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DONNERSTAG, DEN 30. APRIL 2015 O B E R L E D I N G E R L A N D GENERAL-ANZEIGER, SEITE 4

@ €SER I E

„Hier lebe ich. So kaufe ich.“ Diskussion über den Strukturwandel im Handel

WESTRHAUDERFEHN - DasInternet hat das Kaufverhal-ten der Bürger maßgeblichverändert. Dieser Aussagestimmten am Dienstagabenddie Teilnehmer der Podiums-diskussion des General-An-zeigers zur Zukunft des Ein-zelhandels einvernehmlichzu. Doch haben Geschäfts-leute in Zukunft überhaupteine Chance, um gegen diegroße Online-Konkurrenz zubestehen? Über diese undandere Fragen wurde imFehntjer Forum in Westrhau-derfehn unter der Leitungvon GA-Redaktionsleiter NilsThorweger eifrig diskutiert.Die wichtigsten Punkte:

Online-Shops: Die Inha-berin des Fehnbuchs inWestrhauderfehn, Helga Kru-se-Lahmeyer, ist überzeugtdavon, dass ihre Branche nurüberleben kann, wenn sie

selber im Internet aktiv wer-de und auch dort ihre Wareverkaufe. Sie selber hat seitNovember 2014 einen On-line-Shop, in dem Kundeneinkaufen können. Textil-Händler Ralf Meiners ausFlachsmeer hat solch ein An-gebot nicht. Er ist sicher: „Esbringt für uns nichts. Mit soetwas haben schon viele Fir-men Schiffbruch erlitten.“Auch Nina Lenger von der In-dustrie- und Handelskam-mer (IHK) sagt: „Online-Shops sind für viele Lädennicht die Lösung.“ Dennochsei es wichtig, dass Geschäftedigital aktiv sind – unter an-derem beim Marketing, soLenger.

Käuferverhalten: NorbertHarm vom Einzelhandelsver-band Ostfriesland betont:„Die Jugend von heute hatbeim Einkaufen durch dasInternet einen ganz anderenInformationsvorsprung alsfrüher.“ Textil-Händler RalfMeiners bestätigt das: „DenKunden kann man nichtsmehr erzählen.“ Er beklagtjedoch, dass vor allem jungeLeute häufig die Etiketten der

Ware in seinem Modehausabfotografieren, dann ver-schwinden und zu Hause diePreise im Internet verglei-chen. Norbert Harm glaubtdennoch an die Zukunft desHandels vor Ort. „Denn nurda können die Kunden auchdie Ware anfassen und be-schnuppern“, so Harm.

Zukunft des Einzelhan-dels: Ostrhauderfehns Bür-germeister Günter Hardersbefürchtet, dass immer mehrinhabergeführte GeschäfteProbleme haben werden, ei-nen geeigneten Nachfolgerzu finden. Norbert Harm

vom Einzelhandelsverbandhat diese Bedenken nicht. Erfragte in die Runde: „Warumsollte nicht auch ein jungerengagierter Mensch von au-ßerhalb hier ein gut laufen-des Geschäft übernehmen?“Allerdings gebe es dafür eineBedingung: Man müsse sichals Wirtschaftsregion besservermarkten.

Einfluss von Discountern:Nina Lenger von der IHK be-tont: „Nicht nur die Online-Händler, sondern vor allemdie Discounter sind eineKonkurrenz für den Einzel-handel, den man nicht unter-

schätzen darf.“ Fast jede Wo-che würden die Discounterzum Beispiel ein großes Sor-timent an Modeartikeln an-bieten – und damit viele Kun-den anziehen.

Internet ist nicht die einzige Konkurrenz

VON HENRIK ZEIN

WIRTSCHAFT Einzelhandel steht vor einer ungewissen Zukunft / Käuferverhalten hat sich verändert

Der General-Anzeigerhatte zur Podiumsdiskus-sion nach Westrhauder-fehn eingeladen.

Bei der von GA-Redaktionsleiter Nils Thorweger (rechts) moderierten Podiumsdiskussion waren dabei: (von links) Norbert Harm (Einzelhandelsver-band Ostfriesland), Ralf Meiners (Inhaber eines Textil-Geschäftes in Flachsmeer), Nina Lenger (Industrie- und Handelskammer), Günter Harders (Bür-germeister in Ostrhauderfehn) sowie Helga Kruse-Lahmeyer (Inhaberin des Fehnbuchs in Westrhauderfehn). BILD: ZEIN

Interessiert verfolgten die Besucher die Diskussion aufdem Podium.

Norbert Harm (Einzelhan-delsverband Ostfriesland)sagte, dass Amazon undCo. nicht dieTotengräberdes Einzel-handels imZentrum sei-en. Er fordertedie Kommu-nen auf, mehrfür die Innen-städte zu tun.

Helga Kruse-Lahmeyer(Fehnbuch-Inhaberin)sagte, dass fürihr GeschäftFacebookmittlerweileeine wichtigeMarketing-plattform sei.

Nina Lenger (Industrie-und Handelskammer) sag-te, dass viele Unternehmerihre Lädennicht in In-nenstädtenbauen, weildie Flächendort zu teuerseien. Dage-gen könntensie außerhalbvom Zentrummehr verwirk-lichen.

Günter Har-ders (Bürger-meister inOstrhauder-fehn) sagte,dass seine Ge-meinde beimEinkaufsan-gebot gut auf-gestellt sei. Esgebe alles für

den täglichen Gebrauch.

Ralf Meiners(Inhaber ei-nes Textil-Ge-schäftes) sag-te, dass fürihn Städte wieLeer oder Pa-penburg kei-ne Konkur-renz seien,sondern Out-let-Stores wie in Bremen.

STIMMEN

NorbertHarm

HelgaKruse

NinaLenger

GünterHarders

RalfMeiners

Auf die Frage vonGA-Redaktionsleiter NilsThorweger: „Was habenSie zuletzt im Internetgekauft?“ antwortetendie fünf Diskussionsteil-nehmer wie folgt:Nina Lenger: „Hosen fürmeinen fünfjährigenSohn.“Ralf Meiners: „Ich habenoch nie etwas im Inter-net bestellt.“Norbert Harm: „Ge-brauchte Bücher.“Helga Kruse-Lahmeyer:„Ich kaufe seit Langemnichts mehr im Inter-net.“Günter Harders: „Ichhabe Möbel gekauft.“

Kaufen im Internet

18. FORTSETZUNG

„Gern“, sagte er unum-wunden, „wenn es Sie dennwirklich interessiert.“Er nahmdas Buch, in das er

vorhin geschrieben hatte,vom Tisch und blätterte wiesuchend darin. Das Buch warin weißes Leder gebunden,Ziegenleder, dachte Vogeler,in das florentinische Lilien ge-prägt waren. Vogeler hätte esgern in die Hand genommen,um Herstellungs und Gestal-tungstechnik zu begutachten.Rilke strich sich mit den Fin-gerspitzen durchs dichte,blonde Haar, hüstelte leiseund zart affektiert, klapptedas Buch wieder zu, schlossdie Augen und trug auswendigvor:„Soll ich die Tage dir schildernoder mein Abendgemach?Meine Wünsche verwildern,und aus allen Bilderngehn mir die Engel nach.Ich kann nur schweigen undschauen.Konnte ich einmal auch tö-nen?Und die Stunden sind Frauen,die mich mit lauter blauen,blinkenden Wonnen verwöh-

nen.“Dann legte er das Buch

wieder auf den Tisch, griffzum Glas und trank einenSchluck. Niemand sagte et-was.Das Schweigen empfand

Vogeler nicht als feierlich,sondern als peinlich. Aber wassollte man sagen? Wie schön,Herr Rilke?„So so so“, stellte schließ-

lich Herr Schneeli fest, nahmebenfalls einen tiefen ZugRotwein. „Schöner kann manes ja gar nicht sagen. Frauenund blinkende Wonnen also.“Schneeli seufzte genießerisch.Der italienische Kompo-

nist, der kein Deutsch ver-stand, klatschte wie auf Be-stellung in die Hände. „Mag-nifico!“„Meine Herren“, rief Herr

Schneeli nun resolut undklatschte ebenfalls in die Hän-de, „zur Krönung des Abendssollten wir uns diesen Won-nen hingeben. Aber nicht nurpoetisch, sondern mit denDamen im Salon der SignoraAretino. Sie“, Schneeli wandtesich Rilke zu, „sind natürlichauch eingeladen.“„Damen? Was denn für Da-

men?“ Der Dichter wirkte irri-tiert.Schneeli klopfte ihm jovial

auf die schmale, wie traurighängende Schulter unter demetwas zu weiten Sakko. „Na ja,das sind so Damen, die manauf der Straße kaum von Da-men unterscheiden kann.“Schneeli lachte über seinen

eigenen Witz, der Maler undder Komponist grinsten. Vo-geler errötete, blickte peinlichberührt zur Seite, sah aber ausden Augenwinkeln, wie Rilkesich auf die Unterlippe biss.Offenbar überlegte er, wie erauf Schneelis Einladung re-agieren sollte.„Und im Palazzo der Signo-

ra Aretino, da kann man dieseDamen kaum von Gräfinnenunterscheiden. Eine könnteman sogar für eine echte Grä-fin halten; jedenfalls hält siesich selbst für eine. Verwitwet,versteht sich.“Jetzt lachten alle, sogar Vo-

geler. Nur Rilke blieb ernst,nicht abweisend, eher nach-denklich, doch als die gründ-lich angeheiterten Herren sichnun der Treppe zuwandten,schloss er sich ihnen an. Voge-ler wunderte sich. Erst vielspäter sollte er dahinterkom-men, dass Rilke einmanischesFaible für den Adel hatte,einen Adelstick, wie PaulaModersohn-Becker sagte, unddie Aussicht auf ein Rendez-vousmit einer Gräfin, so zwei-felhaft deren Stand und so an-rüchig deren Ruf auch seinmochte, trieb Rilke wohl dazu,Schneeli und seiner Entou-rage auf ihrem Verdauungs-und Vergnügungsspaziergangzu folgen.Man überquerte angeregt

plaudernd den Arno auf derPonte alle Grazie, schlendertedurch stille Gassen und däm-merige, labyrinthisch ver-schachtelte Höfe, derenRhythmen und Symmetrie

Vogeler nicht durchschauteund dennoch in sich aufnahmals ausweglosesOrnament, ging, wortkar-

ger werdend, auf Wegen, de-ren weißer Kies unter denSchritten knirschte, durchKlostergärten mit schmiede-eisernen Einfassungen plät-schernder Brunnen, vorbei anReihenwilder Rosen und dun-kel träumender Zypressen biszu einer mürbe bröckelndenMauer.Der italienische Kompo-

nist öffnete eine unscheinba-re Holztür und murmelte Un-verständliches. Man gelangtein die schattige Heimlichkeitbaufälliger Arkaden eines he-runtergekommenen Palazzos,stieg über eine Treppe in denersten Stock, wo sich die Ar-kaden säulengerahmt fort-setzten und Durchblicke inleere, düstere Räume undKammern boten. Am Endeder Arkade funzelten zwei La-ternen mit roten Schirmenwie geflüsterte, intime Ge-ständnisse.Ein afrikanischer Türsteher

in einem maurischen Phanta-siekostüm, Pumphose und Ja-cke aus rotem Samt, enormer

Turban, Schnabelschuhe, leg-te die rechte Hand aufs Herz,verneigte sich tief vor derhochverehrten Kundschaftund öffnete die Tür zum Mär-chenreich der Sinne.Rauch von Zigaretten in

langen Spitzen und aus di-cken Zigarren mischte sichmit schwerem, süßlichemParfümduft und Weinaromenzu einer tropischen Schwüle,die Vogeler den Atem ver-schlug. Aus unsichtbarem Ir-gendwo drang Klaviergeklim-per, und die wie Damen aus-sehenden Damen, funkelndin Flitter, Strass und Paillet-ten mit tiefen Einblicken inpralle Klüfte oder auch kna-benhaft-flache Regionen, ge-krönt von Pfauenfedern undTalmidiademen, wogend vonHermelinen, Nerzen, Silber-füchsen und bereit, sich allenPelz bald gnädig von denSchultern heben zu lassen,blickten den eintretendenHerrschaften erwartungsvollentgegen.Ein schwarzer Boy in roter

Livree reichte auf silbernemTablett Champagnerschalen.

FORTSETZUNG FOLGT

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