seitlich nach Süden hin, schaut dabei weiter in den
Westen. „Jetzt wird’s weiter – nüchtern, nicht bedrohlich“ – nach einer Weile: „Das
gehört auch zu mir“.
Sie geht zwei Schritte zurück.
„Ganz klar: Struktur, Verstand, Rationales. Um Antworten auf Fragen zu finden, muss ich
immer wieder Abstand nehmen, von weiter weg schauen“ – „Du (der Verstand, die
Rationalität) gehörst auch zu mir.“
Sie geht zwei Schritte auf den Westen zu, und zurück, und einen Schritt wieder darauf zu.
„Und immer wieder durchdringen, dann wieder zurück, um mitzukriegen, es gibt auch
was Anderes.“
Süden
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Lena steht und schaut eine Weile in Richtung Süden.
„Vertraut“. Und: „Das kenne ich und liebe ich.“ „Ich kann in die Unendlichkeit
schauen“ und steht lange ganz still, entspannt in der Haltung und mit verzücktem Blick.
„Es ist warm und ich bin völlig zentriert.“
Sie bleibt eine Weile so stehen, sagt aber nichts weiter – es wirkt so selbstverständlich.
Den Süden hat Lena als letzte Richtung erforscht. Danach bitte ich Lena, die Bilder, die
sie in den vier Richtungen gesehen hat, zu malen. Ich habe sie oben schon den
jeweiligen Richtungen zugeordnet.
Integration der Themen im Bedeutungsfeld
In diesem Teil der Arbeit mit den vier Weisheiten geht es um die Integration der vorher
gefundenen Alltagsthemen mit den erlebten inneren Bildern, verbunden mit dem Wissen,
was sich im Kontakt mit den Richtungen ergeben hat. Dazu legt Lena die vier Bilder –
Norden, Osten, Westen, Süden- jeweils in vier Ecken des Raums. So entsteht ein Feld
von Bedeutungen. In dieses Feld ordnet Lena ihre Karten mit den zuvor gefundenen
Themen.
In die Mitte des Feldes – an den Ort wo sie in ihrer Mitte stand und von dort in die vier
Richtungen spürte - legt Lena die Karte: Auflösung der Lähmung, der Erstarrung. Sie
schaut sich alles noch einmal im Gesamtzusammenhang an, stellt sich eine Weile in die
Mitte des Feldes, dorthin, wo sie ihren Wunsch hingelegt hatte. Die 4 Bilder mit den
verschiedenen Erlebnisinhalten und den zugeordneten Themen fügen sich zu einer
Ganzheit.
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Das Foto zeigt die Bilder der vier Richtungen mit den zugeordneten Themen
Ein Jahr später, im November 2017
Beim Überarbeiten dieses Aufsatzes frage ich Lena noch einmal, ob meine Mitschrift so in
Ordnung ist, und ob ihr Einverständnis zum Veröffentlichen auch nach einem Jahr noch
gültig wäre. Neugierig frage ich sie weiter, ob sie mir sagen könnte, welche Bedeutung
die Erfahrung mit den Himmelsrichtungen für sie heute hätte, nachdem inzwischen ein
Jahr vergangen war. Ich erhalte von ihr die folgende Antwort:
„Die Arbeit mit den vier Weisheiten mit Deiner Anleitung hat mich nicht nur in dem
Moment stark beeindruckt, sondern nachhaltig über das ganze Jahr geprägt. Besonders
eindrucksvoll ist dabei für mich, dass mein Wunsch, die Lähmung und Erstarrung
aufzulösen, tatsächlich funktioniert hat. Immer dann, wenn ich in schwierige Situationen
geriet, hatte ich das Bild aus dem Norden vor Augen, konnte spüren, was ich während
der intensiven Arbeit gespürt habe und nun, im realen Leben darauf gesund reagieren.“
Eine Übung: den Erfahrungsraum der Himmelsrichtungen öffnen
Zum Abschluß von diesem Aufsatz ist hier eine praktische Übung zum experimentieren
mit den Richtungen, die einfach hin und wieder durchzuführen ist:
Wenn Du entweder in der Stadt, im Wald oder im Feld spazieren gehst, und Du kommst
an eine Wegkreuzung, bleibe eine Weile still stehen und zentriere Dich. Spüre dann
nacheinander in die 4 Wege hinein. Achte auf unterschiedliche subtile Empfindungen in
Deinem Fühlsystem. Normalerweise folgen wir dem was wir mit den Augen sehen.
Experimentiere damit wie das ist, wenn Du die Wahl eines Wegs zuerst aus der
Empfindung heraus triffst.
Viel Freude beim Erkunden!
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1 Mehr darüber in meinem Buch: Die Klangreise. Eine Reise nach innen mit ursprünglichen Klängen
und Rhythmen. Reichert Verlag, Wiesbaden 2014, und in: Die Kunst, einen Gong zu spielen. Klang, Zeit und Stille. EHP Bergisch-Gladbach 2017 2 Paul Verhaeghe hat dieses Thema differenziert herausgearbeitet: Und Ich? Identität in einer
durchökonomisierten Gesellschaft. Kunstmann Verlag, München 2013. Eine sehr interessante, gut lesbare Arbeit in der Tradition der heute fast vergessenen kulturkritischen Psychoanalyse. 3 Aktuell zu Systemaufstellungen empfehle ich das Buch von Albrecht Mahr, dessen Arbeit ich sehr schätze und von dem ich die systemische Aufstellungsarbeit gelernt habe: Von den Illusionen einer unbeschwerten Kindheit und dem Glück, erwachsen zu sein. Scorpio Verlag, München 2016 4 Ich danke Stan (Cherokee), Harold und Pete (Apache) für ihre Einladung zur Teilhabe an ihrer Tradition, die einige tausend Jahre zurückreicht. Ich bin ihnen sehr verbunden. Ein spannendes
Buch von Stan aus indianischer Sicht: Stan Rushworth: Going to Water. The Journal of beginning Rain. Talking Leaves Press, Freedom, CA, 2014. 5 Michel Foucault arbeitete in seiner letzten Vorlesung die Haltung und Methodik von Sokrates als
Mut und Furchtlosigkeit zur Wahrheit heraus. Michel Foucault: Der Mut zur Wahrheit. Suhrkamp, Berlin 2010. Dieser Aufsatz ist Eigentum des Autors und darf –auch auszugsweise- nur mit schriftlicher vorheriger Genehmigung des Autors kopiert, veröffentlicht, in elektronischen Medien oder sonst wie in der Öffentlichkeit benutzt werden. Die private Nutzung ist erlaubt.
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