Germanistisches Institut der Eötvös-Loränd-Universität Budapest
Historische Landeskunde
Eine Einführung in die deutsche Geschichte und
Kulturgeschichte
6. Auflage
Zusammengestellt von
Jänos Szabö und Imre Szalai
Budapest, 2002
Lektoren:
Ferenc Szäsz und Thomas Herok
Feielos kiadö: Dr. Manherz Käroly igazgatö, . . „ELTE Germanisztikai Intdzet, 1146 Budapest, Ajtösi Dürer sor 19-21.
Copyright: Szabö Jänos — Szalai Imre
Nyomtatta 6s kötötte a Dabas-Jegyzet Kft.Felelös vezetö: Marosi György ügyvezetö igazgatö Munkaszäm: 02-0442
Inhalt
Text Dokumente
1. Die Anfänge 5 107
2. Das Reich der Franken 9 108
3. Ottonen, Salier, Staufer 15 109
4. Leben und Kultur im Mittelalter 20 115
5. Österreichische Anfänge 27 121
6. Spätmittelalter 30 124
7. Reformation 35 125
8. Gegenreformation und Dreißigjähriger Krieg 41 129
9. Absolutismus 46 132
10. Nach der französischen Revolution 56 141
11. Der Weg zum Nationalstaat 64 144
12. Die untergehende Monarchie 71 153
13. Deutsches Reich 73 156
14. Wilhelminische Ära 81 163
15. Weimarer Republik 87 167
16. Nationalsozialistische Diktatur 93 170
17. Nach 1945 99 179
18. Die Schweiz 101 185
Bilddokumente
Chronologie der Herrscher
189
Vorwort
zur drittten Auflage
Wer Germanistik studieren und - auf welcher Stufe auch immer - Deutsch als
Fremdsprache unterrichten will, kann gewisse historisch-kulturhistorische Grund
lagenkenntnisse nicht entbehren. Das vorliegende Skriptum soll, wohl wissend um die
Kompliziertheit der Aufgabe, zur Festigung dieser Kenntnisse beitragen. Es besteht aus
einem Textteil, der einen Überblick über das Material zu vermitteln sucht, und einem
Dokumententeil, der sich auf die Weiterführung und Präzisierung des im ersten Teü
Allgesprochenen bezieht, wobei die einzelnen Dokumente oft an mehreren Stellen ein
gesetzt werden können.
Bei der Gestaltung von Umfang, Proportionen und Präferenzen der Arbeit stand
uns obengenannte Zielsetzung vor Augen; mit Zitaten gingen wir dem Usus ähnlicher
Lehrwerke entsprechend um, auf Quellenangaben wurde verzichtet. Der Text ist im
wesentlichen ein Produkt von Jänos Szabö, der Dokumententeil und die Chronologie
eines von Imre Szalai - wir betrachten das Skriptum jedoch als Gemeinschaftsarbeit, für
deren Mängel wir die Verantwortung gemeinsam tragen.
Die Tatsache, daß anderthalb Jahre nach der ersten und ein halbes Jahr nach der
zweiten Auflage bereits die dritte notwendig geworden ist, fassen wir als einen Beweis
für die Wichtigkeit des Anliegens auf. Dies verpflichtet uns zugleich, am Material
weiterzuarbeiten und es in absehbarer Zeit in erweiterter Buchform vorzulegen. Für
Hinweise und kritische Bemerkungen sind wir daher nach wie vor allen Benutzern
dankbar.
Budapest, den 21. Dezember 1992
Imre Szalai Jänos Szabö
Historische Landeskunde
1. Die AnfängeSIE D L U N G SG E B IE T Um 50© v. u. Z. ging der Prozeß sprachlicher Ab
grenzung zwischen verschiedenen indogermanischen (indoeuropäischen) Stam
mesgruppen' zu Ende, als dessen Ergebnis auch jene Einzelstämme entstanden, die von
den Römern später zusammenfassend als Germanen bezeichnet wurden. Das bekannte
ste Beispiel für diese erste oder germanische Lautverschiebung; ist, daß dort, wo man in
anderen indogermanischen Sprachen den Laut »p«; findet (»pater«), in den germani
schen ein »f« steht: »Vater«, »father«. Die Germanen lebten anfangs nördlich der
Main-Mittelgebirge-Linie, auf dem Gebiet des heutigen Norddeutschland, Dänemark
und Schweden. Sie ließen sich vorwiegend im Wassernetz großer Flüsse oder an den
Küsten nieder.
LEB E N SFO R M E N Man besitzt mehrere Berichte über die Lebensweise der
Germanen, unter anderem die von Julius Caesar (»Kommentare über den gallischen
Krieg«, um 50 v. u. Z.), und Tacitus (»Über Abstammung und Situation der Germanen«,
um 100 u. Z.). Die Unterschiede in den beiden Darstellungen spiegeln die Auflösung
der Urgesellschaft wider. Ursprünglich führten die Germanen ein Nomadenleben ohne
festen Wohnsitz, nutzten Wald, Weide und Wasser gemeinsam! Als primäre Einheit galt
für sie die aus mehreren Familien bestehende Sippe, mehrere Sippen bildeten einen
Gau, mfchrere Gaue eine Völkerschaft. Wichtige gemeinsame Angelegenheiten wurden
in der öffentlichen Versammlung aller freien und waffenfähigen Germanen, dem Thing,
besprochen. Hier wurden Kriegszüge beraten; Beute äüfgeteilt, Gericht gehalten; Durch
das Seßhaftwerden und die daraus folgende ungleiche Verteilung des Besitzes ver
stärkten sich soziale Unterschiede in der Gesellschaft immer mehr, die Stammes- und
Sippenältesten erhielten mehr und besseres Land, versorgten die anderen mit Speise,
Trunk, Kleidung und Waffen, verlangten von ihnen aber bedingungslose Unterordnung
(Gefolgschaft).
G Ö T T E R Die Germanen verehrten, wie vor allem aus der im skandinavischen
Raum entstandenen Liedersammlung »Edda« bekannt, die Naturgewalten als Götter
und gaben ihnen Namen. Der mächtigste unter den Hauptgöttern ist Göttervater Wö-
tan) der in vielen Gestalten erscheint, meistens als alter Mann mit grauem Bart, mit
einem Speer bewaffnet. Als Kriegsgott entscheidet er die Schlachten der Menschen. Der
ihm heilige Tag ist der Mittwoch (Wednesday). Neben ihm erscheinen die - Venus
vergleichbare - Frühlings- und Liebesgöttin Freya (Freitag), der Donnergott Thor oder
Donar, der Sonnengott Balduf, sowie Loki, der Gott des Feuers und der Unterwelt, be
sonders häufig. Die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts hat die germanische Mytholo
gie wiedererweckt, vgl. die Musikdramen Richard Wagners, vor allem den Zyklus »Der
Ring des Nibelungen«.
GERM ANISCHE NAMEN Aus Quellen vom Anfang der Karolingerzeit
kennen wir etwa 2000 germanische Rufnamen, von denen heute noch etwa 300 im Ge
brauch sind. Die Namen fallen durch poetischen Charakter auf und widerspiegeln die
Ideale der damaligen Zeit: Konrad = kühn im Rat; Siegfried = durch Sieg Frieden
bringend; Dietmar = im Volk berühmt; Bernhard = stark wie ein Bär; Eberhard =
stark wie ein Eber; Adolf = edler Wolf (der Wolf galt als Lieblingstier von Wotan und
symbolisierte Kraft und Klugheit). Die Frauennamen sind auch ziemlich kriegerisch:
Sieglinde = Siegesschild; Gudrun = Kampf - Zauber; Kunigunde = Geschlecht -
Kampf. Tacitus erzählt über die germanischen Frauen, daß sie den Männern Speise in
den Kampf tragen* Wunden der Kämpfenden verbinden, mitunter bringen sie gar selbst
fremde Heerscharen zum Stehen.
H E R M A N N SSC H LA C H T Seit dem Ende des 3. Jahrhundert v. u. Z. gab es
Berührungen zwischen den Germanen und den Römern, die ihren Staat stets auszu
dehnen versuchten. Da sie über bessere Ausrüstung und Methoden verfügten, schlugen
und unterjochten sie die weniger erfahrenen und uneinigen Germanen meist schnell. Im
Jahre 9 u. Z. wurde der römischen Expansion in der Schlacht im Teutoburger Wald
(Hermannsschlacht/Varusschlacht) jedoch ein Ende gesetzt. Der Anführer der Germa
nen, der Cheruskerfürst Arminius (Hermann), lockte die römischen Truppen in ein
sumpfiges, unwegsames Waldgebiet, wo sie ihre gewohnte, in der offenen Feldschlacht
bewährte Kampftaktik nicht anwende» konnten. Die Römer erlitten eine vernichtende
Niederlage, und Arminius galt noch lange nach der Schlacht als Nationailheld; Tacitus
berichtet, daß er noch ein Jahrhundert später in langen Kriegsliedem gepriesen wurde.
Im 19. Jahrhundert gedachte man seiner Taten erneut, Heinrich von Kleist schrieb - in
Anspielung auf die Napoleonische Besetzung - das Theaterstück »Die Hermanns
schlacht« (1808; veröffentlicht wurde es erst 1921), und bei Detmold errichtete man
Arminius ein monumentales, verklärendes Denkmal aus Bronze.
RÖ M ER UND GERM ANEN Die Römer verzichteten nun darauf, die
Grenzen ihres Reiches bis an die Elbe vorzuverlegen. Dafür errichteten sie eine etwa
500 km lange Grenzbefestigung, den Limes zwischen Rhein und Donau (von
Köln/Bonn bis Regensburg). Sie bauten Siedlungen aus, Köln, Mainz, Regensburg und
vor allem Trier, das zeitweilig Hauptstadt des Weströmischen Reiches war. (Das
berühmte, im 3. Jahrhundert errichtete Stadttor Porta Nigra befindet sich im Zentrum
der Stadt, dem Geburtshaus von Karl Marx gegenüber.) Die Römer übten einen wichti
gen kulturellen Einfluß auf die germanischen Stämme aus. Das zeigt sich nicht zuletzt
an den zahlreichen lateinischen Lehnwörtern in Handel und Verkehr (Münze -
moneta; Straße - via strata; Meile - milia), Bauwesen (Mauer - murus; Ziegel -
tegula; Mörtel - mortarium; fenster - fenestra; Keller und Zelle - cella) und Weinbau
(Wein - vinum; Most - mustum).
V Ö L K E R W A N D E R U N G An der ganz Europa erfassenden Völkerwan
derung im 2.-4 . Jahrhundert beteiligten sich germanische Stämme beziehungsweise
Stammesverbände in großem Maße. Die Vandalen gründeten einen Staat in Nordafrika,
die Langobarden eroberten Gebiete im heutigen Norditalien, die Westgoten drangen
über die Pyrenäen ins heutige Kastilien ein. Die Ostgoteif zogen zunächst nach Südruß
land, dann ins heutige Italien Dort bezwangen sie Odoaker, der 476 den letzten
weströmischen Kaiser absetzte. Der König der Ostgoten, Theoderich (493 - 526), gebo
ren in Pannonien, begraben in Ravenna, wird als Dietrich von Bern in mehreren li
terarischen Werken des Frühmittelalters (»Hildebrandslied«, »Nibelungenlied«) sowie
als Detre in »Buda haläla« von Arany erwähnt. All die obengenannten Völker
schaften verschwanden von der Bühne der Weltgeschichte; andere, für die Heraus
bildung des späteren deutschen Volkes wichtige, verstärkten sich: die Schwab^}1 (im
Südwesten), die Thüringer (in der Mitte), die Sachsen (im Nordwesten), die Friesen
(östlich der Rheinmündung), die Bayern (im Südosten) und die Franken (nördlich der
Schwaben und Bayern). Die bedeutendste Rolle kam den Franken zu.
2. Das Reich der FrankenC H L O D W IG In der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts- als Theoderich der
Große in Ravennaf herrschte, führten die Franken erfolgreiche Kriegeigegen die Gallier
(in Gebieten des heutigen Frankreich), gegen die Alemanneff (heute: Südwesten der
Bundesrepublik, Schweiz, Ostfrankreich) und gegen die Westgoten (die von Süd
frankreich auf die iberische Halbinsel verdrängt wurden), um ihr Siedlungsgebiet zu er
weitern und einen eigenen Staat zu errichten. Im Jahre 482 gelangte unter ihnen der da
mals erst sechzehnjährige Adlige Chlodwig (482-511) aus dem Geschlecht der Me
rowinger an die Macht Seine Entscheidung, zum Christentum überzutretea (das er
folgte im Jahre 498, ein römischer Bischof taufte Chlodwig und weitere dreitausend
Franken), erwies sich als gelungenes Zweckbündnis, genoß er doch von da an die tat
kräftige Unterstützung der Kirche, obwohl niemand sich von der Illusion leiten lassen
konnte, Chlodwig unterwerfe sich fortan auch in der Politik der christlichen Moral und
Sitte: Seine Konkurrenz, die Stammesfürsten, schaltete er durch hinterhältigen und of
fenen Mord aus. Die Errichtung eines eigenen Staates ist ihm immerhin gelungen.
CHRISTIANISIERUNG D E R DEUTSCHEN Das Christentum, seit
Ende des 4. Jahrhunderts Staatsreligion im Römischen Reich, verbreitete sich nicht nur
auf diese Weise in Europa. Große Kirchenlehrer (wie etwa Augustinus) und bedeutende
Päpste setzten sich für die Verbreitung der christlichen Lehren ein, der von Benedikt
von Nursia Anfang des 6. Jahrhunderts gegründete Benediktinerorden mit der Parole
»ora et labora« (»bete und arbeite«) diente als Vorbild für zahlreiche Ordens
gründungen in späteren Zeiten: Zisterzienser, Prämonstratenser, Franziskaner, Do
minikaner, Karmeliter, Serviten, Piaristen (Unterricht), barmherzige Brüder und Schwe
stern (Krankenpflege). Mönche aus Irland und Britannien kamen zu den germanischen
Stämmen, um sie zu bekehren. Der bedeutendste Missionar war Bonifatius in der ersten
Hälfte des 8. Jahrhunderts, der später heiliggesprochen und als »Bekehrer der Deut
sehen« bezeichnet wurde. Seine Gruft unter dem barocken Dom in Fulda gilt als das
Herz des katholischen Deutschland.
KLÖSTER Das von Bonifatius gegründete Kloster Fulda wurde - ähnlich wie
Klöster in Reichenau, Sankt Gallen und Freising in Bayern — Mittelpunkt des geistigen,
kulturellen und sogar des wirtschaftlichen Lebens; Das berühmte Kloster Sankt Gallen
(im alemannischen Gebiet, nicht weit vom Bodensee) hatte beispielsweise ein Schul-
ein Krankenhaus, ein Badehaus, ein Unterkunftshaus für Pilger und daneben ein
Hospiz für vornehme Gäste, eine Bäckerei, eine Brauerei, eine Molkerei, ein Gestüt,
verschiedene Werkstätten (Sattler, Schuster, Goldschmied) und eine Gärtneret. Viele
Ortsnamen verraten heute noch kirchliche Güter und Besitzungen» München — mo-
nakhos; Münster - monasterium; Zell am See - cella (Kammer, Klause eines Mön
ches).
KA RO LIN GER Chlodwig hinterließ nach seinem Tod 511 ein einiges, sta
biles Königreich der Franken, das jedoch bald mehrfach geteilt werden sollte. Eine Zeit
lang bestanden drei Teilreich© nebeneinander: Neustrien, Austrasien und Burgund. In
der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts kam es zu Machtkämpfen zwischen den ver
schiedenen merowingischen Teilkönigen. Der Adel nützte diese Streitigkeiten, um seine
Macht zu vergrößern. Als besonders stark erwiesen sich seit Mitte des 7. Jahrhunderts
die Hausmeier (Maior domus, Vorstand des königlichen Hofes), die die Regierungsge
schäfte führten, während die Könige der Merowingerdynastie keine wirkliche Macht
mehr besaßen und zuletzt nur mehr repräsentative Funktioii hatten. Das Amt des
Hausmeiers erbte sich seit vielen Jahren in der Familie der Karolinger, die auch sonst
besonders geschickt mit Lehen umging, fort. Der Hausmeier Pippin (Pippin der Jün
gere) ließ sich, nachdem er den Merowingerkönig in ein Kloster gesperrt hatte, mit
Hilfe des Papstes 751 zum König>der Franken erheben. (Die Krönung wurde von Boni-
fatius vollzogen.) Als Gegenleistung’schenkte er »dem Heiligen Petrus und der Kirche«
ein großes Gebiet' (Pippinsche Schenkung) und gebärdete sich als Schutzherr der Stadt
Rom und somit des Kirchenstaates.
KARL D E R GROSSE Am mächtigsten* war das Karolingerreich unter Pip
pins Sohn, Karl dem Großem (768 - 814). Sein Reich umfaßte das heutige Frankreich;
Norditalien und große Teile Deutschlands. An der Grenze des Reiches wurden
Markgrafschaften angelegt; die wichtigste Verwaltungseinheit im Inner» des Landes
hieß Gau. Karl unterwarf sich in langwierigen Kriegen viele Völker, darunter sämtliche
germanische Stämme Mitteleuropas. Besonders hart ging er (den Ehrentitel »der
Große« haben ihm schon Zeitgenossen gegeben) gegen die Sachsen vor. Da Karl all die
Eroberungen unter dem Deckmantel der Christianisierung durchfiihrte, wurden seine
Feldzüge von der Kirche unterstützt; der Krieg gegen die Heideagalt ja als ein göttli
cher Auftrag für den christlichen Herrscher. Im Jahre 800 krönte Papst Leo HL den
»König der Franken und Langobarden und Patrizius der Römer« K arl in der Weih
nachtsmesse in Rom zum Kaiser. Dadurch wurde dieser auf die gleiche Stufe mit dem
oströmischen Kaiser in Konstantinopel gestellt, das Frankenreich wurde als Erbe des
antiken Imperium Romanorum anerkannt. Das christliche Abendland hatte von nun an
ein geistliches Oberhaupt, den Papst, und ein weltliches, den Kaiser. Dadurch bildete
sich zugleich die Grundlage für spätere Spannungen und Kämpfe zwischen diesen bei
den Mächten heraus.
KAROLINGISCHE KULTUR Die Bedeutung Karls des Großen bestand
nicht zuletzt in der bewußten Förderung von Kunst und Wissenschaft. In Aachen, dem
Zentrum seiner Herrschaft, errichtete er neben wichtigen Bauten die PfalzkapeHe und
die Musterschule »accademia palatina«, in der die »artes liberales« (die sieben freien
Künste) gepflegt wurden. Hervorragende Gelehrte sollten an seinem Hof klassisch?
Texte sammeln und kommentieren: Er förderte, vom Gedanken eines christlichen und
geeinten Abendlandes geleitet, die Ausbreitung einer allgemeinen, klassisch orientier
ten Bildung, wobei Schreiben und Lesen noch Privileg der Geistlichen blieben; nicht
einmal der Kaiser selbst beherrschte es. Eine entscheidende Rolle kam in der kulturel
len Entwicklung den neu geschaffenen Klöstern zu.
A L T H O C H D E U T SC H In der Sprache gab es wieder Veränderungen. Es
vollzog sich die zweite (oder hochdeutsche) Lautverschiebung. Das heißt zum Beispiel:
Während im Niederdeutschem (also im nördlichen Teil des germanischen Sprachraums)
weiterhin »Appel«, »Plaume« und »Pünd« gesagt wurde, bürgerten sich im Hochdeut
schen: (also in den südlicheren, höher gelegenen Gebieten) vom 8. Jahrhundert an die
Formen »Apfel«, »Pflaume« und »Pfund« ein. Es entstand das Hochdeutsch, dessen drei
große Entwicklungsphaseni Althochdeutsch (von 750 bis 1050), Mittelhochdeutsch (von
1050 bis 1500) und Neuhochdeutsdi (seit dem 16. Jahrhundert, wesentlich beeinflußt
durch Luthers Bibelübersetzung) sind. Die überwiegende Mehrzahl der erhalten geblie
benen religiösen Texte,' aus der Zeit wurde selbstverständlich in lateinischer Sprache
verfaßt, man begegnet jedoch gelegentlich auch Stellen, die Aufschluß über den Stand
der deutschen Sprache geben. Es sind in erster Linie Glossare, das heißt primitive
Wörterbücher, die neben das lateinische Wort das entsprechende deutsche setzen, sowie
Interlinearübersetzungen, die zwischen den Zeilen des lateinischen Originals stehen.
Selten nur findet man mehr oder minder selbständige Werke christlichen Inhalts
(»Heliandfc, der in mehr als 6000 Versen das Leben Jesu schildert), sowie heidnische
Texte, wie die »Merseburger Zaubersprüche« und das »Hildebrandsliedfc.
FEUDALISM US Das Leben im Reich der Franken war vom Lehnswesen
(Feudalismus) bestimmt. An der Spitze der Lehnspyramide stand der König. Er, der
oberste Lehnsherr, schenkte verdienten Männem seines Gefolges aus seinem Besitz Le
hen zur Nutzung. Dafür verlangte er vom Lehnsmann (Vasall*) Unterordnung im gege
benen Fall Dienst m itder Waffe. Der König konnte seinen Vasallen das Lehen wieder
abnehmen. Manche Lehnsleute hatten so große Besitztümer; daß sie sie aufteilten und
weiterverliehens Die Spielregeln des Feudalismus sind sehr logisch: Der Lehnsherr ver
gibt mit großer Gestik und bedeutungsvoll Lehen, der Vasall1 muß dankbar dafür sein
und darf seineiAbhängigkeit, sein Ausgeliefertsein nie vergessen;' Je stärker die Vasallen
sind, desto mächtiger ist der Lehnsherr, aber nur bis zu einem gewissen Punkt, denn zu
starke Vasallen können gefährlich werden. Die beste Taktik ist also, daß sie (im Geiste
der Devise »Divide et impera!«) gegeneinander ausgespielt werden,
H Ö R IG E UND LEIBEIGENE Der BesiÖ eines Feudalherrn lag meist
über ein größeres Gebiet verstreut, daher mußten als Zentren der BewirtschaftuR? die
Fronhöfe (ahd. frö = der Herr) geschaffen werden, denen ein Meier (Vogt) als Beauf
tragter des Feudalherrn Vorstand. (Der königliche Fronhof hieß die Pfalz.- Der Herr
scher zog mit großem Gefolge von Pfalz zu Pfalz;) Ganz unter» in der Lehnspyramide
standen die in unterschiedlichem Made von dem Feudalherrn abhängigen Bauern, die
Abgaben (Getreide, Gemüse, Eier, Häute, Wolle und Vieh) sowie Frondienste zu lei
sten hatten. Es gab unter ihnen Hörige und Leibeigene. Die Hörige# (sie waren in der
Mehrzahl) hatten einen eigenen Hof und verfügten-über Produktionsmittel, mußten
aber den »Zehnten« (das heißt den zehnten Teil des Ertrages) und darüber hinaus Ab
gaben an die Kirche entrichten. (Ein aktueller Titel aus dem Angebot des Beck Verlags
München: »Mit dem Zehnten fing es an. Eine Kulturgeschichte der Steuer«.) Die
Leibeigenen besaßen keine eigene Wirtschaft, lebten in der Nähe des Fronhofs, wo sie
meist auch arbeiteten^ und waren persönlich vom Grundherrn abhängig, der sie gar ver
kaufen und mißhandeln durfte - nur nicht töten.» Durch den Übergang zur
Dreifelderwirtschaft, den Anbau von Obst, Gemüse, Wein und anderen Spezialkulturen
sowie die Vergrößerung der Nutzfläche durch Rodung und die Trennung des Hand
werks von der Landwirtschaft? verstärkten sich die Produktivkräfte. Der Handel mit
Geld, der in der Römerzeit so wichtig war, wurde kaum weiter betrieben, es überwog
vielmehr der Naturalienhandel.
VERTRAG VON V ERDU N Die starke Zentralgewalt und die strenge
Verwaltung von Karls Reich zerfielen bald nach dessen Tod im Jahre 814. Seine Enkel
Karl der Kahle, Lothar und Ludwig der Deutsche kämpften erbittert um Machtanteile.
Im Vertrag von Verdun im Jahre 843 teilten sie das Reich in drei Teile. Infolge weiterer
Verträge (Mersen 870, Ribemont 880) wurde daraus bald eine Zweiteilung in Westfran
ken und Ostfranken. Diese Spaltung, die sich als unumkehrbar erweisen sollte, ent
sprach auch ethnisch-sprachlichen Faktoren, denn die Bevölkerung des Westefis war
überwiegend romanischen Ursprungs, aus ihrer Variante des Lateins entwickelte sich
das Französische, die Bevölkerung des Ostens» war demgegenüber vorwiegend germani
schen Ursprungs und deutschsprachig. Erst zu dieser Zeit verbreitete sich die Bezeich
nung »deutsch« für die Sprache und wurde allmählich auf die Sprecher und schließlich
auf ihr Wohngebiet übertragen.
3. Ottonen, Salier, StauferO T T O N E N Den Übergang vom ostfränkischen zum deutschen Reich setzt
m an gewöhnlich mit dem Jahr 911 an, in dem nach dem Aussterben der Karolinger der
Frankenherzog Konrad L zum König gewählt wurdet Ihm folgte im Jahre 919 der Sach
senherzog Heinrich R; sein Geschlecht (sächsische Herrscher, Ottonen) behielt bis 1024
die Macht. Das starke Herzogtum von Heinrich I. (919 - 936, Heinrich der Vogeler) si
cherte eine hinreichende Basis für eine erneute Festigung der königlichen Zentralgewalt
im deutschen Königreichs Heinrich hatte auch gegen Süßere Feinde zu kämpfeji. Die
Normannen' bedrängten sein Reich aus dem Norden, die Ungarn (mit ihrem
»abscheulichen und teuflischen Ruf hui-hui«) vom Osten/
STREIFZÜG E D E R UN GARN Im Jahre 924 mußte sich Heinrich in
einem Waffenstillstand mit den Ungarn noch zu jährlichen Zahlungen verpflichten,
doch baute er rasch Burgen aus, wo die Bevölkerung Zuflucht fand und von wo aus die
Verteidigung viel effektiver organisiert werden konnte. Ferner stellte er eine Pan
zerreiterei auf,; der die berüchtigten Pfeile der Ungarn nicht viel schaden konnten. 933
sah sich Heinrich I. also schon in der Lage, die fälligen Zahlungen zu verweigern. Es
kam zu einer Schlacht an der Unstrut (zwischen Merseburg; und Naumburg), in der die
Ungarn besiegt wurden. Ein erneuter ungarischer Angriff wurde von Heinrichs Sohn
Otto I. 955 auf dem Lechfeld bei Augsburg - trotz der ungünstigen Verhältnisse: die
Herzöge bekämpften einander, vor allem aber Otto heftig - zerschlagen. (Unsere Sage
von Lehel, der mit seinem Horn den Kaiser totschlug, beruht wohl auf einem Mißver
ständnis - Otto lebte noch fast zwei Jahrzehnte.) Mit der Schlacht auf dem Lechfeld
wurde den Streifzügen ein Ende gesetzt^ die Ungarn wurden im Karpatenbeckeö seßhaft
und nahmen das Christentum an,
OTTO I. Heinrichs Sohn, Kaiser Otto B (Otto der Große, 936-973), konnte
die Macht der Familie nicht zuletzt durch ausgedehnte Feldzüge weiter ausbauen. Er
unterstützte den Papst gegen römische Adlige und erhielt von diesem 962 die Krone des
Kaisers des »Heiligen Römischen Reich®«. Vom ausgehenden 15. Jahrhundert an hieß
der Staat »Heiliges Römisches Reich deutscher Nation«, es löste sich 1806 auf. (Die
Kaiserkrone ist heute in der Schatzkammer der Wiener Hofburg zu besichtigen.) Otto
verstand sich als Schutzherr der Kirche und erhob den Anspruch, von allen Herrschern
als Haupt des Christentums betrachtet zu werden, der auf die Wahl des Papstes einen
entscheidenden Einfluß* ausübt und ihn einsetzt. Die Verlagerung des Gewichts dter
Politik nach Italien sollte die Bemühungen der Ottonen und der Salier (1024-1125,
auch fränkische Kaiser genannt) bestimmen.
IN V E ST IT U R ST R E IT Heinrich H k (1039 -1056) ging schon soweit, Päpste
abzusetzen und an ihrer Stelle deutsche Bischöfe zum Papst zu erheben. Das war umso
leichter möglich, als die Kirche nicht einig* war. Die Mönche des Benediktinerklosters
Cluny in Burgund fanden mit ihrer Forderung zur Aufhebung weltlicher Eingriffe in das
Kirchenleben und zur Verbesserung der Disziplin, gegen die nachlässige Ausbildung,
den Verkauf von geistlichen Stellen und die Ehe der Priester weiten Widerhall. Die Ge*
gensätze zwischen Kaiser und Papsf brachen in dem Investiturstrfcit (Streit um die Ein
setzung hoher geistlicher Würdenträger) offen und scharf aus! Paps# Gregor VH.
(1073-1085), ein Verfechter der Ideen von Cluny, forderte, daß die geistlichen Wür
denträger nicht mehr von Nichtgeistlichem, also auch nicht vom König, eingesetat wür
den, Kaiser Heinrich IW(1056-1106) akzeptierte die Forderung nicht, Heinrieh wurde
von Gregor exkommuniziert, was dazu führte, daß die deutschen Fürstin, die ja einen
schwächeren Herrscher haben wolltest ihrem Köni|; nicht mehr Folge leisteten. Sie for
derten von ihm die Befreiung vom Bann binnen Jahresfrist, sonst würde man einen
neuen König Wähler» Heinrich IV. mußte also 1077 demütig zur Burg Canossa (in Nord;
italien) pilgern» um dort beim Papst Abbitte zu leisten und dadurch politisch wieder
freie Hand zu haben (Canossagang).
W ORM SER KONKORDAT Einen vorläufigen Abschlu# fand der Streit
zwischen Staat und Kirche in dem 1122 von König Heinrich V. und Papst Calixt ü . abge-
schlossenen Wormser Konkordat; dem gemäß die Bischöfe von der Kirche eingesetzt
werden, vom Kaiser aber weltliche Güter als Lehen erhalten. (Symbolisch: Zepter vom*
König, Ring und Stab vom Papst;) Trotz dieses Kompromisses bedeutete der lange
Streit eine schwer wiedergutzumachende politische Einbuße für das Königtum, während
Kirche und Partikularmächte gestärkt aus der Auseinandersetzung hervorgingen. Die
Reichsfürsten (Reichsbischöfe und hoher Adel) konnten ihre Selbständigkeit nämlich
erweitern und einen erhöhten Einfluß auf die Wahl des deutschen Königs erlangen.
K R E U Z Z U G E Nach dem großen Schisma (105^ und der Eroberung Jeru
salems durch die Türken forderte Papst Urban ü . 1095 das christliche Europa zur Be
freiung des Heiligen Landes auf; Angesprochen fühlte sich vor allem die Ritterschaft;
eine neue Schicht,^die aus Ministerialen; erblosen nachgeborenen Söbtien des niedereö
Adels und wohlhabenden Bauern entstand. Sie versprachen sich von dem Abenteuer
neue Besitztümer Die Feudalherren erhofften von den Kreuzzügen die Verlagerung in
nerer Spannungen nach außeii, das Papsttum mehr politische Macht Und große Ein-"
künfte, die Kaufleute die Eröffnung neuer Märkte’ Als tatsächlich befruchtend erwies
sich aber letztlich nur die Berührung der Europäer mit der Kultur des Orients. Der erste
Kreuzzug (1096-1099) endete mit der Eroberung Jerusalems, doch die Siege und Er
folge waren nur von kurzer Dauer, immer neue Kreuzzüge mit neuen Zielsetzungen
(beispielsweise zur Wiedervereinigung der lateinischen und byzantinischen Kirche)
wurden unternommen, man schickte sogar Kinder ins Heilige Land (Kinderkreuzzug,
Anfang des 13. Jahrhunderts). Erst 129f nahmen die Kreuzzüge ein Ende.
O STK O LO N ISA TIO N Es gab auch eine starke Ostkolonisation, in der der
militante Deutsche Orden eine definitive Rolle spielt®. Nach der Ausweisung durch Un-
gamkönig Andreas II. aus dem siebenbürgischen Burzenland, wo ursprünglich die heid
nischen Kumanen bekämpft werden sollten, wurde der Deutsche Ord®n vom polnischen
Herzog Konrad von Masowien um Hilfe gegen die Pruzzen (Preußen) ersucht. Die
Pruzzen, ein Volk indogermanischen Ursprungs, waren im 13. Jahrhundert noch heid
nisch. Sie wurden gewaltsam christianisiert und germanisiert, trotzdem verschwand ihre
Sprache erst nach Jahrhunderten. Auf ihrem Gebiet errichtete Hochmeister Hermann
von Salza einen dem Papst unterstellten Ordensstaat, der kein Bestandteil des Heiligen
Römischen Reiches war. Erst nach der Niederlage bei Tannenberg gegen den pol
nischen Körrig 1410 war die große Zeit des Ritterordens vorbei. Der Frieden von Thom
(1466)* besiegelte seine Machtverluste. - Die Ostkolonisation hatte auch eine friedliche
A rt Es zogen im 13. und 14. Jahrhundert* zahlreiche deutsche Bauern, Bergleute und
Handwerker nach Schlesien^ Siebenbürgensund in die Zips (letztere sind die Vorfahren
der Siebenbürger und Zipser Sachsen), um Ödland zu kultivieren, Gewerbe und Handel
zu beleben, Städte zu griHKjgajl
B A R B A R O SSA Während der Herrschaft der Staufer (oder Hohenstaufen,
1138-1268) errang das Königtum .vorübergehend wieder eine festere Stellung: Kaiser /
Friedrich I. (1152-1190, Friedrich Barbarossä) erreichte das nicht zuletzt durch seine
geschickten Italienfeldzüge (zeitweilige Unterwerfung reicher Städte Norditaliera; dann
jedoch Niederlage gegen den Lombardischen Städtebund bei Legnano 1176)? Barbaros
sas Herrschaft war auch in Deutschland* durch langwierige Machtkämpfe gekenn
zeichnet, als sein Hauptrivale .'galt Heinrich der Löwe aus dem Geschlecht der Welfen
(Sitz in Braunschweig). Während des dritten Kreuzzuges ertrank Barbarossasbeim Ba
den im Fluß Saleph (heute Göksu, Türkei). Schon die Zeitgenossen hielten ihn für die
Verkörperung ritterlicher Ideale und den Erneuerer des Reiches. Der Legende nach
schläft er im Berg Kyffliäuser, und er kommt wieder, wenn ihn die Deutschen brauchen.
(Die Nazis nannten den Plan zum Angriff auf die Sowjetunion Barbarossa-Plan.)
RITTER Die Epoche der Stauferkönige war die Glanzzeit der ritterlichen Kul
tur, die das hohe Mittelalter entscheidend bestimmtem Davor war die Kultur fast aus
schließlich von Klerikern getragen worden; an den Höfen von bedeutenderen Hejr-
schera entstand nun, zum Teil nach französischem Vorbild, eine weltliche Kultur. Ihr
Träger ist die Schicht der Rittgr, die ihr Selbstverständnis und Selbstbewußtsek vor al
lem den Kreuzzügem verdankt. Diese hatten einerseits den Blick in fremde Länder und
Kulturen geöffnet und andererseits ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zwischen den
Rittern der verschiedenen christlichen Nationen geschaffen; dies wiederum führte zu
einem verstärkten kulturellen Austausch;
RITTERLICHE TU GEN DEN Der Ritterstand hatte festen Normen zu
entsprechen. Als zentrale Tugend galt die »mäze«, das richtige Maß, das Maßhalten.
Diese »mäze« wird erreicht durch die »zuht« (»Zucht«), das heißt durch Erziehung und
Selbstdisziplin. Der Ritter mußte immer kampfbereit sein; heitere Lebenshaltung; Ehre
und Treue gehörten zu seinen bevorzugten Eigenschaften - und nicht zuletzt »minne«,
das heißt die Bezeugung der höfisch-ritterlichen Liebe gegenüber der geliebten Fraa
(meist der Gattin des Lehnsherrn). Dies mußte auch in Lieder gefaßt werden, die man
zusammenfassend Minnesang nennt. Der bedeutendste Vertreter des Minnesangs und
zugleich sein Überwinder war Walther von der Vogelweide (»Unter der Linde«). Man
verfaßte in der damaligen mittelhochdeutschen (mhd.) Sprache auch erzählende Dich
tungen mit erzieherischer Absicht: dem Publikum sollte das echt ritterliche Verhalten
gezeigt werden. Wichtige Vertreter der höfischen Epik sind Hartmann von Aue (»Der
arme Heinrich*), Wolfram von Eschenbaeh (»Parzival«) und Gottfried von Straßburg
(»Tristan und Isoldes*). Es sind viele Redensarten aus der Lexik der Ritter in den all
gemeinen Sprachgebrauch übergegangen: »mit offenem Visier kämpfen«, »mit je
mandem eine Lanze brechen«, »jemandem den Fehdehandschuh hinwerfen«, »den
Handschuh aufnehmen«, »auf hohem Roß sitzen«, »sattelfest sein«, »aus dem Stegreif«
(Steigbügel; also: im Begriffe davonzureiten).
4. Leben und Kultur im MittelalterFR IED RICH II. Bald nach Friedrich Barbarossas Töd verlagerte sich die
Aktivität der deutschen Könige immer mehr nach Italien; Das deutlichste Beispiel dafür
ist die Herrschaft des staufisch-normannischen Kaisers Friedrich I I5 (1212-1250), eines
Dichters und Gelehrten, der ein Buch über die Falkenjagd schrieb, acht Sprache# be
herrschte, mit arabischen Gelehrten korrespondierte und eine den späteren absolute^,
Monarchien ähnliche Staatsforai schuf, die sich auf Steuern, Gesetze, christliche und
arabische Söldner sowie ein in Neapel ausgebildetes Berufsbeamtentum stützte. Um die
Umklammerung der norditalienischen Städte und des Kirchenstaates, sowie die Herr®
schaffe über dem ganzen Mittelmeerraum von Palermo aus verwirklichen zu können,
mied er K onflikte in Deutschland» jenem Teil seines Imperiums, wo er sich ohnehin un
gern aufhielt. (In diesem »Nebenland« des Reiches regierte sein Sohn als Statthalter.)
Dieser Zustand konnte freilich nur durch die Überlassung wichtiger Hoheitsrechte an
die weltlichen und geistlichen Reichsfürsten'in Deutschland aufrechterhalten werden.
ZERFALL D E R ZENTRALGEW ALT Nach wechselvollen Kämpfen der
Welfen» und Staufet kam es von 1254« bis 1273«zu einer kaiserlosen Zeit, dem Intej-
regnum. Das Interregnum wurde mit der Wahl Rudolfs von Habsburg zum deutschen
König beendet Man einigte sich auf einen alten (bereits 55jährigen), unbedeutenden,
nicht e i n m a l Latein beherrschenden Grafen, dessen Besitzungen verstreut im Elsaß und
in der Schweiz lagen. Doch Rudolf entsprach den negativen Erwartungen nicht. Er be
trieb bis zu seinem Tode im Jahre 1291 eine wirksame Hausmachtpolitik, beherrschte
die Taktik des Lavierens, Hinhaltens, Beschönigens, Vertuschens, halben Versprechens,
hatte keine Vorurteile, kein Gewissen und keine Phantasie, war vollkommen amusisch,
grau und farblos, aber eben aufs Wesentliche konzentriert — Eigenschaften, die in der
Jahrhunderte währenden Geschichte der Familie immer wiederkehren.
KURFÜRSTEN Die meisten Feudalherrerf zeigten ein geringes Interesse an
der Stärkung der Zentralgewalt, sie strebten' vielmehr nach Selbständigkeit. Die sieben"
mächtigste» von ihnen, die Kurfürsten, wählten seit dem 13. Jahrhundert den Könfg. Es
waren die Erzbischöfe von Mainz; Trier und Köln,; sowie der Pfalzgraf bei Rheiä* der
Herzog von Sachsen^ der Markgraf von Brandenburg und der König von Böhme*. Sie
suchten durch häufigen Wechsel der Königsfamilien die Zentralgewalt erfolgreich weir
ter zu schwächen. Die ausschließlich auf den eigenen Vorteil bedachte Politik späterer
Königshäuser (der Luxemburger und der Habsburger) richtete sich auf Ausbreitung
nach außen und nicht gegen die Partikularbestrebungen des Adels und besonders der
Kurfürsteö, deren Macht 1356? von Kaiser Karl IW in der Goldenen Bull£, dem
»Grundgesetz der deutschen Vielstaaterefc, anerkannt wurdet Die Zentralgewalt verfiel
völlig, und während auch die kleinen Herren, Ritter und Grafen allm ählich an Bedeu
tung verloren, verfügten die Kurfürsten über fast unbeschränkte Rechte wie Gerichte
barkeit in ihren Territorien, Unteilbarkeit der Kurländer, Zoll- und Münzrecht, Erb*
folge (bei den weltlichen Kurfürsten).
PROBLEM E D E R KIRCHE Obwohl das Papsttum vom zersplitterten
Deutschland aus wenig gefährdet wurde, hatte es sich mit neuen Problemen
auseinanderzusetzen. Nach dem Pontifikat von Innozenz Hl., das den mittelalterlichen
Höhepunkt in der Geschichte des Papsttums darstellt (Innozenz war übrigens der Vor
mund von Friedrich ü.), befand sich die Kirche in einer schweren Abhängigkeit von den
französischen Königen1. Die Päpste wurden gezwunge’n, fast im gesamten 14. Jahrhun
dert in Avignon zu residieren (Avignonische Gefangenschaft). Dort hielten sie üppig
hof; Verweltlichung, Geldgeschäfte der Kurie minderten das Ansehen der Kirche. Ge
gen Ende des Jahrhunderts kam es zur Kirchenspaltuag (Schisma), es gab gleichzeitig
zwei, später sogar drei Päpste. In vielen Teilen Europas verlangte man Reformerü Das
von Kaiser (und ungarischem König) Sigismund einberufene Konstanzer Konzil
(1414-1418)‘versuchte, die Mißstände zu beseitigen. Die Einheit wurde zwar im we
sentlichen wiederhergestellt, doch es kam zu keiner wirklichen Kirchenreform, die
Lehre von Jan Hus wurde als Ketzerei' verdammt, der tschechische Prediger auf dem
Scheiterhaufen verbrannt.
UNTERGANG DES RITTERTUMS Dadurch, daß die mächtigste»
Feudalfürsten in den Teilstaaten ihre Herrschaft festigte», wurde das Rittertum poli-
tisch«:und militärisch überflüssig. In den neuen Staaten beschäftigte man anstelle der
M inisteria len Fachbeamte^und die Feudalherren stellten feste Söldnerheere auf, die be-,
weglicl» waren und mit den neuen Feuerwaffe« auch Burgen relativ leicht einnehmen
konnten. Es kam eine neue Mentalität auf, die anachronistischen Ritter mit ihrem 25
Kilogramm oder noch mehr wiegenden Harnisch konnten sich zu Fuß kaum bewegen,
und ihre Pferde waren nicht vollständig zu schützen. Burgen, die weite Landstriche (zum
Beispiel in Thüringen und am Rhein) netzartig bedeckten, wurden bald Verstecke der
immer mehr verarmenden Ritter, der Raubritter-, die Kaufleute überfielen und ausplüik-
derten* von ihnen hohe Wegegebühren erpreßten. (Das letzte große Unterfangen zur
Rettung dieser Schicht war der Reichsritteraufstand 1522-1523:)
»STADTLUFT MACHT FREI« Stark an Bedeutung zugenommen haben
währenddessen die Städte. In den kriegerischen Zeiten des 10. Jahrhunderts bildeten
sich um befestigte Plätze, Burgen und in den ehemaligen Römerstädten, die häufig
Bischofssitze geworden waren, neue Siedlungen. Allmählich entstanden dort Märkte;
Kaufleute ließen sich nieder. Das Städtebürgertum kämpfte im 11.-13. Jahrhundert
immer erfolgreicher gegen feudale Abgaben, um Gerichtsautonomie, Unabhängigkeit
und Selbstverwaltung. Heinrich der Löwe erkannte in einer Urkunde für Braunschweig
an wer ein Jahr und einen Tag in der Stadt wohne, sei frei. Daher der Spruch: »Stadtluft
macht frei«. Es entstanden zahlreiche Stadtrechte -(zum Beispiel Magdeburger Stadt
recht) sowie (nach dem Muster des Anfang des 13. Jahrhunderts von Eike von Repgau
verfaßten »Sachsenspiegel«) Rechtsbücher. Als Sinnbild des städtischen Rechts stand
vor dem Rathaus vieler Städte die überlebensgroße Steinfigur des »Roland« mit Schild
und Schwert (heute noch zu sehen zum Beispiel in Bremen und Naumburg).
STÄDTEBÜNDE Die Feudalherren mußten sich mit den neuen
Machtverhältnissen ;abfindeix vor allem weil sie auf den Handel mit den Städten ange?
wiesen. waren. Da dieser Handel immer mehr mittels Geldes erfolgte, forderten sie die
Abgaben von den Bauern schon vielfach in Form von Geld. Um die Verkehrswege und
die Kaufleute* vor den Überfällen der Raubritter zu schützen, um sich gegen den Feu
daladel zu verteidigen und um die Handelsinteressen im Ausland zu sichert, schlossen
sich Städte zu Städtebünden» zusammen. Die bekanntesten waren der Rheinische Städ-
tebund {ab Mitte des 13. Jahrhunderts), der Schwäbische Städtebuad und die Hanse.
H A N SE Zu ihrer Blütezeit im 14. Jahrhundert hatte die Hanse, dieser Bund
der Handelsbürger in Norddeutschland mit Zentrum in Lübeck das alleinige Vorrecht,
mit den Erzeugnissen der Ostseeländer zu handeln Es gehörten ihr fast alle norddeut
schen Städte bis weit ins Baltikum an, sie hatte Niederlassungen (Kontore) in Nowgo
rod, London, Brügge und beherrschte die Seewege. Zur Festigung ihrer Macht und zur
Kriegsführung gegen die Konkurrenz stellte sie sogar Seeräuber ein. Mit entlassenen Pi
raten wandte sich Ende des 14. Jahrhunderts der sagenumwobene Klaus Störtebeker ge
gen die Hanse und griff ihre Schiffe an. Sein Prinzip hieß »Likedeel« (gleiche Vertei
lung, auf Plattdeutsch). Im 15. Jahrhundert zerfiel die Hanse allmählich, denn die
Handelsgewinne wurden vielfach nicht zur Erweiterung der Produktion benutzt, man
hielt an überlebten Handelsformen fest, die einzelnen Hansestädte begannen zu rivali
sieren, und die niederländische und englische Konkurrenz erwies sich als immer stärker.
SOZIALE SCHICHTUNG Die Städte waren sozial natürlich nicht einheit
lich. Die Oberschicht bildete das Patriziat, bestehend aus den reichsten Kauf
mannsfamilien, den Angehörigen der stadtherrischen Ministerialität und einigen in die
Stadt gezogenen Landadeligen. Diese zahlenmäßig kleine Schicht besetzte die Ämter.
Es gab in der Stadt sehr viele Handwerker und Kaufleute, sie bildeten die mittlere
Schicht. Unten in der Stadthierarchie standen die Plebejer: verarmte Handwerker, Ta
gelöhner, Gesellen, Knechte und Mägde. Stark vertreten waren in jeder Stadt die Bett
ler, sie hatten sogar eigene Bettlerzünfte.
Z U N F T Bestimmend für das Leben in den Städten waren vom frühen 12. Jahr
hundert an die Vereine der einzelnen Handwerke, die Zünfte. (Die Organisationen; der
Kaufleute hießen Gilden.) Die Zünfte regelten mit peinlicher Genauigkeit Ausbildung,
Lohn und Arbeitszeit der Handwerker sowie Qualität und Preis der Waran, ja sogar die
Zahl der Lehrlinge; die Größe des Ladens und die Anredeform. Es herrschte in der
Stadt Zunftzwang, das heißt, die Ausübung eines Berufes war nur Mitgliedern gestattet.
An der Spitze» der Rangfolge in einer Zunft stand der Meister, er hatte einige Gesellen
und Lehrlinge. Da die Zahl der Meister in einer Stadt festgelegt war, konnte der
Geselle meist erst nach dem Tod seines Meisters vorriicken. Nicht selten heiratete er
gleich die Witwe seines ehemaligen Vorgesetzten, um sich Werkstatt und Werkzeug zu
sichern. Die Zünfte konnten sich durch die Normierung des gesamten
Produktionsablaufs vor der Konkurrenz schützen und ihre Interessen nach außen
einheitlich vertreten; die Stadtherren sahen dadurch die Überwachung des Marktes und
die Gewährleistung der Qualität gesichert. Die endgültige Abschaffung der Zünfte
erfolgte erst im 19. Jahrhundert, als sie schon längst ein Hemmschuh der Entwicklung
geworden waren.
LEBEN IN D E R STADT Das äußere Bild der mittelalterlichen Stadt war
durch die Befestigungsanlage geprägt. Eine Steinmauer mit Wehrgängen und ein Was
sergraben umgaben die Stadt, in die man nur durch die streng bewachten Tore kommen
konnte. Das Zentrum des Stadtlebens war der Marktplatz mit einem Rathaus, wo die
städtischen Behörden Unterkunft fanden. Das Rathaus war ein Mehrzweckbau, es
diente auch als Kaufhaus für den Tuchhandel, bot geselligen Zusammenkünften Platz
(beispielsweise als Tanzhaus), beherbergte das städtische Gefängnis und das Stadtar
chiv, und im Ratskeller wurden Wein und Bier ausgeschenkt. Die Straßen, die tagsüber
immer voll waren, verliefen krumm und gewunden, die Häuser waren eng aneinander-
gebaut, man warf Unrat, Abfälle, tote Tiere auf die Straße, die Seuchen verbreiteten
sich ungestört. Vor allem die schwarze Pest wütete schrecklich. Es gab in den Wohnun
gen noch keine sanitären Anlagen. Da der Sinn für Reinlichkeit jedoch vorhanden war,
baute man Badehäuser, wo sich auch ein großer Teil des gesellschaftlichen Lebens ab
spielte, man aß, trank, würfelte, sang dort und so weiter.
U N B E F A N G E N H E IT Es herrschte in jeder Hinsicht größte Unbefangen
heit. Der allgemeine Umgangston war überaus roh; wer die Abenteuer des Till Eulen
spiegel liest, kann sich einen Eindruck davon machen. Die Kleidung war farbenprächtig
und exhibitionistisch. Man trug Glocken am Gürtel und lebte »auf großem Fuß«, das
heißt man trug Schnabelschuhe, deren Länge je nach sozialer Zugehörigkeit streng
vorgeschrieben war, einfachen Leuten stand das Anderthalbfache der Fußlänge zu, Für
sten durften ihren Fuß wesentlich mehr verlängern.
R O M A N ISC H E K U N ST Die bildende Kunst von etwa 950 bis 1250 wird
unter dem Begriff des romanischen Stils zusammengefaßt. Sie dient fast ausschließlich
kirchlichen Zwecken. Wichtigste Merkmale romanischer Bauten sind schwere, wuchtige
Architekturformen, schmuckloses Äußeres, mächtige, ungegliederte Mauerflächen,
Rundbögen an Fenstern und Portalen, massive Säulen und Pfeiler, zahlreiche Türme.
Die romanische Kirche hatte einen wehrhaften Charakter, sie hatte ja auch als Festung
zu dienen. Die starken Mauern strömten Kraft, Sicherheit aus, der Mensch fühlte sich in
der Kirche klein, aber geborgen. Hervorragende Beispiele der Romanik findet man im
Rheinland, so etwa den Dom zu Worms, Speyer und Mainz, ferner die Benediktinerab-
tei Maria Laach in der Eifel sowie den Dom zu Gemrode im Harz. Der schönste weltli
che Bau romanischen Stils ist die Kaiserpfalz in Goslar. Auch in der Buch- und
Wandmalerei sowie in der Plastik wurden nennenswerte Leistungen hervorgebracht.
Das Schwergewicht liegt dabei nie auf der naturgetreuen Wiedergabe, sondern auf dem
intensiven Ausdruck des Wesentlichen, der Bedeutung der jeweils dargestellten Szene.
G O TISC H E K U N ST Der romanische Stil wurde von Mitte des 12. Jahr
hunderts an (zunächst in Frankreich) durch den gotischen abgelöst, der die europäische
Kunst bis zum Ende des 15. Jahrhunderts beherrschte. Seine bedeutendsten Leistungen
entstanden ebenfalls im Kirchenbau. Die gotische Kathedrale strahlt nicht, wie die
romanische Kirche, Schlichtheit und Geborgenheit aus, sondern beeindruckt durch
hochstrebenden Vertikalismus, der dem neuen Selbstverständnis der Kirche entspricht.
Statt Massebau wird das Konstruktionsprinzip Skelettbau verwendet: die Last der Mau
ern wird von Strebepfeilern beziehungsweise Strebebögen außerhalb des Gebäudes ge
tragen, das Verhältnis von Breite zu Höhe beträgt (im Gegensatz zur Romanik, wo es
1:1 bis 1:1,5 war) 1:2 bis 1:3,8. Die entlasteten Außenwände lassen sich in farbige, bild
künstlerisch gestaltete Glasflächen auflösen, durch die Licht in den Kircheninnenraum
strömt. Auch Pfeiler und Spitzbögen ziehen den Blick nach oben. Der Kirchturm ragt
aus dem Stadtbild heraus und wird zum Orientierungspunkt. Zu den bedeutendsten
gotischen Bauwerken gehören der Kölner Dom, das Ulmer Münster (mit einem Turm
von 161 Meter Höhe), sowie die Wiener Stephanskirche. Der bekannteste gotische
Profanbau ist das Rathaus in Wernigerode. Es entstehen wichtige Schreibschulen
(Fulda, Sankt Gallen, Reichenau). Goldschmiedekunst und Plastik, Miniaturen- und Ta
felmalerei erhalten eine zum Teil schon selbständige Bedeutung, neben dem christli
chen Inhalt werden min schon andere Motive verwendet: Porträts von Stiftern (etwa im
Naumburger Dom) und naturgetreu wiedergegebene kleine Landschaftsausschnitte.
5. Österreichische AnfängeN O R IK U M Das Gebiet des heutigen Österreich wurde seit urgeschichtlicber
Zeit besiedelt. Hier befand sich beispielsweise im 8.-5. Jahrhundert v. u. Z. eins der
Zentren der sogenannten Hallstattkultur. In den letzten Jahrhunderten v. u. Z. wurde
das Gebiet von Norikern und Kelten bewohnt. Das Königreich Norikum baute rege
wirtschaftliche und politische Beziehungen zum Römischen Reich aus, von dem es aber
schließlich unterworferewurde. Als die bedeutendsten römischen Siedlungen der Regioa
galten Vindobona?j(Wien), Brigantium (Bregenz) und Suvavun» (Salzbu*g). Wie überall
im Imperium baute* die Römer bald das Straßennetz aus? heute noch folgen die Fein
straßen oft den Römerwegen. Das norische Gebiet galt auch wegen des Gold-, Silber-,
Eisen-, Blei-, Kupfer- und Salzschatzes als besonders begehst. Eine wichtige Rolle kam
dem Bernsteinhandel zu.
B A Y ER ISC H E H E R R SC H A FT Nach den Jahrhunderten der Völkerwan
derung, als das Gebiet abwechselnd von diversen Völkerschaften beherrscht wurde,
breitete sich im Donau- und Alpenraum seit Beginn des 6. Jahrhundert eine dauernde
Herrschaft der Bayern aus, zu deren Stammesgebiet bereits das westliche Nieder
Österreich, Oberösterreich, Salzburg und Tirol gehörten. Im 8. Jahrhundert geriet auch
Kärnten in die Abhängigkeit der bayerischen Herzoge Zeitweilig kamen die öster
reichischen Länder - mit dem Stammesgebiet der Bayern - unter die Herrschaft Karls
des Großea Durch die Zerstörung des Awarenreicks durch Karl in den Jahren 791-796
eröffnete sich eine günstige Möglichkeit zur Ausdehnung des bayerischen Einflußberei
ches: nach Osten und Südost®. Eine Reihe von Marken schützt^ das neuerworbene
Landein dem die Bevölkerung eifrig germanisiert und christianisiert wurde. Die wichtig
sten Zentren der Missionierung waren die Bistümer Salzburg und Passau.
B A B E N B E R G E R Die nach Osten offenen Randgebiete wurden 907" zu ei
nem großen Teil von den Ungarn erobert. Erst nach dem Sieg von Otto dem Großes auf
dem Lechfeld 955 konnten die Ungarn vertrieben und die Marken neu« errichtet werden.
Zu erwähnen ist vor allem »Ostarrichi« zwischen Enns und Traisefi, das im Jahre 976'an
den Grafen Luitpold (Leopold)^ verliehen wurde. Das ist der Beginn der baben-
bergischen Ära in Österreich. (Der latinisierte Name »Austria« ist erst seit dem 12.
Jahrhunderte gebräuchlich.) Es gelang den Babenbergern, die Grenzen durch geschickte
Politik immer weiter nach Osten zu verschieben. Sie erwarben auch das Hezogtum
Steiermark. Im Investiturstreit wechselte® sie mehrmals die Seite; im Konflikt zwischen
Staufern und Welfen nahmen sie für den Kaiser Partöi, dafür erhob Friedrich Barba
rossa 1156 im »Privilegium minue« Österreich zum Herzogtum. Dies bedeutete eine we
sentliche Rangerhöhung. Der belehnte Babenberger, Heinrich »Jasomirgoft« (der
Beiname soll auf »Ja, so mir Gott helfe« zurückgehen), verlegte die Resident endgültig
in die größte Stadt des Herzogtums; nach Wien.
OTTOKAR Nachdem Friedrich der Streitbare 124& in der Schlacht an der
Leitha gegen Ungarnkönig B61a IV. gefallen war, erlosch das Herrscherhau» der Baben
berger. Es folgte eine Teilung des Erbes zwischen B61a IV. (er erhielt etwa die Steier
mark) und dem böhmischen König Ottokar ü . Premjjsl (ihm fielen das heutige Nieder-
und Oberösterreich zu*). Seit dieser Zeit spricht man übrigens von Österreich »unter der
Enns« und »ob der Enns*< (vgl. das ungarische Wort »öperencia«). Später vertrieb der
Böhmenkönig die Ungarin und vereinigte Tauch deren Besitzungen mit seinen Gebieten.
Der erste Habsburgerkaiser Rudolf erhob jedoch auch Anspruch auf die Länderei«n.
Der Streit entschied sich endgültig in der Schlacht bei Dürnkrut 1278 wo Ottokar dem
von Ungarnkönig Ladislaus IV. unterstützen Kaiser unterlag.
HAUSM ACHT D E R HABSBURGER Während die beginnende Ver-
selb-ständigung der Schweizerischen Eidgenossenschaften! 14. und 15* Jahrhundert den
südwestlichen Besitz von Habsbu*g erheblich minderte, war die Territorialpolitik des
Geschlechts im Südosten durchaus erfolgreich, wozu auch die weitgehende Zustimmung
der deutschen Reichsgrafen gesichert werden konnte. Der Rang, den das habsburgische
Haus in Österreich beanspruchte, drückte sich am deutlichsten in den Bemühungeil von
Rudolf IV:, dem Begründer der Wiener Universität, aus. Rudolf^ den Petrarca, als
»einen Erzschelm und einen schreienden Esel« bezeichnete, versuchte, sich durch ver
fälschte Unterlagen (»Privilegium maius*«) Vorrechte zu sichern, die weit über das
»Privilegium minus« und die Goldene Bulle hinausgingen und eine den Kurfürsten
entsprechende Stellung bedeutetem' Die späteren deutschen Kaises (aus dem Hause
Habsburg) bestätigten diese Privilegien. Die Hausmacht des Geschlechts vergrößerte
sich auch durch Ankäufe und Erbverträgfc, zum Beispiel mit den Luxemburgern:
Albrecht V. wurde 1437 (als Albrecht I.) zum König von Ungarn und 1438 (als Albrecht
ü.) zum römisch-deutschen König gewählt. Damit verknüpft sich die österreichische Ge
schichte engstens mit der des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.
6. SpätmittelalterM A X IM ILIA N I. Während sich in Westeuropa Monarchien allmählich zu
Nationalstaaten entwickelten, blieb Deutschland zersplittert. Es erhoben sich immerhin
zunehmend Forderungen nach einer Reichsreform. Kaiser Maximilian I. (1493-1519,
der »letzte Ritter«, als Ausnahme unter den Habsburgern ein musischer Mensch;
Grabmal in Innsbruck), der als erster den Kaisertitel ohne Krönung durch den Papst
annahm; suchte ein vorsichtiges Reformwerk zu verwirklichen. Es gelang ihm tatsäch
lich, eine gewisse Ordnung ins Land zu bringen. Der auf dem Reichstag zu Worms 1495
erlassene »Ewige Landfriede« hatte die Beendigung der üblich gewordenen Fehden zu
erwirken, das Reichskammergericbt sollte als oberste Instanz der Gerechtigkeit, der
Gemeine Pfennig als allgemeine Reichssteuer anerkannt werden. Den kleinen und
mittleren Territorien bot das Reich Schutz vor Übergriffen mächtiger Nachbarn, die
Reichsidee verlor nicht an Reiz, und die von Maximilian geschaffenen oder neu
geordneten Einrichtungen (Reichstag, Reichskammergericht) lebten weiter, doch die
Zersplitterung konnte letztlich nicht aufgehalten werden.
»DU, GLÜCKLICHES ÖSTERREICH...« Recht erfolgreich setzte
Maximilian die Tradition der Vergrößerung der Habsburgischen Hausmacht fort. Trotz
innerer Kämpfe mit Adel und Städten und der vorübergehenden Besetzung großer Teile
Österreichs und sogar Wiens durch den ungarischen König Matthias Corvinus konnten
die österreichischen Erbländer wieder in einer Hand vereinigt werde*. Als ein beson
ders geeignetes Mittel bei der Vergrößerung der Macht diente Maximilian - nach dem
Muster seiner eigenen Ehe mit Maria von Burgund, der Erbin der niederländischen Ge
biete - die Verheiratung von Töchtern, Söhnen und Enkelkindern (»Mögen andere
Kriege führen; du, glückliches Österreich, heirate« - »Bella gerant alii! tu, felix Austria,
nube!«). Die Heirat Philipps des Schönen, des Sohnes von Maximilian, mit Johanna der
Wahnsinnigen sicherte den Habsburgem Spanien mit seinem italienischen Besitz und
sogar das amerikanische Kolonialreich; durch die Doppelehe zwischen Jagiello und
Habsburg fielen nach Mohäcs die Länder der ungarischen und böhmischen Krone
(darunter Schlesien) sowie die Kurfürstenwürde an letztere.
F U G G E R Fast alle wichtigsten Handelsstraßen des ausgehenden Mittelalters
liefen durch Deutschland, so entwickelte sich in den deutschen Städten ein lebhafter
Handel. Es entstanden große Bank- und Handelshäuser, zum Beispiel die der Welser
und der Fugger; Die Fugger mit Sitz in Augsburg hatten weitreichende geschäftliche
Kontakte, so etwa ein Kontor in Ofen (Buda), und waren beteiligt an den oberungari
schen (heute: slowakischen) Bergwerken. Das ungarische Wort »fukar« erinnert heute
noch an ihre damalige Präsenz. In den Fugger-Kontoren wurde die doppelte Buchfüh
rung (mit Soli- und Haben-Seite) erfunden. Anfang des 16. Jahrhunderts ließ Jakob
Fugger die erste einheitliche Wohnsiedlung für Arbeiter seiner Manufakturen und ge
ring bemittelte (katholische) Mitbürger in Augsburg errichten. Die »Herrscher ohne
Krone« übten einen großen Einfluß auf die politische Entwicklung der Folgezeit aus.
Maximilian I. borgte bei ihnen Geld, und die Wahl von Karl Y. zum Kaiser wäre ohne
finanzielle Unterstützung der Fugger (Bestechungsgelder in Höhe von einer halben
Million Gulden an die Kurfürsten) kaum möglich gewesen. Als Gegenleistung erhielten
sie das Recht, Bergwerke zu nutzen. Die Niederlage von Ungamkönig Ludwig ü . gegen
die Türken bei Mohäcs 1526 soll auf mangelnde Unterstützung der Fugger zurückzu
führen sein. Infolge der großen geographischen Entdeckungen verringerte sich allmäh
lich ihre Macht; denn die wichtigsten Handelswege führten nicht mehr durch Deutsch
land, sondern über die Meere.
D R EI SCHW ARZKÜNSTE Der Kulturhistoriker Egon Friedeil schreibt,
daß nebst der Entdeckung Amerikas drei Schwarzkünste die Neuzeit einleiteten. Er
meint erstens das leidenschaftliche Interesse für die Geheimnisse der Alchimie, zwei
tens die Erfindung des Schießpulvers Mitte des 14. Jahrhunderts durch den Mönch
Berthold Schwarz, das die Kriegsführung radikal veränderte, und drittens Johannes
Gutenberg', der die Menschheit um 1440 mit dem Buchdruck mit beweglichen Lettern
aus Metall bereicherte. 1455 erschien seine 42zeilige Bibel. (Andreas Heß errichtete
schon 1473 eine Druckerei in Ofen. Damals hielten wir noch Schritt mit der technischen
Entwicklung.) Die Zeit nach Gutenbergs Erfindung, die die massenhafte Herstellung
von Büchern ermöglichte, bezeichnet man als Gutenberg-Galaxis, die heute durch den
zunehmenden Einfluß der elektronischen Medien in ernster Gefahr zu sein scheint.
HUM ANISM US Von Italien her eroberten im 15. Jahrhundert das neue
Weltgefühl der Renaissance und die Ideen des Humanismus die europäische Welt. An
schauungen von der Schönheit der Natur, der alten Sprachen und der Größe des Men
schen setzten sich durch, die Herrlichkeit des Lebens im Diesseits wurde her
vorgehoben. Es war, sagt der Kulturhistoriker Jacob Burckhardt, die »Entdeckung der
Welt und des Menschen«. Als Leitbild galt die große,‘ umfassend gebildete, welt-
zugewandtey sich frei entfaltendfe, an antiken Vorbildern gemessene Persönlichkeit, der
»uomo universale«. Die Humanisten verwarfen die Auffassung der Scholastiker, die
Wissenschaft sei die Magd der Theologie, wollten alles mit eigenen Augen sehen, ihre
Parole hieß »ad fontes« (zurück zu den Quellen), sie forderten eine im täglichen Leben
verwendbare Wissenschaft.
DEUTSCHE HUM ANISTEN Zu den bedeutendsten deutschen Humani
sten zählen Regiomontanus (mit dem bürgerlichen Namen Johannes Müller, aber die
Humanisten zogen lateinische Namen vor), ohne dessen astronomische Tabellen die
großen geographischen Entdeckungen viel schwerer gewesen wären, der Arzt und Al
chimist Paracelsus (der trotz seiner Scharlatanerien als Wegbereiter der modernen Me
dizin Verehrung verdient), der Dichter Ulrich von Hutten, der Theologe Philipp Me-
lanchthon und der Denker* Erasmus von Rotterdam. Das bekannteste Werk von Eras
mus, der von Basel aus mit der halben Welt (so auch mit Humanisten in Ungarn) korre
spondierte, ist die Weisheit und Ironie verbindende, in lateinischer Sprache verfaßte
Kampfschrift gegen die Dummheit »Lob der Torheit«1. Hutten schrieb in einem Brief:
»O Jahrhundert, o Wissenschaften! Es ist eine Lust zu leben, wenn auch noch nicht in
der Stille. Die Studien blühen, die Geister regen sich. Barbarei, nimm dir einen Strick
und mache dich auf Verbannung gefaßt." Ein optimistisches Zeitalter...
UNIVERSITÄTEN Wichtige Stätten des humanistischen Denkens waren die
Universitäten. In Paris, Bologna und Padua bestanden sie schon seit dem 13. Jahrhun
dert, die erste Universität im Heiligen Römischen Reich wurde durch Kaiser Karl IV.
1348 in Prag gegründet, sie trägt heute noch den Namen Karlsuniversität. Karl war ein
hochgebildeter Mann; er lud Petrarca ein, beschäftigte Bildhauer und Maler, ließ eine
Geschichte seiner Herrschaft verfassen und beschrieb die eigene Jugend; Bauten aus
seiner Zeit prägen das Stadtbild vom »goldenen« Prag. Der Prager Universität folgten
Wien (1365), Heidelberg (1386) und Kölif (1388). Auch später gegründete Universitäten
erlangten großes Ansehen, so etwa Leipzig,(1409), Tübingen (1477), Wittenberg (1502),
Jena (1558) und Göttingen, (1734). Obwohl die neue Bildungsform mit der Zeit ganz
Europa eroberte (der Vorgänger der ELTE entstand 1635), zogen »Studiosi« aus allen
Teilen Europas, auch aus Ungarn, gern zum Studium an deutsche Universitäten.
REN A ISSA N C E In der Renaissancearchitektur standen weltliche Bauten im
Vordergrund? so zum Beispiel das Heidelberger Schloß und das Alte Rathaus in Leipzig;
Das Stadtbild von Nürnberg und Augsburg prägte sich in dieser Zeit heraus. In der Mu
sik begann in der Renaissance ein Aufschwung; die Namen der damaligen Instrumente
(Blockflöte und so weiter) werden in der internationalen Praxis heute noch deutsch
angegeben. Neben den gelehrten Schriften der Humanisten und den Werken religiösen
Inhalts entwickelte sich eine neue, weit verbreitete Form der Schriftkultur, das Volks
buch, in dem Freude am Erzählen^ Phantasie und Humor zum Ausdruck kommen. Die
populärsten Erzählungen »Till Eulenspiegel«, »Die Schildbürger« und »Die Historie
von Dr. Johann Fausten« erschienen in Hunderten von Auflagen. (Gewinne damit
erzielten freilich nicht die oft unbekannt gebliebenen Autoren, sondern die Verleger.)
Der Versuch, die Lyrik der Ritterzeit in städtischem Milieu neu zu erwecken, war der
Meistergesang; vgl. seine fein ironische Darstellung in Richard Wagners Oper »Die
Meistersinger von Nürnberg«.
M A L E R Die Renaissancekunst brachte hauptsächlich in der Malerei groß
artige Leistungen hervor. Drei Neuerungen sind besonders wichtig: die Entdeckung des
menschlichen Körpers als Teil der Natur und damit verbunden die Festigung anato
mischer Kenntnisse, die Entdeckung und bewußte Erforschung der Perspektive sowie
die Wiedereinführung klassischer Formen. Die Persönlichkeit versteckt sich nicht mehr
wie im Mittelalter, die Maler signieren ihre Werke, Dürer zum Beispiel mit einem
großen »A« und darunter einem »D«. Wichtige deutsche Künstler der Renaissance wa
ren Matthias Grünewald (Isenheimer Altar), Hans Holbein d. J. (der größte Porträtist,
»Kaufmann Giesze«), Lucas Cranach d. Ä. (Luthers Anhänger und Freund) und der
Bildhauer und Holzschnitzer Tilman Riemenschneider. Albrecht Dürer/ dessen Ahnen
aus Gyula in Ungarn nach Nürnberg kamen (daher Ajtösi Dürer sor), übt mit seinen
Aquarellen, Holzschnitten (»Die vier apokalyptischen Reiter«, gemeint sind Seuche,
Krieg, Not und Tod), Kupferstichen (»Adam und Eva«), Porträts und Selbstbildnissen
eine nachhaltige Wirkung auf die Nachwelt aus. Sein genaues Studium der
menschlichen Gestalt und der Regeln des sie umgebenden Raums (des »Goldenen
Schnitts«) bildet die Grundlage der bewußten Beschäftigung späterer Künstler mit ihrer
Materie.
7. ReformationU N R U H E Die gesellschaftlichen Widersprüche, die sich im Laufe der ur
sprünglichen Akkumulation des Kapital» immer mehr zuspitzten, führten im aus
gehenden 15. Jahrhundert; zu mehreren spontanen Erhebungen. Hans Böheim, der
»Pfeifer von Niklashausen«, rief in seinen Predigten zu einem Leben ohne Kaiser, König
und Abgaben und zu einem bewaffneten Aufstand auf, die Anhänger des »Bundschuh«
(der gebundene Schuh war ein typisches Kleidungsstück der Bauern) versuchten 1493 im
ElsaS zmn Teil zusammen mit Städtern, die Wucherer zu vertreiben, die Gerichte abzu
schaffen, die Klöster zu beseitigen und Steuern, Zölle, Abgaben einzuschränken, und im
Jahre 1514 fand in Württemberg der Aufstand des »Armen Konrad« statt. Die Unruhe
im Land wuchs, ohne allerdings eine einheitliche Plattformzu haben.
ABLASSHANDEL Besonders empörend fanden viele die Zustände in der
Kirche. Die Zahl der Geistlichen’war sehr angewachseft (sie machten beispielsweise ein
Achtel der Bevölkerung von Köln aus), ebenso ihr Wohlstand und ihr Bedarf nach Geld,
den sie durch den Kirchenzehnt, andere Steuern, Bußgelder und Reliquienhandel be
friedigten. Trotz erneuter Reformbestrebungen innerhalb der Kirche änderte sich an
dieser Situation nichts. Die Merkantilisierung der Religion gipfelte im Usus des Ablaß
handels. Sünden wurden vergeben, wenn man dafür bezahlte. Der Dominikanermönch
Johann Tetzel hatte sogar einen regehechten Sündenkatalog, demzufolge Kirchenraub
mit neun, Hexerei mit sechs, Eltemmord mit drei Dukaten abbezahlt werden konnte, ja
man durfte für gewisse Sünden sogar vorausbezahlen.
THESENANSCHLAG Aus dem Zusammenwirken all dieser zeitbedingten
Faktoren wuchs die Reformation Martin Luthers [1483-1546] empor. Am 31. Oktober
1517 schlug der Mönch und Theologieprofessor der Universität Wittenberg 95 Thesen
an das Tor der Schloßkirche, um, einem damaligen Brauch folgend, zu einem Streitge
spräch aufzurufen. Was ihn trieb, war das tiefe Bedürfnis1, die Kirche zur ursprünglichen
evangelischen Lehre zurückzuführen und sie von den überflüssigen, falschen Strukturen
und Interpretationen zu befreien.-Unmittelbar griff er den Mißbrauch des Ablaßhandels
und persönlich Tetzel-an, der in der Nähe predigte, verurteilte aber nolens volens
gleichzeitig die weltlichen Ansprüche der Kirche ais Institution, den Primat des Papstes,
und stellte letztlich die ganze Struktur der katholischen Religion in Frage;
LUTHERS LEH REN Dem Thesenanschlag folgten zahlreiche Streit
gespräche (Disputationen) sowie religiöse und politische Streitschriften, in denen Lu
ther seinen Standpunkt immer bewußter vertrat. Er erklärte nur das als wahr, was durch
die Bibel bewiesen werden könne; im Mittelpunkt des Christentums solle der indi
viduelle Glaube?stehen, und der Mensch brauche keine Vermittlung zu Gott. Auch von
dem moralischen Niedergang seiner Zeit konnte er nicht schweigen. Er setzte sich oft
und ausführlich mit Fragen der Freiheit auseinander (vgl. vor allem »Von der Freiheit
eines Christenmenschen«). In der Kirche und vor Gott sei jeder Christ frei, denn er
habe allein Gott und seinem Gewissen Rechnung zu tragen. Im öffentlichen Leben sei
er dagegen ein Untertan der Obrigkeit, die für sein Bestes auf Erden zu sorgen habe,
weil sie in Vertretung Gottes regiere. Der gute Christ gehorche* laut Luther zuerst dem
Vater (Familie)', dann dem Lehrer (Schule) und dem Pastor (Kirche) und schließlich
dem Fürsten. Dieses Prinzip des absoluten Gehorsams der Obrigkeit gegenüber sollte
für die deutsche Geschichte und Kulturgeschichte noch schwerwiegende Folgen haben.
W ORM SER EDIKT Der neue Kaiser Karl V. (1519-1556) lud Luther vor
den Reichstag in Worms und forderte ihn auf, seine Lehren zu widerrufen. Luther ver
weigerte es, und der Kaiser sprach im Wormser Edikt (1521) die Reichsaeht über ihn
aus. Er wurde vogelfrei, das heißt, jeder hätte ihn mißhandeln oder umbringen dürfen.
Als er Worms verließ, wurde er von Leuten des Kurfürsten Friedrichs des Weisen von
Sachsen heimlich auf die Wartburg entführt. Unter dem Namen Junker Jörg lebte er
fast ein Jahr dort und übersetzte das Neue Testament ins Deutsche, das 1522>im Druck
erschien.
BIBELÜBERSETZUNG Die ganze Bibel« wurde 1534 auf deutsch veröf
fentlicht. Bei der Übersetzung benutzte Luther die ostsächsische (Meißner)
Kanzleisprache, die auf einem Ausgleich nieder-, mittel- und oberdeutscher Dialekte
beruhte, prägte selbst neue Wörter, Redewendungen und Sprichwörter und verwendete
volkstümliche Sprachelemedte. Man solle, schrieb er im »Brief vom Dolmetschen«, den
Leuten stets »auf das Maul sehen, wie sie reden«. Durch die schnelle Verbreitung dieser
Übersetzung und weiterer Schriften und Kirchenlieder (beispielsweise des Psalms 46
mit der Anfangszeile »Ein feste Burg ist unser Gott«) wirkte Luther nicht nur im
religiösen und politischen Sinne, sondern trug auch zur Herausbildung der
neuhochdeutschen Schriftsprache wesentlich bei. Eine Breitenwirkung der Lehren
Luthers war freilich nur infolge des Buchdrucks und des immer größere Schichten
erreichenden Schulwesens möglich.
BAUERNKRIEG Luthers Ideen gegen die Autorität der katholischen Kirche
wurden von vielen Zeitgenossen aufgegriffen und - obwohl er selbst damit nicht mehr
einverstanden war - weitergeführt. Das ganze soziale Gefüge geriet in Bewegung. Die
Wiedertäufer lehnten jede Kirchenordnung ab und wollten im Geiste urkom-
munistischer Vorstellungen das »Reich Gottes auf Erdern« schaffen. Es erhoben sich
1522-1523 iinter Ulrich von Hutten und Franz von Sickingen die Reichsritter, um ihren
verlorenen sozialen Rang wiederherzustellen. Sie forderten die Enteignung der geistli
chen Herren und der Klöster. Um den Thüringer Prediger Thomas Müntzer bildete sich
eine Sozialrevolutionäre Bewegung,» die sich gegen die Obrigkejt überhaupt richtete.
Eine Erhebung der Bauen» erschütterte viele Teile Deutschlands. Zentren» des Deut
schen Bauernkriegs (1525) waren Südwestdeutschland und Thüringen (Mühlhausen,
Führung Müntzers). Müntzer versuchte, zwischen den einzelnen Gebieten eine Verbiß
dung herzustellen und die Handlungen aufeinander abzustimmem. Doch es kam zu kei
ner Einigkeit, erstens weil die Forderungen der Bauern nicht einheitlich waren
(gemäßigte »Zwölf Artikel« gegen zunehmende Ausbeutung; für Einigung mit den
Feudalherren; radikaler »Artikelbrief« gegen feudale Ordnung und Obrigkeit, alle Men-
sehen seien gleich in »christlicher Vereinigung«), zweitens weil die Fürsten die Zersplit
terung der Aufständischen sowie deren militärische Unterlegenheit infolge primitiver
Kampfformen geschickt nutzten. Luther unterstützte in Flugschriften die gewaltsame
Unterdrückung der Unruhen durch die Landesfürsten, die Bauern sollten sich, schrieb
er, »hüten vor Aufruhr und Empörung«.
ZWINGLI, CALVIN Luthers Lehren verbreiteten sich besonders in
Deutschland und in Nordeuropa schnell. Andere Akzente erhielt die Reformati»n durch
Zwingji und Calvin?. Die Auffassung des Zürcher Pfarrers Ulrich Zwingli unterschied
sich vor allem in der Beurteilung des Abendmahls von der Luthers. Während Luther
und sein Verbündeter Melanchthon die Ansicht vertraten, Christus sei im Abendmahl
real gegenwärtig, behauptete Zwingli, diese Präsenz sei nur symbolisch- Der Genfer,
Jean Calvin betonte, im Gegensatz zu Luther, der in den Fürsten (aus seiner Sicht wohl
nicht zu Unrecht) die wichtigste Stütze der neuen Kirche sah, das Widerstandsrecht ge
gen die Autorität der weltlichen Obrigkeit. In den kalvinistischen Gemeinden herrsch
ten aber strenge Sitten, die Kirche kontrollierte das Leben der einzelnen bis in die Pri
vatsphäre. Calvins Prädestinationslehje besagte, daß Gott im voraus bestimmt, was aus
dem Menschen wird. Böses gibt es in der Welt nur, damit die Menschheit daraus lernt.
Da erfolgreiche Arbeit in der Prädestinationslehre als Zeichen der Erwählung galt, för
derte der Kalvinismus (die reformierte Kirche) die Entfaltung des modernen Kapita
lismus.
FOLGEN D E R REFORM ATION Die Reformation hatte vielschichtige
Folge® Die hierarchische Vorstellungswelt des Mittelalters wurde vernichtet, es ent
stand eine moderne Freiheitsidee. Das Bildungswesen Wurde revolutioniert, Lesen und
Schreiben waren kein Privileg der Kirche mehr. Die gemeinsame Sprache bewirkte das
Erwachen des Nationalbewußtseins. Die religiöse Einheit des Mittelalters zerfiel ein für
allemal. Durch die Säkularisierung der Kirchengüter wurden die Besitzverhältnisse
grundlegend verändert. Anstelle der hierarchisch aufgebauten Kirche trat das Neben
einander von Landeskirche»
PROTESTANTEN Die nach der Reformation eingetretene konfessionelle
Spaltung in Deutschland bestärkte erneut die Selbständigkeitsbestrebungen der Terri-
torialherrerr: Kaiser Karl V., durch Erbschaft Herr des größten Weltreichs seit der Zeit
Karls des Großen (»in seinem Reich ging die Sonne nie unter«), konnte wegen der
Kämpfe mit äußeren Gegnern (Frankreich, Türkei) lange Zeit nicht energisch gegen die
Reformation auftrete». Als er 1529 auf dem Reichstag von Speyer die Durchführung des
Wormser Edikts gegen Luther und die fürstlichen Anhänger der Reformation forderte,
verließe^ die betroffenen Fürsten aus Protest den Reichstag und erhielten den Namen*
Protestanten» Da die gewaltsame Wiedereinführung des Katholizismus weiterhin drohte,
schlossen sich protestantische Fürsten und Städte 1531 im Schmalkaldischen Bund
(Schmalkalden bei Eisenach) zusam m en. Als aber die Türken immer mehr vorrückten
und ein gemeinsames Auftreten sich nicht mehr aufschieben ließ, schlossen beide Seiten*
1532 den Religionsfrieden von Nürnberg,
A U GSBURGER RELIGIONSFRIEDEN Der Frieden wurde 1546 wie
der gebrochen, als Karl V. sich stark genug fühlte, mit spanischen und italienischen
Söldnern gegen den Schmalkaldischen Bund vorzugehep. Er siegte zwar, machte sich
aber nicht nur die protestantischen, sondern auch die katholischen Fürsten dadurch zu
Feinde^ daß er ihre Selbständigkeit erheblich einschränken wollte. Eine Fürsten2
Verschwörung unter Führung von Moritz von Sachserf im Bunde mit Frankreich und
dem Papsttum,*die an einer möglichst schwachen kaiserlichen Zentralgewalt in Deutsch
land interessiert waren, zwang Kaiser Karl zum Passauer Vertrag (1552). Dieser ebnete
den Weg zum Augsburger Religionsfrieden (1555), der den Landesherren und freien
Städten das Recht einräumte, die Religion in ihrem Territorium zu bestimmen (»Cuius
regio, eius religio« = »Wes das Land, des die Religion«). Die protestantische Konfes
sion wurde also als gleichberechtigt mit der katholischem anerkannt, die Spaltung war
besiegelt. Der religiöse Fanatismus begann in beiden Lagern seine zersetzende Kraft zu
entfalten; ganz Europa wurde ein riesiges Schlachtfeld einander bekämpfender Kif-
chenparteien, wobei die Protestanten nicht nur gegen die Katholiken auftraten, sondern
auch gegeneinander. Alles wurde zu Frage des Glaubeas. Als Papst Gregor XIÄ. bei
spielsweise den julianischen Kalendfer mit Einführung der Schaltjahre verbesserte, nah
men es die Protestanten nicht an, so daß die Datierungen bis zum 18. Jahrhundert aus
einandergingen.
LEBEN IN D E R LU TH ERZEIT Humanisten, Poeten und Kleriker gingen
zu Luthers Zeiten meist bartlos, die übrige Männerwelt bevorzugte den kurzgeschnitte
nen Vollbart und liebte das Kopfhaar schlicht und ziemlich kurz. Als Kopfbedednigg
trug man am liebsten das Barett; man sieht es beispielsweise auf Holbeins Gemälden.
Mädchen hatten lange Zöpfe, reifere Frauen umgaben das Haar gern mit einem Gold
netz. In der weiblichen Kleidung kam die protestantische Prüderie zum Ausdruck, in
dem nackte Schultern und Brüste - im Gegensatz zum Mittelalter - verpönt waren.
Das frühe 16. Jahrhundert galt als die klassische Zeit der großen Eß- und Trinkgelagen.
Viele Adelige waren fast täglich betrunken, von Luther wird berichtet, daß er den Alko
hol auch nicht verachtete (»Wer nicht liebt Wein, Weiber und Gesang, / Der bleibt ein
Narr sein Lebelang«), Der Rektor der Universität Leipzig betrieb im Keller seines
Hauses eine Wirtschaft (»Auerbachs Keller«), zu deren Kundschaft angeblich auch Dr.
Faustus gehörte. Einer der auffallendsten Züge der Zeit ist der Grobianismus. Man ent
deckt das Wort als Waffe (auch eine direkte Folge der Erfindung Gutenbergs) und
nim m t sich kein Blatt vor den Mund. »Narr« ist vielleicht das häufigste Wort, Gelehrte
nennen sich Schweine, reißende Wölfe, bissige Hunde und Maulesel, Luther vergleicht
Erasmus mit einer Wanze, die tot noch mehr stinke als lebendig, schreibt den Namen
seines Gegners Dr. Eck zusammen und läßt sich auf einem Flugblatt von Lucas Cranach
d. Ä. mit heruntergelassener Hose darstellen (die Geste gilt dem Papst).
8. Gegenreformation und Dreißigjähriger Krieg
JESUITEN Zur Zeit des Augsburger Religionsfriedens war Deutschland zu
vier Fünfteln protestantisch. Die katholische Kirche gab sich jedoch nicht geschlagen.
Der 1534 durch Ignatius von Loyola gegründete Orden der »Gesellschaft Jesu« setzte
sich zum Ziel, die Stellung der Kirche zu festigen und den Katholizismiß mit systemati
scher und disziplinierter Kleinarbeit zu verbreiten. Im Orden herrschte eine streng mili
tärische Organisation mit unbedingter Subordination^ die umso wichtiger war, als die Je
suiten nicht in klösterlicher Gemeinschaft lebten, sondern in die Welt geschickt wurden;
um als Beichtväter und Erzieher an Fürstenhöfen, als Lehrer in Schulen und Universitä
ten, als Bekehrei' von Ketzern und Heiden, als Missionare in Amerika und Asien ihre
Lehren zu propagiere®. Auf dem Konzil von Trient (1545-1563) gelang der katholi
schen Kirche die große Erneuerung! Es wurde eine umfassende Kirchenreform durchge
führt: Die Glaubenssätze wurden neu formuliert, Mißstände in der Kirchenverwaltung,
Ablaßhandel und Pfründenschacher beseitigt, und eine Zensur eingeführt, indem uner
wünschte Bücher auf den »Index librorum prohibitorum« (Liste der verbotenen Bücher)
gesetzt wurden.
D E U T SC H L A N D W IR D Ü B E R H O L T Deutschland, das um 1500 füh
rend) in der wirtschaftlich-politischen Entwicklung war, wurde um 1600 von mehreren
Ländern Westeuropas überholt. Die Handelswege verlagerten sich, die süddeutschem
Handelsgesellschaften wurden völlig ausgeschaltet?, der Ostseehandel blieb zwar noch
bedeutend, die Hanse mußte aber auf ihre Vormachtstellung zugunsten von englischen
und holländischen Kaufleuten verzichten, die auch die Wege im Atlantik beherrschten.
Die Landesfürsten behinderten mit ihren ständigen Kämpfen die Entwicklung des Wirt
schaftslebens erheblich, der Bergbau verzeichnete wegen der Konkurrenz der Silber
und Kupfereinfuhren aus Amerika erhebliche Einbußen.
UN IO N - LIGA Zu Beginn des 17. Jahrhunderts bestanden in Europa zwei
große Mächtegruppierungen: einerseits das spanisch-habsburgisch-katholisehe Lager
mit den Zentren Spanien, süddeutsche Staaten, Rom und Österreich, andererseits das
seiner Gegner, angeführt von den Generalstaaten (Niederlande — Holland). Zu diesem
Lager gehörte auch Frankreich, obwohl in ihm der Katholizismus herrschte, dies zeigt,
daß es sich in erster Linife um Machtinteressen und nur zweitrangig um religiöse Fragen
handelte. Der Riß ging mitten durch Deutschland, wo die Anhänger der beiden Lager
zwei militärische Organisationen gründeten: die 1608* entstandene protestantische
»Union«, der unter anderem die Kurpfalz, Baden, Württembfcrg, später auch
Brandenburg, Hessen und einige Reichsstädte angehörten, sowie die katholische »Liga«
unter Führung Bayerns (Gründung 1609). Der offene Ausbruch der Gegensätze war nur
noch eine Frage der Zeit.
PR A G ER FENSTERSTURZ Der Friede zwischen Katholiken und Prote
stanten war nirgends mehr gefährdet als in Böhmen, wo letztere die überwiegende
Mehrzahl der Bevölkerung ausmachten. Obwohl ihnen in einem kaiserlichen Brief Frei
heiten gewährt wurden, kam es immer wieder zu Konflikten; Als die Eingabe böhmi
scher Stände wegen der Zerstörung protestantischer Kirchen vom Höf zurückgewiesen
wurde, gerieten 1618?ihre Vertreter in der Prager Burg in einen aufgeregten Wortwech
sel mit zwei kaiserlichen Räten, die den Beschwerden nicht nachgeben wollten und am
Ende zum Fenster hinausgeworfen wurden. Das war der Prager Fensterstura (auf la
teinisch »defenestratip«), der Funke, der den angehäuften Zündstoff zum Entflammen
brachte. (Die Räte fielen übrigens nur ein Stockwerk tief, verletzten sich, da Mist unter
dem Fenster lag, nur geringfügig und konnten sich später auf Seiten Habsburgs noch
verdient machen.)
BÖHM ISCH-PFÄLZISCHER KRIEG Kaiser Matthias starb ohne Sohn.
Sein Cousin Ferdinand Hs (1619-1637) sollte böhmischer König werde», die Stände-
wählten jedoch einen anderen, das Oberhaupt der Union, Friedrich V. von der Pfalz. Er
unternahm einen Angriff bis vor Wien (und wenn Gäbor Bethlen am Feldzug teilge
nommen hätte, wäre er möglicherweise noch weiter gekommen); die von Spaniern unter
stützte Gegenoffensive der Ligar unter Führung des Grafen Tilly! brachte aber einen Sieg
(1620, Schlacht am Weißen Berg, unweit von Prag) und zog eine gewaltsame Reka-
tholisierung und grausame Rach® nach sich. Diese Kämpfe, die in einzelnen Gebieten
noch bis 1623 andauerten, bildeten den böhmisch-pfälzischen Krieg, die erste Phase des
Dreißigjährigen Krieges.
D Ä N ISC H -N IED E R SÄ C H SISC H E R K R IE G Me zweite Phase, der dä-
nisch-niedersächsische Krieg 1625 -1629, begann mit dem Eintritt Dänemarks in die
Kämpfe. Dieses Land erhielt bei den Bemühungen, seine Macht in Nordwest
deutschland auszubauen, englische, französische und niederländische Unterstützung.
Dieser Mächtekonzentration war Ferdinand ü.' nicht gewachsen. Er nahm daher das
Angebot des reichen Adligen Albrecht von Wallenstein an, mit einem großen eigenen
Heer auf seiner Seite zu kämpfen. Wallenstein und die kaiserlichen Truppen unter Til-
lys Führung drängten die Protestanten immer mehr zurück und verjagten die Dänen.
Das 1629 erlassene Restitutionsedikt mit der Forderung, die protestantischen Fürsten
sollten alle seit 1552 erhaltenen Gebiete der katholischen Kirche zurückgebe», bewies,
daß der Kaiser erneut sehr mächtig geworden war. Selbst katholische Fürsten stellten
sich gegen ihn; auch Wallenstein mißfiel die Maßnahme. Er wurde 1630 auf dem Re
gensburger Fürstentag entlassen, zog sich in den Musterstaat Friedland in Böhmen zu
rück, förderte die Industrie und den Bergbau und wartete ab.
SCHWEDISCHER KRIEG Mit der Landung des schwedischen Heeres un
ter König Gustav Adolf 1630 auf der Insel Usedom trat der dreißigjährige Krieg in seine
dritte Phase ein (schwedischer Krieg 1630-163S). Die Auseinandersetzungen weiteten
sich nun zu einem europäischen Machtkampf auf deutschem Boden aus. Schweden
wollte mit Unterstützung Frankreichs (Kardinal Richelieu) seine Vormachtstellung im
Ostseeraum .sichern. Tilly konnte den Vormarsch bei Magdeburg eine Weile noch auf
halten, aber nicht lange. Als schwedische Truppen, unterstützt von den protestantischen
deutschen Fürsten, bis Bayern vordrangen und schon Wien bedrohten, rief der Kaiser
Wallenstein zurück und stattete ihn mit Sondervollmachten aus. Er gewährte ihm
beispielsweise völlige Freiheit in der Knegsführung: In der Schlacht bei Lützen! (in der
Nähe von Leipzig) siegte»Ende 1632 die Schwede», ihr Heerführer König Gustav Adolf
aber fiel. Wallenstein begann, mit den Schweden geheime Friedensverhandlungen zu
führen Wie er sich die Lösung der Fragen im einzelnen dachte, blieb Freund und Feind
gleicherweise unbekannt, sicher ist, daß er sich selbst eine Schlüsselrolle zudachte und
selbst vor einer Absetzung der Habsburger nicht zurückgeschreckt wäre. Der Kaiser
klagte ihn des Hochverrats! an und erließ den Geheimbefehl an einige seiner Offiziere,
Wallenstein nach Wien zu bringen. Daraus wurde jedoch nichts, die bemerkenswertesteV
Gestalt des Krieges (vgl. Schillers Drama) wurde 1634 in Eger (heute: Cheb, CSFR)
ermordet, offenbar auf kaiserliche Weisung.
FR A N ZÖ SISC H -SC H W E D ISC H E R K R IE G Die Gegensätze im prote
stantischen Lager nahmen mittlerweile zu (die Plünderungen der Schweden, die plan
lose Lehensverteilung mißfiel vielen), die Habsburger konnten die Schweden 1635 aus
Süddeutschland vertreiben; Der Prager Frieden 1635 veranlaßte Frankreich, das bisher
(wie auch England) aus dem Hintergrund den Dreißigjährigen Krieg so beeinflußte, daß
die kaiserliche Zentralgewalt nicht zu stark werden konnte, selbst in den Krieg ein-
zutretea Damit begann die vierte Phase, der französisch-schwedische Krieg
(1635-1648). Noch mehr als ein Jahrzehnt schleppte sich der Krieg hin, keine der Sei
ten? konnte eine bedeutende militärische Überlegenheit erzielen, es überwogen Raub
und Plünderung (zumal die Versorgung der Heere nicht mehr gesichert war), es ging
den Söldnern nur noch um Geld und Beute. (Vgl. Grimmelshausens »Simplizissimus«
und Brechts «Mutter Courage«.) Deutschland wurde vollkommen verwüstet, die Ein
wohnerzahl sank auf die Hälfte. Der Krieg endete »in allgemeiner Erschöpfung«.
W ESTFÄLISCHER FR IED E Der Westfälische Friede im Jahre 1648
bestätigte im wesentlichen den Augsburger Religionsfrieden. (Die Katholiken un
terschrieben in Münster, die Protestanten in Osnabrück.) Es wurde mit diesem Frieden
vollzogen, was sich schon lange angebahnt hatte: das Reich verschwand als machtpoliti-
sehe Größe innerhalb des europäischen Staatensystems. Die Schweiz und die Nie
derlande erhielten die volle Souveränität und schieden auch rechtlich aus dem Reich
aus; Frankreich und Schweden bekamen große Gebiete (im Osten bis zum Rhein; We
ser-, Elbe- und Odermündung) und auch Sitz und Stimme im deutschen Reichstag, da
mit konnten sie sich immer wieder legal in deutsche Angelegenheiten einmischea Das
Deutsche Reich zerfiel in über dreihundert selbständige Fürstentümer mit umfassenden
Rechten, die Reichsstände erhielten alle wesentlichen Hoheitsrechte in geistlichen und
weltlichen Angelegenheiten darunter das Recht, ein eigenes H e« zu unterhalten und
Bündnisse mit ausländischen Partnern; zu schließen - »nur nicht gegen Kaiser und
Reich«, aber wer konnte das kontrollieren? Mitten in Europa entstand ein Mächteva
kuum, und der Friedensvertrag ließ offen, wer dieses Vakuum ausfüllen würde.
9. AbsolutismusTERRITORIALSTAATEN Die nahezu souveränen Territorialstaaten
übernahmen als Regierungsform nach französischem Muster den Absolutismus. Der
Monarch herrschte uneingeschränkt, er schaltete Interessenvertretungen der Feu
dalklasse aui und vereinigte in sich die Gesetzgebung, die Exekutive und die Rechtspre
chung. Dabei stützte er sich auf einen großen, ihm hörigen Beamtenapparat und auf das
stehende Heer. Das Paradoxe an der deutschen Entwicklung war, daß der Absolutismus
hier nicht auf zentralisiertem Boden errichtet wurde wie in Frankreich. Trotzdem ver
suchte in den deutschen Kleinstaaten jeder Landesherr, den Prunk der Versailler Hof
haltung des französischen Königs Ludwig XIV. (»Sonnenkönig«, dessen Devise »L’6tat
c’est moi«, »Der Staat, das bin ich« lautete) zu übernehmen, die Residenz- zu einem kul
turellen Mittelpunkt mit Theatertruppea, Orchestern, Kunstsammlungen, Bibliotheken
zu machen, Architektur, Kleidung, Speisen, Zeremonien, Musik, Literatur des französi
schen Hofes nachzuahmett Dem Herrscher gebührte eine große Hofhaltung samt eini
ger Mätressen; über August den Starken in Sachsen wird berichtet, daß er mehr als 300
uneheliche Kinder hatte. Zu diesem Lebensstil benötigten die Monarchen sehr viel
Geldf das sie durch hohe Steuern; durch den Verkauf von Beamtenstellen und derglei
chen erlangten. Landwirtschaft und Handwerk entwickelten sich kaum, unterschiedliche
Münzen, Maße und Gewichte sowie Zoll- und Mautstellen an jeder Grenze hemmten
den Handel.
SPR A C H G ESELLSC H A FTEN Die Übernahme alles Französischen er
streckte sich sogar auf die Sprache. Davon zeugt eine Flut französischer Lehnwörter.
Zum Schutz des Deutschen wurden von der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts an
Sprachgesellschaften gegründet, die berühmtesten sind »Die Fruchtbringende Ge
sellschaft« (1617 in Weimar) und die »Gesellschaft der Hirten an der Pegnitz« (1644 in
Nürnberg). Aus dem Kreis der letzteren ging die Idee aus, daß die Dichtung mit Hilfe
des »Poetischen Trichters, die Teutsche Dicht- und Reimkunst ohne Behuf der lateini-
sehen Sprache in sechs Stunden einzugießen« mit Leichtigkeit zu erlernen sei. Der radi
kalste Purist Philipp von Zesen wollte Fremdwörter völlig verbieten, duldete nicht ein
mal Lehnwörter wie »Fenster«, »Natur« und »Kloster« (seine Vorschläge lauteten
»Tageleuchter«, »Zeugemutter« und »Jungfemzwinger«) und schlug statt der griechi
schen Göttemamen Venus, Pallas und Vulkan deutsche vor: Lustinne, Kluginne und
Glutfang.
B A ROCK : BA U K U N ST In Italien entwickelt, am Hofe Ludwigs XIV. ge
pflegt, wurde der Barockstil auch von deutschen Fürstenhöfen des 17. und 18. Jahrhun
derts aufgenommen. Ihre prunkvollen Schlösser mit riesigen Parkanlagen sollten die
Größe des Herrschers symbolisieren, entweder in der Hauptstadt (Residenz Würzburg;
Zwinger in Dresden), oder - nach dem Vorbild von Versailles - außerhalb der Stadt
grenzen (Ludwigsburg bei Stuttgart; Nymphenburg bei München; Schönbrunn bei Wien;
Schloß Sanssouci in Potsdam). Charakteristisch für die Schloßbauten waren ein Festsaal
im Mittelflügel und große Treppenhäuser; der Garten, eng mit dem Schloß zusammen
gebaut, wurde ebenfalls zum Kunstwerk. Man unterscheidet den geometrische Formen
vorziehenden französischen Garten (mit griechischen Tempeln) und den Naturhaftigkeit
inszenierenden englischen (Burgruinen). Auch im Kirchenbau gab es in der Barockzeit
glänzende Leistungen, wie etwa Stift Melk, der Salzburger Dom, die Karlskirche in
Wien und die Frauenkirche in Dresden. Den ideellen Hintergrund der Barockkunst lie
ferte die Gegenreformation: Bewegung, Farbenpracht und Verknüpfung verschiedener
Kunstelemente sollten die Menschen unter einen nahezu magischen Bann stellten.
BA ROCK : K Ü N STLER Die wichtigsten Baumeister der Epoche waren die
Österreicher Johann Bernhard Fischer von Erlach (Kollegienkirche Salzburg; Karlskir
che, Palais Trautson, Hofbibliothek Wien, Pläne für Schönbrunn), Johann Lukas Hilde
brandt (Belvedere Wien, Räckeve) sowie Balthasar Neumann (Würzburger Residenz),
Georg Wenzeslaus Knobelsdorff (Sanssouci) und Matthias Daniel Pöppelmann
(Dresdner Zwinger). Die bekanntesten Barockmaler hießen Paul Troger und Johann
Michael Rottmayr (schönste Arbeiten in Melk); Werke des sehr produktiven Franz An
ton Maulbertsch befinden sich unter anderem in Raab (Györ), Sümeg, Zirc, Stuhlwei-
ßenburg (Sz6kesfeh6rvär), Erlau (Eger). Die Grenzen der einzelnen Künste wurden
immer mehr verwischt. Die bildende Kunst fügte sich organisch in die Bauten, die Bild
hauerei ersetzte die Malerei (Lichtstrahlen und Blitz wurden modelliert), die Malerei
die Architektur (Gewölbe wurden gemalt: »Scheinarchitektur«) - man strebte eine Art
Gesamtkunstwerk an.
BAROCK: MUSIK Die von den Fürsten geförderte Musik des Barocks lie
ferte eine seitdem kaum übertroffene Qualität. Heinrich Schütz schrieb während des
dreißigjährigen Krieges die erste deutsche Oper »Daphne«. Die Gattung kam bald in
Mode, jedes Schloß brauchte ein eigenes Theater mit entsprechender Bühnen
dekoration, Orchester, ja sogar einem eigenen Hofkomponisten. Der bekannteste Ba
rockkomponist war der Leipziger Thomaskantor Johann Sebastian Bach [1685-1750].
In seiner Kirchenmusik - beispielsweise in der »Matthäus-Passion« und im
»Weihnachtsoratorium« - findet das religiöse Gefühl den tiefsten Ausdruck. In seinen
instrumentalen Werken - so etwa in der »Kunst der Fuge«, die keine Angabe der zu
benutzenden Instrumente enthält, oder im »Wohltemperierten Klavier« - erforscht
Bach Kompositions- und Ausdrucksmöglichkeiten und Musikformen. Die
»Brandenburgischen Konzerte«, sechs kurze Instrumentalstücke, wurden zu Ehren des
brandenburgischen Markgrafen komponiert. Großartiges haben auch Georg Friedrich
Händel (»Wassermusik«, Oratorium »Messias«), Georg Philipp Telemann und mehrere
Mitglieder der Familie Bach geleistet. Als markantestes Instrument der Epoche galt die
Orgel.
BAROCK: SITTEN Es herrschte in der Barockzeit eine hemmungslose Ser-
vilität. Alles wurde streng formalisiert; jede Stunde hatte ihre bestimmte Kleidung, Be
schäftigung und Gesellschaft, es konnte jedes Detail große Bedeutung gewinnen; fast
wichtiger als der Inhalt wurde die Form. Man verwendete viel Mühe auf den Unterricht
des artigen Benehmens und der wohlgesetzten Rede. Der Lieblingstanz der Barockzeit,
das Menuett, drückt vieles von der damaligen Stimmung aus. Man trank unverändert
viel Alkohol, es kam aber als typisches Barockgetränk der Kaffee auf (vgl. Bachs
»Kaffeekantate«). Auch Tabakkauen, Schnupfen und Rauchen waren in Mode. Die
Pfeife wurde bald zum unentbehrlichen Inventarstück von Soldaten und Studenten,
selbst Frauen waren ihr nicht abhold - allerdings weniger in den höheren Gesellschafts
schichten. Man zeigte eine Vorliebe für schwere, teure Stoffe, die Lieblingsfarben der
Zeit waren scharlachrot, weichselrot und dunkelblau. Als das wohl wichtigste Kleidungs
stück des Barocks galt die Perücke, die dauernd unter Puder gehalten werden mußte.
Die Reinlichkeit ließ selbst in den höchsten Kreisen viel zu wünschen übrig. Die öf
fentlichen Bäder verschwanden vollständig, an privaten Badegelegenheiten herrschte
fast gänzlicher Mangel. So verwundert der verschwenderische Gebrauch aller Arten von
Parfüms, Haarsalben und wohlriechenden Schminken kaum.
A U F K L Ä R U N G Neben der höfischen Art des Absolutismus entfaltete sich
im 18. Jahrhundert im mittleren und östlichen Europa - und so vor allem in den größ
ten deutschen Territorialgebieten Österreich und Brandenburg-Preußen - ein Abso
lutismus, der im Zeichen der Aufklärung stand, einer Idee; die aus Frankreich nach
Deutschland gekommen war (Montesquieu, Voltaire, Rousseau, Diderot). Aufklärung
sei, definierte der Philosoph Immanuel Kant,« der »Ausgang des Menschen aus seiner
selbstverschuldeten Unmündigkeit«. Man vertraute auf die Kraft des Verstandes, hoffte
das Dunkel der Vorurteile, der Unmündigkeit und der Unwissenheit zu beseitige». Alle
bisher gültigen Ansichten über Religion, Staat, Gesellschaft und Wirtschaft wurden ei
ner kritischen Prüfung unterzöge», der Mensch wurde aufgefordert, Mut zum Forschen
und zum Lernen, zu haben. Man sprach von der natürlichen Gleichheit der Menschen
und forderte Toleranz für die, die anders denke».
E R Z IE H U N G Größte Bedeutung maß die Aufklärung der Erziehung bei.
Rousseau stellte die programmatische These auf: »Alles ist gut, wie es aus den Händen
des Schöpfers der Dinge hervorgeht; alles verdirbt unter Menschen.« Von der Er
ziehung erhoffte man also die Lösung aller sozialen, ethischen und wirtschaftlichen Pro
bleme; im harmonisch ausgebildeten, tatkräftigen, selbstbewußten, geistig und kör
perlich gleichermaßen erzogenen Menschen erblickte man das Idealbild der Zeit. Zu
seiner Ausbildung schuf man überall Schulen und Institute für Volksbildung und Volks
aufklärung. Die bekanntesten deutschen Pädagogen waren die in Thüringen tätigen
Christian Gotthilf Sal^m ann und Johann Christoph Friedrich GutsMuths. Man erkannte
die Bedeutung der körperlichen Erziehung und der produktiven Arbeit der Schüler und
setzte sich für eine freiere Methodik des Unterrichts ein. Adolph Knigge beschrieb in
seinem Buch »Über den Umgang mit Menschen« vielbeachtete Verhaltensregeln. Die
Frauen wurden als Menschen anerkannt und gefördert, und die Erziehung sollte sich
auch auf die Herrscher erstrecken. Von der »Fürstenerziehung« erwartete man die Ver
wirklichung des Ideals vom aufgeklärten Monarchen.
MERKANTILISMUS In der Wirtschaftspolitik hielten sich die Herrscher
des aufgeklärten Absolutismus an die Prinzipien des Merkantilismus. In dieser Theorie,
deren bekanntester Verfechter der Franzose Colbert war, wird die Volkswirtschaft als
ein rational lenkbares System aufgefaßt. Der Staat strebt nach wirtschaftlicher Autarkie,
beschränkt die E in fuhr auf das Notwendigste, vor allem auf die von den eigenen Ma
nufakturen weiter zu verarbeitenden Rohstoffe. Fertigwaren für den eigenen Bedarf will
man möglichst im Land selbst herstellen, der Rest soll exportiert werden, damit durch
aktive Handelsbilanz Bargeld ins Land kommt. Die Bedeutung von Schutzzöllen und
Ausfuhrverbot für Rohmaterial und Grandnahrungsmittel nimmt stark zu. Durch die
hohen Einnahmen des Staates aus den wirtschaftlichen Gewinnen können die wachsen
den Ausgaben für Heer und Beamtenschaft, für wirtschaftliche Eigenuntemehmen und
soziale Maßnahmen bestritten werden. Den größeren absolut regierten deutschen Staa
ten (wie Bayern, Sachsen und Hannover) verhalf diese Politik zu einem ökonomischen
Erstarken^ am deutlichsten entfaltete sich das moderne Wirtschaftssystem, in Österreich
und Brandenburg-Preußen.
ÖSTERREICH NACH DER TÜRKENGEFAHR Habsburg verlor
zwar nach dem Dreißigjährigen Krieg die Vormachtstellung in Europa, konnte seine
Hausmacht aber unverändert stärken. Nach der Rückeroberung Wiens (1683) und
Ofens (1686) sowie dem endgültigen Zurückdrängen der Türken durch Prinz Eugen von
Savoyen (den »edlen Ritter«; Reiterstandbild vor der Budapester Nationalgalerie)
dehnte sich der Habsburgerstaat weiter aus. Mit dem Frieden zu Karlowitz 1699 wurde
anerkannt, daß die Habsburger Kaiser des Deutschen Reiches und Könige von Ungarn
waren. Österreich wurde - bei aller politischen Ohnmacht des Deutschen Reichs - zu
einer europäischen Großmacht, die Stadt Wien wurde immer größer und schöner; wich
tige Adelsfamilien, wie die Esterhäzys, die Schwarzenbergs und die Lobkowitzs, bauten
sich prächtige Paläste in Wien, wo sie verschiedene hohe Ämter bekleideten. Der
sprichwörtliche Wiener Charme und die Wiener Gemütlichkeit entfalteten sich allmählich
M A R IA T H E R E S IA U N D JO S E P H H Um der inneren Spannungen in
ihrem Vielvölkerstaat Herr zu werden, führten die Habsburger im 18. Jahrhundert im
Geiste des aufgeklärten Absolutismus mehrere Reformen durch. Unter Maria Theresia
(1740-1780; 16 Kinder) und Joseph ü. (seit 1765 Kaiser und Mitregent, 1780-1790
Kaiser und König) wurden ein stehendes Heer, ein Staatsrat und eine einheitliche Ver
waltung geschaffen (wodurch die Bedeutung der Selbstverwaltung wesentlich abnahm),
eine Schul- und Universitätsreform durchgeführt (einheitliche Schulbücher), die
Gleichheit vor dem Gesetz gesichert, die Binnenzölle beseitigt, die Errichtung von Ma
nufakturen unterstützt, Wesentliches bei der Abschaffung der Leibeigenschaft der Bau
ern geleistet, Kirchengüter und Klöster säkularisiert, die meisten Orden aufgehoben,
Rehgions- und Pressefreiheit gewährt (1781: Toleranzpatent) und Deutsch als einheitli
che Verwaltungssprache eingeführt, was dem ungarischen Adel natürlich mißfiel. (1784
wurde eine Professur für deutsche Sprache an der Universität Pest für Alois Hoffinann
errichtet; es war der zweite Germanistiklehrstuhl der Welt - den ersten gab es in Wiea)
Vor allem unter Maria Theresia wurden in Gebieten Ungarns, die nach den Tür-
kenknegen entvölkert waren, Kolonisten, hauptsächlich Deutsche aus dem mittel- und
suddeutschen Raum, angesiedelt. Es sind die Ahnen der heutigen deutschen Minderheit
in Ungarn, deren Zahl auf etwa 200.000 geschätzt wird.
BRANDENBURG Das Kemgebiet des anderen mächtigen deutschen Staa
tes der Epoche war Brandenburg. Im 11.-12. Jahrhundert erreichte die Ostexpansion
dieses seit der Völkerwanderung von Slawen bewohnte Gebiet östlich der Elbe. Die
zwei wichtigsten Städte - Berlin und Kölln an der Spree - wurden bereits von deut
schen Kolonisten gegründet. Im 14.-15. Jahrhundert gab es in der Markgrafschaft be
sonders viele Raubritter. Burggraf Friedrich Hohenzollern, der über weite Gebiete in
Schwaben und Franken verfügte und von König Sigismund mit dem Kurfürstentum be
lehnt wurde, versprach nun, dem Raubrittertüm Einhalt zu gebieten. Er verstand es aber
zugleich, sich Adel, Junker und Städte zu unterwerfen. Im dreißigjährigen Krieg verbün
dete sich Brandenburg, dessen Territorium fast von Anfang an Kriegsschauplatz war,
mal mit Schweden, mal mit dem Kaiser, mal blieb es neutral. Die Kriegsschäden und die
vielen Pestseuchen hatten zur Folge, daß das Land nach dem Westfälischen Frieden
dringend neue Bevölkerung brauchte, die vor allem aus Frankreich, Flandern und Hol
land nach Brandenburg kam. Zu dieser Zeit verknüpfte sich die Geschichte Branden
burgs endgültig mit der von Preußen.
PREUSSEN Nach dem Frieden von Thora fiel Westpreußen an Polen; Ost
preußen blieb zwar Besitz des Deutschen Ritterordens, war jedoch zu Treueid und Hee
resfolge gegenüber Polen verpflichtet. Der Ordensstaat wurde durch die Einführung der
Reformation 1525 in ein weltliches Herzogtum umgewandelt; Papst und Kaiser prote
stierten vergebens. Im Jahre 1618 erwarb der brandenburgische Kurfürst das Gebiet von
Ostpreußen durch Erbfall. Von da an bestand das Herrschaftsgebiet der Kurfürsten von
Brandenburg aus zwei voneinander weit entfernten Territorien, aus Brandenburg und
Ostpreußen. Im 18. Jahrhundert ging die Bezeichnung Preußen auf alle - also nicht nur
auf die preußischen - Gebiete des Staates über. 1701 ließ sich Kurfürst Friedrich m.
mit Erlaubnis von Kaiser Leopold I. in Königsberg (heute: Kaliningrad, Sowjetunion)
zum »König in Preußen« krönen, nach der Aufteilung Polens führten die preußischen
Herrscher den Titel »König von Preußen«.
M ILITÄ RSTA A T Die wichtigste Rolle bei der Erweiterung der branden-
burgisch-preußischen Machtkonzentration spielte der »Große Kurfürst« Friedrich Wil
helm I. (1640-1688). Er begünstigte den Adel, festigte die Leibeigenschaft der Bauern
und unterband die Herausbüdung eines städtischen Handelsbürgertums. Vor allem aber
schuf er ein stehendes Heer. »Alliancen seindt zwahr gutt«, schrieb er in seinem politi
schen Testament, »aber eigene Krefte noch besser, darauff kan man sich sicherer verlas
sen«. Diese Tendenz setzte sich unter seinen Nachfolgern fort, vor allem unter seinem
Enkel, dem »Soldatenkönig« Friedrich Wilhelm I. (Hobby: Sammlung »langer Kerls«),
dessen einziges Regierungsziel in der Erweiterung des Heeres bestand, in dem er den
Drill, das Prügelsystem und das Spießrutenlaufen einführte. Die preußischen Wer
bemethoden waren berüchtigt: durch Weiber, Spiel, Alkohol, falsche Vorspielungen, ja
durch brutale Gewalt gewann man auch im Ausland Soldaten für das preußische Heer.
Unter Friedrich ü. umfaßte die Armee bereits 200.000 Mann und verschlang 85 Prozent
der Staatsausgaben. Unterordnung wurde in diesem starken, zentral verwalteten Mili
tärstaat zur Hauptpflicht der Bürger und vor allem der Soldaten gemacht. »Überhaupt
muß der gemeine Soldat vor dem Offizier mehr Furcht als vor dem Feinde haben«, schrieb der Monarch.
F R IE D R IC H D E R G R O SSE Friedrich n . (1740-1786, Friedrich der
Große, im Volksmund: »der alte Fritz«, in Österreich sagte man: »fälschlich der
Große«) ist einer der umstrittensten Herrscher der deutschen Geschichte. Seiner ab
solutistisch-militaristischen Regierungspraxis und einer skrupellosen Außenpolitik
(Beispiel: erste Teilung Polens) standen aufklärerische philosophische Gedanken ge
genüber (er nannte sich »le philosophe de Sanssouci«), er war befreundet mit Voltaire,
spielte Flöte und komponierte Musik (seine Werke werden gelegentlich heute noch ge
spielt). Er war bestrebt, der »erste Diener des Staates« zu sein (das steht sechsmal und
stets französisch in seinen Schriften) und alles »für das Volk, aber nicht durch das Volk«
geschehen zu lassen. Bürgern seines Staates, die zahlreiche private Manufakturen
(besonders für Textilien, Gold- und Silberwaren) gegründet hatten, sicherte Friedrich ü.
einen wirtschaftlichen Aufschwung, das allgemeine Lebensniveau stieg, die Bedrohung
durch Hungersnöte wurde durch die Einführung des Kartoffelanbaus gebannt, Handel
und Handwerk entwickelten sich, die Justiz funktionierte, Staatshaushalt und Finanzen
wurden streng kontrolliert. Alles zusammengenommen war Preußen unter Friedrich
aber »das sklavischste Land Europas« (Lessing): der »staatstreue Untertan« hatte zu
gehorchen; für Gefühle, Phantasie, Individualität gab es innerhalb der strengen Ord
nung keinen Platz.
KÄM PFE ZW ISCHEN HOHENZOLLERN UN D HABSBUR
GERN Das gesamte 18. Jahrhundert wurde von Hegemoniekämpfen europäischer
Großmächte geprägt, an denen sich nebst England und Frankreich auch die Dynastien
Hohenzollem und Habsburg wesentlich beteiligten. Es gab verschiedene Anlässe zu den
Auseinandersetzungen, wobei die Zusammensetzung der Bündnisse nur selten konstant
blieb. Zunächst kämpfte man um die spanische Erbfolge (1701 -1714), dann ging es um
die Annehmbarkeit der Pragmatischen Sanktioa Friedrich ü. war nur dann bereit, die
Kandidatur der Habsburger auf die Kaiserwürde zu unterstützen, wenn er von Öster
reich das an Bodenschätzen reiche Schlesien bekäme. Nach dem ersten und zweiten
Schlesischen Krieg (1740-1742, 1744-1745) erreichte er auch dieses Ziel. Im Frieden
von Aachen (1748) wurden die Gültigkeit der Pragmatischen Sanktion und die Legi
timität des bereits zum Kaiser gewählten Franz von Lothringen (Gemahl von Maria
Theresia) anerkannt. 1756 gingen die Kämpfe zwischen den beiden Herrscherhäusern
weiter. Friedrich überfiel, nun auch schon von England unterstützt, Sachsen. Die wech
selvollen Ereignisse des Siebenjährigen Krieges 1756-1763 endeten mit dem Frieden
von Hubertusburg (bei Leipzig), in dem Preußen als neue Großmacht anerkannt wurde,
man bestätigte ihm den Besitz von Schlesien.
ROKOKO Die Haupteigenschaft des »galanten Zeitalters« Rokoko, das etwa
von 1730 bis zur französischen Revolution dauerte, war die Maßlosigkeit. Die Gebäude
wurden noch reicher verziert als im Barock. Die Krinoline machte den Damen das Ge
hen unmöglich, man zog exotische Farben vor (Pistazie, Reseda, Flieder), Schönheits
pflästerchen sollten die Regelmäßigkeit des Gesichts pikant unterbrechen, man trug
hohe Frisuren, die gelegentlich von den Kerzen der Lüster in Brand gesteckt wurden,
der Jahresverbrauch an Puder in Preußen mit 9 Millionen Einwohnern betrug etwa 91
Millionen Pfund. Die Feminisierung der Männermode erreichte ihren Höhepunkt, der
Bart verschwand völlig, dafür kam der Zopf in Mode. Die Liebe in der galt als ab
surd, ja geschmacklos, die Ehepaare der guten Gesellschaft nannten sich auch zu Hause
»Madame« und »Monsieur«. Die Dame von Welt sollte mindestens einen Liebhaber
haben, und als höchste Auszeichnung galt, die Geliebte des Königs zu sein. Große Arti
sten der Liebeskunst, wie Casanova und die Pompadour, wurden bekannt. Ein beson
deres Interesse entfaltete sich für alles, was aus C hina kam. In den Gärten wurden Pa
goden und Teehäuser errichtet, der Pfau erfreute sich einer großen Beliebtheit, und die
Porzellankunst eroberte Europa. Führend auf unserem Kontinent wurde die särhckrhg
Industrie. 1710 gründete der Hofalchimist von August dem Starken, Jo hann Friedrich
Böttcher, die Meißner Porzellanmanufaktur, die das elegante Publikum bis heute mit
schönem und praktischem Eßgeschirr versorgt (»die blauen Schwerter«).
10. Nach der französischen RevolutionDEUTSCHLAND BLEIBT ZU RÜ C K Am Ende des 18. Jahrhunderts
war Deutschland im Vergleich zu den führenden Staaten Europas sehr zurückgeblieben.
Der bedeutendste Produktionszweig war die Landwirtschaft, es gab keine Hauptstadt,
kein wirtschaftliches und politisches Zentrum. Zollschranken verhinderten die Entste
hung einer einheitlichen Wirtschaft, noch immer herrschte die überholte mittelalterliche
Zunftverfassung. Die Keime kapitalistischer Produktionsweise waren immerhin schon
vorhanden mit Heimindustrie, Manufakturen, ersten Fabriken (Textilherstellung in
Sachsen) und nach wie vor funktionierenden Handelszentren (Leipzig, Frankfurt am
Main, Hamburg). Es kam zur ersten Anwendung von Maschinen, die aus England über
nommen wurden: Dampfmaschine, Spinnmaschine, Webstuhl. Alles in allem glich die
Situation jedoch einer Sackgasse, nur von außen konnte Hilfe kommen. Die Nachricht
von dem Beginn der französischen Revolution 1789 - eingeleitet durch den Sturm auf
die Bastille, das Wahrzeichen des französischen Absolutismus - wirkte also wie ein
Aufruf.
REVOLUTIONSJAHR 1789 Die Ereignisse in Frankreich wurden von
vielen Teilen der Bevölkerung, vor allem von den Intellektuellen, leidenschaftlich be
grüßt. Der junge Tieck schrieb, »Frankreich ist jetzt mein Gedanke Tag und Nacht - ist
Frankreich unglücklich, so verachte ich die ganze Welt«, und Klopstock wandte sich mit
dem Satz an seine Landsleute: »Frankreich schuf sich frei... und wir?« Es kam in ver
schiedenen deutschen Einzelstaaten zu Volksbewegungen (1789 Empörungen in Baden
und in der Pfalz, 1790 Bauernaufstand in Sachsen), die aber aufgrund der ökonomischen
und politischen Verhältnisse und der daraus resultierenden Schwäche des Bürgertums
nicht in eine Revolution mündeten.
M AINZER REPUBLIK 1792 formierte sich unter Führung von Österreich
und Preußen eine europäische Koalition zur Bekämpfung der französischen Revolution.
Der Befehlshaber der Interventionsarmee, der Herzog von Braunschweig, drohte, Paris
dem Erdboden gleichzumachen, falls dem König oder seiner Family die kleinste Ge
walttätigkeit zugefügt werde; auf französischer Seite meldeten sich 100.000 Freiwillige
zum Kampf. Im Herbst 1792 trafen beide Armeen bei Valmy zusammen. (Goethe, der
begeistert nach Frankreich mitzog, berichtet über seine Eindrücke in »Kampagne in
Frankreich«.) Die Franzosen siegten, gingen zu einem Gegenangriff über und rückten
bis Mainz vor. Dort entstand nach jakobinischem Muster eine »Gesellschaft deutscher
Freunde der Freiheit und Gleichheit«, geleitet vom Gelehrten und Schriftsteller Georg
Förster. Im Frühjahr 1793 wurde die Mainzer Republik, die erste bürgerliche Republik
auf deutschem Boden, ausgerufen, die die Aufhebung der Vorrechte des Adels und der
Geistlichkeit verkündete, nicht aber die Befreiung der Bauern von den feudalen Lasten.
Preußische Truppen eroberten Mainz im Juli 1793, und die feudale Ordnung wurde
wiederhergestellt.
ZERFA LL D E S HEILIGEN RÖM ISCHEN REICHES Wichtige
Schritte zum Ausbau des »Grand Empire« von Napoleon, der 1799 Erster Konsul, 1804
Kaiser wurde, waren der Sieg bei Austerlitz über Österreich und Rußland (1805) und
die Eroberung des linken Rheinufers und die Gründung des »Rheinbundes« (1806). Es
traten sechzehn süd- und westdeutsche Einzelstaaten (unter anderem die von Napoleon
zum Königreich erhobenen Bayern, Sachsen und Württemberg) aus dem Deutschen
Reich aus und vereinigten sich unter Napoleons Protektorat. D araufhin erklärte der
schon seit langem machtlose Habsburger Kaiser Franz ü . 1806 das
»reichsoberhauptliche Amt« für erloschen, das Heilige Römische Reich Deutscher Na
tion löste sich endgültig auf. (Die Krone legte er schon zwei Jahre früher nieder; als
Franz I. ist er freilich Kaiser von Österreich und König von Ungarn geblieben.) Auch
der preußische Staat, der infolge seiner zwiespältigen Politik keine Unterstützung von
fremden Mächten erhielt und dessen Heere in der Doppelschlacht bei Jena und Auer-
städt (1806; Gedenkstätte in Cospeda bei Jena) eine vernichtende Niederlage erlitten
hatten, brach unter Napoleons Angriff zusammen. Es verlor im Tilsiter Frieden (1807)
die Hälfte seines Staatsgebietes und wurde nur auf Wunsch Rußlands erhalten. Da
F.ngland für Napoleon unangreifbar war, suchte er es durch wirtschaftliche Maßnahmen
zu bezwingen. Die Kontinentalsperre traf auch den kontinentaleuropäischen Handel
empfindlich, begünstigte aber durch die Abschnürung von der Konkurrenz die Entwick
lung gewisser Wirtschaftszweige, wie der Textilindustrie in Sachsen sowie des Gruben-
und Hüttenwesens im Rheinland.
STEINSCHE REFO R M EN Um den zerschlagenen preußischen Staat wie
der auf die Beine zu stellen, waren ein Umdenken und Reformen unerläßlich geworden.
Diese verknüpfen sich in erster Linie mit dem Namen von Ministerpräsident Freiherr
Karl vom und zum Stein und seinem Nachfolger Karl August von Hardenberg. Man hob
die Leibeigenschaft auf (Oktoberedikt 1807), führte die städtische Selbstverwaltung
(Städteordnung 1808) und die Gleichheit vor dem Gesetz ein und verkündete die
Gewerbefreiheit (Aufhebung des Zunftzwangs 1811). In der Heeresreform von Scham
horst und Gneisenau wurden viele Adlige als Offiziere abgelöst, es konnten auch Bürger
Offiziere werden, man schuf das Söldnerwesen ab, und es wurde ein Volksheer mit bes
serer Ausbildung und neuer Taktik, ohne Drill und Prügelstrafe aufgebaut. Man sah die
gllggmftinp. Wehrpflicht vor. Einer der Reformer war der Militärtheoretiker Clausewitz,
von dem die These stammt, Krieg sei eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit
Einmischung anderer Mittel. Im Zuge der Umgestaltung des Bildungswesens durch
Wilhelm von Humboldt erhielt 1810 endlich auch Berlin eine Universität. Viele der
preußischen Reformansätze blieben allerdings auf halbem Wege stecken; die
Teilnahme an der Gesetzgebung blieb den Bürgern weitgehend verwehrt.
R U S SL A N D F E L D Z U G Napoleons Große Armee (420.000 Mann, darunter
180.000 Deutsche) griff 1812 Rußland an. Die Taktik der russischen Truppen unter
Kutusow, der eine offene Feldschlacht vermied, dafür eher kleinere Gefechte und die
ständige Störung des Nachschubs vom Feind vorzog, sowie der Brand der besetzten
Hauptstadt Moskau zwangen Napoleon zum Rückzug. Sein Heer wurde zerrieben, es
kehrten nur 30.000 Menschen über den Fluß Beresina zurück. Im Verlauf der Kämpfe
hatte 1812 General Yorck (gegen den Willen des preußischen Königs) mit dem russi
schen General Diebitsch die Konvention von Tauroggen abgeschlossen, der zufolge
preußische Truppen aus der napoleonischen Armee ausschieden. Das war ein wichtiger
Schritt bei der Bildung einer europäischen Koalition gegen Napoleon. Das geistige Le
ben der Deutschen stellte sich in den Dienst der Befreiungsbewegung (vgl. die »Reden
an die deutsche Nation« des Philosophen Fichte und die Turngemeinschaften unter Ein
fluß von »Turnvater« Friedrich Ludwig Jahn), literarische Werke propagierten die
Notwendigkeit des Kampfes. Es entstanden Freikorps gegen Napoleon, die bekannte
sten waren die von Schill und Lützow.
N A PO LEO N S E N D E Die Völkerschlacht bei Leipzig vom 16. bis 19. Ok
tober 1813 besiegelte Napoleons Schicksal, seine Armee wurde von Preußen, Russen,
Schweden, Österreichern und anderen vernichtend geschlagen. Mit dem Ausein
anderfallen des Rheinbundes und der Abdankung Napoleons nach der Kapitulation im
März 1814 in Paris endete diese von den Expansivbestrebungen der jungen französi
schen Großbourgeoisie geprägte Periode europäischer Geschichte, in der die Klein
staaterei in Deutschland teilweise beseitigt und der Weg zur kapitalistischen Produkti
onsweise durch verschiedene bürgerliche Reformen geebnet wurde.
W EIM ARER KLASSIK In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts spielten
deutsche Künstler und Wissenschaftler eine führende Rolle im europäischen Geistes
leben. Von den Ideen der Aufklärung ausgehend und die »edle Einfalt und stille
Größe« der griechischen Antike verherrlichend, schufen Johann Wolfgang Goethe
[1749-1832], Friedrich Schiller [1759-1805], Johann Gottfried Herder [1744-1803]
und andere großartige literarische Werke. Humanität, Selbstbeherrschung und Auf
opferung, Einheit von Tun und Denken waren die wichtigsten Prinzipien, denen ihrer
Auffassung nach der Mensch zu entsprechen hatte. (Vgl. Goethe: »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.«)
KLASSISCHE PH IL O SO PH IE Es waren in der gleichen Epoche auch
große Philosophen am Werk. Der Königsberger Professor Immanuel Kant [1724-1804]
schuf hauptsächlich mit seinen Büchern »Kritik der reinen Vernunft« (1781), »Kritik der
praktischen Vernunft« (1788) und »Kritik der Urteilskraft« (1790) ein umfassendes Sy
stem, auf dessen Elemente (»Ding an sich«, »kategorischer Imperativ«, Fragen der
Pflicht und so weiter) sowohl bei allgemein theoretischen Ausführungen als auch bei
streng praxisbezogenen Überlegungen stets zurückgegriffen wird. Bei Georg Wilhelm
Friedrich Hegel [1770-1831] wirkte vor allem das überwältigend kohärente und ein
heitliche Denkmodell (die dialektische Methode: Dreischritt von These, Antithese und
Synthese) nachhaltig auf die Philosophie der letzten anderthalb Jahrhunderte von Marx
bis zur christlichen Theologie. Weitere deutsche Philosophen des 18. und 19. Jahrhun
derts wie Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Schelling und Ludwig Feuerbach
gehören ebenfalls zu den anerkannten Vertretern dieses Wissenschaftszweiges - die
Revolution, die in Deutschland unterblieb, scheint auf dem Gebiet des Geistes vollzo
gen worden zu sein.
KLASSIZISMUS In der Baukunst orientierte man sich, ähnlich wie in der
Literatur, an den griechischen und römischen Mustern. Entgegen den weichlichen For
men und der überladenen Prachtentfaltung des Rokoko herrschten strenge, gradlinige
Formen und sparsame Ausstattung, reine Maße und Proportionen, Überschaubarkeit
und Ordnung. Das Zentrum des Klassizismus lag in Preußen, die bekanntesten Baumei
ster waren Carl Gottfried Langhaus (Brandenburger Tor), Friedrich Wilhelm Erd-
mannsdorf (Schloß in Wörlitz) und nicht zuletzt Karl Friedrich Schinkel, der Berlin
durch Stadtplanung und durch Bauten (das Alte Museum, die Nationalgalerie und die
Neue Wache) das Gepräge gab, das ihm den Beinamen »Spreeathen« eintrug. Christian
David Rauch war als Bildhauer von Bedeutung (Hauptwerk: Reiterdenkmal Friedrichs
des Großen), und Johann Gottfried Schadow machte sich durch Plastiken (zum Beispiel
die Quadriga mit Viktoria auf dem Brandenburger Tor) einen Namen; ihr bevorzugter
Werkstoff war der weiße Marmor. In der Malerei ist Wilhelm Tischbein zu nennen, des
sen bekanntestes Gemälde den jungen »Goethe in der Campagna« darstellt.
im (1781), »Kritik der
^ ein umfassendes Sy-
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»dtaistellt
M OZART Das Zentrum des Musiklebens war Wen. Josepfc
[1732-1809], Wolfgang Amadeus Mozart [1756-1791], Ludwig van
[1770-1824] (»Wiener Klassiker«) und Franz Schubert [1797-1828] wirkten dort. M
Mozart bewunderten die Zeitgenossen nicht nur den äußerst produktiven Kompooisle*
für den »kein Auftrag zu groß oder zu klein war«, sondern auch den geschickten und
phantasiereichen Klavierspieler, der alles auf den ersten Blick meisterhaft spielen
konnte. Die vierzig Symphonien und das »Requiem« sind genauso berühmt geworden
wie die Opern »Figaros Hochzeit«, »Don Giovanni« und »Die Entführung aus dem
Serail«. In der »Zauberflöte« stehen zwei Weltanschauungen einander gegenüber, die
leidenschaftliche, dämonische Königin der Nacht und der sonnenklare Sarastro, der am
Ende den Sieg der Vernunft und des klaren Geistes über den Wahnsinn des Dämoni-
sehen verkündet - Trost für alle, die Tag für Tag das Gegenteü erleben müssen.
B E E T H O V E N »Beethoven hat die Weltstürme der Revolution in Tönen
nachgebüdet«, schrieb jemand nach dem Tod des in Bonn geborenen Komponisten. In
seinem reichen Schaffen pflegte Beethoven, der sich übrigens gern bei der Familie
Brunswick in Martonväsär (unweit von Budapest) aufhielt, verschiedene Formen, er
komponierte Sonaten (»Kreutzer-Sonate«), Streichquartette, eine Oper (die mit
reißende Parabel von der Freiheit »Fidelio«) und neun Symphonien. Die bekanntesten
von diesen sind die dritte (»Eroica«, Napoleon als Vertreter des Freiheitsgeistes gewid
met; als Napoleon sich zum Kaiser krönen ließ, soll Beethoven die Widmung voll Wut
zerrissen haben), die fünfte (»Schicksalssymphonie«), die sechste (»Pastorale«) und die
neunte nach Friedrich Schülers Ode »An die Freude«. Der Refrain »Alle Menschen
werden Brüder« drückt das innerste Glaubensbekenntnis des Komponisten aus.
R O M A N T IK In Deutschland stand Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts
die Wiege der Romantik, der Gegenbewegung zur rationalen Aufklärung und zur Klas
sik. Goethe meinte, das Klassische sei das Gesunde, das Romantische das Kranke.
Wenn man die Klassik als Kunst der Vollkommenheit bezeichnet, so kann man die Ro
mantik die Kunst der U nendlichkeit nennen. Sie proklamierte die absolute Freiheit und
bestritt die normsetzende Funktion der Vernunft. Der romantische Mensch betrieb
einen Ich-Kult, schätzte nichts höher als das Gefühl, wollte am Ganzen teilhaben und
die engen Grenzen von Zeit und Umwelt, in denen er stand, sprengen. Statt der kühlen
Größe bildeten nun Empfindung und Gefühl die Grundlage des künstlerischen Schaf
fens, statt alte Muster zu bewundern, versenkte man sich in die Betrachtung der Natur.
Die Nacht, der Traum, die Musikalität wurden beliebte Motive der Literatur, und
hauptsächlich die Sehnsucht nach einem Ideal, das auf die Überwindung der Materie
durch den Geist abzielte. (Novalis sagte: »Die Welt ist kein Traum, aber sie soll und
wird vielleicht einer werden.«)
V O LK ALS Z E N T R A L B E G R IFF Die Romantiker erhoben das Volk, das
man sich als einen lebendigen Organismus vorstellte, zu einem zentralen Begriff. Man
sammelte Volkslieder (Clemens Brentano und Achim von Arnim: »Des Knaben
Wunderhom«) und Volksmärchen (Jakob und Wilhelm Grimm- »Kinder- und Haus
märchen«), man studierte eifrig Eigenart, Lebensform, Geschichte und Sprache der
Völker. In diese Zeit fallen die Anfänge der wissenschaftlichen Germanistik (Brüder
Grimm) und der vergleichenden Sprachwissenschaft (Franz Bopp). Es prägte sich ein
Nationalgefühl heraus. Man versenkte sich gern in Geheimnisse einer vergangenen
Welt; allem voran entstand ein großes Interesse für das Mittelalter. Die Romantik hatte,
nicht zuletzt wegen ihrer Ablehnung der Demokratie (unklare Idee einer mittel
alterlichen Kaiserherrlichkeit) und der Hinwendung zu geheimnisvollen Urgründen des
Lebens zum Teil zwiespältige Folgen (sie wurde zum Beispiel durch die Nazis aufgegrif
fen), andererseits muß man aber auch sehen, daß sie bis heute jede Emeue-
rungsbestrebung in der Kunst nährt.
R O M A N T ISC H E MA L E R E I U N D M USIK Für die romantische Male
rei, deren wichtigste Vertreter Caspar David Friedrich mit seinen stimmungsvollen
Landschaftsbildem und Philipp Otto Runge mit der Hlustration volkstümlicher literari
scher Vorlagen waren, ist die eindringliche Symbolsprache, die Entdeckung des
menschlichen Schicksals in der Natur, eine überwältigende Verwendung der Färb-
kontraste charakteristisch. In der Musik war die Romantik langlebiger als in allen ande
ren Kunstgattungen, sie erstreckte sich auf das gesamte 19. Jahrhundert und verhalf den
europäischen Nationen dazu, ihren besonderen eigenen Ton zu finden. Von den deut
schen Komponisten zählt man so vorzügliche Musikanten zu dieser Stilnchtung wie
Franz Schubert, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Johannes Brahms, Robert Schumann
und Richard Strauss.
11. Der Weg zum NationalstaatWIENER KONGRESS Nach dem Sieg über Napoleon wurde das weitere
Schicksal Europas auf dem Wiener Kongreß 1814-1815 bestimmt. Die Hoffnungen
vieler Deutscher auf einen freien, einheitlichen Nationalstaat wurden nicht erfüllt, der
Kongreß brachte die Restauration der alten Mächte. England beherrschte die Meere,
Rußland, Österreich, Preußen, aber auch Frankreich teilten sich die Macht auf dem
Kontinent auf. 1815 gegründeten Preußen, Rußland und Österreich in Paris die Heilige
Allianz Dieser »Gendarm Europas«, dessen Symbol der österreichische Kanzler Kle
mens Metternich wurde, sollte unter dem Deckmantel der Religion sämtliche fort
schrittliche, liberale, nationale Bestrebungen in Europa unterdrücken. Die deutschen
Einzelstaaten gründeten 1815 den Deutschen Bund, einen nur äußerlichen und kraft
losen Zusammenhalt, der aus 35 selbständigen Staaten und vier freien Städten bestand
und in dem die Vorherrschaft des Adels gewahrt blieb. Die Gesandten der Fürsten tra
fen sich zu ständigen Beratungen im Bundestag in Frankfurt am Main; handlungsfähig
war der Bund nur in den seltenen Fällen, wenn die beiden immer deutlicher rivalisie
renden Großmächte Preußen und Österreich übereinstimmten. Seine Hauptaufgabe sah
der Deutsche Bund in der Niederhaltung aller auf Einheit und Freiheit gerichteten
Bestrebungen. Der schwäbische Dichter Ludwig Uhland stellte fest: »Zermalmt habt ihr
die fremden Horden, / Doch innen hat sich nichts gehellt, / Und Freie seid ihr nicht
geworden.«
OPPOSmONSBEWEGUNGEN Die Restauration wirkte lähmend auf
die Deutschen; ihre aktive Beteiligung am öffentlichen Leben hielten die Mächtigen für
unerwünscht. Trotzdem verstärkte sich immer mehr eine neue, liberale Geisteshaltung,
man forderte Freiheit in Staat und Wirtschaft. Damit verknüpfte sich das Streben nach
einem einheitlichen Nationalstaat. Eine geschlossene Form nahm der Protest gegen
Restauration, Heilige Allianz und fortgesetzte Herrschaft der Feudalmächte in der Tä
tigkeit der Burschenschaften an. Diese Bewegung nahm 1815 ihren Ausgang, als Studen
ten und Professoren der Universität Jena die »Deutsche Burschenschaft« gründeten. Sie
verbreitete sich rasch, integrierte politisch recht unterschiedliche Gruppen
(republikanische, monarchistische, nationalistische und andere; einzelne traten sogar für
den individuellen Terror ein). Besonders deutlich wurden die Gegensätze zur staatli
chen Ordnung auf dem Wartburgfest 1817, als sich Studenten aus ganz Deutschland in
Erinnerung an den Thesenanschlag Luthers 1517 und an die Völkerschlacht ver
sammelten, um ein Bekenntnis zu Einheit und Freiheit abzulegen. Dabei verbrannten
sie auch Symbole der Reaktion (Zopf, Korporalstock) sowie für reaktionär gehaltene
Schriften.
K A R LSB A D ER B ESCH LÜ SSE Als der Schriftsteller August Kotzebue,
den man (wohl nicht zu Unrecht) für einen russischen Spion hielt, von einem Burschen
schafter ermordet wurde, entfesselte sich die Reaktion. Metternich setzte 1819 mit den
Karlsbader Beschlüssen (Karlsbad = Karlovy Vary, CS FR) einen offenen Polizeiterror
durch, jedes freie politische Leben sollte unterdrückt, die Zensur wieder eingeführt, die
Burschenschaften verboten und die Universitäten unter Polizeiaufsicht gestellt werden.
Führende liberale wurden als »Demagogen« verfolgt
V O R M Ä R Z Nach der Julirevolution 1830 in Frankreich lockerte sich die
Unterdrückung zeitweilig. Auf dem Hambacher Fest 1832 wurden erneut Forderungen
nach Einheit und Freiheit laut. Der Dichter August Heinrich Hoffmann von Fallersle
ben besang den erhofften einheitlichen deutschen Staat im »Lied der Deutschen«
(»Deutschland, Deutschland über alles«). 1837 machte der Protest von sieben Göttinger
Professoren gegen die willkürliche Aufhebung der Verfassung durch den König von
Hannover von sich reden. Der König ließ sie mit der Bemerkung absetzen, Tänzerinnen
und Professoren finde man jederzeit, drei von ihnen wurden sogar des Landes verwie
sen. Schriftsteller - Georg Büchner, Heinrich Heine, die Gruppe des »Jungen
Deutschland« - widmeten sich mit großer Schärfe sozialen Fragen. Gegenmaßnahmen,
beispielsweise die Erneuerung der Demagogenverfolgung, schränkten den Spielraum
der Progressiven jedoch immer wieder ein. Der norddeutsche Dichter Fritz Reuter, als
Demagoge selbst zum Tode verurteilt und später begnadigt, prägte den merkwürdigen
Satz: »Im Gefängnis wurden wir alle Demokraten.«
BIED ERM EIER Der Großteil der Bevölkerung zog sich währenddessen in
den privaten Bereich zurück. Die hausbackene Kunst des Biedermeier entsprach dieser
Haltung vollkommen. Kunst sollte Intimität, Schlichtheit, Klarheit, Gemütlichkeit her
vorrufen, selbst die Innenarchitektur der Wohnungen, die Dekorationen auf Geschirr
und Tapeten, die Möbel aus hellem Holz hatten diesem Harmoniebedürfnis zu entspre
chen. Die gute Stube kam in Mode, an ihren Wänden hingen Scherenschnitte. In der
Dichtung ist die Familie der wichtigste Handlungsraum; die Dichter entziehen sich gern
den großen Zeitfragen und widmen sich idyllischen, elegischen, manchmal leicht melan
cholischen Bildern. Der Blick richtet sich auf die kleinen, bekannten Dinge, die uns das
Leben vertraut machen, auf die Erinnerungen an vergangene Zeiten. Naturliebe, Stille,
Zurückgezogenheit und Entsagung gehören zu den meistgepriesenen Eigenschaften.
ZOLLVEREIN Doch auf der Ebene der Wirtschaft und der Politik tat sich
Wichtiges. Seit 1819 traten liberal Denkende unter Leitung von Friedrich List in dem
»Allgemeinen deutschen Handels- und Gewerbeverein« gegen die Zollschranken und
für einen einheitlichen Markt ein. 1834 wurde unter Führung Preußens der »Deutsche
Zollverein« gegründet, in dem die Zölle untereinander beseitigt und gegenüber
Nichtmitgliedsländem gemeinsame Grenzzölle festgelegt wurden. Diese Organisation,
der in den folgenden Jahren die meisten deutschen Einzelstaaten beitraten, bedeutete
einen großen Fortschritt für die Herausbildung eines gemeinsamen Marktes und der
kapitalistischen Produktionsweise. Da Österreich dem Zollverein nicht angehörte, war
die Richtung zu einer möglichen späteren politischen Einigung ohne Österreich abge
steckt.
INDUSTRIELLE REVOLUTION Das Deutschland nach dem Wiener
Kongreß war im wesentlichen immer noch ein Agrarland. In der Industrie überwogen
noch Heimarbeit und Manufakturen. Doch die industrielle Revolution hielt immer
deutlicher Einzug. Technische Neuerungen verbreiteten sich, es bildeten sich besonders
von den dreißiger Jahren an bedeutende Industriereviere heraus, zur Finanzierung
großer Aufgaben wurden Aktiengesellschaften gegründet. Der Ausbau der Ver
kehrswege erlangte eine außerordentliche Rolle. Es wurden neue Verkehrsmittel ent
wickelt. 1816 nahm man das erste Dampfschiff in Betrieb, 1835 wurde die erste, fünf
Kilometer lange Eisenbahnstrecke zwischen Nürnberg und Fürth eröffnet; die erste
Langstrecke verband Leipzig und Dresden. Im Jahre 1875 betrug die Länge des Eisen
bahnnetzes schon 27 930 Kilometer.
D IE SC H LESISC H EN W E B E R Mit der Beschleunigung der
Industrialisierung entstand die neue Klasse der Fabrikarbeiter. Sie fanden in der Indu
strie zunächst bessere Verdienstmöglichkeiten, aber das rapide Bevölkerungswachstum
führte bald zu einem Überangebot von Arbeitskräften. Da zudem jede Sozialgesetzge
bung fehlte, lebte die Masse der Fabrikarbeiter in großem Elend. Die Spannungen ent
luden sich gewaltsam, wie beispielsweise 1844 beim Aufstand der schlesischen Weber.
Der Zorn dieser Heimarbeiter, die mit ihren niedrigen Löhnen noch ärmlicher lebten
als das übrige Proletariat, richtete sich immerhin noch weniger gegen ihre Ausbeuter,
als vielmehr gegen die Maschinen, in denen sie ihre Konkurrenten sahen. Der Aufstand,
durch preußisches Militär niedergeschlagen, rief ein nachhaltiges Echo hervor, vgl. das
»Weberlied« von Heinrich Heine, das Drama »Die Weber« von Gerhart Hauptmann
und Graphiken von Käthe Kollwitz.
A R B E IT E R B E W E G U N G Erste politische Organisationen der Arbeiter
entstanden bereits in den dreißiger Jahren, aber eine Arbeiterbewegung konnte sich nur
zögernd formieren. Einen qualitativ neuen Schritt bedeutete die Bildung des »Bundes
der Kommunisten« im Jahre 1847. Zum Programm der Partei wurde das von Karl Marx
[1818-1883] und Friedrich Engels [1820-1895] ausgearbeitete und 1848 heraus
gegebene »Manifest der Kommunistischen Partei«. Die bisherige Geschichte sei von
Klassenkämpfen bestimmt worden, der letzte Kampf sei der zwischen Bourgeoisie und
Proletariat. Dazu müssen sich die Arbeiter zusammenschließen: »Proletarier aller Län
der, vereinigt euch!« Der Sieg des Proletariats werde eine Gesellschaft ohne Klassen
und ohne Privateigentum schaffen.
1848ER REVOLUTION Die Februarrevolution 1848 in Frankreich konnte
umso mehr als Auslöser einer Revolution in Deutschland wirken, als dieses mit erhebli
chen wirtschaftlichen Schwierigkeiten rang. Die Revolution begann im Februar in Ba
den, von wo sie auf andere Staaten Übergriff. Man stellte überall liberal-demokratische
und nationale Forderungen. In Wien verlangte man am 12. März in einer Petition an
den Kaiser Verfassung, Volksbewaffnung und die Absetzung Metternichs. Man erhielt
ausweichende Antworten, und Militär wurde zusammengezogen. Die darauffolgenden
Straßenkämpfe brachten den Sieg des Volkes, Metternich wurde gestürzt und floh ver
kleidet nach E ngland. Die Völker des Habsburgerstaates erhoben sich. Große Erfolge
erzielten die Revolutionäre in Italien, Polen und vor allem Ungarn. In Berlin versprach
der König nach blutigen Barrikadenkämpfen am 18. und 19. März 1848, die Zensur auf
zuheben und die politischen Forderungen des Volkes zu erfüllen.
FRANK FU RTER NATIONALVERSAMMLUNG Führende Liberale
kamen in Frankfurt am Main zusammen (Vorparlament) und bereiteten die Wahl einer
verfassungsgebenden Nationalversammlung vor. Am 18. Mai 1848 begannen die in all
gemeinen, gleichen Wahlen gewählten Abgeordneten (soziale Zusammensetzung: in der
Mehrzahl Juristen, viele Professoren, Ärzte, Offiziere, Großgrundbesitzer; kein Arbeiter
und ein einziger Bauer) in der Frankfurter Paulskirche mit ihren Beratungen. Im März
1849 wurde die Reichsverfassung endlich fertig. Sie sah einen kleindeutschen Bundes
staat (das heißt einen Staat ohne Österreich) vor, in dem die Regierung dem Parlament
verantwortlich sein sollte. An der Spitze des Bundes sollte ein Erbkaiser stehen. Für die
Würde wollte man Friedrich Wilhelm IV. von Preußen gewinnen, doch der lehnte ab, an
der Krone würde, sagte er, der Ludergeruch der Revolution kleben. Die Kampfe zur
Durchsetzung der solchermaßen vereitelten Verfassung (unter anderem die
»Reichsverfassungkampagne« 1849 in Dresden) wurden, weil uneinheitlich und isoliert,
nacheinander von preußischen Truppen niedergeworfen, die untätige Na
tionalversammlung vom württembergischen König auseinandergejagt. Im Sommer 1849
hatten die alten Mächte die revolutionäre Bewegung überall endgültig unterdrückt; ein
Jahr später wurde der Deutsche Bund wiederhergestellt.
»DU RCH EISEN UND BLUT« Die Revolution konnte die dringliche
Aufgabe der Gründung eines einheitlichen Nationalstaates nicht erfüllen. Nun wurde
das Problem durch das immer stärker werdende Preußen »von oben« gelöst. Die
Schlüsselfigur in diesem Prozeß war Otto von Bismarck. Er wurde 1862, als die Gefahr
eines erneuten Aufschwungs der nationalen Bewegung drohte, zum preußischen
Ministerpräsidenten berufen. Seinen Grundsatz formulierte er so: »Nicht durch Reden
und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden - das ist der
Fehler von 1848 und 1849 gewesen -, sondern durch Eisen und Blut.« Jahrelang regierte
Bismarck ohne die nach der Verfassung erforderliche Genehmigung des Haushaltes
durch das Parlament Seine innenpolitisch prekäre Stellung konnte er durch außenpoli
tische Erfolge festigen. Im Deutsch-Dänischen Krieg (1864) zwang Preußen gemeinsam
mit Österreich die Dänen zur Abtretung Schleswig-Holsteins, das sie zunächst gemein
sam verwalteten. Bismarck betrieb jedoch die Annexion der beiden Herzogtümer und
steuerte den offenen Konflikt mit Österreich an.
KONIGGRATZ In der Schlacht bei Königgrätz (heute: Hradec Kralove,
CSFR) wurden die österreichischen Truppen 1866 vernichtend geschlagen. Es be
währten sich das strategische Prinzip von Generalstabschef Helmuth Moltke »Getrennt
marschieren und vereint schlagen«, die bessere Ausbildung der Truppen, sowie die
technischen und organisatorischen Vorteile der Preußen: Fernmeldetechnik, Flammen
werfer, Gasgranaten, motorisierte Einheiten. Während die Österreicher in weißem Bie
dermeierfrack und hohem schwarzem Tschako auf dem Schlachtfeld erschienen, trugen
die Preußen Uniformen, die auf den Nahkampf ausgerichtet waren; während Waffen
technik und Gesamtorganisation der österreichischen Armee seit Prinz Eugen im we
sentlichen unverändert blieb, benutzten die preußischen Truppen moderne Hinterlader
und reisten mit der Eisenbahn an, so daß die Schlacht schon in den Morgenstunden, ehe
alle auf dem Schlachtfeld waren, beginnen konnte. Die Ȇberflutung Deutschlands
durch das Preußentum« wurde unvermeidlich, Preußen sicherte seine Hegemonie und
gründete den Norddeutschen Bund, dem Bismarck als Bundeskanzler Vorstand.
REICHSG RÜ N D U N G Die einzige europäische Großmacht, die die
Weiterführung von Bismarcks Einheitsplänen noch verhindern konnte und wollte, war
Frankreich. Es kam 1870-1871 zu einem von Bismarck provozierten Krieg, in dem die
Franzosen besiegt, zur Abtretung von Elsaß-Lothringen und zur Bezahlung hoher Repa
rationssummen gezwungen wurden. In der patriotischen Begeisterung des Krieges
schlossen sich die süddeutschen Staaten mit dem Norddeutschen Bund zum Deutschen
Reich zusammen. Zinn Kaiser des neuen Staates wurde am 18. Januar 1871 im Spiegel
saal des Versailler Schloß der preußische König Wilhelm I. proklamiert. Der Großher
zog von Baden brachte den ersten Hochruf auf seinen Schwiegervater aus. Das Volk war
an der Reichsgründung nicht beteiligt; nur eine Krankenschwester des Lazaretts, das
sich im Schloß befand, machte zufällig eine Tür auf und verirrte sich unter die fünfhun
dert prominenten Gäste.
12. Die untergehende MonarchieÖSTERREICH NACH 1866 Österreich, das zwischen 1815 und 1848 noch
an der Spitze der europäischen Reaktion gestanden hatte, verlor in der zweiten Hälfte
des Jahrhunderts so rasch an Macht, daß es sogar im eigenen Reich Konzessionen ein-
gehen mußte. Der Ausgleich 1867 besiegelte die Entstehung der »Doppelmonarchie«
(österreichisch-ungarische Monarchie), die unter der Personalunion des Kaisers bezie
hungsweise Königs praktisch aus zwei Staaten bestand: den Ländern der ungarischen
Krone (von Wien aus gesehen: Transleithanien; königlich) und den »im Reichsrat ver
tretenen Ländern« (Zisleithanien; k. k. = kaiserlich-königlich). Es gab drei gemeinsame
(k. u. k. = kaiserlich und königlich) Ministerien: das Außenministerium, das Kriegs- und
Marineministerium und das F inanzm inisterium , wobei für die letzten beiden Ressorts
auch je ein österreichisches und ungarisches Ministerium existierte. In beiden Teilen der
Monarchie war die herrschende Nation (Deutschösterreicher beziehungsweise Magya
ren) in der Minderheit. Man sprach zu Recht von einem »Absolutismus, gemildert durch
Schlamperei«.
F R A N Z JO SE PH Kaiser Franz Joseph I. (1848-1916) wurde - nebst der
Armee, die trotz Königgrätz nichts an Ansehen eingebüßt hatte - gleichsam zum Sym
bol des Systems und zum Zusammenhalt für das zerfallende Staatsgebäude. Seine
Worte (»Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut« bei Protokollbesuchen, »Mir
bleibt nichts erspart« bei Familientragödien) wurden zitiert, Männer, ob Offizier, Por
tier oder Fiakerkutscher, trugen einen Franz-Josephs-Bart, sein Bild hing an den Wän
den des Vaterhauses, der Schule, der Kirche, der Kaserne - und der Gaststätte, wo es
gelegentlich (wie aus Haseks »Schwejk« bekannt) von Fliegen nicht verschont blieb.
Franz Joseph war ein Bürokrat mit Abneigung gegen alles Neue (Telefon, Zug, Wasser
spülung), mit Angst vor Veränderung und mit eiserner Disziplin (Arbeitszeit von 5 bis
23 Uhr), der bei jedem Jubiläum pompös gefeiert wurde. Die Öffentlichkeit beschäftigte
sich eingehend mit dem Schicksal der kaiserlichen Familie, so etwa mit den ausge
fallenen Hobbys (Reiten, Fotosammlung) der ungarnfreundlichen Kaiserin Elisabeth
(Sissy) und mit dem traurigen Ende ihres Sohnes Rudolf (ungeklärter Selbstmord in
Mayerling mit Mary Vetsera 1889). Kaum zwei Jahre nach dem Tod von Franz Joseph
zerfiel der Vielvölkerstaat der Habsburger unter Karl I. (als ungarischer König Karl IV.,
1916-1918).
»FRÖHLICHE APOKALYPSE« Bei aller politischen Paradoxie war in
der untergehenden Habsburgermonarchie eine außerordentliche kulturelle Blüte zu ver
zeichnen. Hermann Broch nannte diese Jahrzehnte die »fröhliche Apokalypse«. Zu die
ser Zeit entstand das heutige Stadtbild von Wien und Budapest; »Kakanien« (Robert
Musil) brachte bedeutende kulturelle Leistungen zustande, so etwa die Psychoanalyse
von Sigmund Freud (Hauptwerk: »Die Traumdeutung«, 1895); die Studie »Geschlecht
und Charakter« Otto Weiningers und die Sprachphilosophie von Ludwig Wittgenstein.
Die Friedenskämpferin Bertha von Suttner wirkte in Österreich. Auf musikalischem
Gebiet war Wien - vor allem mit Johann Strauß Sohn, der »geigte, während die Welt
brannte« - die Wiege der typischen k. u. k.-Gattung Operette, aber auch die Wirkungs
stätte von Anton Bruckner, Gustav Mahler, Anton Webern, Alban Berg und Arnold
Schönberg (Zwölftontechnik), denen eine definitive Rolle in der neueren Musikge
schichte zukommt. Das Theaterwesen erlebte eine Blütezeit. Es wurden von Arthur
Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Karl Kraus und anderen bedeutende literarische
Werke geschaffen; Hans Makart gehörte zu den bedeutendsten Malern. Die Kultur der
untergehenden Monarchie war von den Wechselwirkungen mit anderen Teilen des
Habsburgerstaates geprägt, es gibt - von den Lehnwörtern über Küche, Operette und
Militär bis hin zu der fast normierten Bauweise der Bahnhöfe im ganzen Staatsgebiet -
zahlreiche Parallelen, Ähnlichkeiten und direkte Beziehungen.
13. Deutsches ReichG R Ü N D E R JA H R E Das neugeschaffene Deutsche Reich, das also nicht
durch Volksbeschluß, »von unten«, sondern durch Fürstenvertrag, »von oben«, zustande
kam, war ein Bundesstaat aus 22 Einzelstaaten, in dem das Übergewicht von Preußen
erdrückend war. Reichskanzler des Deutschen Reiches wurde Bismarck. In schneller
Folge hat man nun die noch für die kapitalistische Entwicklung vorhandenen Hemm
nisse beseitigt (Vereinheitlichung von Maßen, Währungen und Gesetzen). Statt des
Freihandels ging Bismarck bald zum Schutzzoll über, der die deutsche Industrie vor
ausländischer Konkurrenz schützen sollte. Es wurden Finanz- und Verwaltungsreformen
durchgeführt. Die wirtschaftlichen Fortschritte wurden durch die nach dem Deutsch-
Französischen Krieg erfolgte Abtretung Elsaß-Lothringens an Deutschland
(Erzbergwerke) und die hohen Reparationszahlungen Frankreichs an Deutschland
(etwa fünf Milliarden Goldmark) begünstigt. Es wurden ab 1870 rasch viele neue Fabri
ken und Anlagen (vor allem in der Schwerindustrie), Aktiengesellschaften und Banken
gegründet (Gründeijahre). Bereits 1873 trat eine erste Überproduktionskrise ein (Grün
derkrach mit Konkursen und Schließungen). Dessen ungeachtet war Deutschland be
reits einer der wirtschaftlich stärksten Staaten der Welt.
TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE ENTW ICKLUNG Im zwei
ten Drittel des 19. Jahrhunderts beendete sich die erste Etappe der industriellen Re
volution. Die Dampfmaschine war weit verbreitet, in der Schwerindustrie entstanden -
vor allem dank dem Bessemer- und dem Siemens-Martin-Verfahren zur Stahlher
stellung - wichtige neue Industriezweige. Die Errichtung von Großbetrieben begann
(zum Beispiel Waffenfabrik Krupp in Essen; die Badische Anilin- und Sodafabrik -
BASF - in Ludwigshafen; mehrere Farbenfabriken, aus denen in den zwanziger Jahren
des 20. Jahrhunderts der Chemiekonzem IG Farbenindustrie AG entstand), das Ver
kehrsnetz wurde ständig ausgebaut, Banken waren den Industriellen bei Investitionen
behilflich. Auch die landwirtschaftliche Produktion machte große Fortschritte, nicht zu
letzt dank der Einführung des Dampfpflugs und der von Justus Liebig erfundenen
künstlichen Düngung. Justus Liebig legte den Grundstein für die chemische Industrie,
aus seiner Schule gingen 42 Nobelpreisträger hervor. Die Entstehung des einheitlichen
deutschen Staates beseitigte nun die letzten Hemmnisse für die Entwicklung der Wirt
schaft. Es bildete sich ein nationaler Markt heraus, dessen Pfeiler die starke Währung,
die Einführung des metrischen Systems und der Markenschutz waren.
ERFIN DU NG EN Auf dem Gebiet der Naturwissenschaften übernahmen die
Deutschen im m e r mehr die führende Rolle in Europa. Der Mathematiker Gauß und die
Physiker Ohm und Möbius leiteten schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts re
volutionäre Veränderungen ein, das Gesetz von der Erhaltung und Umwandlung der
Energie (von Robert Meyer erkannt und von Helmholtz formuliert) und die von Bunsen
und Kirchhoff erfundene Spektralanalyse eröffneten neue Dimensionen für die For
schung. Zahlreiche Forschungsergebnisse konnten unmittelbar in die Praxis umgesetzt
werden. Carl Zeiss und Ernst Abbe gründeten in Jena eine Hochburg der optischen In
dustrie, Siemens deckte Möglichkeiten der praktischen Einsetzung der Dynamoma
schine auf und konstruierte eine Elektrolokomotive. Im Jahre 1885 stellte Carl Benz in
Mannheim das erste Automobil fahrbereit, das - dank dem Otto-Motor (1876), dem
Diesel-Motor (1897) und anderen Erfindungen - immer effektiver wurde. Der Mensch
hob sich sogar in die Luft, Otto Lilienthal führte vielversprechende Experimente mit
selbstgebauten Flügelapparaten durch, Graf Zeppelin präsentierte 1900 ein lenkbares
Luftschiff, und Hugo Junkers führte (kaum einige Jahre nach dem Flug der Gebrüder
Wright) die Ganzmetallbauweise für Flugzeuge ein.
RÖNTGEN & CO. Es wirkten in dieser Epoche große Mediziner, wie der
Sozialhygieniker Rudolf Virchow, der Entdecker des Tuberkelbazillus Robert Koch,
F.mil Behring, der das Heilserum gegen Diphtherie und Wundstarrkrampf erfand, der
Begründer der modernen Chemotherapie Paul Ehrlich und nicht zuletzt der erste No
belpreisträger für Physik, der Würzburger Professor Conrad Röntgen, aus dessen Na
men im Laufe der Zeit sogar ein Verb gebildet wurde: röntgen, röntgte, hat geröntgt.
Die Technik hielt Einzug ins Privathaus; durch Elektrizität, Nähmaschine, Bügeleisen,
Telefon veränderten sich die Lebensgewohnheiten der Menschen grundsätzlich.
K U LT U R K A M PF Bismarcks Innenpolitik ermöglichte den Bürgern keine
verantwortliche Mitarbeit am Staat. Sie sollten nach der preußischen Tradition dienen
und verdienen und wurden von der Obrigkeit mit »Zuckerbrot und Peitsche« behandelt.
Die Regierung war bemüht, Änderungen nur von oben zu vollziehen, ging dafür umso
härter gegen jede oppositionelle Bewegung vor, die gleich als reichsfeindlich eingestuft
wurde. Zur Einschränkung der Macht des Katholizismus und seiner Zentrumspartei in
szenierte Bismarck in der ersten Hälfte der siebziger Jahre den sogenannten
»Kulturkampf«. Es sollten von der Kanzel keine Angriffe gegen den Staat erlaubt wer
den, der Jesuitenorden wurde verboten, die Schulaufsicht ging von der Kirche auf den
Staat über, es wurde ein Gesetz über die alleinige Gültigkeit der Zivilehe verabschiedet.
Der Versuch, den Einfluß des politischen Katholizismus zu vermindern, war jedoch
kaum von Erfolg gekrönt, ebenso wie von der zweiten Hälfte der siebziger Jahre an die
Bemühung, die Arbeiterbewegung zu unterdrücken.
LASS ALLE AN E R UND EISENACHER Der wirtschaftliche Auf
schwung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begünstigte die Entstehung von
Arbeiterbildungsvereinen, die jedoch keine politischen Ziele verfolgten. Der 1863 von
Ferdinand Lassalle gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein lehnte beispiels
weise den Klassenkampf und die Revolution ab, wollte mit Produktivgenossenschaften
der Arbeiter in den Sozialismus hinüberwachsen, lehnte die Bauern - »reaktionäre
Masse« - als Bündnispartner ab. Als eine Gegenbewegung entstand unter dem Einfluß
von Karl Marx (1867: »Das Kapital«), Friedrich Engels und der Ersten Internationale
1869 in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands (Führer: Wil
helm Liebknecht und August Bebel). 1875 schlossen sich auf dem Vereinigungskongreß
in Gotha die Lassalleaner und die Eisenacher zur Sozialistischen Arbeiterpartei
Deutschlands zusammen.
SO ZIA L IST E N G E SE T Z Mit dem 1878 beschlossenen Sozialistengesetz
versuchte nun Bismarck, der erstarkten Arbeiterbewegung Paroli zu bieten. Die Ar
beiter sollten durch eine umfassende und in vielerlei Hinsicht vorbildliche Sozial
versicherung (Unfalls-, Alters-, Krankheits- und Invaliditätsversicherung) an den Staat
gebunden und von der politischen Aktivität abgehalten werden. Die sozialistische Par
tei, Gewerkschaften, Vereine, Versammlungen und die Herausgabe von
Druckerzeugnissen wurden verboten. Aber die Arbeiter vereinigten sich in illegalen
oder durch andere Namen getarnten Organisationen, der Widerstand gegen das Gesetz
wuchs, in den Reichstag wurden sogar mehr sozialdemokratische (Einzel-) Abgeordnete
als zuvor gewählt. Das Sozialistengesetz war zum Scheitern verurteilt. Bald nachdem die
Partei 1890 unter dem heute noch geführten Namen Sozialdemokratische Partei
Deutschlands wiedergegründet worden war, fing allerdings der Kampf zwischen den
Richtungen Revisionismus, Zentrismus, Linke an.
BISMARCKS AUSSENPOLITTK Im klaren Gegensatz zu der um
strittenen und nur teilweise erfolgreichen Innenpolitik Bismarcks stehen seine konse
quenten und weitsichtigen Bemühungen um die Bewahrung des in Europa nach 1871
entstandenen Status quo. Er wußte, daß für das Deutsche Reich jede Machtver
schiebung gefährlich werden konnte, versuchte daher vor allem Frankreich von sämtli
chen potentiellen Bündnispartnern femzuhalten. Das Ausbalancieren der Gegensätze
gelang ihm m it einem komplizierten, stets neue Akzente erhaltenden europäischen
Bündnissystem, dessen wichtigste Pfeiler der Berliner Kongreß (1878), der Zweibund
mit Österreich-Ungarn (1879), das Dreikaiserbündnis (1881), der Dreibund unter Ein
beziehung Italiens (1882) und der Rückversicherungsvertrag mit Rußland (1887) waren.
Expansive Bestrebungen Deutschlands ließ der Reichskanzler nur außerhalb Europas
gelten (erste deutsche Kolonien in Afrika in den achtziger Jahren), und nur sofern sie
nicht mit Gefahren für das europäische Gleichgewicht verbunden waren.
GROSSE STILISTEN Während die deutsche Literatur in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts ziemlich blaß ist, melden sich Männer mit überragendem Stilgefühl
auf benachbarten Gebieten. Der Autodidakt Heinrich Schliemann berichtet über seine
Abenteuer mit der antiken Welt, Alfred Brehm erzählt spannend über die Geheimnisse
der Tierwelt, Karl May über die Welt der Indianer, wo Freiheit und Toleranz herrschen,
Wilhelm Busch verknüpft witzige Zeichnungen mit nicht weniger witzigen Reimereien
(»Max und Moritz«). Große Stilkünstler waren auch der Philosoph des Weltschmerzes
Arthur Schopenhauer [1788-1860] (Hauptwerk: »Die Welt als Wille und Vorstellung«,
1819) und Friedrich Nietzsche [1844-1900], dessen Bedeutung darin liegt, daß er alle
bisherigen Werte umwertete. Grundbegriffe seiner Philosophie sind »der Tod Gottes«,
das heißt die Begründung aller Werte im Menschen und der Verantwortung für das ei
gene Leben, »der Wille zur Macht«, das ständige Selbstübertreffen, und »der Über
mensch«, das heißt derjenige, der die Aufgabe dieses ständigen Selbstübertreffens auf
sich nim m t Nietzsche ist, obwohl seine Lehren schwer mißbraucht wurden, vor allem
mit seinem Hauptwerk »Also sprach Zarathustra« (1883 — 1885) eine der Schlüssel
figuren des modernen europäischen Denkens.
W AGNER Der überragende, wenn auch recht umstrittene Musiker der Zeit
war Richard Wagner [1813-1883]. Die Oper war, so meinte er, so entwürdfgt worden,
daß sie einen neuen Stil brauchte, um neue, tiefe Gedanken zu vermitteln. Wagner
schrieb nun nicht nur die Musik, sondern auch den Text zu seinen Opern, die er Musik
dramen nannte, sie sollten philosophische, religiöse Gedanken vermitteln, ein
Gesamtkunstwerk darstellen. Durch die Werke führt den Zuschauer jeweils ein Leit
motiv, das die Situationen und die Helden erkennen läßt und am Höhepunkt der
Handlung verschwindet. Die Stoffe entnahm Wagner (ähnlich wie die Romantiker) mit
Vorliebe der germanischen Vergangenheit. Seine bekanntesten Werke sind »Der Flie
gende Holländer«, »Tannhäuser«, »Lohengrin«, »Tristan und Isolde« sowie die Tetralo
gie »Der Ring des Nibelungen« (»Rheingold«, »Walküre«, »Siegfried« und
»Götterdämmerung«), In Bayreuth ließ Wagner (unterstützt von Bayemkönig Ludwig
ü.) ein Festspielhaus zur Inszenierung seiner Musikdramen errichten; die jährlichen
Festspiele, die Wagners Nachfahren immer noch in den Händen halten, locken Tau
sende in die sonst langweilige Stadt.
G R O SSSTA D T Die mittelalterliche Parole »Stadtluft macht frei« schien um
die Jahrhundertwende eine neuartige Gültigkeit zu erlangen, die Menschen zogen mas
senweise in die Städte (Landflucht). Besonders die Großstädte verzeichneten riesige
Zunahmen. In Wien beispielsweise, das im Jahre 1800 231.050 Einwohner gehabt hatte,
lebten 1890 bereits 1.364.548, 1910 gar 2.030.000 Menschen. Die rapide Urbanisierung
zog selbstverständlich nicht nur positive Folgen nach sich, viele Denker prangerten die
entfremdete, unpersönliche Welt der Metropolen an. Auch sie mußten aber zugeben,
daß im Stadtmilieu Kunst und Literatur gedeihen, Zeitschriften eine zunehmende Be
deutung erlangen und das Verlagswesen blüht. Zu den traditionsreichen alten Verlagen,
die bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Reclam) oder noch früher (Cotta)
gegründet wurden, stießen zu dieser Zeit zahlreiche Neugründungen: Insel, Langen, S.
Fischer, Rowohlt. Der vorzüglich organisierte Buchhandel (»Börsenverein der Deut
schen Buchhändler« seit 1825) spielte international eine führende Rolle, Deutsch wurde
weltweit eine wichtige Bildungssprache. Es vollzog sich mit dem Aussprachewörterbuch
von Theodor Siebs (»Deutsche Bühnensprache«, 1898) und der Arbeit von Konrad Du
den (»Vollständiges orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache«, 1880) auch
in der Sprache die Normsetzung.
N A T U R L IE B E Um die Jahrhundertwende verschärfte sich der Kampf um
die Gleichberechtigung der Frauen. Sie gründeten Vereine, setzten sich für das Wahl
recht und für die Einführung des Frauenstudiums ein. Die konventionellen moralischen
Vorschriften lockerten sich, die Jugend tat, vom Radfahren angefangen, alles, was sich
für eine Frau eigentlich nicht gehörte. Der Sinn für die Natur erwachte wieder, die tra
ditionelle Vorliebe der Deutschen für das Wandern (»Das Wandern ist des Müllers
Lust«) kulminierte. Junge Menschen schlossen sich in der Selbsterziehungsbewegung
der »Wandervögel« zusammen.
NATURALISMUS In der Kunstszene dominierte zwischen 1880 und 1900
der vor allem auf der wissenschaftlichen Richtung des Positivismus und der Vererbungs
lehre Mendels basierende Naturalismus, dessen größter Vertreter in Frankreich fimile
Zola war. Die Poetik dieser Kunstrichtung verlangte absolute Objektivität bei der
Darstellung. »Die Kunst hat die Tendenz, weder die Natur zu sein«, sagte Arno Holz.
Der Dichter soll die Welt, das Milieu mit der Genauigkeit und der Kälte eines Wissen
schaftlers darstellen, photographieren. Die dargestellten Menschen kommen meist aus
der untersten sozialen Schicht, es sind Proletarier, Elende, die an ihre Situation gebun
den sind, die keine Hoffnung haben, sich davon zu befreien. Oft sind sie nur Typen,
Symbole für das Milieu, zu dem sie gehören. Der Naturalismus wurde in erster Linie in
der Literatur angewandt, zum Beispiel in den Dramen Gerhart Hauptmanns (»Vor
Sonnenaufgang«, »Der Biberpelz«) und in der Lyrik von Amo Holz.
JU G E N D ST IL Die vielleicht wichtigste Gegenströmung des Naturalismus war
der Jugendstil, der in Österreich »Sezession«, in Frankreich »Art Nouveau« hieß. Seine
Vertreter bevorzugten gegenüber der industriellen Massenherstellung von Waren die
handwerkliche Produktion, das Dekorative, eine Stilisierung der Zeichnung, die sich mit
Eleganz und Leichte entwickelt, neue Farben, die mit Nuancierungen sowie mit Gold
und Silber arbeiten. Die Gegenstände sollten einen persönlichen, dem Menschen und
seiner Umgebung nicht entfremdeten Charakter tragen. In der Architektur spielte das
Schmiedeeisen eine wichtige dekorative Rolle (Wendeltreppen und Geländer), und
auch die Goldschmiedekunst erlebte eine Blüte. Kostbare Buchausgaben trugen die ele
ganten, blumenartigen Dekorationen; die Gebrauchsgraphik (zum Beispiel Plakate, Ti
telblätter von Büchern) wurde aufgewertet. Zu den bedeutendsten Jugendstilmalera
zählen Gustav Klimt (»Der Kuß«) und Heinrich Vogeler; in der Baukunst ist haupt
sächlich der Wiener Otto Wagner zu nennen. In Deutschland lag die Hauptwirkungs
stätte des belgischen Innenarchitekten Henry van de Velde.
K U N ST R IC H T U N G E N Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhundert blühten
auch diverse weitere Kunstrichtungen auf. In der Neuromantik wurde die Phantasie und
das Übersinnliche betont und ein Schönheitskult gepflegt. Der Impressionismus baute
auf optische Eindrücke von der Oberfläche der Dinge, auf hinreißende Farbigkeit, auf
flirrendes Licht. Der Symbolismus (wichtigste Maler: Anselm Feuerbach, Arnold Böck-
lin) zielte auf Konzentration und versuchte einen hintergründigen Zusammenhang zwi
schen alles Seiendem herzustellen. Vertreter der Heimatkunst, die ihre direkte Fort
setzung in der nationalsozialistischen Blut-und-Boden-Ästhetik fand, verherrlichten
bodenständiges Stammestum und heimatliche Scholle.
• •
14. Wilhelminische AraW ILH ELM II. Der letzte Kaiser des Deutschen Reiches, Wilhelm ü.
(1888-1918), wollte selbst regieren und entließ Bismarck im Jahre 1890. Reden und
Handeln dieses Mannes mit dem aufgezwirbelten Schnurrbart, der sich gern als Volks
kaiser bezeichnete, seine regressive Innenpolitik, sein Übergang zur »Weltpolitik« ent
sprachen genau den Vorstellungen des immer hungriger werdenden, die Neuaufteilung
der Welt fordernden deutschen Imperialismus. Im Zeichen der Parole »Platz an der
Sonne« begnügte man sich nicht mit dem bisher eroberten Kolonialbesitz, sondern
strebte offen Rohstoffquellen und Absatzmärkte an, die bereits von anderen Mächten
(vor allem Frankreich und England) in Besitz genommen worden waren. Zur theo
retischen Begründung dieser Forderungen trugen neben Schulen, Hochschulen (immer
reaktionärer werdende Studentenverbindungen) und Presse ideologisch gefärbte Or
ganisationen (Deutsche Kolonialgesellschaft, Deutscher Flottenverein und so weiter)
bei, Kinder »aus gutem Hause« trugen von der Zeit an Matrosenkleidung. Den Deut
schen wurde ein Sendungsbewußtsein propagiert: Ihr Volk sei besser als die anderen
und solle seine Lebensform in der Welt verbreiten.
M ILITA RISM U S Der Militarismus, ohnehin große Traditionen in Preußen
und anderen deutschen Staaten aufweisend, griff immer mehr um sich. In fast jeder Le
benslage herrschte der militärische Ton vor. Ausländer berichteten über die soldatische
Haltung der Briefträger und selbst der Straßenarbeiter in Berlin, man erzählte, daß die
Polizei Aufständische auf den Wegen eines Parks abfing, weil diesen nicht einfiel, quer
über die Rasenfläche zu fliehen. Es war die Parodie des deutschen Kaiserreiches, als
1906 ein vorbestrafter Schuhmacher sich als Hauptmann verkleidete und auf der Straße
einige Soldaten anhielt, mit ihnen ins Rathaus von Köpenick (Vorort von Berlin) mar
schierte und sich die Stadtkasse aushändigen ließ (»Der Hauptmann von Köpenick«).
M Ä C H T E G R U P P IE R U N G E N Die Angst Bismarcks vor einem Zweifron
tenkrieg beeinflußte die Lenker der deutschen Außenpolitik der neunziger Jahre nicht.
Obwohl Rußland bereits 1892 eine Militärkonvention, 1894 ein förmliches Bündnis mit
Frankreich schloß, wurde in Berlin behauptet, die Annäherung sei nicht gefährlich für
Deutschland, solange sich England den beiden Staaten, mit denen es erhebliche
Kolonialstreitigkeiten hatte, nicht anschließe. Als England jedoch während des Bu
renkrieges (1899-1902) vergeblich versucht hatte, ein Bündnis mit Deutschland abzu
schließen, begann es mit Frankreich zu verhandeln. Im Jahre 1904 entstand die Entente
cordiale, die die streitigen Fragen zwischen den beiden Ländern regelte. 1907 wurde das
Bündnis mit dem Beitritt Rußlands (trotz seiner unverändert bestehenden Gegensätze
mit England) zur Triple-Entente erweitert. Dieser großen Mächtegruppierung stand der
1882 gegründete Dreibund mit Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien gegenüber,
wobei Italien nur noch formell zum Bund gehörte, schloß es doch beispielsweise bereits
1902 einen Rückversicherungsvertrag mit Frankreich.
K Ä M PFE U M D IE N E U A U F T E IL U N G D E R W ELT Von der Jahr
hundertwende an wurden mehrere kleine Kriege zur Neuaufteilung der Welt ausgetra
gen, die Spannungen zwischen den Großmächten verschärften sich. Deutschland ero
berte neue Kolonien in Afrika, unterdrückte den Herero- und Hottentottenaufstand
(1904-1907), versuchte mit Erfolg im Fernen Osten Fuß zu fassen (Kolonien in Phina
1897, Strafexpedition gegen den Boxeraufctand 1900). Die Hauptrichtung der deutschen
Expansion dieser Jahre war der Nahe Osten. Die Türkei wurde durch den Bau der 5000
km langen Bagdadbahn zur deutschen Halbkolonie, was vor allem Englands Interessen
empfindlich berührte. Österreich aktivierte sich auf dem Balkan, was nicht selten Inter
essen Rußlands verletzte. Die Gegensätze zwischen Deutschland und Frankreich spitz
ten sich 1905 und 1911 in den beiden Marokkokrisen zu, wo es um den Einfluß im erz
reichen Sultanat ging. Deutschland setzte die Aufrüstung in einem atemberaubenden
Tempo fort (seine Ausgaben für Armee und Flotte stiegen von 938 Millionen Mark im
Jahre 1905 auf 3244 Millionen im Jahre 1914), die anderen Großmächte zogen mit.
Zum Weltenbrand war nur noch ein Funke nötig.
SARAJEW O UND D IE FOLGEN Am 28. Juni 1914 wurde in Sarajewo,
der Hauptstadt des von der Monarchie annektierten Bosnien, der österreichisch-unga
rische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand ermordet Die blutige Tat, die offen
sichtlich vom benachbarten Serbien aus gelenkt wurde, bildete für Österreich-Ungarn
den Anlaß zur Ausschaltung Serbiens als politischem Machtfaktor auf dem Balkan. Kai
ser Franz Joseph gewann für das Vorgehen gegen den serbischen Staat die volle Unter
stützung Deutschlands. Am 23. Juli stellte er ein scharfes Ultimatum an Serbien, das auf
fast alle Forderungen einging, nur die Teilnahme österreichischer Beamter an den Un
tersuchungen ablehnte, die einen Eingriff in seine Souveränitätsrechte bedeutet hätte.
Daraufhin erklärte Franz Joseph, nachdem er - wie er sagte - »alles reiflich erwogen«
hatte, am 28. Juli 1914 Serbien den Krieg. Das mit Serbien verbündete Rußland antwor
tete mit der sofortigen Generalmobilmachung, die vom Deutschen Reich als Zustand
drohender Kriegsgefahr aufgefaßt wurde. Am 1. August 1914 folgte die deutsche
Kriegserklärung an Rußland, und am 3. August, mit nie stattgefundenen Grenz
verletzungen und Bombenwürfen auf deutsche Eisenbahnen begründet, die an
Frankreich. Innerhalb weniger Wochen standen die Länder der beiden Bündnisse in
Waffen.
KEIN BLITZKRIEG Der schon lange vorbereitete Kriegsplan der Deut
schen, der Schlieffenplan (nach Generalstabschef Alfred Schlieffen) sah vor, daß im
Falle eines Zweifrontenkrieges zunächst durch Umklammerung seines Festungsgürtels
Frankreich besiegt wird. An der Ostfront sollte Deutschland solange in der Defensive
bleiben. Am 4. August 1914 marschierten deutsche Truppen ohne Kriegserklärung in
Belgien ein, das sie in wenigen Tagen überrannten. (»Das Unrecht, das wir damit tun,
werden wir wiedergutmachen, sobald unser militärisches Ziel erreicht ist«, sagte der
deutsche Kanzler Bethmann Hollweg im Reichstag.) Anfang September standen sie
schon an der Marne, wenige Kilometer vor Paris. In der Mameschlacht (8.-9. September
1914) wurde der deutsche Vormarsch von Franzosen und Engländern gestoppt
(England erklärte Deutschland nach dessen Einbruch in Belgien den Krieg.) Die Fron
ten versteiften sich, es begann ein Stellungskrieg mit blutigen Materialschlachten, in
denen Hunderttausende von Menschen ihr Leben verloren. Das war das Scheitern der
deutschen Blitzkriegsstrategie.
»WENN DIE BLÄTTER FALLEN« In Deutschland und Österreich
(Mittelmächte) herrschte anfangs eine blinde Kriegsbegeisterung. »Serbien muß ster-
bien«, rief man auf Wiens Straßen, und Wilhelm ü. verabschiedete im August 1914 die
ersten deutschen Soldaten, die an die Front zogen, mit dem Satz »Ihr seid wieder da
heim, wenn die Blätter fallen«. Man sprach von einem gerechten Verteidigungskrieg.
Die bei Kriegsausbruch geforderten Kredite wurden im Reichstag bewilligt (einzig Karl
Liebknecht stimmte dagegen); der deutsche Kaiser quittierte den »Burgfrieden« und die
Loyalität der ihm bis dahin recht unangenehmen Sozialdemokraten mit dem berühmten
Ausspruch »Ich keime keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche«.
NEUE KRIEGSSCHAUPLÄTZE An der Ostfront konnte das deutsche
Heer die zaristischen Truppen (wie man damals sagte, die russische Dampfwalze) auf
halten. Doch weder der Sieg bei Tannenberg (August 1914) noch der an den Masuri
schen Seen (September 1914) noch andere kleine Erfolge führten zur erhofften Beendi
gung des Kriegs im Osten. Es entstanden sogar neue Kriegsschauplätze. Im Mai 1915
griff Italien in der H o ffnung auf große Landgewinne auf Seiten der Entente in den Krieg
ein. Wiederholte heftige Schlachten an der Isonzofront brachten jedoch keine endgül
tige Entscheidung. Auch Rumänien erklärte den ehemaligen Verbündeten Österreich-
Ungarn und Deutschland den Krieg. Es konnte im Herbst 1916 durch eine überra
schende Offensive geschlagen werden. Bereits im August 1914 weitete sich der europäi
sche Krieg durch Japans Kriegserklärung an Deutschland zum Weltkrieg aus. Die
Kämpfe griffen schon im ersten Kriegsjahr auf den Nahen Osten und Afrika über, wo
Franzosen und Engländer die deutschen Kolonien zu besetzen suchten.
VERELENDUNG Deutschland und Österreich-Ungarn mußten ab 1916 zur
Verteidigung übergehen. Die anfängliche technische Überlegenheit, der Überra
schungseffekt einzelner Manöver konnte nicht viel einbringen. Die unerhörten Ausmaße
der Kämpfe nahmen die ganze Wirtschaft der kriegführendes Mächte in Anspruch, und
darauf waren die Mittelmächte nicht entsprechend vorbereitet Die Vorräte waren er
schöpft. Der außerordentlich strenge Winter 1916-1917 brachte einen Tiefpunkt der
Emährungslage. Statt Kartoffeln, der traditionellen Grundlage der deutschen Küche,
mußte man infolge der Mißernte sogar Rüben essen, die bis dahin als Viehfutter ver
wendet worden waren (Rübenwinter). Während eine Verelendung breiter Bevölke
rungsschichten vor sich ging, blühten Schwarzhandel und Spekulation auf. Feldmarschall
Paul Hindenburg, der mächtigste und einflußreichste Mann an der Spitze der obersten
Heeresleitung, erklärte trotzdem, der Krieg bekomme ihm wie eine Badekur. Die Wirt
schaft wurde ganz auf die Kriegsführung umgestellt
VOM U-BOOT-KRIEG ZUR KAPITULATION Zur schnellen
Herbeiführung der militärischen Entscheidung glaubten nun die Deutschen ein be
sonders radikales Mittel einsetzen zu müssen, den uneingeschränkten U-Boot-Krieg.
Am 1. Februar 1917 gab Deutschland bekannt, es werde in den zum Sperrgebiet er
klärten Gewässern alle feindlichen und neutralen Schiffe ohne Warnung versenken. Die
erwartete Folge, die Niederlage Englands innerhalb weniger Monate, trat indessen nicht
ein, dafür erklärten die Vereinigten Staaten gerade mit Berufung auf den U-Boot-Krieg
am 6. April 1917 Deutschland den Krieg. Mit dem Kriegseintritt der USA verstärkte
sich die Überlegenheit der Alliierten immer mehr, doch General Ludendorff (der an
dere mächtige Kriegsführer neben Hindenburg) bestand in völliger Verkennung der
Lage noch fast ein Jahr lang auf einem »Siegfrieden«. Nach dem Austritt Rußlands aus
dem Krieg, der im März 1918 im Frieden von Brest-Litowsk besiegelt wurde, versuchten
die Mittelmächte in einer Frühjahrsoffensive die verfestigten Fronten im Westen zu
durchbrochen, doch scheiterten die deutschen Truppen bei Reims (April 1918) und die
österreichisch-ungarischen an der Piave (Juni 1918). Die im Juli 1918 gestartete
Gegenoffensive der Entente, nun auch schon von Amerika tatkräftig unterstützt, brachte
den Mittelmächten verheerende Niederlagen, von denen sie sich nicht wieder erholen
konnten. Deutschland und die österreichisch-ungarische Monarchie kapitulierten An
fang November 1918.
EXPRESSIONISM US Eine itypiseh deutsche Stilrichtung ist der von der
Wilhelminischen Ära bis in die zwanziger Jahre blühende Expressionismus, der oft<er-
ütresa-subjektivistische Ausdruck des eatBchiedenea Protestes gegenjedeOewalt; die den
Menschen in seiner Natürlichkeit gefährden könnte. In der teldondeg Kunst sind vor
allem die espressionistisehe Künstlergruppe »Der Staue Reiter« in München, deren
wichtigste Gestalten der Russe WassilyKandinsky und der ScbweizerPäul Klefc waren,
sowie der norddeutsche Maler F.mtl Nolde und der Bildhauer Einst Barlach
(ausdrucksstarke Plastiken, zum Beispiel »Der Flüchtling<<) zu erwähnen. AuffaUend an
den expressionistischen Gemälden ist die starke ReduzierungderFonnen, ihre Verein-
Hebung zu einem geometrischen Gesamtbild, das oft ^beunruhigend aggressiv wirkt
(ähnlich wie Schönbergs Musik). Ferner hat vor allem ütoLiteratur wesentücheexpres-
«onistische- IseistuBgen hervorgebracht (Benn, Werfel; Anthologie
»Menschheitsdämmerung«); einige - wie Kokoschka und Barlach - leisteten sowohl in
der WWeHdeaüaiBSi als auch iaderLüeratur Nennenswertes.
15. Weimarer RepublikN O V E M B E R R E V O L U T IO N Schon im Laufe des Krieges hatten sich in
Deutschland zahlreiche Zeichen der Unruhe und der Unzufriedenheit des Volks ge
zeigt. Anfang November 1918 weigerten sich Matrosen der Kieler Flotte, in der letzten
Minute des Krieges in eine sinnlose Seeschlacht auszulaufen, und nahmen Verbindung
zu den Werftarbeitern auf. Die Revolution breitete sich nach Süden und vor allem in die
Großstädte aus. Es bildeten sich Arbeiter- und Soldatenräte. In Berlin erzwang man am
9. November 1918 in riesigen Demonstrationen den Rücktritt der Regierung. Der Kai
ser räumte widerstandslos den Thron und floh verkleidet nach Holland, es wurde die
freie sozialistische Republik ausgerufen. Bald kam es zu Straßenkampfen, wobei sich die
Regierung auf Freikorps stützte, die von Offizieren der alten kaiserlichen Armee ange
worben und befehligt wurden (Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg).
Die Aufständischen unterlagen sowohl in Berlin als auch in den übrigen revolutionären
Zentren Bremen, Ruhrgebiet, Mitteldeutschland und Bayern (Münchener Räterepublik
nach dem Beispiel der ungarischen Räterepublik).
W EIM ARER REPUBLIK Im Januar 1919 wurden Wahlen zur
Nationalversammlung durchgeführt. Die Nationalversammlung rief eine Republik aus,
die nach dem Tagungsort Weimarer Republik genannt wurde. Die Wahl der Stadt sollte
eine Absage an den militärischen Geist von Potsdam und zugleich ein Bekenntnis zur
Tradition der Weimarer Klassik ausdrücken, war aber auch ein Zeichen der Furcht vor
der unsicheren Lage in Berlin. Zum Präsidenten wählte die Nationalversammlung den
Sozialdemokraten Friedrich Ebert. (Seinen Namen trägt heute die SPD-nahe Friedrich-
Ebert-Stiftung.)
FR IE D E N S V E R T R A G Neben der Verfassung, die im August 1919 in Kraft
trat, bestimmte der am 28. Juni 1919 im Spiegelsaal des Schlosses Versailles Unter
zeichnete Friedensvertrag das Schicksal der Deutschen. Die Friedensbedingungen wa
ren äußerst hart Deutschland hatte große Gebiete (darunter Elsaß-Lothringen und
sämtliche Kolonien) abzutreten, eine weitgehende Demilitarisierung durchzuführen (die
Wehrmacht war auf ein Berufsheer von 100.000 Mann beschränkt schwere Waffen wur
den verboten), verschiedene finanzielle und wirtschaftliche Bestimmungen in Kauf zu
nehmen und vor allem erhebliche Reparationen zu zahlen, deren Gesamthöhe nach
träglich berechnet werden sollte. Berechtigten Widerspruch fand die Behauptung der
Alleinschuld Deutschlands und seiner Verbündeten am Ausbruch des Krieges.
REVOLUTIONÄRE NACHKRIEGSPERIODE Anfangs konnte sich
die Regierung nur schwer behaupten. Im März 1920 besetzten putschende Freikorps un
ter General Kapp Berlin; der Präsident und die Regierung mußten fliehen. Kapp ge
bärdete sich einige Tage als Staatsoberhaupt Er scheiterte am einmütigen Gene
ralstreik der Berliner. Die zurückgekehrte Regierung ließ jedoch auch die Arbeiter ent
waffnen, die neu entstandenen Räte auflösen und sandte Truppen gegen Aufständische
im Ruhrgebiet in Thüringen und in Sachsen. Vor allem auf Initiative von Außenmini
ster Walther Rathenau schloß Deutschland 1922 in Rapallo einen Vertrag mit
Sowjetrußland. Deutschland erkannte als erster westlicher Staat die sowjetische Regie
rung an und schloß mit ihr einen Friedensvertrag. Sowjetrußland verzichtete auf alle
Kriegsentschädigungen. Für den Handel zwischen den beiden Staaten sollte das Prinzip
der Meistbegünstigung gelten. Rathenau, das Modell zu Araheim in Robert Musils »Der
Mann ohne Eigenschaften«, fiel noch in demselben Jahr dem Mordanschlag
rechtsradikaler, antisemitischer Jugendlicher zum Opfer.
KRISENJAHR 1923 Das Jahr 1923 war der Gipfel der innenpolitischen
Krise. Die Nichterfüllung einiger Reparationsforderungen durch Deutschland nahm
Frankreich zum Anlaß, das Ruhrgebiet zu besetzen. Die Regierung rief zum passiven
Widerstand auf, Arbeiter antworteten mit Demonstrationen und Streiks. Die
Geldentwertung, die schon während des ersten Weltkrieges eingesetzt hatte, erreichte
1923 mit der Inflation katastrophale Ausmaße und vergrößerte die sozialen Gegensätze
erheblich. Die Dollamotierung, die im Juli 1914 4,20 Mark, im Januar 1921 64,90, im
Januar 1923 17.972 war, kletterte am 15. November 1923 auf 4.200.000.000.000 Mark.
An diesem Tag wurde die neue Währung, die Reichsmark, eingeführt. In Sachsen und
Thüringen kam es zu kommunistischen Unruhen, und in München unternahm die
Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) unter Adolf Hitler einen
Putschversuch.
RELATIVE STABILISIERUNG Nach der revolutionären Nachkriegsperi-
ode 1919-1923 setzte eine relative Stabilisierungsphase in Deutschland ein. Der
Lebensstandard stieg, eine effiziente Sozialpolitik wurde verwirklicht. Ausländische
Kapitalanleihen, vor allem aus den USA, sowie die neue Festlegung niedrigerer Repara
tionszahlungen stimulierten die Wirtschaft, in der durch die Entstehung neuer mächtiger
Konzerne wieder eine Konzentration eintrat. Auch in politischer Hinsicht wurde
Deutschland in den zwanziger Jahren salonfähig. Es wurde in den Völkerbund
(Vorgänger der UNO, Sitz in Genf) aufgenommen. Im Locarnopakt 1925 verpflichteten
es sich gemeinsam mit Frankreich und Belgien, keinen Krieg gegeneinander zu führen.
Deutschland erkannte die Rückgabe Elsaß-Lothringens an, dafür wurde ihm von Eng
land und Italien die Unverletzlichkeit seiner Westgrenze garantiert. Nicht in den Ver
trag einbezogen war die deutsch-polnische Grenze, was zeigt, in welche Richtung wieder
entstehende deutsche Expansionsbestrebungen gelenkt werden sollten. Die aggressiven
Kreise des Monopolkapitals traten ja immer stärker für eine Wiederaufrüstung und ge
gen die Beschränkung der Reichswehr durch den Versailler Vertrag auf etwa 100.000
Mann ein, das wurde besonders in der Aktion für den Bau von Panzerkreuzern deutlich.
WELTWIRTSCHAFTSKRISE Der Ausbruch der Weltwirtschaftskrise im
Spätherbst 1929 setzte der Zeit der relativen Stabilisierung ein plötzliches Ende. Der
schnelle Aufschwung der Produktion führte zur Übersättigung des Marktes. 1932 wur
den nur noch 25 Prozent der Produktionskapazität genutzt, der Rückgang der Produk
tion erforderte die Stillegung von Betrieben, die Zahl der Arbeitslosen stieg bis über
sechs Millionen (fast die Hälfte der arbeitsfähigen Bevölkerung). In den Krisenjahren
verstärkte sich der Masseneinfluß radikaler politischer Auffassungen. Die faschistische
Bewegung knüpfte an die bestehenden sozialen und nationalen Forderungen des Volkes
an, verkündete einen Ausweg aus der deutschen Misere und versprach allen alles, einen
hohen Lebensstandard, die Verstaatlichung von Monopolen, die Beseitigung des Ver
sailler Vertrages und so weiter. Damit fand sie vor allem bei den politisch ungebildeten
Schichten viel Zuspruch.
BERLIN ALS KULTURHAUPTSTADT Auf kulturellem Gebiet erwie
sen sich die knapp anderthalb Jahrzehnte der Weimarer Republik als sehr fruchtbar.
Berlin trat als Kulturhauptstadt europäischen Ranges neben Paris und London. Vor ed
lem auf dem Gebiet des Theaters gab es große Leistungen. Max Reinhardt, der 1917
(zusammen mit Hugo von Hofmannsthal, Richard Strauss und anderen) die Salzburger
Festspiele ins Leben gerufen hatte, gewann nun mit seinen revueartigen Aufführungen
auf Berliner Bühnen weltweiten Ruhm. Freude am Experimentieren zeichnete die In
szenierungen vom Propagandisten des politischen Theaters Erwin Piscator aus. Die er
sten Stücke von Bertolt Brecht wurden aufgeführt, darunter 1928 im Theater am Schiff
bauerdamm (dem späteren Berliner Ensemble) die »Dreigroschenoper« mit Musik von
Kurt Weill. Seit Mitte der zwanziger Jahre wurde das literarische Leben immer mehr
von der »Neuen Sachlichkeit« beherrscht, die im Gegensatz zum spekulativen und ab
strakten Expressionismus die Subjektivität des Autors mit positivistischer Objektivität
verknüpft, eine Wendung zu konkreten Inhalten zeigt und eine Sprache gebraucht, die
eine gewisse Distanzierung von den behandelten Themen herstellt.
MUSIK UND MODE Es gab ein glänzendes Musikleben in Berlin mit Diri
genten wie Otto Klemperer, Wilhelm Furtwängler und Bruno Walter. Die zwanziger
Jahre galten als Blütezeit des deutschen Kabaretts, für das Kurt Tucholsky, Erich Käst
ner, Joachim Ringelnatz und andere Texte verfaßten. (Der größte deutsche Kabarettist
Karl Valentin war allerdings in München tätig.) Tanzsäle und Bars schossen wie Pilze
aus dem Boden, man drehte sich nach den Takten des aufkommenden Jazz. Sogar die
Mode wurde von Berlin aus diktiert. Die Frauenkleider wurden zu einer Röhre mit
einer Öffnung für die Beine, einer kleineren für den Kopf und seitlich zwei kleinen
Röhren für die Arme. Das Jahr 1925 enthüllte erstmalig das Knie. Aber häufig trugen
Frauen auch Hosen. Beliebt war der Bubikopf, mit dem die Frauen so aussehen sollten,
wie ein Junge, der einem Mädchen ähnlich ist
FILM Der deutsche Film, eines der wichtigsten neuen Instrumente der
Beeinflussung der Massen, behauptete sich ausgezeichnet im internationalen Feld.
Schauspieler und Regisseure in den Studios der 1917 gegründeten UFA (Universal Film
Aktiengesellschaft) zogen bei ihren schwarz-weißen Stummfilmen unter dem Einfluß
des Expressionismus überspitzte Ausdrucksmittel vor: hektische, fast hysterische
Bewegungen, aufschreiende Gesichter, grelle Lichteffekte und Kontraste zur Hervorhe
bung der Spannung, betonte Expressivität der Mienen. International anerkannte Regis
seure waren Ernst Lubitsch, Friedrich Wilhelm Murnau (»Der letzte Mann«), Fritz
I .ang (»Metropolis«) und Joseph von Sternberg. Letzterer verfilmte 1930 Heinrich
Manns Roman »Professor Unrat« unter dem Titel »Der blaue Engel« mit Marlene Diet
rich in der Hauptrolle. »Der blaue Engel« war kein Stummfilm mehr, Lola-Lolas ver
führerisches Lied »Ich bin von Kopf bis Fuß auf liebe eingestellt« kennt man heute
noch.
BAUHAUS Von Weimar aus eroberte das Bauhaus die W elt Diese von Wal
ter Gropius begründete Kunstschule verbreitete eine neue Gesinnung, die sich von
Zweckmäßigkeit, Nüchternheit, Sachlichkeit und einer starken sozialen Verantwortung
leiten ließ. Kunst sollte der Auffassung des Bauhauses nach nicht nur für eine elitäre
Gruppe geschaffen werden, sondern im Dienst einer Gemeinschaft stehen. Im Manifest
zur Eröffnung der Schule im Jahre 1919 faßte Gropius seine Prinzipien so zusammen:
»Heute stehen die bildenden Künste in selbstgenügsamer Eigenheit, aus der sie erst
wieder erlöst werden können durch bewußtes Mit- und Ineinanderwirken aller
Werkleute untereinander. [...] Alle müssen zum Handwerk zurück, es gibt keine 'Kunst
von Beruf. Es gibt keinen Wesensunterschied zwischen dem Künstler und dem
Handwerker.« Das Bauhaus, zu dessen Mitarbeitern auch mehrere Ungarn, wie Marcel
Breuer und Läszlö Moholy-Nagy, gehörten, mußte seine Wirkungsstätte 1925 nach Des
sau versetzen, 1933 wurde es von den Nazis aufgelöst. Die Grundsätze des Bauhauses,
vor allem die Verwendung modernen Baumaterials und die zweckmäßige Schlichtheit,
wurden jedoch von fast allen Architekten des 20. Jahrhunderts befolgt.
N A T U R W ISSE N SC H A FT E N Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wa
ren in Deutschland auch auf dem Gebiet der Naturwissenschaften großartige Leistungen
zu vermerken. Zur Manifestierung eines neuen Weltbildes trugen vor allem Max Planck
durch die Entdeckung des elementaren Wirkungsquantums und Albert Einstein durch
die allgemeine Relativitätstheorie bei. Werner Heisenberg und Otto Hahn zählen eben
falls zu den größten Atomphysikem des 20. Jahrhunderts. Die Biochemie erhielt durch
Adolf Butenandt grundlegende Anregungen.
16. Nationalsozialistische DiktaturHITLERS MACHTERGREIFUNG Die Führer des Faschismus waren -
unabhängig von lauten antikapitalistischen Parolen - schon früh eine Bindung mit den
bedeutendsten Schwerindustriellen eingegangen, ja sie hätten ohne deren finanzielle
Unterstützung kaum existieren können. Bei der Reichspräsidentenwahl 1932 siegte wie
der Feldmarschall Hindenburg, der schon seit dem Tod Friedrich Eberts im Jahre 1925
das Amt des Staatsoberhauptes in der Weimarer Republik bekleidet hatte. (Die prophe
tische Wahlparole der KPD lautete: »Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler! Wer Hitler
wählt, wählt den Krieg!«) Die Reichstagswahlen im Juli 1932 brachten der NSDAP auf
grund ihrer Versprechungen bedeutende Stimmgewinne, während eine Neuwahl im No
vember 1932 ihr bereits Verluste zufügte (zwei Millionen Stimmen weniger) und den
steigenden Einfluß der KPD bezeugte (sechs Millionen Stimmen, stärkste kommuni
stische Partei in einem westlichen Land). Daraufhin verlangten maßgebliche Kreise in
der Umgebung des Reichspräsidenten, Adolf Hitler zum Reichskanzler zu ernennen,
und er tat es.
REICHSTAGSBRAND Mit Hitlers Machtantritt am 30. Januar 1933 be
gann das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte. Im Februar, kurz vor den
Parlamentswahlen, zündeten die Faschisten das Reichstagsgebäude in Berlin an. Das
sollte einen Vorwand für die Verfolgung aller antifaschistisch-demokratischen Kräfte
bilden, wurde doch von den Nazis die Brandstiftung ihnen und im besonderen den Kom
munisten unterstellt. Der Reichstagsbrandprozeß (Ende 1933 in Leipzig) entsprach zwar
nicht den Vorstellungen der Nazis, denn dem Hauptangeklagten, dem bulgarischen
Kommunisten Georgi Dimitroff, gelang es, die Faschisten von Anklägern zu Angeklag
ten zu machen und die Hintergründe des Reichstagsbrandes geistreich und mutig zu
entlarven. Doch die Nationalsozialisten errangen bei den Reichstagswahlen bereits die
absolute Mehrheit, es wurden die Gewerkschaften und alle Parteien außer der NSDAP
verboten, die Grundrechte praktisch außer Kraft gesetzt, die Pressefreiheit aufgehoben.
Es Vairi auch zu einer inneren Abrechnung. Im Sommer 1934 wurden potentielle Kon
kurrenten der Gruppe um Hitler, mehrere hundert Personen, wegen angeblicher Betei
ligung am »Röhm-Putsch« ermordet.
VERFO LGU NG D ER JU D EN Es setzten Massenverhaftungen ein,
Konzentrationslager (KZ) wurden eingerichtet, eine Geheime Staatspolizei (Gestapo)
aufgebaut. Terror und Bespitzelung begannen alltäglich zu werdea Die Verfolgung
politischer Gegner und die Unterdrückung der Meinungsfreiheit trieben Tausende aus
dem Tand, es waren die besten deutschen Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler
unter ihnen. Besonderer Verfolgung waren - wie dies in Hitlers Buch »Mein Kampf«
(1925) vorausgesagt worden war - Bürger jüdischer Abstammung ausgesetzt, nach und
nach sollten ihnen alle Menschen- und Bürgerrechte geraubt werdea Bereits ab 1933
rief man zum Boykott gegen jüdische Geschäfte auf, Wissenschaftler und Beamten
wurden entlassen, Künstler durften nicht mehr vor die Öffentlichkeit treten. In den
Nürnberger Gesetzen (1935) wurde den Juden »zum Schutz des deutschen Blutes und
der deutschen Ehre« das Bürgerrecht aberkannt und die Eheschließung mit Nichtjuden
verbotea Nach den Olympischen Spielen, die 1936 in Berlin abgehalten wurden,
verschärften sich die Maßnahmen noch mehr. In der Kristallnacht (9.—10. "November
1938) wurden Synagogen, jüdische Geschäfte und zahlreiche Wohnungen zerstört. Ab
1941 war jeder Bürger jüdischer Abstammung verpflichtet, den gelben Davidsstera an
der Kleidung zu tragen. 1942 begann das Regime mit der »Endlösung der Judenfrage«.
Alle Juden, deren man habhaft werden konnte, wurden in Konzentrationslager
(Auschwitz, Dachau und andere) gebracht und fast ausnahmslos ermordet.
FASCHISTISCHE IDEO LOG IE Durch die Rassentheorie, der zufolge die
Deutschen eine arische Rasse und ein Herrenvolk seien, sollte nicht nur gegen die Ju
den, sondern auch gegen andere, angeblich untergeordnete Rassen und Völker (Slawen,
Zigeuner) gehetzt werden. Man sprach von einer deutschen Volksgemeinschaft, beste
hend aus Führer und Gefolgschaft, zu der übrigens auch die deutschsprachigen Bürger
anderer Länder, zum Beispiel Polens, der Tschechoslowakei und Ungarns gezählt wur
den. Man verbreitete zur Begründung der späteren Eroberungskriege die Theorie von
einem Volk ohne Raum. Hitler erklärte schon am Anfang seiner Herrschaft, daß er das
gesamte Erziehungswesen, Theater, Film, Literatur, Presse, Rundfunk in den Dienst
»einer durchgreifenden moralischen Sanierung des Volkskörpers« stellen wolle. Die
Presse wurde gleichgeschaltet, Schriftstellerorganisationen unterdrückt oder umfunktio
niert, Kritik durch »fördernde Betrachtung« ersetzt, Bücher unbeliebter Autoren ver
brannt und in öffentlichen Bibliotheken verboten, »entartete Kunst« (zum Beispiel Ge
mälde von Emil Nolde) verfemt. Die deutschen Klassiker wurden vereinnahmt, politisch
profilierte Autoren wie Hölderlin, Kleist und Büchner zu präfaschistischen Reprä
sentanten umgewertet. Selbst die deutsche Sprache haben die Nazis schwer mißbraucht,
vgl. dazu das Buch »LTI« von Victor Klemperer über den Sprachgebrauch im Dritten
Reich.
PROPAGANDAKUNST Im Bereich der Propagandakunst erwies sich der
deutsche Faschismus als durchaus originell und schöpferisch. Im Vordergrund stand
stets das Monumentale, Ornamentale, Kultische. Veranstaltungen wurden mit großer
Präzision als Massentheater inszeniert; das wurde besonders deutlich an Reichsparteita
gen (vgl. den Film »Triumph des Willens« von Leni Riefenstahl über den Nürnberger
Parteitag von 1934). Ziel dieser - durch Joseph Goebbels mit äußerstem Einfallsreich-
tnm gelenkten - »Ästhetisierung der Politik« waren die Aufhebung politischer und so
zialer Probleme, das Auslöschen des Individuums und das Schaffen manipulierbarer und
mißbrauchbarer Massen. In Bertolt Brechts »Kriegsfibel« steht unter einem Foto von
Hitler der Vierzeiler: »Das da hätte e inm al fast die Welt regiert. / Die Völker wurden
seiner Herr. Jedoch / Ich wollt, daß ihr nicht schon triumphiert: / Der Schoß ist frucht
bar noch, aus dem es kroch.«
FÜ H R E R UND KANZLER Nach Hindenburgs Tod im Jahre 1934 ver
einigte Hitler die Funktionen des Präsidenten und Ministerpräsidenten und ernannte
sich zum Führer und Kanzler in einer Person. Damit bekam er als Oberster Befehlsha
ber die Wehrmacht in die Hand, die zunächst noch ein gewisses Eigenleben geführt
hatte. Hitler belebte mit Arbeitsbeschaffungs- und Rüstungsprogrammen
(Autobahnbau) die Wirtschaft wieder und senkte die Arbeitslosigkeit schnell. 1934 trat
Deutschland aus dem Völkerbund aus, der seine Interessen angeblich nicht genügend
berücksichtigt hatte; 1935 wurde im Widerspruch zu den Bestimmungen des Versailler
Vertrags die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Kriegsvorbereitungen, die zwangsläufig
Rohstoff- und Devisenmangel und dadurch schwerere Existenzbedingungen für die
Bevölkerung zur Folge hatten, bestimmten immer eindeutiger das Leben in Deutsch
land. Die von Göring schon 1937 ausgegebene, zynisch offene Parole hieß »Kanonen
statt Butter«. 1935 -1937 besetzten Truppen der Wehrmacht die demilitarisierte Zone
des Rheinlandes und das Saargebiet. Hitler schloß ein Bündnis mit dem faschistischen
Italien Mussolinis, dem später auch Japan beitrat. Im spanischen Bürgerkrieg
1936-1939 unterstützte Deutschland den Putschversuch der Faschisten unter General
Franco, während Mitglieder der internationalen Brigaden aus allen Teilen der Welt der
Republik beistanden.
ANSCHLUSS Im März 1938 marschierten deutsche Truppen in Österreich
ein; es wurde »ins Reich eingegliedert«. Die österreichische Republik, die am 12. No
vember 1918 ausgerufen wurde (»Erste Republik«), war ein Staat, den niemand wollte.
Sie kämpfte, da sie das Hinterland, nicht aber den riesigen bürokratischen Apparat
verloren hatte, mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Es herrschte eine politische
Unsicherheit im Land, die einzelnen Gruppen radikalisierten sich immer mehr. Davon
zeugte der Arbeiteraufstand im Juli 1927 und die blutigen Februarereignisse 1934. In
demselben Jahr wurde der italienfreundliche Kanzler Engelbert Dollfuß von den Nazis
ermordet; ein Putschversuch konnte unter seinem Nachfolger Kurt Schuschnigg noch
verhindert werden. Nach der Annäherung zwischen Italien und Deutschland stand dem
Anschluß, den nicht nur der aus Braunau (Westösterreich) stammende Hitler, sondern
auch weite Kreise der österreichischen Bevölkerung befürworteten, jedoch nichts mehr
im Wege.
M ÜNCHENER ABKOMMEN Ebenfalls 1938 ließ Hitler von der Wehr
macht westliche Teile der Tschechoslowakei besetzen, um »das Selbstbestimmungsrecht
der dort lebenden Deutschen zu sichern«. Vorbereitet wurde die Aktion durch die
profaschistische Heim-ins-Reich-Bewegung. Die Regierungen der westeuropäischen
Länder (an der Spitze den englischen Premierminister Chamberlain) bestätigten diesen
Schritt im Münchener Abkommen 1938 im Zeichen einer Politik der Beschwichtigung;
Hitler versprach den Verzicht auf weitere Eroberungen. Einige Monate später zerschlug
die Wehrmacht den tschechoslowakischen Staat, es wurde ein deutsches Protektorat
Böhmen und Mähren gebildet. Nun stellte das faschistische Deutschland unerfüllbare
Forderungen an Polen (Freistadt Danzig, Polnischer Korridor), die Stoßrichtung der Ex
pansion zeichnete sich mit aller Deutlichkeit ab.
ZW EITER W ELTKRIEG Am 1. September 1939 begann nach dem Über
fall, den als Polen verkleidete Faschisten auf den deutschen Rundfunksender Gleiwitz
an der deutsch-polnischen Grenze inszeniert hatten, der Zweite Weltkrieg. Polen wurde
in einem Blitzkrieg niedergeworfen. England und Frankreich erklärten Deutschland den
Krieg, führten aber an der Westfront keine nennenswerten Kampfhandlungen durch. Im
Frühjahr 1940 besetzte die faschistische Wehrmacht Dänemark und Norwegen, überfiel
die Beneluxstaaten und Frankreich, führte Bombenangriffe gegen England. Die be
setzten Gebiete wurden unerbittlich ausgebeutet (Rohstoffe, Lebensmittel), die Deut
schen traten überall als Herrenmenschen auf. Am 22. Juni 1941 kam es - trotz eines
zuvor abgeschlossenen Nichtangriffsvertrages - zum Angriff auf die Sowjetunion. An
fangs errang die deutsche Armee auch hier Erfolge, doch die Kampfkraft der
Sowjetunion konnte nicht gebrochen werden. Die endgültige Wende im Kriegsgesche
hen trat mit der Schlacht bei Stalingrad ein. Die 6. deutsche Armee wurde am 2. Fe
bruar 1943 vernichtet. Bald darauf begann die Gegenoffensive der Roten Armee. In
Deutschland wurde alles auf eine Wirtschaft des totalen Krieges umgestellt
WIDERSTAND Obwohl es der Nazipropaganda besonders in der Anfangs
zeit gelang, die Verinnerlichung ihrer Thesen durch große Teile der Bevölkerung durch
zusetzen, gab es in Deutschland immer auch nüchterne, kritische Menschen, selbst wenn
ihre H andlungsfähigke it im Staat mit dem perfektesten Denunziantennetz begrenzt
blieb. Der Berliner Pastor Martin Niemöller und seine Bekennende Kirche widersetzten
sich der Macht offen; Studenten der Münchner Universität um die Geschwister Sophie
und Hans Scholl (»Weiße Rose«) verteilten 1943 Flugblätter, und 1944 versuchte Oberst
Schenk von Stauffenberg Hitler in seinem Hauptquartier mit einer Zeitbombe zu töten,
doch das Attentat mißlang. Ober viertausend Menschen aller Gesellschaftsschichten
wurden in den Monaten danach hingerichtet.
K A PIT U L A TIO N Im Sommer 1944 eröffneten England und die Vereinigten
Staaten mit der T anriung der alliierten Truppen in Nordfrankreich die zweite Front. Die
Rote Armee setzte zu einer entscheidenden Offensive an. Nach dem Vorrücken der
Westfront und dem sowjetischen Sturm auf Berlin kapitulierte das faschistische
Deutschland am 8. Mai 1945. Adolf Hitler (geboren 1889, im Todesjahr von Kronprinz
Rudolf) beging am 30. April 1945 im Führerbunker Selbstmord; die bedingungslose Ka
pitulation wurde von seinem Nachfolger, Großadmiral Dönitz, unterschrieben.
BILANZ 55 Millionen Tote und die ungeheuere Vernichtung materieller und
geistiger Werte waren das schreckliche Ergebnis des Krieges. Die Städte lagen in
Trümmern, ein Viertel aller Wohnungen war zerstört oder schwer beschädigt, Wirt
schaft und Verkehr lagen darnieder, es fehlte am Nötigsten. Millionen Deutsche be
fanden sich in Kriegsgefangenschaft, Millionen waren durch die Bombenangriffe
obdachlos geworden, Millionen Vertriebene waren auf der Flucht. Deutschland schien
keine Zukunft zu haben.
17. Nach 1945PO T SD A M E R A B K O M M EN Bereits vor Kriegsende hatten die Alliierten
auf den Konferenzen in Teheran 1943 und Jalta 1945 über die Zukunft des besiegten
Deutschland beraten. Im Juli und August 1945 trafen sich die Staatsoberhäupter der So
wjetunion, Englands und der USA in Potsdam (Schloß Cecilienhof) und schlossen das
Potsdamer Abkommen, das den Weg des Neuaufbaus in Deutschland vorzeichnete. Es
sah unter anderem ein einiges, demokratisches Deutschland, Demilitarisierung und
Entnazifizierung sowie Bestrafung der Kriegsverbrecher vor. Im Nürnberger Prozeß
(1946) hatten sich die Hauptschuldigen des Weltkrieges vor einem internationalen Ge
richt zu verantworten. Deutschland wurde in sowjetische, amerikanische, britische und
französische Besatzungszonen eingeteilt. Ober die Ausführung von Beschlüssen und Be
fehlen wachte der Alliierte Kontrollrat, bestehend aus den Befehlshabern der vier Zo
nen, mit Sitz in der Hauptstadt Berlin, die auch in vier Sektoren geteilt wurde. In Öster
reich bildete man auch vier Besatzungszonen, die bis zum Staatsvertrag im Jahre 1955
bestanden. Dann verließen die Besatzungsmächte unseren Nachbarstaat.
DER WEG ZUR TEILUNG Trotz der dezimierten Bevölkerung, der mas
senhaften Zerstörung von Produktivkräften, der gelähmten Wirtschaft, des allgemeinen
Chaos, der nachwirkenden faschistischen Ideologie und der Hoffnungslosigkeit vieler
Menschen bestand also dennoch die Möglichkeit, eine neue Gesellschaftsordnung mit
einem neuen Staatswesen aufzubauen. Es sollte sich jedoch zeigen, daß die
unterschiedlichen Voraussetzungen in den vier Besatzungszonen und die Ziele der Be
satzungsmächte zu verschiedenartigen Haltungen gegenüber der Verwirklichung des
Potsdamer Abkommens und zu einer erneuten Spaltung Deutschlands führten. Wäh
rend die Abhängigkeit der sowjetischen Besatzungszone von der Sowjetunion immer
größer wurde, erlaubten die Westmächte den anderen drei Zonen, sich immer enger
zusammenzuschließen. Wichtige Stationen auf diesem Wege waren die Bildung des Bi-
zonalen Wirtschaftsrates und Trizoniens.
B U N D E SR E PU B L IK - D D R 1949 wurde schließlich die Bundesrepublik
Deutschland mit der provisorischen Hauptstadt Bonn gegründet, Mitte September
wählte der Bundestag den Kölner CDU-Politiker Konrad Adenauer zum ersten Bun
deskanzler. Die Gründung des anderen deutschen Staates ließ nicht lange auf sich war
ten, am 7. Oktober 1949 entstand die Deutsche Demokratische Republik. Zu ihrer
Hauptstadt wurde Berlin erklärt, was allein schon für genügend Streit unter den Alliier
ten sorgte. Der erste Präsident der DDR war Wilhelm Pieck, der erste Ministerpräsi
dent Otto Grotewohl, die tatsächliche Macht lag aber in den Händen der Sozialistischen
Einheitspartei Deutschlands (SED, im Sommer 1946 aus dem Zusammenschluß der
KPD und der SPD entstanden, in den Westzonen nicht zugelassen). Vorsitzender der
SF.n wurde der Sachse Walter Ulbricht, dem 1971 der aus dem Saarland stammende
Erich Honecker folgte.
W IE D E R V E R E IN IG U N G Die Entwicklung in den beiden deutschen Staa
ten nahm nun völlig unterschiedliche Formen an, sowohl in politischer, als auch in wirt
schaftlicher, kultureller und sozialer Hinsicht. In der Bundesrepublik, die sich von 1947
an mit Hilfe des Marshallplanes der Vereinigten Staaten wirtschaftlich rapide verstärkte
und bald zu einer neuen europäischen Großmacht wurde, wechselten sich Rechte und
linke an der Spitze des Staates ab. Dem Land kam in der Integration der westeuropäi
schen Staaten eine eminente Rolle zu. Der DDR, dem »ersten deutschen Arbeiter- und
Bauemstaat«, versuchte man währenddessen nach sowjetischem Vorbild ein funktions
fähiges sozialistisches Gepräge zu geben, was - trotz gewisser nicht zu verkennender
Erfolge, zum Beispiel auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit - letztlich nie gelang. Die
Unterschiede zwischen den beiden deutschen Staaten verschärften sich besonders nach
dem Bau der Berliner Mauer, die in der offiziellen DDR-Lexik antifaschistischer
Schutzwall hieß, im Jahre 1961. Es sah lange so aus, daß die Wege der beiden Staaten
sich immer mehr voneinander entfernen, bis Veränderungen im Jahr des großen Um
bruchs 1989 zur Wiederherstellung der deutschen Einheit führten. Am 3. Oktober 1990
wurde die ehemalige DDR Teil der Bundesrepublik Deutschland.
18. Die SchweizE W IG E R B U N D Die Anfänge dermodernen Schweiz hegen 4m l3;Jahi>
hundert Das erste Bündnis gegenrdie.Habsburger, deren-Familienbesitz ia der-.Gegend
lag, schlossen c freie B auerngem einden vermutlich im Jahre 1273. Dieses wurde der
Überlieferung nach am 1. August 1291 auf der Rütliwiese bestätigt und ergänzt; die so
genannten tirkäntöne (Uri; Sehwyz, JUnfrw tlden) vereinigten sich im Ewigen Bund.
Das Ereignis wird am eindrucksvollsten in Schülers Drama »Wilhelm Teil« dargestellt.
Die erste gut bestandene Bewährungsprobe für die junge Eidgenossenschaft war die
Schlacht amMorgartenpaß gegen Leopold den Streitbaren im Jahre 1315. Es schlossen
sich den LJrkantonen immer weitere Gebiete (Luzern^ Zürich, Bern) an. Ein erneuter
Angriff der Habsburger scheiterte 1386 bei Sempach. Die deutschen Kaiser betrachte
ten die Schweiz auch im IS Jahrhundert als Teil ihres Reiches, obwohl sie immer mehr
Merkmale eines selbständigen staatlichen Gebildes aufwies. Im Frieden von-Sasel 1499
verzichtete M axim ilian I. schließlich auf-die Oberhoheit in der Schweiz.
SO U V E R Ä N IT Ä T Die endgüJtige Anerkennung :dw Souveränität der
Schweiz erfolgte im ^W e^^eh^B nedeTflW S. Die europäischen Großmächte gelang
ten zu der Überzeugung (und diese Überzeugung hielt sich durch die Jahrhunderte),
daß die Existenz eines neutralen Staates mitten auf dem Kontinent politisch-wirt-
sehäftliGh auch für sie vonVorteil sein konnte, zum Beispiel so, daß sie dort immer
Söldner (Reisläufer) kaufen konnten. Es galt allerdings das Sprichwort: »Kein Geld,
kein Schweizer.« (Die päpstliche Leibwache im Vatikan in Landsknechttracht mit Hel
lebarde rekrutiert sich heute noch aus schweizerischen Katholiken.)
H E LV E T ISC H E R E PU B L IK Nach 1789 erhob sich auch in vielen Teüen
der Schweiz die Bevölkerung und forderte im Geiste der Ideen der französischen Re
volution Gewerbefreiheit, Erweiterung der Freiheitsrechte, Aufhebung der Feudallasten
und der Folter. 1798 entstand unter Einfluß Frankreichs, das die Schweiz besetzte, die
Helvetische Republik mit einem Direktorium in Aarau. Genf und andere Städte wurden
durch Frankreich einverleibt. Die Aufhebung der Kantone erwies sich jedoch als über
eilt, so mußte Napoleon 1803 ihre Rechte wiederherstellen, wodurch die Schweiz zur
föderalistischen Staatsform zurückkehrte. Damals erhielt sie die noch heute gültige offi
zielle Bezeichnung Schweizerische Eidgenossenschaft.
ALLGEM EINE SCHULPFLICHT Der Wiener Kongreß beseitigte 1815
die Abhängigkeit der Schweiz von Frankreich und garantierte ihre immerwährende
Neutralität, die Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit ihres Territoriums. Die alte
Patrizierherrschaft wurde wiederhergestellt, aber das Untertanenverhältnis zwischen
den nunmehr 22 Kantonen kehrte nicht wieder, die Leibeigenschaft und weitere feudale
Überreste wurden samt Zunftzwang aufgehoben, und man führte den Freihandel ein.
Von besonderer Wichtigkeit war die allgemeine Schulpflicht, die Umsetzung des päd
agogischen Systems von Johann Heinrich Pestalozzi in die Praxis. Die Auffassung von
Pestalozzi beruht darauf, daß die Möglichkeit einer allgemeinen gesellschaftlichen Er
neuerung nur gesichert werden kann, wenn das Erziehungssystem jedem Menschen zu
gänglich ist und die Vollentfaltung der körperlichen, seelischen und sittlichen Anlagen
ins Auge faßt. Seine heute noch wirksame pädagogische Tätigkeit diente besonders der
bürgerlichen Volksschularbeit unseres Jahrhunderts als Vorbild.
SONDERBUNDKRIEG Schon einmal, in den Jahren 1529-1531 hatte es
einen Krieg zwischen den katholischen Urkantonen und den protestantischen Teilen des
Landes gegeben. Die Seiten, die sich in diesem Kappeler Krieg gegenüberstanden, ge
rieten nach der französischen Revolution 1830 erneut in einen Gegensatz. Die katholi
schen Bauemkantone (Schwyz, Uri, Unterwalden, Zug), die am Zolleinkommen und
Fremdenverkehr interessiert waren, versuchten die Bestrebung der anderen (Zürich,
Bern, Solothurn) zur Vorbereitung der weiteren kapitalistischen Entwicklung aufzuhal
ten. Sie widersetzten sich der Aufhebung der Zollschranken, der Einführung der völli
gen Handels- und Gewerbefreiheit, der Entwicklung des Verkehrs. Es kam zur Konfron
tation religiöser Prägung zwischen beiden Lagern. Die konservativen Bauemkantone
schlossen sich zu einem Sonderbund zusammen, der aber von der Eidgenossenschaft
verboten wurde. 1847 brach daher der Sonderbundkrieg aus. General Dufour, dessen
Namen heute der höchste Gipfel der Schweiz trägt, besiegte innerhalb von vier Wochen
und ohne große Verluste (es gab insgesamt 104 Tote) den Sonderbund. Die europäi
schen Großmächte, beschäftigt mit eigenen Schwierigkeiten, griffen erneut nicht ein.
BUNDESVERFASSUNG Im Jahre 1848 wurde die Bundesverfassung, bis
heute das Grundgesetz der Schweiz, angenommen. Sie verwandelte den Bund sou
veräner Kantone in einen modernen, zentralistischen Bundesstaat. Die Verfassungsrevi
sion 1874 verstärkte die zentralisierte Macht, die die Voraussetzung für die weitere In
dustrialisierung und den Sieg kapitalistischer Produktionsverhältnisse sicherte. Dabei
bewahrten die Kantone eine weitgehende Selbständigkeit. (Ein einheitliches Strafrecht
wurde beispielsweise erst 1942 eingeführt.) Die Verfassung erklärte das Wappen des
Kantons Schwyz, weißes Kreuz im roten Feld, zur schweizerischen Nationalflagge, den
Entstehungstag des Ewigen Bundes, den 1. August, zum Nationalfeiertag und Bern zur
Hauptstadt. Als gleichberechtigte Amtssprachen wurden Deutsch, Französisch und Ita
lienisch angenommen. Rätoromanisch wurde 1937 neben den Amtssprachen zur vierten
Landessprache erklärt.
FR A N K E N , BANKEN, IN D U ST R IE Im Jahre 1849 wurden die Zoll
grenzen der Kantone aufgehoben, 1850 führte man den Schweizer Franken, eine der
stabilsten Währungen überhaupt, ein. (Ein Franken - Koseform »Fränkeli« - besteht
aus hundert Rappen.) Die Stärkung des Kapitalismus zeigte sich in der Konzentration
des Kapitals, besonders im Bankwesen; die Charakterzüge der modernen Industrie der
Schweiz, Präzision und geringer Materialaufwand, bildeten sich endgültig heraus. Große
Bauvorhaben, darunter der Bau des zwanzig Kilometer langen Simplontunnels, wurden
entwickelt. Es entstanden bedeutende internationale Organisationen mit Sitz in der
Schweiz, allem voran das Internationale Rote Kreuz, gegründet 1864 vom Genfer
Kaufmann Henri Dunant.
FL Ü C H T L IN G E Obwohl die Herstellung des Gleichgewichts zwischen
Staatsidee und Kulturidee für den Einzelnen nicht immer unproblematisch war, konnte
die Schweiz ihre Neutralität im 20. Jahrhundert weiter bewahren. Im ersten Weltkrieg
nahm sie - wie schon zu Zeiten der Heiligen Allianz - zahlreiche Asylanten auf. Zü
rich wurde zum Zentrum neuer Kunstrichtungen, wie der Dada-Bewegung. Einem sehr
großen Druck mußte die Schweiz während der Naziherrschaft in Deutschland standhal
ten. Das gelang schließlich mit Hilfe der sich auf alle Lebensbereiche erstreckenden, m
mancherlei Hinsicht schon bedenklichen geistigen Landesverteidigung. Umstritten
bleibt die Flüchtlingspolitik der Schweiz in den dreißiger und vierziger Jahren. Man
nahm mit der Parole »Das Boot ist voll« nur eine sehr begrenzte Anzahl von Flücht
lingen auf. Thomas Mann gehörte natürlich zu den Auserwählten. Von ihm soll der bit
tere Satz beim Anblick eines Kindes stammen: »Acht Tage alt, und schon ein Schwei
zer!«
W IR T SC H A FTSW U N D E R Da die Schweiz in den Krieg nicht direkt ver
wickelt war und die Produktionsanlagen unzerstört blieben, erhielten Industrie, Handel
und Banken der Schweiz nach 1945 eine große Chance, die sie auch zu nutzen ver
mochten. Aus dem erheblichen Startvorteil erwuchs das Schweizer Wirtschaftswunder
der Nachkriegszeit. Der Kleinstaat mit kaum mehr als sechs Millionen Einwohnern
wurde zwanzigste Industrie-, zwölfte Handelsnation und dritter Finanzplatz der Welt.
Auch die außenpolitische Isolation des Landes konnte relativ rasch durchbrochen wer
den, die Schweiz wurde Mitglied verschiedener internationaler Organisationen, nur der
UNO-Beitritt wird aus innenpolitischen Überlegungen (angebliche Unvereinbarkeit mit
der Neutralität) bis heute abgelehnt. Die Eidgenossenschaft beteiligt sich maßgeblich an
großen internationalen Konzernen, Dienstleistungsbetrieben, Banken und Versicherun
gen.
STABILITÄT Das politische System beruht unverändert auf Traditionalismus
und Stabilität. Der Armee mißt man eine enorme Bedeutung zu. Gut funktionierende
öffentliche Dienste, stabile Währung, Ruhe, Ordnung, Sauberkeit, Sicherheit sind cha
rakteristisch für die Schweiz, sie gilt als eins der beliebtesten Wohn-, Reise- und
Fluchtländer. Jegliche Veränderung wird in diesem Milieu zögernd aufgenommen, Wi
dersprüche versucht man möglichst zu vertuschen, Kompromißfähigkeit ist eine der ge
schätztesten Eigenschaften. Als nationale Leittugenden gelten Fleiß, Tüchtigkeit und
Sparsamkeit; Reichtum wird immer noch kalvinistisch als Auszeichnung von Bewährung
aufgefaßt und eher verborgen gehalten.
Dokumente
1.1. Der römische Geschichtsschreiber Tacitus berichtet in seiner Schrift »De origine et situ Germanorum« (98) vom Thing:
Gefällt der Vorschlag nicht, so weist ihn die Versammlung durch Murren zurück; wenn er aber Beifall findet, so schlagen die Versammelten ihre Speere klirrend zusammen. [...] Bei einem großen Thing dürfen auch Anklagen vorgebracht und Prozesse auf Leben und Tod anhängig gemacht werden. Die Strafen richten sich nach der Art des Verbrechens: Landesverräter und Überläufer werden an dürren Bäumen gehenkt, Feiglinge und diejenigen, die sich dem Kriegsdienst entziehen, ebenso wie Sittlichkeitsverbrecher werden in den Morast gestoßen und mit Reisig überdeckt.
12. Die »Merseburger Zaubersprüche« wurden gegen Ende des 10. Jahrhunderts aufgezeichnet, als die alten germanischen Vorstellungen trotz Aufnahme des Christentums noch lebendig waren, in der Dombibliothek Merseburg aufbewahrt, 1841 wiederentdeckt und ein Jahr später von Jakob Grimm veröffentlicht. Wir zitieren den zweiten Zauberspruch im althochdeutschen Original und in hochdeutscher Übersetzung.
Phol ende Uuodan vuorun zi holza du uuart demo Balderes volon sin vuoz
birerüdt.thu biguolen Sinthgunt, Sunna era suister, thu biguolen Friia, Volla era suister; thu biguolen Uuodan, so he uuola conda;Sose benrenki, sose bluotrenki, sose lidirenki;Ben zu bena, bluot zi bluoda, lid zi giliden, sose gelimida sin!
Phöl und Wotan fuhren zu Holz [ritten in denWald].
Da ward dem Fohlen des Baldersein Fuß verrenkt.Da besprach ihn Sinthgut, Sunna ihre Schwester; da besprach ihn Freya, Volla ihre Schwester; da besprach ihn Wotan, so gut, wie er es konnte;Sei es Beinverrenkung, sei es Blutverrenkung, sei es Gliedverrenkung;Bein zu Beine, Blut zu Blute,Glied zu Gliedern, als ob sie geleimt wären!
2.1. Die »Fränkischen Reichsannalen« berichten darüber, wie Pippin der Jüngere [714-768] König wurde:
Pippin schickte Gesandte zum Papst Zacharias und ließ wegen der Könige in Franken, die damals, ohne wirkliche königliche Macht zu besitzen, residierten, anfragen, ob das gut sei oder nicht. Zacharias gab Pippin den Bescheid, es sei besser, den als König zu bezeichnen, der die Macht tatsächlich in Händen habe, als jenen, der ohne königliche Gewalt bleibe.
22. Karl der Große [747-814] schrieb 796 an den Papst:
Uns obliegt: gemäß dem Beistand der göttlichen Güte überall Christi heilige Kirche gegen den Einbruch der Heiden und Verheerung durch Ungläubige nach außen mit Waffen zu verteidigen und nach innen durch die Anerkennung des katholischen Glaubens zu festigen. Euch obliegt, heiligster Vater. Mit zu Gott erhobenen Händen gleich Moses uns im Kampf zu unterstützen, auf daß, durch Euer Eintreten von Gott geführt und gefördert, das christliche Volk über die Feinde seines heiligen Namens überall Sieg gewinne und der Name unseres Herrn Jesu Christ in der ganzen Welt verherrlicht werde.
***
23. In einer zeitgenössischen Quelle steht über die Kaiserkrönung von Karl dem Großen durch Papst Leo HI. im Jahre 800 in Rom:
Am Tage der Geburt unseres Herrn Jesu Christi krönte ihn der ehrwürdige und segenspendende Papst eigenhändig mit der kostbarsten Krone. Darauf riefen alle gläubigen und getreuen Römer, die den Schutz und die Liebe sahen, die Karl der heiligen römischen Kirche und ihrem Vertreter gewährte, einmütig mit lauter Stimme auf Gottes und des hL Petrus, dem Himmelreiches Schlüsselträger, Eingebung aus: »Karl, dem allerfrommsten von Gott gekrönten Augustus, dem großen und friedreichen Kaiser, Heil und Sieg!« Vor der heiligen Confessio des seligen Petrus [dem Grab Petrus’ unter dem Hauptaltar der Kirche] ist das, unter Anrufung vieler Heiliger, dreimal ausgerufen worden, und von allen ist er als Kaiser der Römer eingesetzt worden.
««»
2.4. Einhard, der Biograph Karls des Großen, beschreibt die Palastkapelle des Herrschers in Aachen:
Die christliche Religion, in die er von Kindheit an eingeßhrt worden war, übte er mit der größten Gewissenhaftigkeit und höchsten Frömmigkeit. Deshalb erbaute er auch zu Aachen eine wunderschöne Kirche und schmückte sie mit Gold, Silber und Leuchtern sowie Gittern und Türen aus gediegenem Erz. Da er die Säulen und den Marmor zu ihrem Bau anderswoher nicht bekommen konnte, ließ er sie aus Rom und Ravenna herbeischaffen. Die Kirche besuchte er unverdrossen morgens und abends, ebenso zum Nachtgebet und zur Zeit der Messe, so lange, als es seine Gesundheit erlaubte, und er ließ es sich sehr angelegen sein, daß alles, was darin vorging, mit dem allergrößten Anstand geschah.
**»
2.5. Im Jahre 529 gründete Benedikt von Nursia das Kloster Montecassino (südlich von Rom) und gab den Brüdern feste Regeln des klösterlichen Zusammenlebens. Einige Stellen:
5. Kapitel Vom Gehorsam. Der höchste Grad der Demut ist unverzüglicher Gehorsam. Dieser Gehorsam ist dann Gott wohlgefällig und den Menschen angenehm, wenn der Auftrag nicht zaghaft, nicht lässig, nicht lau, nicht mit Murren oder gar mit offener Widerrede ausgeführt wird Werden Oberen gehorcht, gehorcht ja Gott.
33. Kapitel Ob die Mönche Eigentum haben dürfen. Dieses Übel vor allem muß mit der Wurzel aus dem Kloster ausgerottet werden. Keiner darf sich anmaßen, ohne Erlaubnis des Abtes etwas zu verschenken oder anzunehmen oder etwa als eigen zu besitzen, nichts, weder ein Buch noch eine Schreibtafel, noch einen Griffel, überhaupt gar nichts. Es ist ja den Mönchen nicht einmal erlaubt, über ihren Leib und ihren Willen frei zu verfügen. Sie dürfen jedoch alles, was sie brauchen, vom Vater des Klosters erwarten. Allen sei alles gemeinsam, wie geschrieben steht.
48. Kapitel Von der täglichen Handarbeit. Müßiggang ist der Feind der Seele. Deshalb sollen sich die Brüder zu bestimmten Zeiten mit Handarbeit und wieder zu bestimmten Stunden mit heiliger Lesung beschäftigen. [...] Bringt es die örtliche Lage oder die Armut mit sich, daß die Brüder die Feldfrüchte selbst einemten müssen, so sollen sie darüber nicht unmutig werden. Dann sind sie ja in Wahrheit Mönche, wenn sie gleich unsem Vätern und Aposteln von der Arbeit ihrer Hände leben. Es geschehe jedoch wegen der Kleinmütigkeit alles mit Maß.
***
2.6. In einem Brief des Bonifatius [um 672 -754] heißt es:
Alle Jahre sollen Synoden gehalten werden, die Metropoliten sollen ihr Pallium [Weiße Schulterbinde mit sechs schwarzen Kreuzen: das persönliche Amtszeichen der Erz- bischöfe] von jenem Stuhl erbitten und die Amtsführung der Bischöfe überwachen, die Bischöfe alle Jahre ihre Sprengel besuchen [...].
*** *** ***
3.1. Widukind von Corvey berichtet über die Krönung Ottos I. [912 -973] zum König im Jahre 936:
Der Bischof trat nun an den Altar, nahm das Schwert mit dem Wehrgehenk und sprach zum König - der nach fränkischer Sitte mit einem eng anliegenden Gewände bekleidet war - : »Empfang dies Schwert, vertreibe damit alle Feinde Christi, Heiden und schlechte Christen, da dir durch göttlichen Willen alle Macht im ganzen Frankenreiche übertragen ist, zum dauernden Frieden aller Christen.« Dann nahm er den Mantel und die Spangen und bekleidete ihn damit, indem er sagte: »Dieses Gewand, dessen Zipfel bis auf den Boden reicht, möge dich ermahnen, daß du im Eifer des Glaubens glühen und in Wahrung des Friedens beharren sollst bis in den Tod « Darauf ergriff er den Stab und das Zepter und sprach: »Durch dieses Zeichen gemahnt, leite deine Untertanen in väterlicher Zucht, reiche vor allem den Dienern Gottes, den Witwen und Waisen die Hand des Erbarmens, und niemals möge deinem Haupte das Öl der Barmherzigkeit mangeln, damit du jetzt und in Zukunft mit ewigem Lohn gekrönt werdest.« Darauf wurde er mit heiligem Öl gesalbt und mit der goldenen Krone gekrönt. Als die Weihe rechtmäßig vollzogen war, führte ihn der Erzbischof von
Mainz und ein anderer Bischof auf den Thron, zu dem sie über eine Wendeltreppe emporstiegen.
3.2. Ein Zeitgenosse (Priester Gerhard) berichtet darüber, wie Bischof Ulrich von Augsburg die Stadt gegen die Ungarn verteidigt:
Im Jahre 955 seit der Menschwerdung unseres Herrn Jesus Christus brachen die Ungarn in solchen Massen los, wie keiner der Lebenden sie jemals erblickt hatte. Sie durchzogen und verwüsteten das Land der Noriker von der Donau bis zum Schwarzwald. Sie belagerten auch Augsburg. [•••] Doch hatte der heilige Bischof Ulrich viele treffliche Ritter in der Stadt zusammengezogen, und deren Wachsamkeit und Kühnheit bildeten mit Gottes Beistand eine gute Wehr.
Als diese Ritter die Ungarn die Stadt umzingeln sahen, wollten sie ihnen entgegenziehen. Damit war jedoch der Bischof nicht einverstanden, sondern ließ das am meisten gefährdete Tor stark verrammeln. Vor dem Osttor, das zum Wasser führt, standen die Ungarn in solch dichten Scharen, daß sie meinten, sie könnten den Durchbruch auf der Stelle erzwingen. Aber die Ritter des Bischofs leisteten vor dem Tore tapferen Widerstand, bis einer der Vorkämpfer der Ungarn [...] fie l Als sie diesen tot niederstürzen sahen, ergriff sie entsetzliche Furcht, sie [...] zogen sich in ihr Lager zurück. [...]
Als jedoch gemeldet wurde, daß das ruhmreiche Heer König Ottos sich nähere, hob der Ungarnkönig sofort die Belagerung von Augsburg auf.
***
33. Widukind schreibt über den Sieg Ottos I. über die Ungarn 955:
Ruhmbedeckt durch den herrlichen Sieg wurde der König von dem Heere als Vater des Vaterlandes begrüßt. In festlichem Zuge kehrte er, vom Jubel des Volkes begleitet, in das Sachsenland heim und wurde hier vom Volke mit Freuden aufgenommen. Denn eines solchen Sieges hatte sich kein König seit dem Siege Karl Martells über die Mohammedaner erfreut.
***
3.4. Der Geschichtsschreiber Thietmar von Merseburg über die Umstände der Kaiserkrönung von Otto I., 962:
961 zog Otto mit einem starken Heer in die Lombardei und nahm König Berengar gefangen [der seine Macht gegen den Kirchenstaat ausbreiten wollte]. Von da zog Otto gegen Rom, dessen widerspenstige [mit Berengar verbündete] Bürger er zweimal besiegte. Dann spendete ihm Papst Johann XII. [der Otto gegen die Bürger Roms zu Hilfe gerufen hatte] die Kaiserweihe. Als er nun Schutzherr der römischen Kirche geworden war, setzte er sich in den Besitz von Benevent, Kalabrien und Apulien.
***
3.5. Notger wurde zum Abt gewählt und anschließend von Kaiser Otto I. belehnt:
Nun wirst du mein Mann, sagte der Kaiser, als er ihn durch die Gebärde der Hände zum Lehnsmann angenommen hatte. Darauf küßte er ihn. Anschließend wurde ein Evangelium gebracht, und der Abt schwor Treue.
«»*
3.6. Eine Bestimmung von Kaiser Otto I. aus dem Jahre 965:
In Gottes Namen übergeben wir das Recht, Märkte zu haltert, Münzen zu schlagen, dazu das Recht, Zölle zu erheben, an die Mauritiuskirche zu Magdeburg.
*«*
3.7. In der Urkunde über die Einsetzung des Erzbischofs von Worms durch Otto I. (979) steht:
Wir überlassen dem Bischof von Worms zu dauerndem Besitz den Ertrag und das Recht, aus allen Bannen und Zöllen in der Stadt und im Stadtgebiet, sowie die gesamte Gerichtsbarkeit, wie dies auch der Bischof von Köln innehat.
*•*
3.8. Ein Beispiel für die Belehnung eines Bischofs mit den Grafschaftsrechten (um 1000):
Wir übertragen und schenken durch diese königliche Urkunde auf Bitten des verehrungswürdigen Bischofs der hL Paderbomer Kirche, Meinwerk, ihm und seiner Kirche [...] die Grafschaft, die der Graf Hahold zu seinen Lebzeiten innehatte, mit allen gesetzlichen Rechten zu eigen, damit der genannte Bischof Meinwerk und seine Nachfolger als Bischof der genannten Kirche von nun an die freie Verfügungsgewalt über diese Grafschaft und ihre Erträge haben und damit machen können, was ihnen beliebt
***
3.9. Leitsätze von Papst Gregor VH. im sogenannten »Dictatus Papae« (1075):
1. Allein der römische Papst ist berechtigt, den Titel Papst in der Weltkirche zu führen.
2 Der Papst darf Bischöfe absetzen und wieder einsetzen.
3. Sein Legat hat vor allen Bischöfen den Vorsitz im Konzil
4. Niemand darf mit einem, der gebannt ist, in einem Hause verweilen oder sonst sich mit ihm abgeben.
5. Der Papst allein darf die kaiserlichen Zeichen führen.
6. Der Papst kann Kaiser absetzen.
7. Was der Papst sagt, darf rächt in Frage gestellt werden; er aber darf das Urteil aller anderen verwerfen.
8. Die römische Kirche hat nie geirrt und wird nie irren.
9. Niemand darf den Papst richten.
10. Der Papst kann Untertanen vom Treueid gegen ungerechte Herrscher lösen.
***
3.10. Aus dem Brief von König Heinrich IV. an Papst Gregor VII., 1076:
Heinrich, rächt durch Anmaßung, sondern durch Gottes heilige Einsetzung König, an Hildebrand, den falschen Mönch, nicht mehr Papst [...]. Denn um von vielem nur weniges [...] anzuführen: die Leiter der heiligen Kirche, nämlich die Erzbischöfe, Bischöfe und Priester [...] hast du [...] unter deine Füße getreten [...]. Sie alle, so urteilst du, wüßten nichts, du aber allein verstündest alles. Du [...] scheutest dich [...] nicht, gegen die von Gott uns verliehene königliche Gewalt dich zu erheben und hast gewagt zu drohen, du weidest sie uns entreißen, [...] als ob wir von dir das Reich empfangen hätten, als ob die Königs- und Kaiserkrone in deiner, nicht in Gottes Hand sei Du also durch aller unserer Bischöfe Urteil und das unsrige verdammt, steig herab, verlasse den [...] Apostolischen Stuhl! Ein anderer besteige den Thron des seligen Petrus [...].
Ich, Heinrich, König von Gottes Gnaden, und alle unsere Bischöfe, wir sagen dir: Steig herab, steig herab, du für alle Zeiten Verdammter!
»t*
3.11. Papst Gregor Vü. spricht 1076 den Bann über König Heinrich IV. aus:
Heiliger Petrus, Fürst der Apostel, neige zu mir, ich bitte Dich [...] und höre mich, Deinen Knecht [...]. Zur Ehre und zum Schutze Deiner Kirche, widersage ich [...] dem König Heinrich, Kaiser Heinrichs Sohn, der gegen Deine Kirche mit unerhörtem Hochmut sich erhoben hat, [...] und löse alle Christen von dem Band des Eides, welchen sie ihm geleistet haben oder noch lebten werden, und ich untersage jedem, ihm [...] als einem König zu dienen, weil er sich selbst von Deiner Kirche losreißt, indem er sie zu spalten trachtet, so binde ich ihn mit dem Bande des Fluches.
***
3.12. Papst Gregor VH. berichtet an seine Anhänger in Deutschland vom Tag von Canossa (27. Januar 1077):
König Heinrich harrte drei Tage lang vordem Burgtor in kläglicher Verfassung, ohne körperlichen Schmuck, barfuß, in wollenem Büßergewand und flehte unter Tränen um Trost und Erbarmen. [...] Von seiner Zerknirschung und durch die Fürbitte aller Anwesenden bewegt, lösten wir ihn schließlich vom Bann und nahmen ihn wieder in die kirchliche Gemeinschaft auf, nachdem erfolgenden Eid geschworen hatte:
Ich, König Heinrich, werde mich innerhalb der vom Papst festgesetzten Frist nach dem Rat des Papstes mit den Bischöfen, Herzögen und Grafen aussöhnen und nach seinem Urteil Recht walten lassen.
3.13. Bestimmungen über die Investitur im Wormser Konkordat, 1122:
Ich, Heinrich, von Gottes Gnaden erlauchter Kaiser der Römer, überlasse aus Liebe zu Gott und zur Heiligen Römischen Kirche [...] der Heiligen Katholischen Kirche jede Investitur mit Ring und Stab und gestatte, daß in allen Kirchen meines Königreiches und Kaiserreiches die Wahl auf kanonische Weise stattfinde und die Weihe frei sei [...]
Ich, Calixt, Bischof und Knecht der Knechte Gottes, gestatte Dir, meinem lieben Sohne Heinrich [.„1 daß die Wahlen der Bischöfe und Äbte im deutschen Königreiche, soweit sie dazugehören, in Deiner Gegenwart stattfinden. [...] Der Gewählte aber soll von Dir durch das Szepter die Regalien empfangen, und was er daraus Dir rechtlich schuldet, soll er leisten.
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3.14. Drei Ansichten über das Verhältnis von Kirche und Staat. Die erste stammt von Papst Innozenz ED. (1198-1216), der es als den Willen Gottes ansah, als Stellvertreter Christi für sich den Vorrang vor den weltlichen Mächten zu fordern:
Den Fürsten ist gegeben die Gewalt auf Erden, den Priestern aber ist die Gewalt auch im Himmel zugeteilt, jenen nur über die Körper, diesen auch über die Seelen. [...] Die einzelnen Fürsten haben einzelne Länder, die einzelnen Könige einzelne Königreiche. Petrus aber überragt alle, wie an Fülle so auch an Umfang der Herrschaft, weil er Stellvertreter dessen ist, des die Erde und die Fülle des Erdkreises ist und alle, die auf ihr wohnen.
Im »Sachsenspiegel« (1220) des Eike von Repgau steht der Satz:
Zwei Schwerter ließ Gott auf Erden, zu beschirmen die Christenheit, dem Papste das geistliche, dem Kaiser das weltliche.
Papst Bonifatius VTTI. in der Bulle »Unam sanctam« (1302) gebraucht ebenfalls das Bild von den zwei Schwertern:
Denn der Herr sagt bei Johannes: »Es gibt nur eine Herde und einen Hirten.« Daß dieser über zwei Schwerter zu verfügen hat, ein geistliches und ein weltliches, das lehren uns die Worte des Evangeliums. Beide Schwerter hat die Kirche in ihrer Gewalt, das geistliche und das weltliche. Dieses aber ist f i r die Kirche zu führen, jenes von ihr, dieses ist zu fuhren von der Hand der Könige und Ritter, aber nur wenn und solange der Priester es will Ein Schwert aber muß dem anderen untergeordnet sein; die weltliche Macht muß sich der geistlichen fü gen [...] Wer sich also dieser von Gott so geordneten Gewalt widersetzt, der widerstrebt Gottes Ordnung. [...] So erklären wir denn, daß alle menschliche Kreatur bei Verlust ihrer Seelen Seligkeit untertan sein muß dem Papst in Rom, und sagen es ihr und bestimmen es.
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3.15. Auf der Synode von Clermont (1095) rief Papst Urban H. zum ersten Kreuzzug auf:
Es gibt einen Schmerz, der unendlich groß, und ein Unglück, das unendlich tief ist: Palästina und Jerusalem sind in den Händen der Feinde!
Der Erlöser unseres Geschlechts, welcher zum Heile aller menschlichen Wesen Leib und Gestalt annahm, wandelte in jenem auserwählten Lande. Jede Stelle ist dort geweiht durch die Worte, die er gesprochen, durch die Wunder, die er verrichtet hat; jede Zeile des Alten und Neuen Testaments beweist, daß Palästina als Erbteil des Herrn und Jerusalem als der
Sitz aller Heiligtümer und Geheimnisse rein bleiben sollen von der Befleckung. [...] In dem Tempel, aus welchem Christus die Kaufleute vertrieb, damit das Heiligtum nicht verunreinigt würde, wird jetzt des Teufels Lehre öffentlich verkündet. [...] Lasttiere stehen in den heiligen Gebäuden, und für die Erlaubnis, solch Elend zu schauen, verlangen die Frevler sogar noch schweren Zins. Die Gläubigen werden verfolgt, Priester geschlagen und getötet [...]
Wehe uns, wenn wir leben und solchem Unheile nicht steuern; besser ist sterben, als der Brüder Untergang länger dulden.
Jeder verleugne sich selbst und nehme Christi Kreuz auf sich, damit er Christum gewinne; kein Christ mehr streite wider den anderen, damit das Christentum selbst nicht untergehe, sondern verbreitet und gefördert werde. [...] Keiner fürchte Gefahr, denn wer mit dem Herrn streitet, dem sind die Kräfte der Feinde untertan; keiner fürchte Mangel und Not, denn wer den Herrn gewinnt, ist überall reich; keiner lasse sich durch Klagen der Zurückbleibenden vom Zuge abhalten, denn die Gnade des Herrn wird auch diese schützen. [An dieser Stelle der Rede ertönte aus der Menge der Ruf: »Gott will es!« Als wieder Ruhe eingetreten war, setzte der Papst fort]
Es gehen die Worte der Schrift in Erfüllung: »Wo auch nur zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, werde ich mitten unter euch sein« So möge dies Wort euer Feldgeschrei sein in jeder Gefahr, welche ihr übernehmt für die Lehre Christi, das Kreuz aber sei euer Zeichen zur Kraft und Demut Des Apostolischen Stuhles Fluch soll jeden treffen, der sich unterfängt, das heiligste Unternehmen zu hindern; sein Beistand dagegen im Namen des Herrn eure Bahn ebnen und euch geleiten auf allen Wegen!
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3.16. Aus der Ordensregel des Deutschen Ritterordens:
Drei Dinge bilden die Grundfeste jeglichen geistlichen Lebens: die Keuschheit ewiglich; der Verzicht auf eigenen Willen, das ist der Gehorsam bis in den Tod; das Gelöbnis der Armut, daß der ohne Eigentum lebe, der diesen Orden empfängt. [...] Nur als Ganzes darf der Orden besitzen Gut und Erbe, Land und Äcker, Burgen, [...] den Zehnten und anderes. Es ist ein Orden zur Ritterschaft gegen die Fände des Kreuzes und des Glaubens, daher sind Rosse, Waffen, Knechte und was sonst noch zum Kampf gehört, gestattet. Laute Jagd mit Meute und B ete ist den Brüdern verboten, aber Raubzeug [...] mögen sie jagen, nicht zur Kurzweil, sondern zu gemeinen Nutzen, und Vögel schießen zur Übung.
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3.17. Urkunde des slawischen Herzogs Konrad von Masowien für den Deutschen Orden, 1230:
Ich, Konrad, durch göttliche Gnade Herzog von Masowien und Kujawien, will, daß allen Gegenwärtigen und Zukünftigen, die diese Schrift einsehen, bekannt sei, daß ich [...] wegen der Verteidigung des Glaubens [...] den Brüdern vom Deutschen Hause das ganze Kulmer- land mit allem Zubehör zu ewigem Besitze geschenkt habe, mit allem Nutzen und jeder nur möglichen Freiheit [...] und mit edlem übrigen, was man in Privilegien zu schreiben pflegt [...] Die Brüder selbst haben auch mit voller Glaubwürdigkeit mir und allen meinen Erben versprochen, daß sie, so viel mit Gottes Hilfe und mit ihrer Macht möglich ist, gegen Christi und unsere Feinde, nämlich alle Heiden, ohne Vorbehalt und ohne allen Vorwand, solange auch nur einer lebt, mit uns zusammen zu jeder Zeit kämpfen werden.
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3.18. Ein Vertrag zwischen Herzog Heinrich IV. von Schlesien aus dem slawischen Hause der Piasten und dem Lokator Wilhelm aus der Stadt Brieg in Schlesien im Jahre 1274. (Lokator heißt der vom Grundherrn beauftragte Unternehmer, der Siedler anwirbt und das Siedelrecht vergibt.)
Wir, Herzog Heinrich von Schlesien, machen bekannt, daß wir [...] Wilhelm unseren Wald übertragen. Er soll ihn nach deutschem Siedelrecht zu Besiedlung in kleinen Hufen austun. Deren Inhaber sollen für 10 Jahre alle Freiheit genießen. Am Ende dieser Periode gibt jede Hufe anstelle aller Abgaben und auf ihr ruhenden Rechtsansprüche 1 Vierdung Silber und ein Malter dreifach gemischtes Getreide. Wer auf solcher Hufe siedelt, soll nach unserem Willen von der Stadt Brieg ein erbliches Eigentum erhalten, weil er mit dem Ertrag aus seiner Hufe und seinem übrigen Gut uns und der Stadt ganz besonders dient. Wilhelm und seinen Nachkommen aber stehen, weil er Lokator war und nun das Schultheißenamt innehat, vier Freihufen und der dritte Pfennig aus dem Gericht für immer zu.
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3.19. Da Heinrich der Löwe Fürsten und Bischöfe in ihren Rechten und Besitzungen geschädigt und dem Kaiser die Heeresfolge im Itaüenfeldzug verweigert hatte, vor dem Gericht trotz mehrmaliger Vorladung nicht erschienen war und sich dadurch auch der Majestätsbeleidigung schuldig gemacht hatte, wurde 1180 folgender Gerichtsbeschluß gegen ihn gefaßt:
Über Heinrich, Herzog von Sachsen und Bayern, wird die Reichsacht verhängt, und es werden ihm beide Herzogtümer und alle Reichslehen entzogen. Mit Rat und Zustimmung der Fürsten wird der [westliche] Teil Sachsens dem Erzbischof Philipp von Köln als Herzogtum Westfalen, der [östliche] Teil dem [Askanier] Bernhard als Herzogtum [Sachsen] verliehen und übertragen.
Heinrich ging ins Exil nach England. Seine Familiengüter durfte er zwar behalten, aber außer Sachsen wurde ihm auch das Herzogtum Bayern genommen und Otto von Wittelsbach übertragen. Die Familie behielt das Land bis ins 20. Jahrhundert.
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3JO. Gottfried von Straßburg berichtet in seinem Epos »Tristan und Isolde« über die Erziehung des Knappen:
Doch neben aller Wissenschaft lernt er mit Schild und Lanzenschaft leicht und behende reiten, das Roß zu beiden Seiten geschickt mit Sporen rühren und keck im Sprunge führen, [...] nach Ritterbrauch im Ritterspiel: so tummelt er sich oft und viel Er übte Fechten, Ringen, Speerwerfen, Laufen, Springen. Auch kam ihm, wie die Märe sagt, niemand gleich in Pirsch und Jagd.
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4.1. Aus einem Gesetz von Kaiser Friedrich ü. [1194-1250], in dem er den Fürsten bedeutende Zugeständnisse macht:
[Wir setzen fest,] daß keine neue Burg oder Stadt auf geistlichem Gebiet oder aus Veranlassung der Vogtei durch uns oder durch irgend sonst jemand unter irgendeinem Vorwand errichtet werden darf [...] Jeder einzelne unter den Fürsten soll der Freiheiten, Gerichtsbarkeiten, Grafschaften und Zehnten, seien sie ihm eigen oder zu Lehen gegeben, gemäß der Gewohnheit seines Landes ruhig genießen. [...] Die Eigenleute der Fürsten, Edlen, Adligen, Dienstmannen und der Kirchen sollen in unseren Städten keine Aufnahme finden. [...] Wir wollen keine neue Münze im Lande irgendeines Fürsten schlagen lassen, durch welche eine Münze des betreffenden Fürsten verschlechtert werden könnte.
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4.2. Kaiser Karl IV. versuchte, mehr Einfluß auf die deutsche Politik zu gewinnen als seine Vorgänger, doch die Kurfürsten beschlossen 1338 zu Rense (nahe Koblenz am Rhein):
Nach Recht und seit alters bewährter Gewohnheit des Reiches bedarf einer, der von den Kurfürsten des Reiches oder selbst bei Uneinigkeit von der Mehrheit desselben zum römischen König gewählt ist, keiner Ernennung, Anerkennung, Bestätigung, Zustimmung oder Ermächtigung des Apostolischen Stuhles für die Verwaltung der Güter und Rechte des Reiches o d er für die Annahme des Königstitels.
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43. Aus der Goldenen Bulle, 1356:
Die erlauchten König von Böhmen und der Pfalzgraf bei Rhein, der Herzog von Sachsen und der Markgraf von Brandenburg [haben] kraft des Königtums und ihrer Herzogtümer bei der Wahl des römischen Königs und zu krönenden Kaiser, zusammen mit den Kirchenfürsten, ihren Mitkurfürsten, Recht, Stimme und Sitz. [...] Sie [sind] die wahren und rechtmäßigen Kurfürsten des Reichs. [...]
Damit nicht unter den Söhnen der weltlichen Kurfürsten über Recht, Stimme und vorbesagte Befugnisse in künftigen Zeiten Stoff zu Streitigkeiten und Zwietracht erweckt und so das allgemeine Beste durch gefährliche Verzögerung aufgehalten werden kann [..•! beschließen wir und verordnen nach ka iserlich er Machtvollkommenheit durch gegenwärtiges Gesetz, was für künftige Zeiten gelten soll, daß, wenn die weltlichen Kurfürsten und jeder von ihnen sterben sollte, Recht, Stimme und Befugnisse zur Wahl auf den erstgeborenen, rechtmäßigen, im Laienstand befindlichen Sohn, falls aber dieser nicht mehr lebt, auf des Erstgeborenen, der ebenso Laie ist, frei und ohne Widerspruch übergehe.
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4.4. Das Konstanzer Konzil erklärte 1415:
1. Wir sind im Heiligen Geist rechtmäßig versammelt und stellen die katholische Kirche dar, die ihre Gewalt unmittelbar von Jesus Christus hat.
2 Jeder, auch der Papst, hat dem Konzil in allem zu gehorchen, was auch den Glauben, die Spaltung der Kirche und ihre Erneuerung betrifft.
3. Wer den Befehlen und Anordnungen dieses Konzils nicht gehorcht, wird bestraft, und sollte es der Papst selbst sein.
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4.5. Johannes Hus sagte sich in der Schrift »De ecclesia« von der Kirche in Rom los, sie sei nicht wahrhaft fromm und auserwählt.
Es gibt nur eine Heilige allgemeine Kirche, und diese ist die Gesamtheit der Prädestinierten. Petrus ist weder, noch war jemals das Haupt der Heiligen Katholischen Kirche. Die päpstliche Würde stammt vom Kaiser. Der Papst ist nicht der wahre und offenkundige Nachfolger des Apostelfürsten Petrus, wenn er in seinen Sitten dem Petrus zuwider lebt
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4.6. Aus der Chronik Ulrichs von Richental über das Konstanzer Konzil:
Da rief der Herzog Ludwig [im Auftrag des Kaisers]; »Vogt, nimm ihn [Hus] hin und verbrenne ihn als einen Ketzer!« [...] Es war ein Priester da. Dieser ging zu Hus hin und sprach zu ihm: »Lieber Herr, wollt ihr dem Unglauben und der Ketzerei entsagen, so will ich gern eure Beichte hören.« [...] Da erwiderte Hus: »Es ist nicht nötig, ich bin kein Todsünder.« Als er darauf anfangen wollte, deutsch zu predigen, wollte das Herzog Ludwig nicht leiden und befahl, ihn zu verbrennen. Da ergriff ihn der Henker, band ihn [...] an einen Pfahl Erstellte ihn auf einen Schemel, legte Holz und Stroh um ihn herum, schüttete etwas Pech hinein und brannte es an. Da begann er, gewaltig zu schreien, und war bald verbrannt. [...] Dann führte man alles, was man von der Asche fand, in den Rhein.
«»*
4.7. Ulrich von Hutten sieht das Ritterleben zu Beginn des 16. Jahrhunderts recht trostlos. An den Humanisten Willibald Pirckheimer schreibt er 1518:
Die Leute, von denen wir unseren Unterhalt beziehen, sind ganz arme Bauern, denen wir unsere Äcker, Weinberge, Wiesen und Felder verpachten. Der Ertrag daraus ist im Verhältnis zu den darauf verwandten Mühen sehr gering, aber man sorgt und plagt sich, daß er möglichst groß werde; denn wir müssen äußerst umsichtige Wirtschafter sein. Wir dienen dann auch einem Fürsten, von dem wir Schutz eihoffen; tue ich das nicht, so glaubt jeder, er dürfe sich alles und jedes gegen mich erlauben. Aber auch für den Fürstendiener ist diese Hoffnung Tag für Tag mit Gefahr und Furcht verbunden. Denn so wie ich nur einen Fuß aus dem Hause setze, droht Gefahr, daß ich auf Leute stoße, mit denen der Fürst Spähne [Streit] und Fehden hat und die mich anfallen und gefangen wegfuhren. Habe ich Pech, so kann ich die Hälfte meines Vermögens als Lösegeld darangeben. [...] Wir halten uns deshalb Pferde und kaufen uns Waffen, umgeben uns auch mit einer zahlreichen Gefolgschaft, was alles ein schweres Geld kostet Dabei können wir dann keine zwei Acker lang unbewaffnet gehen; wir dürfen keinen Bauernhof ohne Waffen besuchen, bei Jagd und Fischfang müssen wir eisengepanzert sein. Die Streitereien zwischen unseren und fremden Bauern hören nicht auf; kein Tag vergeht, an dem uns nicht von Zank und Hader berichtet wird, die wir dann mit größter Umsicht beizulegen suchen Denn wenn ich das Meine allzu hartnäckig verteidige oder auch Unrecht verfolge, so gibt es Fehden. Lasse ich aber etwas allzu geduldig hingehen oder verzichte gar auf mir Zustehendes, so gebe ich mich ungerechten Übergriffen von allen Seiten preis. Gleichgültig ob eine Burg auf einem Berg oder in der Ebene steht, so ist sie auf jeden Fall doch nicht für die Behaglichkeit, sondern zur Wehr erbaut, mit Gräben und Wall umgeben, innen von bedrückender Enge, zusammengepfercht mit Vieh- und Pferdeställen, Dunkelkammern, vollgepfropft mit schweren Büchsen, Pech, Schwefel und allen übrigen Waffen und Kriegsgerät. Überall stinkt das Schießpulver, und der Duft der Hunde und ihres Unrates ist auch nicht lieblicher, wie ich meine. Reiter kommen und gehen, dar
unter Räuber, Diebe und Wegelagerer. [...] Und welch ein Lärmt Da blöken die Schafe, brüllt das Rind, bellen die Hunde, auf dem Feld schreien die Arbeiter, die Wagen und Karren knarren, und bei uns zu Hause hört man auch die Wölfe heulen.
* * S
4.8. Ritter Götz von Berlichingen schildert seine Fehde mit den Nümbergem um 1520:
Ich wußte, daß die Nürnberger über Würzburg zur Frankfurter Messe zogen. Im Spessart kundschaftete ich sie aus und warf sechs von ihnen nieder; darunter war ein Kaufmann, den ich bereits zum drittenmal in diesem halben Jahr gefangen und an seinem Gut geschädigt hatte. Die anderen waren Ballenbinderzu Nürnberg. Ich ließ sie niederknien, als wollte ich ihnen die Köpfe und Hände abhauen; aber es war nicht mein Emst, sondern ich trat dem einen nur mit dem Fuß in den Hintern, den anderen gab ich eine hinters Ohr. Weiter strafte ich sie nicht, und dann ließ ich sie wieder ziehen.
Das Reich stellte darauf400 Pferde gegen mich auf, Grafen und Herren, Ritter und Knechte- ihre Fehdebriefe sind noch vorhanden - , und ich kam mit meinem Bruder zusammen in die Acht. Alles, was wir hatten, wurde uns genommen. Wir mußten uns versteckt halten; aber dennoch tat ich meinen Feinden ziemlichen Schaden an, so daß kaiserliche Kommissare immer wieder zwischen uns schlichten mußten. [...]
Damals wollte ich die Nürnberger mitsamt dem Bürgermeister, der eine große goldene Kette am Hals hängen hatte und mit einem Streitkolben bewaffnet war, alle ihre Reisigen und ein Fähnlein Knechte mit Gottes Hilfe schlagen und gefangennehmen, als sie gegen die Burg Hohertkrähen zogen. Aber meine Freunde rieten mir davon ab, und ich folgte ihnen - zu meinem Schaden.
***
4.9. Aus einer Wormser Chronik über den Rheinischen Städtebund:
Damals stand es in Deutschland, vornehmlich am Rhein, so, daß, wer der Stärkste war, der schob den anderen in den Sack, wie er konnte und mochte. Die Reiter und die Edelleute nährten sich aus dem Stegreif, mordeten, wenn sie konnten, verlegten und versperrten die Straßen und Pässe. [...] Weil sonst keinerlei Hilfe zu erwarten war, verbanden sich sechzig am Rhein gelegene Städte [...]. Sie vereinigten ihre Kriegsrüstungen [...], rissen die Raubschlösser ein und schleiften sie und vertrieben die Mörder und Straßenräuber aus dem Land.
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4.10. Aus dem Wiener Stadtrecht vom 18. Oktober 1221:
Wenn ein Bürger jemandem eine Hand oder einen Fuß abschlägt oder ein Auge oder eine Nase oder irgendein edles Glied, der soll dem Richter zehn Talente und dem Beschädigten ebensoviel geben. Wenn aber der Beschädiger das Geld nicht haben sollte, so soll er nach dem Gesetz gerichtet werden, nämlich Aug’ um Auge, Hand um Hand, und so auch bezüglich der anderen Glieder. [...]
Wird einer durch sieben ehrbare und glaubwürdige Männer überßhrt, ein falsches Zeugnis abgelegt zu haben, so soll ihm die Zunge abgeschnitten werden, oder er löse sich dieselbe mit zehn Talenten und ersetze dem durch se in e falsche Aussage Geschädigten den Schaden [...]
Wer Gott den Herrn und seine Heiligen lästert, dem soll die Zunge abgeschnitten werden und um keinen Preis dieselbe zu lösen erlaubt sein.
Ebenso soll derjenige, der innerhalb der Stadtmauer ein langes Messer, das »Stechenmesser« [Dolch] heißt, am Gürtel hängen hat, dem Richter ein Talent und dieses Messer geben. Wer es aber im Stiefel oder anderswo an sich verborgen und heimlich trägt, der sott dem Richter zehn Talente geben oder die Hand verlieren. [...]
Endlich bestimmen wir, daß 24 einsichtsvolle Bürger der Stadt [das heißt der Stadtrat] mit einem Eide beschwören, daß sie über Handel und Wandel und über alles, was zur Ehre und zum Vorteil der Stadt dient, nach bestem Wissen Anordnungen treffen wollen; und was sie in dieser Beziehung tun und verfügen, das soll der Stadtrichter in keinerlei Weise zu hindern wagen Wer jedoch in irgendeiner Hinsicht gegen die Verfügungen dieser 24 handelt, der soll dem Richter die von jenen festgesetzte Strafe zahlen Um diese 24 sollen so oft als möglich zur Ordnung der Verhältnisse der Stadt Zusammenkommen
«»*
4.11. In Chroniken aus dem Mittelalter findet man immer wieder Berichte über Seuchen, Hungersnöte und so weiter. Drei bezeichnende Zitate:
[1267] Im Jahre des Herrn 1267 herrschten Seuchen und Hungersnot im österreichischen, wozu Brände von Dörfern und Städten hinzukamen, und die Bevölkerung, der auch ihr gesamtes Vieh wegstarb, erlag elendig der Seuche.
[1338] In demselben Jahr machte sich vom Orient aus ein Heuschreckenschwarm auf und fraß in Ungarn, Polen, Böhmen, Mähren, Österreich, Steier, Kärnten, Krain, Schwaben, Bayern, Lombardey, Friaul und den Alpenländem bis zum Rhein hin alles Grün der Erde in den Monaten Juli und August mit Stumpfund Stil ab.
[1348] Do ward der sterb [die Pest] in allem Österreich sehr groz, doch besunder daz zu Wienn. [...] Und starben sovil Leut, an einem Tag czwelliff hundert leich, die gelegt wurden in den gots acker.
*«*
4.12. Wachordnung der Stadt Freiburg aus dem Jahre 1406:
Vom Klötzlinstor bis zum Schwabentor die Gerber und Henni Lermündli und Hessermann. Vom Schwabentor bis zum Schneckentor die Wirte und alle aus der Vorstadt, außer den Schmieden, und mit ihnen Heinrich Geben und Peterman Tegerüin. Vom Schneckentor bis zum Peterstor die Schmiede und Tücher und mit ihnen Jakob Wisswil, Gerhard von Krot- zingen und Konrad Tegerüin Vom Peterstor bis zum Predigertor die Schuhmacher und die Zimmerleute und mit ihnen Bart von Munzingen und Konrat von Hagenau. Vom Predigertor bis zum Diebstor die Krämer und die Brotbecken, und mit ihnen Henni Snewelin und Rudolf Turner. Vom Diebstor bis zum Mönchstor die Gerber in der Neuenburg und in der Altstadt und die Metzger und mit ihnen Henni Tegerüin und Jösett Tusenlinger. Vom Mönchstor bis zum Schultor die Rebleute, Heinrich von Munzingen, der junge Rudi von Aue, Konrat Wibler und Konrat Snedery. Beim Bürgermeister die Schneider, Karrer, Küfer und Kürschner und alle, die beritten sind
4.13. Der Stadtrichter in Graz und die zwölf Geschworenen des Rates bestätigen den einheimischen Sattlermeistern 1293 ihre alten Rechte:
Ich, Volgkhmar, Richter zu Graz, und die zwölf Geschworenen des Rates in derselben Stadt tun allen kund, die diese Urkunde sehen oder hören, daß wir den angesessenen Sattlern in Graz mit dieser Urkunde ihre Rechte erneuerten und nach ihrer Bitte bestätigen Es ist ihr Recht, daß keiner Meister werden darf ohne ihren Willen Wer mit ihrem Willen Meister werden will, soll in die Bruderschaft eine Mark Pfennige geben und soll allen Angehörigen der Bruderschaft samt ihrem Gesinde ein Mahl geben Dem Richter hat er ein halbes Pfund Pfennige und dem Nachrichter 40 Pfennige zu geben Will jemand Meister werden, der bei ihnen in Graz gelernt hat, dieser braucht nur die Hälfte der Abgaben zu geben Wergegen ihr Recht das Handwerk ausübt, hat so oft Strafe zu zahlen, als es ihm die Sattler verbieten und so oft er das Verbot bricht, und zwar den Meistern sechzig Pfennig und dem Stadtrichter sechzig Pfennig. Nimmt ein Sattler eine Meisterstochter zur Ehe, so erwirbt er damit das Recht auf die Werkstätte, die ihr Vater innehatte. Alle weiteren Abgaben an die Bruderschaft sollen nur nach einstimmigem Beschluß der Bruderschaftsmitglieder gereicht werden dürfen
***
4.14. Aus dem Amtsbrief der Zunft der Kölner Leinenweber, 1397:
2 Wer in diesem Handwerk und Bruderschaft ist, der soll den Meistern jederzeit gehorsam sein So nicht, soll er dem Handwerk eine kölnische Mark Buße bezahlen
3. Niemand soll ein Stück Ware verkaufen, es sei denn zuerst im Tuchhaus geprüft.
4. Wer sein Tuch zu kurz oder zu schmal macht, muß sechs Schilling Buße zahlen, zur Hälfte zu Gottes Ehre und zur Hälfte in die Büchse zu Nutzen des Handwerks.
5. Hat ein Meister drei Jahre lang im Handwerk gedient, soll er einen Vollhamisch haben und halten zu Nutzen der Stadt.
6. Wenn zum Totengeleit aufgerufen wird und einer dem nicht nachkommt, zahlt er ein halbes Pfund Silber Buße.
7. Die Meister sollen zwei Meister aus ihren Reihen wählen, und diese sollen zu den Heiligen schwören, das Am t in Ehren zu halten und zu regieren Sie sollen die Bußen empfangen zu Nutzen des Kaufhauses und des Amts. Und diese Meister sollen das Siegel haben und zu den Heiligen schwören, das Siegel treulich zu bewahren, daß der Kaufmann geschützt sei
***
4.15. Strenge Bestimmungen fiir fremde Kaufleute im Wiener Stadtrecht (1221):
Keinem Bürger aus Schwaben, aus Regensburg oder aus Passau soll es erlaubt sein, mit seinen Waren Ungarn zu betreten Wer dagegen handelt, soll uns zwei Mark Goldes zahlen Kein auswärtiger Kaufmann soll auch mit seinem Kaufgut in der Stadt länger als zwei Monate verweilen, soll auch die Waren keinem Fremden, sondern nur an Bürger verkaufen
***
4.16. Aus der Kölner Messeordnung im Jahre 1360:
Jedem Gast und Kaufmann soll gleiches Recht in bezug auf Geld und Ware eingeräumt werden Wenn die Messezeit beginnt, soll man die Glocke von S t Martin so lange läuten, daß man eine Weile weit reiten könnte, und dann sei für alle Friede. Wenn die Messe endet, soll man dieselbe Glocke wieder läuten, und jeder soll sich fortbegeben Wer zur Messezeit den Frieden bricht, den soll man nach dem Recht richten
Niemand soll auswärtige Münzen in Kölner Geld wechseln und umgekehrt. Zwei vereidigte Wäger sollen den jeweiligen Geldwert feststellen; sie dürfen dafür von je 100 Gulden nur 2 Pfennig nehmen
Die Stadt stellt 4 oder 6 vereidigte Tuchprüfer an Sie sollen dem Herren schwören, gewissenhaft zu prüfen und nur nach dem Stadtmaß zu nehmen Und man soll nehmen vom ganzen Scharlachtuch einen halben Gulden, vom langen Tuch zwei Groschen, vom kurzen einen Groschen
Aller Wein soll während der 14 Tage dauernden Messe auf dem Rhein verkauft werden
i f k i t * * * * * *
5.1. Der römische Geschichtsschreiber Plinius der Ältere über den Bernsteinhandel:
Als zuverlässig richtig gilt, daß sich der Bernstein auf den Inseln des nördlichen Ozeans bildet. [...] Der Bernstein entsteht ähnlich dem Gummi der Kirschbäume und dem Harz der Pinien, die sich auch aus überquellendem Baumsaft bilden, aus dem Ausfluß einer Piniengattung. Die Flut spült das Harz, das entweder unter dem Einfluß der Kälte oder der Zeit, vielleicht aber auch durch Einwirkung des Seewassers erstarrt ist, hinweg. Der Bernstein wird dann an der Festlandküste angeschwemmt, da er so leicht ist, daß er zu schweben scheint und nicht zu Boden sinkt.
Daß der Bernstein tatsächlich vom Harz einer Piniengattung abstammt, ist auch daran zu erkennen, daß er, wenn man ihn reibt, wie eine Pinie riecht. Zündet man ihn an, duftet er wie Kienholz. Von den Germanen wird er zunächst nach der Provinz Pannonien gebracht und von dort zu den Venetern, die in der Nachbarschaft Pannoniens und um das Adriatische Meer herum wohnen Diese haben ihn bei den übrigen bekannt gemacht. Die germanische Küste, von der er eingeführt wird, ist von Carnuntum 600 Meilen entfernt, wie kürzlich bekannt wurde.
**•
52. Eine Quelle aus der Zeit um 870 schildert die Missionierung im slawischen Teil Kärntens:
[...] der Kaiser [Karl] selbst befahl dem Erzbischof Amo, in das Gebiet der Slawen zu gehen, diese ganze Gegend zu missionieren und den kirchlichen Dienst nach seinem bischöflichen Amt zu versehen und die Volksstämme durch Predigen im Glauben und im christlichen Lebenswandel zu bestärken So tat er auch, als er hinkam, weihte Kirchen, bestellte Priester, lehrte das Volk in Predigten Und als er von dort zurückkehrte, meldete er dem Kaiser, daß dort viel Gutes erreicht werden könne, wenn jemand dort eine Lebensaufgabe fände. Da fragte ihn der Kaiser, ob er nicht einen Geistlichen habe, der in diesem Land für Gott Seelen gewinnen könne. Und dieser antwortete, er habe einen solchen, der Gott gefallen habe und Hirte jenes Volkes werden könnte. Dann wurde auf Befehl des Kaisers Deodericus vom Salzburger Erzbischof zum Bischof geweiht. Amo und der Graf Gerold geleiteten ihn selbst
nach Slawonien, empfahlen ihn dem Schutz der Fürsten und übergaben ihm als Bischof das Gebiet der Karantaner und ihrer Nachbarn im Gebiet westlich der Drau, bis dahin, wo die Drau in die Donau fließt, daß er kraft seiner Vollmacht durch seine Predigt das vielleicht leite und durch das Evangelium lehre, Gott zu dienen, und Kirchen weihe und Priester bestelle und einführe; und er verlangte, daß er den ganzen Kirchendienst in jenen Gegenden [...] verrichte unter der kirchlichen Oberhoheit des Salzburger Bistums.
***
53. In einer Schenkungsurkunde Kaiser Ottos HI. von 996 scheint erstmals der Name Ostarrichi auf:
Im Namen der heiligen und ungeteilten Dreifaltigkeit. Otto, durch göttliche vorherbestimmte Milde Kaiser und Herrscher des Reiches. Es möge der Eifer aller unserer Getreuen, sowohl der gegenwärtigen als auch der zukünftigen, wissen, daß wir den Bitten unseres geliebten Vetters Heinrich, des Herzogs von Bayern, zustimmend, gewisse Besitzungen unseres Rechtes in der Gegend, die im Volke Ostarrichi heißt, in der Mark und Grafschaft des Grafen Heinrich, des Sohnes des Markgrafen Luitpold, in dem Ort, der Niwanhova genannt wird, in den Schoß der Freisinger Kirche, zum Dienste der Heiligen Maria und des Heiligen Bekenners Christi und Priesters Corbinian [christlicher Heiliger, der zur Zeit des Bonifatius im bayerischen Gebiet gewirkt hatte], der nun unser getreuer Gottschalk, der ehrwürdige Bischof, vorsteht, zum eigenen und ewigen Gebrauch gewährt und durch unsere kaiserliche Macht fest übergeben haben.
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5.4. Die Urkunde »Privilegium minus« (1156), in der der Babenberger Heinrich eine Reihe von Vorrechten zugesichert erhält, zählt zu den wichtigsten Dokumenten der österreichischen Geschichte.
Im Namen der heiligen und ungeteilten Dreifaltigkeit. Friedrich, von Gottes Gnaden Kaiser der Römer und Herrscher [...] Es sollen alle jetzt lebenden Getreuen Christi und unseres Kaiserreiches sowie die nachfolgenden Geschlechter wissen, wie wir mit Beihilfe der Gnade dessen, weicherden Frieden der Menschen vom Himmel auf die Erde gesandt hat, auf dem allgemeinen zu Regensburg am Feste der Geburt der Jungfrau Maria abgehaltenen Hoftage in Gegenwart vieler frommer [...] Fürsten den Streit und die Zwietracht, welche wegen des Herzogtums Bayern zwischen unserem sehr geliebten Oheim Heinrich, dem Herzog von Österreich, und unserem sehr lieben Neffen Heinrich, dem Herzog von Sachsen, lange herrschten, auf diese Weise beigelegt haben, daß der Herzog von Österreich uns das Herzogtum zurückgab, welches wir alsogleich als Lehen dem Herzog von Sachsen überließen. Der Herzog von Bayern aber stellte uns zurück die Mark Österreich mit allen seinen Rechten und allen seinen Lehen, welche einst Markgraf Leopold vom Herzogtum Bayern besaß. [...]
Damit hiedurch die Ehre und der Ruhm unseres geliebten Oheims nicht einigermaßen vermindert erscheinen, verwandelten wir nach dem Rate und dem Urteile der Fürsten [...] die Mark Österreich in ein Herzogtum mit allen Rechten unserem vorgenannten Oheim Heinrich und seiner erhabenen Gemahlin als Lehen und bestimmten gesetzlich für ewige Zeiten, daß sie und ihre Kinder nach ihnen, ohne Unterschied ob Söhne oder Töchter, dieses Herzogtum Österreich erblich vom Reiche innehaben und besitzen sollen.
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5.5. Darüber, wie Österreich 1156 Herzogtum wurde, steht im Geschichtswerk »Gesta Friderici ü.« des Otto von Freising:
Es war aber die große Sorge des erhabensten Fürsten [Friedrich I.J als alles im Reich glücklich vonstatten ging, wie der Streit, welcher zwischen seinem Fleisch und Blut, das heißt zwischen den Herzögen Heinrich II. [Jasomirgott], seinem Oheim, und gleichfalls Heinrich [dem Löwen], dem Sohn seines Oheims von seiner Mutter Seite, über das norische Herzogtum wütete, ohne Blutvergießen beendigt werden könnte. Es war nämlich dieser Heinrich der Sohn des früheren Herzogs von Bayern, den wie anderen Orts geschildert worden ist, König Konrad aus Bayern vertrieben und in Sachsen zu bleiben gezwungen hatte. Er hatte das Herzogtum erst Leopold IV., dem Sohn des Markgrafen Leopold [HL], und dann seinem Bruder, Heinrich [Jasomirgott] verliehen. [...]
Am Dienstag [nach Pfingsten 1156] darauf unterredete er sich nicht weit von der Stadt Ra- tispona [Regensburg] mit seinem Oheim, dem Herzog Heinrich und bewog ihn nun endlich, mit dem anderen Heinrich einen Vergleich abzuschließen. [...]
Da nun Mitte September schon herangekommen war, versammelten sich die Fürsten in Ra- tispona und warteten einige Tage lang auf die Ankunft des Kaisers. Als dann der Fürst seinem Oheim im Feldlager begegnete - jener blieb nämlich an zwei Meilen entfernt unter Zelten - und alle Vornehmen und Großen herbeieilten, wurde der Beschluß, welcher schon lange geheimgehalten wurde, verkündigt. [...]
Das aber war die Summe der Einigung, wie ich mich erinnere: Heinrich der Ältere [Jasomirgott] verzichtete auf das Herzogtum Bayern durch Rückgabe von sieben Fahnen an den Kaiser. Nachdem diese dem Jüngeren [Heinrich dem Löwen] übergeben worden waren, gab er durch Fahnen die Ostmark mit den seit alters zu ihr gehörenden Grafschaften zurück. Darauf machte der Kaiser aus eben dieser Mark samt genannten Grafschaften, deren man drei nannte, nach dem Urteil der Fürsten ein Herzogtum und übergab es nicht allein ihm [Heinrich Jasomirgott], sondern auch seiner Gemahlin mit zwei Fahnen und bestätigte mit einer Urkunde, daß das in Zukunft von keinem seiner Nachfolger geändert oder aufgehoben werden könnte.
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5.6. 1186 wurde zwischen dem kinderlosen, kränklichen Herzog Ottokar IV. von der Steiermark und dem Babenberger Leopold V. mit kaiserlicher Zustimmung ein Erbvertrag abgeschlossen, der die endgültige Erwerbung der Steiermark durch die Babenberger vorbereitete:
[...] und weil Gott nur in Würdigung seiner Barmherzigkeit zuerst unseren Eltern, dann uns an Leuten und Gütern großen Ruhm zuteilte, bedrängt uns eine nicht geringe Sorge, da wir keinen Erben haben, dem all unser Gut zum Erbteil werden sollte. Nachdem wir rum mit unseren Vornehmen klugen Rat gemeinsam gepflogen, haben wir den sehr edlen, gestrengen und treuen Herzog von Österreich, Leopold, unseren Blutsverwandten, als unseren Nachfolger bezeichnet, wenn wir ohne Leibeserben sterben sollten. Da sein Land an unseres grenzt, kann jedes unter eines Friedens und Fürsten Gerechtigkeit leichter regiert werden. Weil wir uns sehr freundschaftlich gesinnt wissen, setzen wir auch das volle Vertrauen in ihn, daß er Zeit seines Lebens nicht Übles gegen uns und die Unseren unternehmen werde. Damit jedoch keiner unserer Nachfolger, väterlicher Art und Freundschaft vergessend, gegen unsere Dienstmannen und Landleute gewissenlos und grausam handle, haben wir beschlossen, die Rechte der Unsrigen, wie sie verlangten, durch eine schriftliche Urkunde festzuhalten und zu bekräftigen. Insbesondere setzen wir fest, daß, sollte der genannte Herzog oder sein Sohn
Friedrich, denen wir unser Eigen zugewendet haben, uns überleben, derjenige, der Österreich irmehat, auch das Herzogtum Steiermark regieren soll, unangefochten von seinen Brüdern
***
5.7. Ein Bericht über die unmittelbare Vorgeschichte der Erwerbung Kärntens durch die Habsburger:
Die Tochter Heinrichs nun und deren Gemahl [Johann HeinrichJ der Sohn des Böhmenkönigs, entsandten eilends Boten zu dem Böhmenkonig, welcher ihnen noch zu Lebzeiten des Herzogs Heinrich zum Vormund gesetzt worden war, und ließen ihm sagen, er möge ohne Zaudern herbeieilen und in ihrem, seiner Kinder Namen das Land übernehmen. Wenn er sich nämlich der Dinge nicht mit entsprechender Umsicht und unverzüglich annehme, könnten bestimmte Folgen eintreten und den Ländern daraus Gefahren erwachsen. [...]
Die Herzöge von Österreich jedoch, die Brüder Albrecht [ü.] und Otto, als Söhne einer Schwester des Verstorbenen, da dieser keine Söhne hinterlassen, wandten sich an Ludwig [IV. von Bayern], der das Steuerruder des Reiches lenkte. Sie baten ihn, er möge sich her- beiiassen, zu ihnen nach Linz, einer an der Donau gelegenen Stadt, zu kommen. Ludwig gab ihren Bitten statt, und so trafen sie am genannten Ort mit ihm zusammen. Hier pflegten sie erst nach den Anstrengungen der Reise ein wenig der Ruhe; dann brachten die Herzöge dem Kaiser ihre Bitten und Gesuche vor. Vertrauensvoll und dringend baten sie, er möge sie mit dem erledigten Land Kärnten belehnen [...].
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6.1. Auf dem Wormser Reichstag von 1495 verkündete Kaiser Maximilian I. [1459-1519] den »Ewigen Landfrieden« zur Abstellung des Fehdewesens. Darin heißt es:
Von der Zeit der Verkündigung an soll niemand - weder er selbst noch in seinem Auftrag - einen anderen befehden, bekriegen, berauben, gefangennehmen, angreifen, belagern, auch kein Schloß, Städte, Märkte, Befestigungen, Dörfer, Höfe oder Weiler bestürmen oder ohne des anderen Willen gewaltsam und freventlich einnehmen, abbrennen oder irgendwie scha- digen; ferner soll niemand denen, die solches tun, Hilfe und Beistand leisten. [...] Wer sich gegen das Gesetz vergeht, soll — abgesehen von anderen Strafen - in Unsere und des Heiligen Reiches Acht fallen.
***
6.2. Der kaiserliche Rat Spießheimmer berichtet über die Persönlichkeit von Kaiser Maximilian I.:
Außer seiner Muttersprache beherrschte er Latein, Französisch und Italienisch. Auch beschäftigte er sich gern mit der Philosophie und sprach oft verständig über die Dinge der Na- tur, niemals jedoch oberflächlich Über die Geheimnisse des Glaubens hat er oft scharfsinnig, aber nicht ohne die Erleuchtung, die Pythagoras gewiesen hat, gestritten. Diejenigen Juristen, die die alten, abgedroschenen Meinungen vortrugen, waren ihm zuwider. So haben sich unter seiner Führung allmählich die hebräische, die griechische und die lateinische
Sprache, überhaupt die feinere Bildung in Deutschland, erhoben, sind dann langsam emporgewachsen und schließlich wie in einem Strome hervorgeschossen.
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63. Der italienische Humanist Petrarca über die Erfindung der Feuerwaffen:
Es genügt ihnen rächt der Zorn des unsterblichen Gottes, wenn er vom Himmel donnert Nein, die Menschlein (oh, welch ein Gemisch von Grausamkeit und Übermut) müssen auch auf der Erde donnern. Die menschliche Wut hat den unnachahmlichen Blitz nachgeahmt. Den Blitz, der sonst aus den Wolken geschleudert wird, schleudern sie mit einem Werkzeug, das nur aus Holz besteht, aber aus der Hölle stammt
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6.4. Der Humanist Erasmus von Rotterdam über die Nationen, 1517:
Der Engländer ist des Franzosen Feind, nur weil dieser Franzose ist. [...] Der Deutsche ist mit dem Franzosen uneinig, der Spanier mit beiden. Welche Verkehrtheit! [...] Warum machen [...] sie sich nicht zu Freunden? [...] Du, Engländer, willst dem Franzosen übel Warum willst du rächt [...] als Christ dem Christen wohl? [...] Einst hat der Rhein die Gallier von den Germanen geschieden, aber der Rhein trennt nicht den Christen vom Christen. Die Pyrenäen sondern zwar die Spanier von den Franzosen ab, lösen aber nicht die Einheit der Kirche. Das Meer trennt wohl die Engländer von den Franzosen, aber rächt die Gemein- schaft des Glaubens. [...] Euch Fürsten rede ich an, von deren Wink das Wohl der Menschen am meisten abhängt, die ihr das Bildnis des Fürsten Christus unter den Sterblichen verkörpert. [...] Der größte Teil des Volkes haßt den Krieg und bittet um Frieden. Nur einige wenige [...] wünschen den Krieg.
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6.5. Papst Sixtus IV. schreibt 1477 an Graf Eberhard V. von Württemberg, der in Tübingen eine Universität gründen möchte:
Die uns neulich von [...] Graf Eberhard von Württemberg vorgelegte Bitte enthielt die Feststellung, daß die Länder des Grafen weit und breit ausgedehnt und an Einwohnerzahl und Erträgen reich sind. Dennoch ist in seinen Städten [...] und Orten keine Universität, zu der sich die Einwohner, die in den Wissenschaften Fortschritte machen wollen, zum Lernen und Studieren begeben könnten. Daher soll nun in der Stadt Tübingen, einem ausgezeichneten Platz voll bequemer Wohnungen, in der es eine große Menge Nahrungsmittel gibt, eine Universität errichtet werden.
*** *** ***
7.1. Ein Ablaßbrief des Papstes Sixtus IV. aus dem Jahre 1480:
Alle Gläubigen erhalten vollkommenen Ablaß ihrer Sünden, wenn sie die sieben Altäre im Freiburger Münster in der dritten Woche vor Ostern besuchen, je einen Altar an einem Tag, und wenn sie von ihren Gütern, die ihnen Gott verliehen hat, zur Vollendung des Chores und zum Weiterbau der Kirche, zur Vermehrung von Kelchen, Büchern und anderer Zierde, so viel in den Opfersack legen, wie ein jeder für seine Person gewöhnlich in einer Woche verbraucht.
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12. Beschwerden der deutschen Nation über den römischen Hof, zusammengestellt 1521 von den Reichsständen:
Zum ändern überforden der Papst die erwählten Bischöfe deutscher Nation mit großen Unkosten zur Zahlung der Palliengelder. [Der Papst verlangte für die Bestätigung eines deutschen Bischofs oder Abtes hohe Gebühren.] Es werden die Pfründen deutscher Nation zu Rom etwa Büchsenmeistem, Falknern, Eseltreibern und Stallknechten und ändern untauglichen Personen verliehen. [...] Daraus erwächst, daß sie ihre geistlichen Ämter nicht selbst versehen, sondern anderen armen Priestern zu versehen befehlen [...], die oft abwesend sind. Dadurch werden die armen Laien [...] alles seelsorgerischen Trostes durch ihre Pfarrer beraubt. [...]
Es werden die Ablässe, dadurch der Seelen Heil geschehen und die man mit Beten, Fasten, Liebe des Nächsten und anderen guten Werken erlangen sollte, um Geld gegeben. [...] Es kommt wohl vor, daß der Ablaßprediger [...] nichts anderes tut als betrügen; das leidet man [...], weil er viel Gelds in den Kasten bringt.
Die Seelsorger [fordern] für die Leichenbegängnisse, Sakramente, das Messelesen eine Belohnung nach ihrem Gefallen. [...] Priester sitzen in Wirtshäusern [...] und wandeln bei Tänzen auf den Gassen mit langen Messern und laiischen Kleidern. [...]
Zu Zeiten halten die Geistlichen auch offen Wirtschaft [führen eine Gaststätte] auf den Kirchweihen.
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73. Am 31. Oktober 1517 schlug Martin Luther [1483-1546] seine 95 Thesen ans Tor der Schloßkirche zu Wittenberg. Einige der Thesen:
21. Es irren die Ablaßprediger, die da sagen, daß durch des Papstes Ablässe der Mensch von aller Sündenstrafe losgesprochen und erlöst werde.
27. Menschenlehre predigen die, welche sagen, daß, sobald der Groschen im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt.
32. Wer durch Ablaßbriefe meint, seiner Erlösung gewiß zu sein, der wird ewiglich verdammt sein samt seinen Lehrmeistern.
36. Jeglicher Christ hat, wenn er in aufrichtiger Reue steht, vollkommen Erlaß von Strafe und Schuld, die ihm auch ohne Ablaßbrief zusteht.
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7.4. Aus Luthers Schrift »An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen .Standes Besserung« (1520):
Man hat erfunden, daß Papst, Bischof, Priester, Klostervolk der geistliche Stand genannt wird, Fürsten, Herren, Ackerleut und Handwerker der weltliche Stand Aber es sind alle Christen wahrhaft geistlichen Standes. Unter ihnen ist kein Unterschied. [...] Wir werden alle durch die Taufe zu Priestern geweiht. [...] Die »Romanisten« [Anhänger des Papstes] be
haupten, daß die Priester allein Meister der Schrift sein wollen. [...] Aber wir sind ja alle Priester: Wie sollten wir denn nicht auch Macht haben [...] zu urteilen, was da Recht und Unrecht im Glauben wäre.
***
7.5. Aus Luthers Schrift »Von der Freiheit eines Christenmenschen« (1520):
Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. [...] Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan. [...] Ein jeglicher Christenmensch ist zweierlei Natur, geistlicher und leiblicher. [...]
Also hilft es der Seele nichts, ob der Leib heilige Kleider anlegt, wie Priester und Geistliche tun; auch nicht [...], ob er leiblich bete, faste, wallfahre und alle guten Werke tue. Es muß noch etwas anderes sein, was der Seele Freiheit bringt. [...] Die Seele hat kein ander Ding [...] darinnen sie lebe, fromm, frei und christlich sei, [als] das heilige Evangelium, das Wort Gottes. [...] Wo sie das Wort hat, bedarf sie keines ändern Dings mehr.
***
7.6. Karl V. lehnte auf dem Wormser Reichstag 1521 Luthers Lehre mit den Worten ab:
Ihr wißt, daß ich abstamme von den allerchristlichsten Kaisern der edlen deutschen Nation, von den katholischen Königen Spaniens, den Erzherzogen von Österreich, den Herzögen von Burgund, die alle bis zum Tode getreue Söhne der römischen Kirche gewesen sind [...] So bin ich entschlossen, festzuhalten an allem, was seit dem Konstanzer Konzil geschehen ist. Denn es ist sicher, daß ein einzelner Bruder irrt, wenn er gegen die Meinung der ganzen Christenheit steht, da sonst die Christenheit tausend Jahre oder mehr geirrt haben mußte.
***
7.7. Einem zeitgenössischen Bericht zufolge sprach Luther in seiner Verteidigungsrede vor dem Wormser Reichstag folgende Sätze:
[In meinen Büchern wird] das Papsttum und [seine] Lehre angegriffen [sowie auch diejenigen, die] mit ihrer falschen Lehre, bösem Leben und schlechtem Vorbild die Christenheit an Leib und Seele verwüstet haben. [...] So ich nun [...] widerrufen würde, so würde ich nichts anderes tun, als daß ich [der Päpste Tyrannei] stärkte und solcher großen Gottlosigkeit [...] Tür und Tor auftäte. [...] Ich kann und will nichts widerrufen, weil weder sicher noch geraten ist, etwas wider das Gewissen zu tun. Es sei denn, daß ich mit Zeugnissen der Heiligen Schrift oder mit öffentlichen, klaren und hellen Gründen und Ursachen widerlegt [...] werde, denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, weil es am Tage ist, daß sie oft geirrt und sich selbst widersprochen haben. [...] Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.
***
7.8. Im Wormser Edikt vom 8. Mai 1521 spricht Karl V. das Urteil über Luther aus:
Und befehlen euch ernstlich [...], daß ihr Martin Luther nicht beherbergt, nährt und tränkt, sondern ihn gefangennehmt und uns wohlbewahrt zusendet. [...] Desgleichen gebieten wir allen Richtern, daß sie die Schriften, Bücher, Zettel [Luthers] im ganzen Reich einsammeln, zerreißen und mit öffentlichem Feuer verbrennen. [...] Damit auch der Gift derer, die solche
Schriften verfassen, nicht weiter ausgebreitet und die hochberühmte Kunst der Druckerei allein in guten und löblichen Sachen gebraucht [...] werde, so haben wir [...] geboten, daß hinfort kein Buchdrucker im Reich Bücher oder andere Schriften über den christlichen Glauben zum ersten Mal drucke ohne Wissen und Willen der geistlichen Oberen des jeweiligen Orts und [nur] mit Erlaubnis der theologischen Fakultät der nächstliegenden Universität.
***
IS . Martin Luthers bekanntestes Kirchenlied ist der 1528 entstandene Psalm 46, sozusagen die Hymne der Lutheraner:
Ein feste Burg ist unser Gott,Ein gute Wehr und Waffen.Er hilft uns frei aus aller Not,Die uns jetzt hat betroffen.Der alt böse Feind Mit Emst er’s itzt meint.Groß Macht und viel List Sein grausam Rüstung ist,A u f Erd ist nicht seinsgleichen.
Mit unser Macht ist nichts getan.Wir sind gar bald verloren.Es streit für uns der rechte Mann,Den Gott hat selbst erkoren.Fragst du wer der ist?Er heißt Jesus Christ Der Herr Zebaoth,Und ist kein ander Gott.Das Feld muß er behalten.
Und wenn die Welt voll Teufel wär Und wollt uns gar verschlingen,So fürchten wir uns nicht so sehr,Es soll uns doch gelingen.Der Fürst dieser Welt,Wie saur er sich stellt,Tut er uns doch nicht.Das macht, er ist gericht.Ein Wörtlein kann ihn fallen.
Das Wort sie sollen lassen stahn Und kein Dank dazu haben,Er ist bei uns wohl auf dem Plan Mit seinem Geist und Gaben.Nehmen sie den Leib,Gut, Ehr, Kind und Weib,Laß fahren dahin,Sie haben'’s kein Gewinn.Das Reich muß uns doch bleiben.
7.10. Aus dem Programm des thüringischen Predigers Thomas Müntzer fum 1490-1523]:
Sie predigen, der arme Mann soll sich von den Tyrannen schinden lassen. Warm wird er die Heilige Schrift lesen lernen? Sollen die Schriftgelehrten schöne Bücher lesen und der Bauer ihnen zuhören? Matthäus sagt: »Ihr könnt nicht Gott und den Reichtümem dienen.« Wer Ehre und Güter besitzt, wird schließlich von Gott verlassen werden. Gott sagt: die Gewaltigen und ungläubigen Menschen müssen vom Stuhl gestoßen werden. Man kann nicht das Evangelium predigen, Gott fürchten, gleichzeitig die unvernünftigen Regenten ehren und den Junkern gehorchen. Ist es unmöglich, daß die Niedrigen erhoben und von den Bösen abgesondert werden? Soll die heilige Kirche erneuert werden, muß ein begnadeter Knecht Gottes kommen und wie Elias in höchstem Eifer die Christenheit von den gottlosen Regenten befreien.
***
7.11. Luthers Stellungnahme zum Bauernkrieg in der Schrift »Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern« (1525):
Dreierlei greuliche Sünden wider Gott und Menschen laden diese Bauern auf sich, daran sie den Tod verdient haben an Leib und Seele mannigfaltig: zum ersten, daß sie ihrer Obrigkeit Treu und Huld geschworen haben, untertänig und gehorsam zu sein. [...] Zum ändern, daß sie Aufruhr anrichten, rauben und plündern mit Frevel Klöster und Schlösser, die nicht ihre sind [...] Zum dritten, daß sie solche schreckliche, greuliche Sünde mit dem Evangelio decken.
***
7.12. In Jean Calvins »Unterricht in der christlichen Religion« steht:
Bei dem Gehorsam gegen die Obrigkeit [...] gibt es immer eine Ausnahme oder besser ein Gesetz, das vor allem anderen zu befolgen ist: dieser Gehorsam darf uns nie hindern, dem zu gehorchen, unter dessen Willen sich vernünftigerweise alle Wünsche der Könige unterordnen, dessen Befehl alle ihre Anordnungen weichen und vor dessen Majestät alle ihre Würde sich demütigt und erniedrigt. [—] Wohl sollen wir denen gehorchen, die Gewalt über uns haben. Aber wenn diese etwas anordnen, was gegen seinen Willen ist, so brauchen wir das nicht zu achten. In diesem Falle ist die Würde der Obrigkeit hinfällig, die Würde, die unantastbar ist, wenn sie sich dem Willen Gottes unterwirft.
*** *** ***
8.1. Aus dem Augsburger Religionsfrieden, 1555:
Wo ein Erzbischof, Bischof, Prälat oder ein anderer geistlichen Standes von unserer alten Religion abtreten würde, soll derselbige sein Erzbistum, Bistum, Prälatur und andere Beneß- zien [...] alsbald ohne Erwiderung und Verzug [...] verlassen, auch den Kapiteln [...] eine Person, der alten Religion verwandt, zu wählen zugelassen sein solL [...] Es soll auch kein Stand den anderen noch desselben Untertanen zu seiner Religion dringen [...] oder wider ihre Obrigkeit in Schutz nehmen.
82 .1556 dankte Kaiser Karls V. ab, sein mächtiges Reich wurde zwischen seinem Sohn König Philipp ü . und seinem Bruder Kaiser Ferdinand I. aufgeteilt. So entstand die österreichische und die spanische Linie der Habsburger. Letztere ist 1700 ausgestorben, und um dieses Erbe brach der spanische Erbfolgekrieg aus. - Karl sagte in seiner Abdankungsrede:
Ich habe immer meine Unfähigkeit erkannt. Heute aber fühle ich mich ganz nutzlos und dieses mein Leben, das Gott mit solcher Trübsal erfüllt, dient mehr zur Buße für meine Sünden als zum Leben.
**«
8.3. Nikolaus Kopemikus [1473-1543] aus Thom schreibt in der Vorrede zu seinem Werk »Über die Bewegungen der Himmelskörper«:
Die Meinung von der Unbeweglichkeit der Erde durch das Urteil vieler Jahrhunderte [schien] bestätigt [...]. Ich dagegen behaupte, die Erde bewege sich.
*«*
8.4. Aus einem Brief von Ignatius von Loyola, dem Begründer der »Gesellschaft Jesu«, aus dem Jahre 1553:
Daß andere Orden es uns in Fasten, Nachtwachen und ändern strengen Regeln zuvortun, die jeder seiner Eigenart entsprechend heilig hält, können wir uns schon gefallen lassen; aber im reinen und vollkommenen Gehorsam, der wahrhaften Verzicht auf unseren Eigenwillen und Verleugnung unseres eigenen Urteils einschließt: darin, teuerste Brüder, wünsche ich dringend diejenigen ausgezeichnet zu wissen, die sich in dieser Gesellschaft Gott unserm Herrn geweiht haben, und daran soll man ihre echten Söhne erkennen.
Deshalb sollen wir niemals auf die Person sehen, der wir gehorchen, sondern in ihr auf Christus unsem Herrn, dem zuliebe Gehorsam zu leisten ist. Denn nicht etwa weil der Obere sehr klug oder sehr tugendhaft oder in irgendwelchen ändern Gaben Gottes, unseres Herrn, besonders ausgezeichnet ist, sondern weil er Gottes Stelle vertritt und von ihm Vollmacht hat: deshalb muß man ihm gehorchen.
***
8.5. Ein ranghöher deutscher Jesuit über die Ziele des Ordens:
Es ist nötig, daß wir gute und beredte Prediger, hervorragende Theologen, in Prosa und Vers erfahrene Beichtväter, beim Volk beliebte Priester und eifrige Mönche einsetzen. Damit gewinnen wir erstens das Volk und zweitens die Gunst und das Wohlwollen der hohen Herren.
***
8.6. Aus den Beschlüssen des Trienter Konzils (1545 -1563):
Wenn jemand sagt, der Sünder werde durch Glauben allein gerechtfertigt, in der Meinung, es werde zur Erlangung der Rechtfertigungsgnade keine Mitwirkung verlangt, und sei in keiner Weise erforderlich, sich selbst durch Anregung des eigenen Wdlens vorzubereiten und empfänglich zu machen: der sei im Banne. [...]
Wenn jemand sagt, daß die Sakramente des neuen Gesetzes nicht alle von unserem Herrn Jesus Christus eingesetzt oder daß es mehr oder weniger als sieben seien: Taufe, Firmung, Eucharistie, Buße, letzte Ölung, Priesterweihe und Ehe; oder daß irgendeines dieser sieben nicht wahrhaft und eigentlich ein Sakrament sei: der sei im Banne. [...]
*•*
8.7. Aus der »Schulordnung der Fürstentümer Ober- und Niederbayem«, 1569:
Bei allen Schulen [...] sollen die Lehrer ihre anbefohlene Jugend zur Gottesfurcht anweisen und [...] täglich die Unterrichtsstunden mit lautem Gebet anfangen und schließen. In den lateinischen Schulen sind hierzu lateinische Hymnen, in den deutschen Schulen deutsche Gebete und gute alte katholische Gesänge zu gebrauchen. Neue deutsche Psalmen und Lieder zu lernen oder zu singen [oder den lutherischen Katechismus zu gebrauchen] soll nicht gestattet werden. [...]
Es soll keiner mehr zu einer Schulstelle angenommen werden, der nicht [...] altgläubig und katholisch [...] ist.
Die Lehrer [sollen] in der ersten Fasten- und ersten Adventswoche ein Verzeichnis ihrer Schulkinder den Pfarrern zustellen, damit diese ersehen können, welche im Beichten und Kommunizieren den schuldigen Gehorsam leisten. Die Säumigen sind den Obrigkeiten namhaft zu machen.
«*•
8.8. Aus einem Zensurerlaß von 1616:
1. Wer verbotene ketzerische Bücher besitzt, hat solche innerhalb acht Tagen [...] bei Vermeidung einer Geld- und Gefängnisstrafe der Obrigkeit einzuliefem.
2. In jeder Stadt und jedem Markte sind zwei [...] eifrige katholische Bürger als Kommissare zu ernennen, welche neben dem Pfarrer oder Prediger zweimal im Jahr [...] bei den Buchhändlern eine Visitation vornehmen und ketzerische Bücher, Lieder und Gemälde beschlagnahmen sollen, mit der Ankündigung, daß, wenn sie sich mit dergleichen noch einmal ertappen lassen, ihr Buchhandel aufgehoben werde, und daß überdies eine exemplarische Strafe eintrete. [...]
4. Niemand darf in Glaubenssachen Bücher nach Bayern hereinbringen, die nicht zu Ingolstadt, Löwen, Freiburg [Schweiz], Paris, Lyon, Rom, Venedig, Florenz, Bologna oder in Spanien gedruckt sind. Alle übrigen, sowohl in deutschen als auch in welschen Landen, in Frankreich und England gedruckten Bücher sind verboten.
***
8.9. Das bekannteste Epigramm von Friedrich Logau [1604 -1655] nimmt Bezug auf den Dreißigjährigen Krieg.
Deß Krieges Buchstaben
Kummer/ der das Marek verzehret/R aub/ der Hab vnd Gut verheret/
Jammer/der den Sinn verkehret/Elend/das den Leib beschweret/Grausamkeit/ die Unrecht kehret/Sind die Frucht die Krieg Bewehret.
**•
8.10. Aus den Bestimmungen des Westfälischen Friedens, 1648:
Damit aber vorgesorgt sei, daß künftig in der politischen Ordnung keine Streitigkeiten entstehen, sollen alle und jede Kurfürsten, Fürsten und Stände des Römischen Reiches in [...] der freien Ausübung der Landeshoheit sowohl in geistlichen als auch in weltlichen Angelegenheiten [.„1 kraft dieses Vertrages so befestigt und bestätigt sein, daß sie von niemandem jemals unter irgendeinem Vorwand tätlich gestört werden können oder dürfen [...]
Vor allem aber soll das Recht, unter sich und mit dem Ausland Bündnisse für die Erhaltung und Sicherheit abzuschließen, den einzelnen Ständen immerdar freistehen, jedoch unter der Bedingung, daß dergleichen Bündnisse nicht gegen Kater und Reich [...] gerichtet, sondern so beschaffen seien, daß der Eid, durch den ein jeder dem Kaiser und Reich verpflichtet ist, in allen Stücken unverletzt bleibt.
Ob die Untertanen aber katholisch oder Augsburgischer Konfession sind, so sollen sie nirgends wegen ihrer Religion verachtet und nicht von der Gemeinschaft der Kaufleute, Handwerker und Zünfte, von Erbschaften, Vermächtnissen, Spitälern, Siechenhäusem, Almosen und anderen Rechten oder Handelsgeschäften und noch viel weniger von den öffentlichen Friedhöfen oder der Ehre der Bestattung ausgeschlossen werden
*#*
8.11. Ein schwedischer Bericht über das Deutschland nach dem dreißigjährigen Krieg:
Wie jämmerlich stehen nun große Städte! Da zuvor tausend Gassen gewesen sind, sind nun nicht mehr hundert. [...] Die kleinen Städte, die offenen Flecken! Da liegen sie verbrannt, zerfallen, zerstört. [...] Sie haben sie [Kirchen] verbrannt, zu Pferdeställen und Marketenderhäusem gemacht. [...] Man wandert 10 Meilen und sieht nicht einen Menschen, nicht ein Vieh. [...] In allen Dörfern sind die Häuser voll von Leichnamen und Asem, Mann, Weib, Kinder und Gesinde, Pferde, Schweine, Kühe, Ochsen neben- und untereinander, vom Hunger und von der Pest erwürgt [...], von Wölfen, Hunden, Krähen und Raben gefressen, weil niemand mehr dagewesen, der sie begraben hat.
*** *** ***
9.1. Im Barock galt der komplizierte Ausdruck als elegant. Die offizielle Adresse des Reichskammergerichts zu Wetzlar lautete beispielsweise:
Denen hoch- und wohlgeborenen, edlen, festen und wohlgelahrten, dann respektive hochge- bomen, hoch- und wohledelgebomen, respektive Ihro kaiserlichen und königlichen Majestät verordneten wirklichen geheimen Räten, dann des löblich kaiserlichen und Reichskammergerichts zu Wetzlar fachverordneten Kammer-Richter-Präsidenten und Beisitzern, unseren besonders lieben Herren und lieben Besondem, dann hochgeehrtest auch respektive freundlich vielgeliebten und hochgeehrten Herrn Vettern, dann hoch- und vielgeehrten wie auch weiteres respektive insbesonders hochgeneigt und hochgeehrtesten Herren
**•
92. Anfang und Ende des 1783 entstandenen Aufsatzes »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« von Immanuel Kant [1724-1804]:
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit
Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. [...]
Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung. Daß die Menschen, wie die Sachen jetzt stehen, im ganzen genommen, schon im Stande wären, oder darin auch nur gesetzt werden könnten, in Religionsgedanken sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines ändern sicher und gut zu bedienen, daran fehlt noch sehr viel Allein, daß jetzt ihnen doch das Feld geöffnet, sich darin frei zu bearbeiten, und die Hindernisse der allgemeinen Aufklärung, oder des Ausganges aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit, allmählich weniger werden, davon haben wir doch deutliche Anzeigen. In diesem Betracht ist dieses Zeitalter das Zeitalter der Aufklärung, oder das Jahrhundert Friedrichs.
***
9.3. Ein Beispiel der heiteren Seiten der Aufklärung ist das Gedicht »Lob der Faulheit« von Gotthold Ephraim Lessing [1729-1781].
Lob der Faulheit
Faulheit, jetzo will ich dir Auch ein kleines Loblied bringen. - O... wie... sau... er... wird es mir,Dich... nach Würden... zu besingen!Doch, ich will mein bestes tun,Nach der Arbeit ist gut ruhn.
Höchstes Gut! wer dich nur hat,Dessen ungestörtes Leben - Ach!... ich... gähn... ich... werde matt...Nun... so... magst du... mir’s vergeben,Daß ich dich nicht singen kann;Du verhinderst mich ja dran.
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9.4. Die Lebensregeln in Adolph Knigges [1752-1796] Buch »Über den Umgang mit Menschen« prägten lange das Verhalten der Deutschen.
Sorge für die Gesundheit deines Leibes und deiner Seele, aber verzärtle beide nicht! Wer auf seinen Körper losstürmt, der verschwendet ein Gut, welches oft allein hinreicht, ihn über Menschen und Schicksal zu erheben und ohne welches alle Schätze der Erde eitle Bettel-
wäre. Wer aber jedes Lüftchen ßrchtet und jede Anstrengung und Übung seiner Glieder scheut, der lebt ein ängstliches, nervenloses Austemleben und versucht es vergeblich, die verrosteten Federn in Gang zu bringen, wenn er in den Fall kommt, seiner natürlichen Kräfte zu bedürfen. Wer sein Gemüt ohne Unterlaß dem Sturme der Leidenschaften preisgibt oder die Segel seines Geistes unaufhörlich spannt, der rennt auf den Strand oder muß mit abgenutztem Fahrzeuge nach Hause lavieren, wenn grade die beste Jahreszeit zu neuen Entdeckungen eintritt. Wer aber die Fähigkeit seines Verstandes und Gedächtnisses immer schlummern läßt oder vor jedem kleinen Kampfe zurückbebt, der hat nicht nur keinen wahren Genuß, sondern ist auch ohne Rettung verloren da, wo es auf Kraft, Mut und Entschlossenheit ankommt.
Hüte dich vor eingebildeten Leiden des Leibes und der Seele. Laß dich nicht gleich niederbeugen von jedem widrigen Vorfälle, von jeder körperlichen Unbehaglichkeit. Fasse Mut! Sei getrost! Alles in der Welt geht vorüber, alles läßt sich überwinden durch Standhaftigkeit; alles läßt sich vergessen, wenn man seine Aufmerksamkeit auf einen anderen Gegenstand heftet.
»**
9.5. Die bekannteste Formulierung der Grundsätze des Merkantilismus stammt vom französischen F inanzm iniste r Jean Baptiste Colbert aus dem Jahre 1664.
Die Holländer [...] ßhren [...] Industrieerzeugnisse bei uns ein, um im Austausch dafür von uns für ihren Verbrauch und Handel nötigen Materialien zu beziehen. Würden statt dessen [...] Manufakturen bei uns eingerichtet, so hätten wir nicht nur deren Erzeugnisse für unseren Bedarf, sondern wir hätten auch noch Überschüsse für die Ausfuhr, die uns wieder einen Rückfluß an Geld einbrächten. Dies ist [...] aber das einzige Ziel des Handels. [...]
Ich glaube [...], daß es einzig und allein der Reichtum an Geld ist, der die Unterschiede an Größe und Macht zwischen den Staaten begründet. [...]
Durch die Manufakturen [werden sicherlich] eine Million zur Zeit arbeitslose Menschen ihren Lebensunterhalt gewinnen. Eine ebenso beträchtliche Anzahl wird in der Schiffahrt und in den Seehäfen Verdienst finden, und die fast unbegrenzte Vermehrung der Schiffe wird im gleichen Verhältnis Größe und Macht des Staates vermehren. [...]
[Ich] schlage vor [...]: Es sollte jährlich eine bedeutende Summe für die Manufakturen und die Förderung des Handels [...] ausgeworfen werden. Desgleichen [...] Zahlung von Zuschüssen an alle, die neue Schiffe kaufen oder bauen oder große Handelsreisen unternehmen. Die Landstraßen sollten ausgebessert, die Zolbtationen an den Flüssen aufgehoben [...], die Flüsse [...] schiffbar gemacht werden, [...] man prüfe sorgfältig die Frage [eines Mittelmeer- Atlantik-Kanals und eines Mittelmeer-Nordsee-Kanals] und unterstütze tatkräßgdie Ost- und Westindbche Kompagnie [Handelsgesellschaft].
»**
9.6. Der führende Theoretiker des österreichischen Merkantilismus Hörnigk schreibt:
Denn ob heutigen Tages eine Nation mächtig und reich sey oder nicht, hanget nicht ab von der Menge oder der Wenigkeit ihrer Kräfte und Reichtum, sondern ßm ehmlich ab deme, ob ihre Nachbarn deren mehr oder weniger ab sie besitzen.
9.7. Das Toleranzpatent von Joseph ü. (1781) gestattete den Protestanten beider Bekenntnisse und den Griechisch-Orthodoxen die freie Religionsausübung, wenngleich das katholische Bekenntnis den Vorrang der Staatsreligion bewahrte.
Überzeugt einerseits von der Schädlichkeit alles Gewissenszwanges und andererseits von dem großen Nutzen, der für die Religion und für den Staat aus einer wahren christlichen Toleranz entspringt, haben Wir Uns bewogen gefunden, den Augsburgischen und den Helvetischen Religionsverwandten, dann den nicht unierten Griechen ein ihrer Religion gemäßes Privat-Exercitium allenthalben zu gestatten ohne Rücksicht, ob selbes jemals gebräuchlich oder eingeführt gewesen sei oder nicht. Der katholischen Religion allein soll der Vorzug des öffentlichen Religions-Exercitü verbleiben. [...] Insbesondere aber bewilligen Wir: Erstens den akatholischen Untertanen, wo hundert Familien existieren, wenn sie auch nicht in dem Orte des Bethauses oder Seelsorgers, sondern ein Teil derselben auch einige Stunden entfernt wohnen, ein eigenes Bethaus nebst einer Schule erbauen zu dürfen. [...] Seine K K Majestät haben verordnet, daß bei Vergebung der Ämter einzig und allein auf Verdienst, Fähigkeit und frommen christlichen Lebenswandel Bedacht genommen werden soll mit Hintansetzung aller Rücksicht auf die Religionsverschiedenheit.
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9.8. Kurfürst Friedrich Wilhelm (der Große Kurfürst) im sogenannten »Potsdamer Edikt« über die Aufnahme der Hugenotten:
Wir, Friedrich Wilhelm, von Gottes Gnaden Markgraf zu Brandenburg, des HL Römischen Reiches Ertz-Cammerer und Chur-Fürst [...] thun kund und geben [...] zu wissen, nachdem die harten Verfolgungen und rigorosen proceduren, womit man [...] in dem Königreiche Frankreich wider Unsere der Evangelisch-Reformierten Religion zugethane Glaubensgenossen verfahren, viele Familien veranlasset, [...] selbigen Königreich hinweg in andere Länder sich zu bewegen, daß wir dannenher aus gerechtem Mitleiden [...] bewogen werden, vermittels dieses von Uns eigenhändig unterschriebenen Edikts denselben eine und freye retraite [Zuflucht] in alle Unsere Lande und Provincen in Gnaden zu offerieren, und ihnen daneben kund zu thun, was für Gerechtigkeiten, Freyheiten und Praerogativen [Vorrechte] Wir ihnen zu concediren gnädigst gesonnen seyn, um dadurch die grosse Noth und Trübsal [...] auf einige Weise zu subleviren [erleichtern] und erträglicher zu machen. [...]
Diejenigen, welche einige Manufakturen von Tuch, Stoffen, Hüten oder was sonsten ihre Profession mit sich bringet, anzurichten willens seyn, wollen Wir nicht allein desfals verian- geten Freyheiten Privilegiis und Begnadigungen versehen, sondern auch dahin bedacht seyn [...], daß ihnen auch mit Gelde und ändern Nothwendigkeiten, deren sie zur Fortsetzung ihres Vorhabens bedürfen werden, [...] an Hand gegangen werden sott.
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9.9. Eine Anweisung von König Friedrich Wilhelm I. an seine Minister, 1722:
Wenn einer der vier Herren krank ist, so müssen die anderen seine Arbeit mit übernehmen. [...] Sie sollen jeden Montag Mittwoch, Donnerstag, Freitag [...] Zusammenkommen. [...] im Sommer um 7 Uhr früh, des Winters um 8 Uhr, und sie sollen nicht eher auseinandergehen, bis alles abgetan ist, und können sie [...] nicht fertig werden, so sollen sie bis abends um 6 Uhr zusammenbleiben. Deswegen befehle ich, daß 4 Portionen Essen aus meiner Küche [nach] oben gebracht werden, dann etliche essen können, die Hälfte arbeiten, die andere
Hälfte wieder essen und die andere Hälfte wieder arbeiten. [...] Sie sollen mir jede Woche einen kurzen Bericht tun, was jeden Tag gemacht wurde. [...] Ich bin doch Herr, ich kann doch hernach tun, was ich will [...] Wer da wird 1 Stunde zu spät kommen [...], soll 100 Dukaten [zahlen]; wer da fehlt und nicht krank ist, hat 6 Monate bei Wasser und Brot in Spandau in einer Kammer zu sitzen.
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9.10. Eine Verordnung von Friedrich Wilhelm I. aus dem Jahre 1731:
Ein jeder Untertan auf dem Land soll sich die Ausrottung der Sperlinge mit allem Fleiß angelegen sein lassen und sechs Jahre nacheinander ein jeder [...] Bauer jährlich 12 [...] Sperlingsköpfe an die Obrigkeit abzuliefem schuldig sein oder an deren Statt für einen jeden einen Dreyer zur Armenkasse des Dorfes zahlen.
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9.11. Aus dem Generalschulplan für Preußen von 1736:
§ 1 Das Schulgebäude errichten und erhalten die Gemeinden.
§ 2 Der König gibt freies Bauholz; Türen, Fenster und Kachelofen werden von den Opfer- geldem angeschafft.
§ 4 Jede Kirche zahlt zum Unterhalt des Schulmeisters jährlich vier Taler. Dagegen helfen die Schulmeister beim Kirchendienst mit.
§ 6 Zu seinem Unterhalt werden dem Schulmeister eine Kuh, ein Kalb, ein Paar Schweine und etwas Federvieh frei auf der Weide gehalten und zwei Fuder Heu und zwei Fuder Stroh geliefert.
§ 7 Dazu bekommt er von dem König einen Morgen Land.
§ 9 Jedes Schulkind gibt ihm jährlich, es gehe zur Schule oder nicht, 1/6 Taler.
§ 10 Ist der Schulmeister ein Handwerker, so kann er sich schon ernähren; ist er es nicht, so wird ihm erlaubt, in der Erntezeit sechs Wochen lang auf Tagelohn zu gehen.
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9.12. Aus einem Klassenbuch von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Es werden jeweils Name, Alter, »Fleiß im Schulgehen« und Verhalten der Schüler genannt.
Christoff N. - 13 - des Sommers - guter ahrt und achtsam.
Hanß N. - 14 - wenigste Zeit - Munter, gehorsam undßrchtet Gott.
Margrete N. - 12 - Kombt ziemlich fleißig - Hat wieder Unachtsamkeit zu streiten und sich zu beßem.
AnnaN. - 11 - 1/4 Jahr - Muß sich für Lügen hüten.Christian N. - 9 - 1/2 Jahr - Gehorsam dabey schertzhafft.
Maria N. - 8 - bleibt offt aus - Muß nicht unbeständig seyn und andere offt anklagen.
Elisabeth N. - 7 - Komt nur des Vormittags - Gott bewahre sie für Verwegenheit, liederl Wesen und trotz.
Susanna N. - 6 - Kombt alzeit - Einfältig u. stille wie ein Lam.
Gerdrut N. - 5 - ist erst Kommen - Daher noch nicht offenbahr.
* * *
9.13. Ein Vertrag zwischen einem Neusiedler und der Königsberger Domänenkammer [Gutsverwaltung] über die Besetzung unbebauten Landes, 1719:
George Jedzoneck, ein freier Mann und kein königlicher Erbuntertan, nimmt von jetziger Brachzeit andere zwei wüste Hufen [etwa 14,5 ha unbebauten Lands] in dem königlichen Dorfe Bienau zu bebauen an, dergestalt, daß er gegen Genuß dreier Freijahre auf selbigen ein gutes Wohnhaus, Scheune und Schuppen aufbauen kann; nach genossenen Freijahren aber gleich anderen Zinsbauem dieses Dorfs, den gewöhnlichen Zins, nämlich 4 Reichstaler 40 Groschen pro Hufe, jährlich zu zahlen hat, dann auch alle übrigen Lasten an Grundsteuer, Einquartierung [kostenlose Beherbergung von Soldaten! Zehntem, Frondienste bei dem königlichen Vorwerk [Haupthof der Domäne] auf sich zu nehmen hat. [...] Wenn er einmal solches Erbe verlassen wollte, [muß er] einen tüchtigen Wirt an seine Stelle setzen, der alles, so in diesem Vertrag enthalten, übernimmt.
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9.14. Friedrich ü. [1712-1786] formulierte die Grundsätze des aufgeklärten Monarchen so:
Der Herrscher ist nicht zu seinem hohen Rang erhoben, man hat ihm nicht die höchste Macht anvertraut, damit er in Verweichlichung dahinlebe, sich vom Mark des Volkes mäste und glücklich sei, während alles darbt. Der Herrscher ist der erste Diener des Staates. [...]
Die erste Bürgerpflicht ist, seinem Vaterlande zu dienen. Ich habe sie in allen verschiedenen Lagen meines Lebens zu erfüllen gesucht. Als Träger der höchsten Staatsgewalt hatte ich die Gelegenheit und die Mittel, mich meinen Mitbürgern nützlich zu erweisen. Meine Liebe zu ihnen gibt mir den Wunsch ein, auch nach meinem Tode noch einige Dienste zu leisten. [...]
In einem Staate wie Preußen ist es durchaus notwendig, daß der Herrscher seine Geschäfte selbst führt; denn ist er klug, wird er nur dem öffentlichen Interesse folgen, das auch das seine ist. Ein Minister dagegen hat, sobald seine eigenen Interessen in Frage kommen, stets Nebenabsichten. [...]
Ich habe mich entschlossen, niemals den Lauf des gerichtlichen Verfahrens zu stören. In den Gerichtshöfen müssen die Gesetze sprechen und die Herrscher schweigen. [...] Katholiken, Lutheraner, Reformierte, Juden und zahlreiche andere christliche Sekten wohnen in meinem Staate und leben friedlich miteinander. Wenn der Herrscher aus falschem Eifer auf den Gedanken käme, eine dieser Religionen zu bevorzugen, so würden sich sofort Parteien bilden und stetige Streitigkeiten ausbrechen [...] und Tausende von Untertanen würden unsere Nachbarn mit ihrem Gewerbefleiß bereichern und ihre Volkszahl vermehren.
9.15. Friedrich ü. begründet die Vorteile der »langen Kerls« (1768):
In den ersten Kriegen entschieden nicht die Geschütze, sondern die Menschen den Sieg, und Bataillone mit großen Figuren zerstreuten, das Bajonett fällend, mit einem Schlag feindliche Truppen, deren Soldaten sich nicht mit den Gestalten der unseren messen konnten.
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9.16. Friedrich ü. in seinem Lehrbuch für Generale (1753) über die Disziplin:
Unsere Regimenter bestehen halb aus Landes/ändern und halb aus Ausländem. [...] diese letzteren [...] versuchen bei der ersten Gelegenheit wieder wegzulaufen. Deshalb ist es besonders wichtig: [...] Daß man meidet, nahe an einem Wald zu lagern. [...] Daß man bei Nacht nicht marschiert. [...] Daß, wenn man [zum Rückzug] genötigt ist, man dies den Truppen sorgfältig verbirgt.
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9.17. Die erste Strophe eines Soldatenliedes, das zur Melodie des Marschliedes »Wir preußischen Husaren, wann kriegen wir das Geld« gesungen wurde, wenn kein Vorgesetzter in der Nähe war. Sahen sich die Soldaten beobachtet, sangen sie einfach auf das »offizielle« Marschlied um.
O, König von Preußen, du großer Potentat, wie sind wir deines Dienstes so überdrüssig satt!Was fangen wir nun an in diesem Jammertal, allwo ist nichts zu finden als lauter Not und Qual
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9.18. Friedrich ü. über Adel und Bürgertum:
Ein Gegenstand der Politik des Königs von Preußen ist die Erhaltung seines Adels. [...] Damit der Adel sich in seinem Besitz behauptet, ist zu verhindern, daß die Bürger adlige Güter erwerben. Im großen und ganzen hat der Adel Ehrgefühl. Es ist zwar nicht zu leugnen, daß hin und wieder auch Verdienst und Talent bei Nichtadligen vorkommt, aber dies ist doch recht selten der Fall Der Adelsstand [bildet] die Grundlagen und die Säulen des Staates. [...]
Erwürben Bürgerliche Landbesitz, so stünden ihnen alle Stuutsämter offen. Die meisten denken niedrig und sind schlechte Offiziere.
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9.19. Friedrich ü. über die Religion:
Für die Politik ist es völlig belanglos, ob ein Herrscher religiös ist oder nicht. Geht man allen Religionen auf den Grund, so beruhen sie auf einem mehr oder minder widersinnigen Sy
stem von Fabeln. [...] Allein diese [...] Wundergeschichten sind für die Menschen gemacht, und man muß auf die große Masse soweit Rücksicht nehmen, daß man ihre religiösen Gefühle nicht verletzt, einerlei, welchem Glauben sie angehören.
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9.10. Im Jahre 1851 schuf der klassizistische Bildhauer Christian Daniel Rauch [1777-1857] das Reiterdenkmal Friedrichs ü. Kurz nachdem es aufgestellt worden war, fand man am Sockel des Monuments einen Zettel mit den Versen:
Alter Fritz, steig du hernieder, und regier’die Preußen wieder, laß in diesen schweren Zeiten lieber Friedrich Wilhelm reiten!
Das Denkmal stand bis 1950 Unter den Linden, dann wurde es abmontiert. Von 1963 an durfte man es im Hippodrom von Schloß Sanssouci besichtigen, seit 1980 befindet es sich wieder Unter den Linden.
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9.11. Im Jahre 1713 erließ Kaiser Karl VI. die »Pragmatische Sanktion«, ein Gesetz, demzufolge alle der Habsburgischen Dynastie unterstehenden Länder stets ein einheitliches, unteilbares Ganzes unter der Herrschaft seiner Nachkommen bilden sollten. Bei Fehlen männlicher Erben sollen auch weibliche Erben an die Regierung gelangen können. Eine zeitgenössische Beschreibung der Erlassung der »Pragmatischen Sanktion«:
[Nach der vom Kaiser angeordneten Verlesung der Abmachungen sei zu entnehmen gewesen] daß daher Ihrer kaiserlichen Majestät übertragenen spanischen Erbkönigreichen und Landen nunmehr nach Absterben [...] Ihres Herrn Bruders Majestät [...] ohne männlichen Erben auf Ihre kaiserliche Majestät auch alle dessen hinterlassene Erbkönige und Landen gefallen und sämtlich bei ihren ehelichen männlichen Leibeserben nach dem iure primogeniturae, solange solche vorhanden, unzerteilt zu verbleiben haben; auf ihres männlichen Stammes Abgang aber - so Gott gnädig abwenden wolle - auf die ehelich hinter- lassenen Töchter allezeit nach Ordnung und Recht der primogenitur gleichmäßig unzerteilt kommen: ferner in Ermangelung oder Abgang der von Ihrer kaiserlichen Majestät herstammenden aller ehelichen Descendenten männlichen und weiblichen Geschlechts, dieses Erbrecht [...] unzerteilt auf Ihrer Majestät Herrn Bruders Josephi [...] nachgelassene Frauen Töchter und deren eheliche Descendenten wiederum auf obige Weise nach dem iure primogeniturae falle.
**»
9.12. Zwei Wochen nach dem Tod von Kaiser Karl VI. (1740) schrieb Friedrich ü . an seinen Wiener Gesandten:
Der Kaiser ist tot, das Reich wie das Haus Österreich ist ohne Haupt, die Finanzen Österreichs sind zerrüttet, die Armeen heruntergekommen [...]. Dazu treten die sattsam bekannten Prätentionen Bayerns urul Sachsens, die zur Zeit zwar noch unter der Asche glimmen, aber jeden Augenblick aufflammen können, die geheimen Anschläge Frankreichs, Spaniens und Savoyens, die gar bald zu Tage treten werden. Wie ist es da nur möglich, daß man sich in Wien solcher Sorglosigkeit hingibt und gar nicht der Gefahren achtet, die sich in so fürchterlicher Anzahl wider jenes unglückliche Haus auftürmen werden, und wie können so viele
klarsehende Männer, die noch im Rat der Krone sitzen und die keine Schuld an der Verwahrlosung des Staates tragen, sich zum Nachteil der Rettung dieser Großmacht vor heillosem Untergang der Täuschung hingeben, zu glauben, alles werde auf Befehl für die ungeschmälerte Aufrechterhaltung der Erbfolge mit ganzem Herzen in den Krieg ziehen?
**«
9.13. Zwei Stimmen zur Teilung Polens. Das erste Zitat stammt von Friedrich ü. (1752), das zweite von Maria Theresia (1772).
[Friedrich ü.] Die Provinz, die uns nächst Sachsen am gelegensten wäre, ist Pobiisch-Preu- ßen. Es trennt Preußen von Pommern. [...] Polen ist ein Wahlreich, beim Tod seiner Könige ist es in ständiger Unruhe durch den Streit der Parteien. Das muß man sich zunutze machen und bei eigener Neutralität, bald eine Stadt, bald einen Distrikt für sich gewinnen, bis das ganze verspeist ist. [...] Erwerbungen, die man durch die Feder erreicht, sind denen, die man mit dem Schwert macht, immer vorzuziehen. Man wagt dabei weniger und ruiniert weder seine Börse noch seine Armee.
[Maria Theresia] In dieser /polnischen] Sache, bei der [...] das offenbare Recht himmelschreiend gegen uns ist, [...] muß ich bekennen, daß ich mich zeitlebens [...] noch nie so geschämt habe. Bedenken Sie, was wir in aller Welt für ein Beispiel geben, wenn wir um ein elendes Stück Polens [...] unsere Ehre und unseren Ruf aufs Spiel setzen.
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9.14. Am 12. Februar 1797 wurde die Hymne von Joseph Haydn (Musik) und Lorenz Leopold Haschka (Text) auf Kaiser Franz ü. zum ersten Mal gesungen. Mit mehrfach geändertem Text galt das Lied bis Ende des ersten Weltkrieges als österreichische Nationalhymne.
Gott erhalte Franz den Kaiser
Gott erhalte Franz den Kaiser,Unsem guten Kaiser Franz!Hoch als Herrscher, hoch als Weiser Steht er in des Ruhmes Glanz.Liebe windet Lorbeerreiser Ihm zum ewig grünen Kranz,Gott erhalte Franz den Kater,Unsem guten Kaiser Franz!
Über blühende Gefilde Reicht sein Szepter weit und breit,Säulen seines Throns sind Milde,Biedersinn und Redlichkeit,Und von seinem Wappenschilde Strahlet die Gerechtigkeit.
. Gott erhalte Franz den Kaiser,Unsem guten Kaiser Franz!
Sich mit Tugenden zu schmücken,Achtet er der Sorgen wert,Nicht um Völker zu erdrücken,
Flammt in seiner Hand das Schwert, Sie zu segnen, zu beglücken,Ist der Preis, den er begehrt.Gott erhalte Franz den Kaiser, Unsem guten Kaiser Franz!
Erzerbrach der Knechtschaft Bande, Hob zur Freiheit uns empor.Früh erleb ’ er deutscher Lande, Deutscher Völker höchsten Flor,Und vernehme noch am Rande Später Gruft der Enkel Chor:Gott erhalte Franz den Kaiser,Unser guten Kaiser Franz!
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10.1. Ein Beispiel dafür, wie sehr der Zunftzwang im 19. Jahrhundert ein Hemmschuh der industriellen Entwicklung wurde:
Frankfurt [ist] von Fabriken fast ganz entblößt. Als Ursachen wird vor allen Dingen der Zunftzwang angegeben. Ein Fabrikant kann [keine Belegschaft] von eigenen Arbeitern halten, ohne fast mit allen Innungen in Händel zu geraten. Der [...] Wagenfabrikant in Offenbach [...] würde hier gezwungen sein, seine zahlreichen Bedürfnisse von hiesigen Schmieden, Schlossern, Schreinern, [...] Sattlern, [...] Lackierern usw. verfertigen zu lassen. Er würde dabei [...] tausenderlei Vorteile entbehren. [...] Zwar [will man] die hiesigen Zünfte [einschränken]. Dies aber gehört zu den delikatesten Gegenständen [für die Stadtregie- rung].
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10.2. Im Oktoberedikt von Freiherr vom Stein [1757-1831] über die Bauernbefreiung (9. Oktober 1807) heißt es:
Wir haben erwogen, daß es eben sowohl den unerläßlichen Forderungen der Gerechtigkeit als den Grundsätzen einer wohlgeordneten Staatswissenschaft gemäß sei, alles zu entfernen, was den einzelnen bisher hinderte, den Wohlstand zu erlangen, den er nach dem Maß seiner Kräfte zu erreichen fähig war. Wir haben ferner erwogen, daß die vorhandenen Beschränkungen teils in Besitz und Genuß des Grundeigentums, teils in den persönlichen Verhältnissen des Landarbeiters Unserer wohlwollenden Absicht entgegenwirken und der Wiederherstellung der Kultur eine große Kraft seiner Tätigkeit entziehen, jene, indem sie auf den Wert des Grundeigentums und den Kredit des Grundbesitzers einen höchst schädlichen Einfluß haben, diese, indem sie den Wert der Arbeit verringern.
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10.3. In der »Städteordnung« (1808) von Freiherr vom Stein wird den Bürgern der Städte eine gewisse Selbstverwaltung gewährt.
Die Stadtverordneten erhalten durch ihre Wahl die unbeschränkte Vollmacht, die Bürgergemeinde zu vertreten und sämtliche Gemeindeangelegenheiten für sie zu besorgen. Sie sind berechtigt, alle diese Angelegenheiten ohne Rücksprache mit der Gemeinde abzuma
chen. Sie bedürfen weder einer Instruktion noch einer Vollmacht durch die Bürgerschaft, und sie sind auch nicht verpflichtet, derselben über ihre Beschlüsse Rechenschaft abzugeben. Das Gesetz und die Wahl sind ihre Vollmacht, ihre Überzeugung und ihre Ansicht vom Besten der Stadt sind ihre Instruktion, ihr Gewissen aber ist die Behörde, der allein sie deshalb Rechenschaft zu geben haben.
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10.4. Aus den »Politischen Leitsätzen« des preußischen Ministerpräsidenten Freiherr vom Stein:
Ich halte es für wichtig, die Fesseln zu zerbrechen, durch welche die Bureaukratie den Aufschwung der menschlichen Tätigkeit hemmt, jenen Geist der Habsucht, des schmutzigen Vorteils, jene Anhänglichkeit ans Mechanische zu zerstören, die diese Regierungsform beherrschen. Man muß die Nation daran gewöhnen, ihre eignen Geschäfte zu verwalten und aus jenem Zustande der Kindheit hinauszutreten, in dem eine immer unruhige, immer dienstfertige Regierung die Menschen halten will Der Übergang aus dem alten Zustand der Dinge in eine neue Ordnung darf nicht zu hastig sein, und man muß die Menschen nach und nach an selbständiges Handeln gewöhnen, ehe man sie zu großen Versammlungen beruft und ihnen große Interessen zur Diskussion anvertraut.
***
10.5. Aus dem »Katechismus der Deutschen zum Gebrauch für Kinder und Alte«, 1809:
Frage: Wer sind deine Feinde, mein Sohn?
Antwort: Napoleon und [...] die Franzosen.
Frage: Ist sonst niemand, den du hassest?
Antwort: Niemand auf der ganzen Welt.
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10.6. Aufruf an die Deutschen zum gemeinschaftlichen Kampf gegen die Franzosen, 1813:
Deutsche für Deutsche!
Nicht Bayern, nicht Braunschweiger, nicht Hannoveraner, nicht Hessen, nicht Holsteiner, [...] nicht Österreicher, [...] nicht Preußen, nicht Sachsen, nicht Schwaben [...] Alles was sich Deutsche nennen darf - nicht gegeneinander sondern: Deutsche f ir Deutsche!
***
10.7. Der berühmteste patriotische Dichter der Napoleon-Zeit, Emst Moritz Arndt, schrieb 1813 unter dem Titel »Was ist des Deutschen Vaterland?«:
Was ist des, Deutschen Vaterland?So nenne ich das große Land!Soweit die deutsche Zunge klingt Und Gott im Himmel Lieder singt,
Das soll es sein!Das, wackrer Deutscher, nenne dein!Das ist des Deutschen Vaterland...
***
10.8. Die 28jährige Eleonore Prohaska, die sich als August Renz ausgab und mit dem Lützower Freikorps gegen Napoleon kämpfte, schrieb an ihren Bruder:
Ich bin seit vier Wochen schon Soldat! Erstaune nicht, aber schelte auch nicht. Du weißt, daß der Entschluß dazu schon Anfang des Krieges meine Brust beherrschte. Ich war im Innern meiner Seele überzeugt, keine schlechte oder leichtsinnige Tat zu begehen; denn sieh nur Spanien und Tirol, wie da die Weiber und Mädchen handelten! Ich verkaufte also mein Zeug, um mir erst eine anständige Männerkleidung zu kaufen. Dann kaufte ich mir eine Büchse für acht Taler, Hirschfänger und Tschako zusammen für drei und einen halben Taler. Nun ging ich unter die schwanen Jäger. Meiner Klugheit kannst Du Zutrauen, daß ich unerkannt bleibe.
Lebe recht wohl, guter Bruder! Ehrenvoll oder nie siehst Du mich wieder.*»*
10.9. Jakob Grimm [1785-1863] und Wilhelm Grimm [1786-1859] begannen 1806, mündlich überlieferte Märchen aufzuzeichnen. Sie hielten sich in der ersten Fassung der »Kinder- und Hausmärchen« (1812-1815) stilistisch und inhaltlich noch streng an die Vorlagen. Aus dieser Fassung sei der folgende Text zitiert:
Die wunderliche Gasterei
A u f eine Zeit lebten eine Blutwurst und eine Leberwurst zusammen, und die Blutwurst bat die Leberwurst zu Gast. Wie es Essenszeit war, ging die Leberwurst ganz vergnügt zu der Blutwurst, als sie aber in die Hausthüre trat, sah sie allerlei wunderliche Dinge, auf jeder Stiege der Treppe, deren viele waren, immer etwas anderes, da war ein Besen und eine Schippe, die sich miteinander schlugen, dann ein Affe mit einer großen Wunde am Kopf und dergleichen mehr.
Die Leberwurst war ganz erschrocken und bestürzt darüber, doch nahm sie sich ein Herz, ging in die Stube und wurde von der Blutwurst freundschaftlich empfangen. Die Leberwurst hub an, sich nach den seltsamen Dingen zu erkundigen, die draußen auf der Treppe wären, die Blutwurst that aber, als hörte sie es nicht, oder als sey es nicht der Mühe werth davon zu sprechen, oder sie sagte etwa von der Schippe und Besen: »es wird meine Magd gewesen seyn, die auf der Treppe mit jemand geschwätzt«, und brachte die Rede auf etwas anderes.
Die Blutwurst ging darauf hinaus, und sagte, sie müsse in der Küche nach dem Essen sehen, ob alles ordentlich angerichtet werde, und nichts in die Asche geworfen. Wie die Leberwurst derweil in der Stube auf und abging, und immer die wunderlichen Dinge im Kopf hatte, kam jemand, ich weiß nicht, wers gewesen ist, herein und sagte: »ich warne dich, Leberwurst, du bist in einer Blut- und Mörderhöhle, mach dich eilig fort, wenn dir dein Leben lieb ist.« Die Leberwurst besann sich nicht lange, schlich die Thür hinaus und lief, was sie konnte, sie stand auch nicht eher still, bis sie aus dem Haus mitten auf der Straße war. Da blickte sie sich um, und sah die Blutwurst oben im Bodenloch stehen mit einem langen, langen Messer, das blinkte, als wärs frisch gewetzt, damit drohte sie, und rief herab:
»hätt ich dich, so wollt ich dich!«
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11.1. In der Stiftungsurkunde der Heiligen Allianz (1815) heißt es über die Herrscher Rußlands, Österreichs und Preußens:
Entsprechend den Worten der Heiligen Schrift, welche edle Menschen heißt, sich als Brüder zu betrachten, werden die drei Monarchen vereinigt bleiben durch die Bande einer wahren und unauflöslichen Brüderlichkeit, indem sie sich als Landsleute artsehen und sich bei jeder Gelegenheit und an jedem Orte Hilfe und Beistand leisten; indem sie sich ihren Untertanen und Heeren gegenüber ab Familienväter betrachten, werden sie sie in dem gleichen Geiste der Brüderlichkeit lenken, von dem sie erfüllt sind, um Religion, Frieden und Gerechtigkeit zu schützen.
«•*
l l i . In der Gründungsurkunde des Deutschen Bundes (1815) steht:
Die souveränen Fürsten und Freien Städte Deutschland, mit Einschluß Ihrer Majestäten des Kaisers von Österreich und der Könige von Preußen, von Dänemark und der Niederlande, und zwar der Kaiser von Österreich und der König von Preußen beide für ihre gesamten, vormals zum Deutschen Reiche gehörigen Besitzungen, der König von Dänemark für Holstein, der König der Niederlande für das Großherzogtum Luxemburg, vereinigen sich zu einem beständigen Bunde, welcher der Deutsche Bund heißen soll
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11.3. Aus der Ansprache des Jenenser Studenten Riemann auf dem Wartburgfest, 1817:
Vier lange Jahre sind seit jener Schlacht verflossen, das deutsche Volk hatte schöne Hoffnungengefaßt, sie sind alle vereitelt, alles ist anders gekommen, als wir erwartet haben. Viel Großes und Herrliches, was geschehen konnte und mußte, ist unterblieben; mit manchem heiligen und edlen Gefühl ist Spott und Hohn getrieben worden.
Nun frage ich euch, die ihr hier versammelt seid in der Blüte eurer Jugend, euch, die ihr dereinst des Volkes Lehrer, Vertreter und Richter sein werdet, auf die das Vaterland seine Hoffnung setzt, euch, die ihr zum Teil schon mit den Waffen in der Hand, alle aber im Geist und mit dem Willen für des Vaterlandes Heil gekämpft habt; euch frage ich, ob ihr solcher Gesinnung beistimmt? Neinl Nie und nimmermehr!
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11.4. Aus den Karlsbader Beschlüssen, 1819:
Die Bundesregierungen verpflichten sich [...] Universitäts- und andere Lehrer, die [...] durch Verbreitung verderblicher, der öffentlichen Ordnung und Ruhe feindseliger oder die Grundlagen der bestehenden Staatseinrichtungen untergrabender Lehren ihre Unfähigkeit [...] an den Tag gelegt haben, von den Universitäten oder sonstigen Lehranstalten zu entfernen. [...]
Die bestehenden Gesetze gegen geheime [...] Verbindungen auf den Universitäten sollen [...] auf den [...] unter dem Namen der Allgemeinen Burschenschaft bekannten Verein [...] ausgedehnt werden.
[Es] dürfen Schriften, die in der Form täglicher Blätter oder heftweise erscheinen, desgleichen solche, die nicht über 20 Bogen im Druck stark sind, in keinem deutschen Bundesstaat ohne Vorwissen [...] der Landesbehörden zum Druck befördert werden.
Zentraluntersuchungskommission zu Mainz
Ihre Aufgabe ist: Untersuchung und Feststellung [...] der gegen die bestehende Verfassung und innere Ruhe [...] des ganzen Landes [und] einzelner Bundesstaaten gerichteten revolutionären Umtriebe und demagogischen Verbindungen.
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11.5. Der Schriftsteller Ludwig Börne [1786-1837] über die Pressezensur nach den Karlsbader Beschlüssen:
Wer von uns den Jüngsten Tag erlebt, wird viel zu lachen bekommen. Was Gott unter zwanzig Bogen spricht, wird zensuriert werden, und wenn die Welt brennt und das Fett schmilzt von den Ständern herab, wird die Polizei bekanntmachen: Unruhestifter haben das Gerücht verbreitet, es sei heiß in der Welt; aber das ist eine hämische Lüge, das Wetter war nie kühler und schöner. Man warnt jedermann vor unvorsichtigen Reden und müßigem Umherschweifen auf der Straße. Eltern sollen ihre Kinder, Lehrer ihre Schüler, Meister ihre Gesellen zu Hause behalten. Man bleibe ruhig. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Und dann wird die Welt untergehen und ruhig werden, und dann wird die Welt deutsch sein
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11.6. Aus der Rede des badischen Politikers Siebenpfeifer auf dem Hambacher Fest, 1832:
Wir widmen unser Leben der Wissenschaft und der Kunst [...] aber die Regungen der Vaterlandsliebe sind uns unbekannt, die Erforschung dessen, was dem Vaterlande Not tut, ist Hochverrat, selbst der leiseste Wunsch, nur erst wieder ein Vaterland, eine freimenschliche Heimat zu erstreben, ist Verbrechen. [...] Es wird kommen der Tag, wo [...] die Zollstöcke und die Schlagbäume, wo alle Hoheitszeichen der Trennung [...] und Bedrückung verschwinden. [...] Hoch lebe jedes Volk, das seine Ketten bricht und mit uns den Bund der Freiheit schwört! Vaterland - Volkshoheit - Völkerbund hoch!
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11.7. Am 26. August 1841 verfaßte August Heinrich Hoffmann von Fallersleben [1798 -1874] auf der Insel Helgoland »Das Lied der Deutschen«. Mit Musik von Joseph Haydn, die Haydn ursprünglich mit einem anderen Text zu Ehren von Kaiser Franz komponiert hatte, wurde das »Deutschlandlied« (wie es allgemein genannt wird) berühmt. In der Weimarer Republik erhob man es zur Nationalhymne. Heute gilt seine dritte Strophe als Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland.
Deutschland, Deutschland über alles,Über alles in der Welt,Wenn es stets zu Schutz und Trutze Brüderlich zusammenhält,Von der Maas bis an die Memel,Von der Etsch bis an den Belt -
Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!
Deutsche Frauen, deutsche Treue,Deutscher Wein und deutscher Sang Sollen in der Welt behalten Ihren alten schönen Klang,Uns zu edler Tat begeistern Unser ganzes Leben lang - Deutsche Frauen, deutsche Treue,Deutscher Wein und deutscher Sang!
Einigkeit und Recht und Freiheit Für das deutsche Vaterland!Danach laßt uns alle streben Brüderlich mit Herz und Hand!Einigkeit und Recht und Freiheit Sind des Glückes Unterpfand - Blüh im Glanze dieses Glückes,Blühe, deutsches Vaterland!
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11.8. Im Jahre 1834 veröffentlichte Heinrich Heine [1797-1856] seine Schrift »Religion und Philosophie in Deutschland«. Darin steht die ungeheuere Vision von den Folgen des deutschen Nationalismus:
Die Wildheit der alten Kämpfer rasselt wieder empor, die unsinnige Berserkerwut, wovon die nordischen Dichter so viel singen und sagen. Die alten steinernen Götter erheben sich dann aus dem verschollenen Schutt und reiben sich den tausendjährigen Staub aus den Augen, und Thor mit dem Riesenhammer springt endlich empor und zerschlägt die gotischen Dome. [...] Wenn ihr dann Gepolter und Geklirre hört, hütet euch, ihr Nachbarskinder, ihr Franzosen, und mischt euch nicht in die Geschäfte, die wir zuhaus in Deutschland vollbringen. Es könnte euch schlecht bekommen. Hütet euch, das Feuer anzufachen, hütet euch, es zu löschen. Lächelt nicht über den Phantasten, der im Reiche der Erscheinungen dieselbe Revolution erwartet, die im Gebiete des Geistes stattgefunden. Der Gedanke geht der Tat voraus, wie der Blitz dem Donner. Der deutsche Donner kommt langsam herangerollt. Und wenn ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wißt: der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht. Bei diesem Geräusche werden die Adler aus den Lüften tot niederfallen, und die Löwen in der fernsten Wüste Afrikas werden die Schwänze einkneifen und sich in ihren königlichen Höhlen verkriechen. Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die französische Revolution nur wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte.
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11.9. Die Satire von Adolf Glaßbrenner [1810-1876] schildert die deutschen Zustände im Vormärz.
Der gute, stammelnde Untertan
Ich bin ein guter Untertan, das leidet keinen Zweifel,
Mein Fürst, das ist ein frommer Mann, o, war er doch beim teu-ren Volke immer, so würd’ es niemals schlimmer.
Wir haben ihn wohl oft betrübt, doch nimmermehr belogen.Er sagte, daß er uns geliebt,und hat uns doch betro-ffen oft auf Taten,die er uns nicht geraten.
Die Staatsbeamten taten recht,sie wahrten seine Rechte,und der war ihm der liebste Knecht,der sich nicht viel erfre-ulich zu uns neigte,und Mitleid uns bezeugte.
Den Schwur, so er geleistet hat,Erfüllung alles dessen, was seine Pflicht an Gottes Statt, den hat ergänz verge-bens halten wollen, es hat nicht glücken sollen.
Du Polizei, die dazu da,das wilde Volk zu zügeln,dich möchte ich nur einmal ja,so recht vom Herzen prü-fen und dich fragen,wer über dich könnt’ klagen.
Ihr Ritter des Philistertumsund ihr gelehrte Rabenam Friedenshof des Altertums,o, laßt euch doch begr-eiflich alles machen,wie sehr wir euch bewachen.
Ihr Mönche, vornehm, schwarz und weiß,das Volksglück, das verpuffte,wird eurer steten Mühe Preis,denn ihr seid große schu-lgerechte Lehrerund fleißige Bekehrer.
Ihr Stolzen, ihr im deutschen Land vom Rheine bis nach Polen, ihr seid mir durch und durch bekannt, euch soll der Kuckuck ho-hes Alter melden, euch weisen Friedenshelden.
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11.10. Die Komposition des Hilfspriesters Joseph Mohr und des Lehrers Franz Gruber »Stille Nacht, heilige Nacht«, ein Musterbeispiel für die Biedermeier-Mentalität, erklang erstmals während der Christmette des Jahres 1818 in Oberndorf bei Salzburg.
Stille Nacht, heilige Nacht!Alles schläft, einsam wacht nur das traute, hoch heilige Paar,Holder Knabe im lockigen Haar, schlaf in himmlischer Ruh, schlaf in himmlischer Ruh.
Stille Nacht, heilige Nacht,Hirten erst kundgemacht.Durch der Engel Halleluja tönt es laut von fern und nah:Christ, der Retter, ist da!Christ, der Retter, ist dal
Stille Nacht, heilige Nacht!Gottes Sohn, o wie lachtLieb aus deinem göttlichen Mund,da uns schlägt die rettende Stund,Christ, in deiner Geburt,Christ, in deiner Geburt.
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11.11. Der württembergische Jurist Paul Pfizer über die Aufgabe des Liberalismus:
Was Deutschland organisch vereint und [...] das diplomatische Staatenbündnis in einen nationalen Bundesstaat verwandelt, [kann nur] eine deutsche Nationalvertretung sein, und hierzu muß die Anregung und der Hauptanstoß durch den Liberalismus gegeben werden, [da] die Spannung des Kampfes zwischen Liberalismus und Absolutismus [...] nachgelassen hat.
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11.12. Eine von Friedrich List [1789-1846] verfaßte Eingabe des »Allgemeinen deutschen Handels- und Gewerbevereins« im Jahre 1819; sie wurde vom Bundestag abgelehnt.
Achtunddreißig Zoll- und Mautlinien in Deutschland lähmen den Verkehr im Innern und bringen ungefähr dieselbe Wirkung hervor, wie wenn jedes Glied des menschlichen Körpers unterbunden wird, damit das Blut ja nicht in ein anderes überfließe. Um von Hamburg nach Österreich, von Berlin in die Schweiz zu handeln, hat man zehn Staaten zu durchschneiden [...] zehnmal Durchgangszölle zu bezahlen. Trostlos ist dieser Zustand für Männer, welche wirken und handeln möchten.
1830 sagte Friedrich List über die Aufgaben des Zollvereins:
Der Zollverein soll die Deutschen ökonomisch [...] zu einer Nation verbinden [...], durch die . Wahrung seiner auswärtigen Gesamtinteressen wie durch die Beschützung seiner inneren Produktivität die materielle Kraft der Nation stärken; er soll durch Verschmelzung der einzelnen Provinzialinteressen [...] das Nationalgefühl wecken und heben. [...] Das deutsche Volk [fühlt], daß [ein wirtschaftliches] Schutzsystem das einzige Mittel ist [...], nationalen Sinn zu erzeugen [...], und daß [...] dem Freihandelssystem die Arglist des Fremden innewohnt.
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11.13. Der preußische Finanzminister Friedrich Motz prophezeite in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts:
Wenn es staatswissenschaftliche Wahrheit ist, daß Zölle nur die Folge politischer Trennung verschiedener Staaten sind, so muß es auch Wahrheit sein, daß Einigung dieser Staaten zu einem Zoll- und Handelsverband zugleich auch Einigung zu einem und demselben politischen System mit sich führt.
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11.14. Vier Aussagen und ein anonymes Gedicht zur Eisenbahn:
[Goethe an Eckermann, 1828] Mir ist nicht bange, daß Deutschland nicht eins werde; unsere guten Chausseen und künftigen Eisenbahnen werden schon das ihrige tun.
[Unternehmer E. Hackort] Ich fühle instinktiv, daß die Lokomotive der Leichenwagen ist, auf welchem Absolutismus und Feudalismus zum Kirchhof gefahren werden.
[Friedrich Wilhelm m., König von Preußen] Alles soll Karriere [schnelle Gangart des Pferdes] gehen. Die Ruhe und Gemütlichkeit leidet aber darunter. Kann mir keine große Glückseligkeit vorstellen, ob man einige Stunden früher in Potsdam ankommt oder nicht.
[Der König von Hannover] Ich will keine Ebenbahn in meinem Lande. Ich will nicht, daß jeder Schuster und Schneider so rasch reben kann wie ich.
Ja, alle Ketten, Fesseln, Wehr und Waffen aus roher, harter Zeit, sie werden einst in Schienen umgeschaffen zum Prebe der Menschlichkeit.
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11.15. Bericht eines Bürgermeisters über die Kinderarbeit, 1822:
[Die Kinder] arbeiten 12 Stunden, die nicht in den Fabriken arbeitenden betteln. [...] Die mebt gehend und stehend verrichtete Arbeit in luftigen Gebäuden erhält die Kinder gesund, die nicht darin arbeitenden sind krank und betteln [...] Die in der Spinnerei in der Kindheit gearbeitet habenden sind erwachsen mebt gesunde, starke Handwerker.
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11.16. Wilhelm Wolff, ein Freund von Marx, beschrieb das Elend der schlesischen Weber so:
Oftmal bin ich im Winter solchen Armen begegnet, die in dem schrecklichsten Wetter, hungrig und frierend, viele Meilen weit ein fertig gewordenes Stück zum Fabrikanten trugen Zu Hause warteten Frau und Kinder auf die Rückkunft des Vaters; sie hatten seit eineinhalb Tagen bloß eine Kartoffelsuppe genossen. Der Weber erschrak bei dem auf seine Ware gemachten Gebot; da war kein Erbarmen; die Kommb und Gehilfen begegneten ihm wohl noch obendrem mit empörender Härte. Er nahm, was man ihm reichte, und kehrte, Ver-
zweiflung in der Brust, zu den Seinigen. [...] Ließ der Weber seinen Klagen freien Lauf und führte er seinen Zustand dem Kaufmann zu Gemüte, so hieß es, die schlichte Handelskonjunktur sei an allem schuld
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11.17. Am 4. Juni 1844 begann der Aufstand der schlesischen Weber. Heinrich Heines »Weberlied« entstand kurz danach und wurde als Flugblatt (Auflage 50.000) verteilt. P in Jahr später stellte Heine die bekanntere fiinfstrophige Fassung des Gedichtes (»Die schlesischen Weber«) her.
Weberlied
Im düstemAuge keine Träne,Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne;Alt-Deutschland, wir weben dein Leichentuch,Wir weben hinein den dreifachen Fluch.Wir weben, wir weben!
Ein Fluch dem Gotte, dem blinden, dem tauben,Zu dem wir gebetet mit kindlichem Glauben.Wir haben vergeblich gehofft und geharrt,Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt.Wir weben, wir weben!
Ein Fluch dem König, dem König der Reichen,Den unser Elend nicht konnte erweichen,Der uns den letzten Groschen erpreßt Und uns, wie die Hunde, erschießen läßt.Wir weben, wir weben!
Ein Fluch dem falschen Vaterlande,Wo nur gedeihen Trug und Schande,Wo nur Verwesung und Totengeruch;Alt-Deutschland, wir weben dein Leichentuch.Wir weben, wir weben
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11.18. Das von Karl Marx und Friedrich Engels verfaßte »Manifest der Kommunistischen Partei« (1848) beginnt und endet mit den berühmt gewordenen Sätzen:
Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Kommunismus. [...]
Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung. Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten Sie kß'-en - ine Welt zu gewinnen.
Proletarier dler Länder, vereinigt euch!
11.19. Forderungen der Kölner Arbeiter an den Kölner Gemeinderat und den preußischen König, 1848:
1. Gesetzgebung und Verwaltung durch das Volk, da ein freies Volk [...] sich nicht mehr im Interesse einzelner ausbeuten lassen will [...], allgemeines Wahlrecht und allgemeine Wählbarkeit.
2 Unbedingte Freiheit der Rede und Presse.
3. Aufhebung des stehenden Heeres und Einführung einer allgemeinen Volksbewaffnung mit vom Volke gewählten Führern. [...]
4. Freies Vereinigungsgesetz.
5. Schutz der Arbeit und Sicherstellung der menschlichen Bedürfnisse für alle [...}. Nur die schlechte Verteilung der Arbeit und ihre Ausbeutung im Interesse einzelner verhindert es, daß genug hervorgebracht wird, um die Bedürfnisse aller einzelnen zu befriedigen. Es ist daher Sache des Staates, die Produktion dem Interesse der einzelnen zu entreißen und sie im Interesse aller zu leiten Jeder Mensch hat ein Recht auf Arbeit, sowie auf einen seinen Bedürfnissen angemessenen Lohn
6. Vollständige Erziehung aller Kinder auf öffentliche Kosten
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11.20. Zwei Stimmen zur Problematik »kleindeutsch« oder »großdeutsch«. Der österreichische Abgeordnete Ameth und der Hesse Waitz-Göttingen sprachen am gleichen Tag, am 20. Oktober 1848, in der Frankfurter Nationalversammlung.
[Araeth] Der Österreicher, meine Herren, ist deutsch und er will es bleiben. [...] Er will aber auch Österreich nicht zerreißen [—1, er will das Fortbestehen in und mit Deutschland [...]; wir glauben, daß es in Deutschlands hohem Interesse liege, die aus einer Losreißung der nichtdeutschen Provinzen in Österreich unzweifelhaft hervorgehende Entstehung neuer selbständiger [...] Reiche an der Ostgrenze Deutschlands zu hindern.
[Waitz-Göttingen] Es ist nur die Alternative: die deutschen österreichischen Länder, sie bleiben bei uns - oder sie bleiben bei den erblich verbundenen ungarisch-slawisch-italienischen Ländern. [...] Deutschlands Bau würde leichter sein ohne Österreich, aber ich glaube, es ist niemand, niemand sage ich, in der Versammlung, der nicht den schwierigsten und mühseligsten Bau lieber will als den leichteren ohne Österreich.
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11.21. Preußen schloß bereits 1866 Verträge mit einzelnen süddeutschen Staaten, die von der Nützlichkeit der deutschen Einheit unter preußischer Führung überzeugt werden sollten. Ein Auszug aus dem Vertrag mit Bayern:
Art. 1: Zwischen seiner Majestät, dem König von Preußen, und seiner Majestät, dem König von Bayern, wird hiemit ein Schutz- und Trutzbündnis geschlossen Es garantieren die hohen Kontrahenten einander die Integrität des Gebietes Ihrer bezüglichen Länder und verpflichten sich, im Falle eines Krieges Ihre volle Kriegsmacht zu diesem Zweck einander zur Verfügung zu stellen
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1122. Nach der Schlacht bei Königgrätz (1866) rückte die preußische Armee bis in die Umgebung Wiens vor. Bismarck drängte trotzdem auf Friedensverhandlungen, obwohl sein König und die Generäle den Krieg weiterführen wollten.
Es scheint mir von größter Wichtigkeit, daß der gegenwärtige, günstige Augenblick nicht versäumt werde. Durch die von Ew. Majestät ausgesprochene Annahme en bloc der Vorschläge Sr. M. des Kaisers der Franzosen ist die von der letzteren Seite her drohende Gefahr einer Parteinahme Frankreichs gegen Preußen, welche aus einer diplomatischen Pression leicht in eine wirkliche aktive Teilnahme Umschlägen könnte, beseitigt worden. [...]
A u f eine Unterstützung weitergehender oder auch nur dieser preußischen Forderungen seitens der anderen Großmächte läßt sich nicht rechnen. Ew. Majestät haben aus dem Brief Sr. Majestät des Kaisers von Rußland ersehen, mit welcher Besorgnis Höchstderselbe den Bedingungen entgegensieht. [...]
In England fängt die öffentliche Meinung an, sich den Waffenerfolgen Ew. Majestät zuzuwenden; von der Reperung aber läßt sich Gleiches nicht sagen und nur annehmen, daß sie vollendete Tatsachen anerkennen werde. [...]
So würde es nach meinem Dafürhalten ein politischer Fehler sein, durch den Versuch einige Quadratmeilen mehr von Gebietsabtretung, oder wenige Millionen mehr an Kriegskosten von Österreich zu gewinnen, das ganze Resultat wieder in Frage zu stellen und es den ungewissen Chancen einer verlängerten Kriegsführung oder einer Unterhandlung, bei der fremde Einmischung sich nicht ausschließen lassen würde, auszusetzen.
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11.23. Bismarck erzwang 1870 die Kriegserklärung Frankreichs durch die Veröffentlichung der sogenannten »Emser Depesche«. In seinen »Gedanken und Erinnerungen« ist darüber zu lesen:
Während der Unterhaltung mit Kriegsminister von Roon und mit Moltke bei Tisch wurde mir gemeldet, daß ein Ziffemtelegramm, wenn ich mich recht erinnere, von ungefähr 200 Gruppen, aus Ems, von dem Geheimrat Abeken unterzeichnet, in Übersetzung begriffen sei Nachdem mir die Entzifferung überbracht war [...], las ich dasselbe meinen Gästen vor, deren Niedergeschlagenheit so tief wurde, daß sie Speise und Trank verschmähten. Bei wiederholter Prüfung des Aktenstückes verweilte ich bei der einen Auftrag involvierenden Ermächtigung seiner Majestät, die neuen Forderungen Benedettis und ihre Zurückweisung sogleich sowohl unserem Gesandten als auch in der Presse mitzuteilen.
Ich stellte an Moltke einige Fragen in bezug auf das Maß seines Vertrauens auf den Stand unserer Rüstung, respektive auf die Zeit, deren dieselben bei der überraschend aufgetauchten Kriegsgefahr noch bedürfen würden. Er antwortete, daß er, wenn Krieg werden sollte, von einem Aufschub des Anbruchs keinen Vorteil für uns erwarte. [...]
Der Haltung Frankreichs gegenüber zwang uns nach meiner Ansicht das nationale Ehrgefühl zum Krieg, und wenn wir den Forderungen dieses Gefühls nicht gerecht wurden, so verloren wir auf dem Weg zur Vollendung unserer nationalen Entwicklung den ganzen 1866 gewonnenen Vorsprung. In dieser Überzeugung machte ich von der mir durch Abeken übermittelten königlichen Ermächtigung Gebrauch, den Inhalt des Telegramms zu veröf
fentlichen, und reduzierte in Gegenwart meiner beiden Tischgäste das Telegramm durch Streichungen, ohne ein Wort hinzuzusetzen oder zu ändern. [...]
Der Unterschied in der Wirkung des gekürzten Textes der Emser Depesche im Vergleich mit der, welche das Original hervorgerufen hätte, war kein Ergebnis stärkerer Worte, sondern der Form, welche diese Kundgebung als eine abschließende erscheinen ließ, während die Reaktion Abekens nur als ein Bruchstück einer schwebenden, in Berlin fortzusetzenden Verhandlung erscheinen würde.
Nachdem ich meinen beiden Gästen die konzentrierte Redaktion vorgelesen hatte, bemerkte Moltke: »So hat das einen anderen Klang, vorher klang es wie eine Schamade, jetzt wie eine Fanfare in Antwort auf eine Herausforderung.«
Die beiden Fassungen der »Emser Depesche«. Zunächst das ursprüngliche Telegramm:
S.M. der König schreibt mir: »Graf Benedetti fing mich auf der Promenade ab, um auf zuletzt sehr eindringliche Art von mir zu verlangen, ich sollte ihn autorisieren, sofort zu telegraphieren, daß ich für alle Zukunft mich verpflichtete, niemals wieder meine Zustimmung zu geben, wenn die Hohenzollem auf ihre Kandidatur zurückkämen. Ich wies ihn, zuletzt etwas ernst, zurück, da man ä tour dergleichen Engagement nicht nehmen dürfe noch könne. Natürlich sagte ich ihm, daß ich noch nichts erhalten hätte und, da er über Paris und Madrid früher benachrichtigt sei als ich, er wohl einsähe, daß mein Gouvernement wiederum außer Spiel sei«
S.M. hat seitdem ein Schreiben des Fürsten bekommen. Da S.M. dem Grafen Benedetti gesagt, daß er Nachricht vom Fürsten erwarte, hat Allerhöchstderselbe, mit Rücksicht auf die obige Zumutung, auf des Grafen Eulenburg und meinen Vortrag beschlossen, den Grafen Benedetti nicht mehr zu empfangen, sondern ihm nur durch einen Adjutanten sagen zu lassen, daß S.M. jetzt vom Fürsten die Bestätigung der Nachricht erhalten, die Benedetti aus Paris schon gehabt, und dem Botschafter nichts weiter zu sagen habe. S.M. stellt Ew. Exzellenz anheim, ob nicht die neue Forderung Benedettis und ihre Zurückweisung sogleich sowohl unseren Gesandten als in der Presse mitgeteilt werden solle.
Die von Bismarck verfaßte und veröffentlichte gekürzte Variante:
Nachdem die Nachricht von der Entsagung des Prinzen von Hohenzollem der Kaiserlich Französischen Reperung von der Königlich Spanischen amtlich mitgeteilt worden ist, hat der französische Botschafter in Ems an S.M. den König noch die Forderung gestellt, ihn zu autorisieren, daß er nach Paris telegraphiere, daß S.M. der König sich für alle Zukunft verpflichte, niemals wieder seine Zustimmung zu geben, wenn die Hohenzollem auf ihre Kandidaturzurückkommen sollten.
S.M. hat es darauf abgelehnt, den französischen Botschafter nochmals zu empfangen, und demselben durch den Adjutanten vom Dienst sagen lassen, daß S.M. dem Botschafter nichts mehr mitzuteilen habe.
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12.1. Den Weg zum Ausgleich ebneten unter anderem das Oktoberdiplom (1860), das Februarpatent (1861), die Niederlagen von Habsburg in Italien und bei Königgrätz. Einige Bestimmungen des Ausgleichsgesetzes:
Gesetz vom 21. December 1867,
betreffend die allen Ländern der österreichischen Monarchie gemeinsamen Angelegenheitenund die Art ihrer Behandlung.
Wirksam für Böhmen, Dalmatien, Galizien mit Krakau, Österreich u n ter u n d ob der Erms, Salzburg, Steiermark, Kämthen, Kram, Bukowina, Mähren Schlesien, Tirol, Vorarlberg, Görz und Gradiska, Istrien und die Stadt Triest mit ihrem Gebiete.
Mit Zustimmung der beiden Häuser des Reichsrathes finde Ich in Ergänzung des Staatsgrundgesetzes über die Reichsvertretung nachstehendes Gesetz zu erlassen:
§. 1. Nachfolgende Angelegenheiten werden als den im Reichsrathe vertretenen Königreichen und Ländern der ungarischen Krone gemeinsame erklärt:
a) Die auswärtigen Angelegenheiten mit Einschluß der diplomatischen und commerziellen Vertretung dem Auslande gegenüber, sowie die in Betreff der internationalen Verträge etwa nothwendigen Verfügungen, wobei jedoch die Genehmigung der internationalen Vertrage, m soweit eine solche verfassungsmäßig nothwendig ist, den Vertretungßkörpem der beiden Reichshälften (dem Reichsrathe und dem ungarischen Reichstage) Vorbehalten bleibt;
b) das Kriegswesen mit Inbegriff der Kriegsmarine, jedoch mit Ausschluß der Recru- tenbewilligung und der Gesetzgebung über die Art und Weise der Erfüllung der Wehrpflicht, der Verfügungen hinsichtlich der Dislocirung und Verpflegung des Heeres, ferner der Regelung der bürgerlichen Verhältnisse und der sich nicht auf den Militärdienst beziehenden Rechte und Verpflichtungen der Mitglieder des Heeres;
c) das Finanzwesen rücksichtlich der gemeinschaftlich zu bestreitenden Auslagen insbesondere die Festsetzung des dießftüligen Budgets und die Prüfung der darauf bezüglichen Rechnungen [...]
§. 3. Die Kosten der gemeinsamen Angelegenheiten (§. 1) sind von beiden Reichstheüen nach einem Verhältnisse zu tragen, welches durch ein vom Kaiser zu sanctionirendes Übereinkommen der beiderseitigen Vertretungskörper (Reichsrath und Reichstag) von Zeit zu Zeit festgesetzt werden wird. Sollte zwischen beiden Vertretungen kern Übereinkommen erzielt werden, so bestimmt der Kaiser dieses Verhältniß, jedoch nur für die Dauer Eines JoHl m Die Außringung der auf jede der beiden Reichstheile hiernach entfallenden Leistungen ist jedoch ausschließlich Sache eines jeden Theiles. [...]
§. 4. Die Beitragsleistung zu den Lasten der gegenwärtigen Staatsschuld wird durch ein zwischen beiden Reichshälften zu treffendes Übereinkommen geregelt. [...]
§. 6. Das den Vertretungskörpem beider Reichshälften (dem Reichsrathe und dem ungarischen Reichstage) zustehende Gesetzgebungsrecht wird von demselben insoweit es sich um die gemeinsamen Angelegenheiten handelt, mittelst zu entwendender Delegationen ausgeübt.
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122. Der aus Budapest stammende Theodor Herzl [1860-1904], damals Redakteur der »Neuen Freien Presse« in Wien, erklärte 1896:
Es ist merkwürdig, daß wir Juden diesen königlichen Traum [einer Wiedererrichtung des Judenstaates] während der langen Nacht unserer Geschichte geträumt haben. Jetzt bricht der Tag an. [...] Ich halte die Judenfrage weder für eine soziale noch für eine religiöse. [...] Sie ist eine nationale Frage, und um sie zu lösen, müssen wir sie zu einer politischen Weltfrage machen, die im Rate der Kulturvölker zu lösen sein wird. Wir haben ehrlich versucht, in der uns umgebenden Volksgemeinschaft unterzugehen und nur den Glauben unserer Väter zu bewahren. Man läßt es nicht zu. [...] Wir sind ein Volk - der Feind macht uns ohne unseren Willen dazu, ln der Bedrängnis stehen wir zusammen, und da entdecken wir plötzlich unsere Kraft. Ja, wir haben die Kraft, einen Staat, und zwar einen Musterstaat zu bilden. Man gebe uns die Souveränität eines für unsere gerechten Volksbedürfnisse genügenden Stückes der Erdoberfläche, alles andere werden wir selbst besorgen.
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123. Robert Musil [1880-1942] schrieb im Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« über »Kakanien« (das ist Österreich-Ungarn):
Die beiden Teile Ungarn und Österreich paßten zu einander wie eine rot-weiß-grüne Jacke zu einer schwarz-gelben Hose; die Jacke war ein Stück für sich, die Hose aber war der Rest eines nicht mehr bestehenden schwarz-gelben Anzugs, der im Jahre achtzehnhundertsiebenundsechzig zertrennt worden war. Die Hose Österreich hieß aber in der amtlichen Sprache »Die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder«, was natürlich gar nichts bedeutete und ein Name von Namen war, denn auch diese Königreiche, zum Beispiel die ganz Shakespeareschen Königreiche Lodomerien und Ilfyrien gab es längst nicht mehr und hatte es schon damals nicht mehr gelben, als noch ein ganzer schwarz-gelber Anzug vorhanden war. Fragte man darum einen Österreicher, was er sei, so konnte er natürlich nicht antworten; Ich bin einer aus den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Länder, die es nicht gibt, - und er zog es schon aus diesem Grunde vor, zu sagen: Ich bin ein Pole, Tscheche, Italiener, Friauler, Ladiner, Slowene, Kroate, Serbe, Slowake, Ruthene oder Wallache, und das war der sogenannte Nationalismus. Man stelle sich ein Eichhörnchen vor, das nicht weiß, ob es ein Eichhorn oder eine Eichkatze ist, ein Wesen, das keinen Begriff von sich hat, so wird man verstehn, daß es unter Umständen vor seinem eigenen Schwanz eine heillose Angst bekommen kann; in solchem Verhältnis zu einander befanden sich die Kakanier und betrachteten sich mit dem panischen Schreck vor Gliedern, die einander mit vereinten Kräften hindern, etwas zu tun Seit Bestehen der Erde ist noch kein Wesen an einem Sprachfehler gestorben, aber man muß wohl hinzußgen, der österreichischen und ungarischen österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie widerfuhr es trotzdem, daß sie an ihrer Unaussprechlichkeit zugrunde gegangen ist.
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12.4. Aus der zeitlichen und räumlichen Distanz konnte die österreichisch-ungarische Monarchie als Hort der Sicherheit erscheinen. Stefan Zweig [1881 -1942] schreibt in seinem Erinnerungsbuch »Die Welt von Gestern« (1942):
Wenn ich versuche, ß r die Zeit vor dem ersten Weltkriege, in der ich aufgewachsen bin, eine handliche Formel zu finden, so hoffe ich am prägnantesten zu sein, wenn ich sage: es war das goldene Zeitalter der Sicherheit. Alles in unserer fast tausendjährigen österreichischen Monarchie schien auf Dauer gegründet und der Staat selbst der oberste Garant dieser Beständigkeit. Die Rechte, die er seinen Bürgern gewährte, waren verbrieft vom Parlament, der frei gewählten Vertretung des Volkes, und jede Pflicht genau begrenzt. Unsere Währung, die österreichische Krone, lief in blanken Goldstücken um und verbürgte damit ihre Unwandelbarkeit. Jeder wußte, wieviel er besaß oder wieviel ihm zukam, was erlaubt und was verboten
war. Alles hatte seine Norm, sein bestimmtes Maß und Gewicht. [...] Alles stand in diesem weiten Reiche fest und unverrückbar an seiner Stelle und an der höchsten der greise Kaiser; aber sollte er sterben, so wußte man (oder meinte man), würde ein anderer kommen und nichts sich ändern in der wohlberechneten Ordnung. Niemand glaubte an Kriege, an Revolutionen und Umstürze. Alles Radikale, alles Gewaltsame schien bereits unmöglich in einem Zeitalter der Vernunft.
Dieses Gefühl der Sicherheit war der anstrebenswerteste Besitz von Millionen, das gemeinsame Lebensideal. Nur mit dieser Sicherheit galt das Leben als lebenswert, und immer weitere Kreise begehrten ihren Teil an diesem kostbaren Gut. Erst waren es nur die Besitzenden, die sich dieses Vorzugs erfreuten, allmählich aber drängten die breiten Massen heran, das Jahrhundert der Sicherheit wurde das goldene Zeitalter des Versicherungswesens. Man assekurierte sein Haus gegen Feuer und Einbruch, sein Feld gegen Hagel und Wetterschaden, seinen Körper gegen Unfall und Krankheit, man kaufte sich Leibrenten für das Alter und legte den Mädchen eine Police in die Wiege für die künftige Mitgift.
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13.1. In der Abhandlung »Die galvanische Kette, mathematisch bearbeitet« formulierte Georg Simon Ohm [1787-1854] das »Ohmsche Gesetz«:
Die Stromstärke ist gleich der elektromagnetischen Kraft geteilt durch den Widerstand
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13.2. »Die Cannstatter Zeitung« berichtete am 10. November 1885 von dem ersten Kraftwagen:
Ein seltsames gasmotorgetriebenes Fahrzeug das in der Daimlerschen Werkstatt zu Cannstatt [bei Stuttgart] gebaut wurde, machte gestern seine erste Fahrt. [...] Unter dem Sitz des Velozipeds befindet sich der Motor, der eine halbe Pferdekraft stark ist. Er findet zwischen den Beinen des Reiters bequem Platz. Der Motor saugt das zum Betriebe notwendige Petroleum selbständig aus dem Reservoir ein, und der Radfahrer braucht nur die Menge des Zuflusses durch einen Hahn zu regulieren.
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13.3. Der Physikprofessor der Jenaer Universität Ernst Abbe [1840-1905], Erfinder zahlreicher optischer Instrumente, erzählt über seine Kindheit:
Mein Vater war Spinnmeister in Eisenach; er hat bis Anfang der fünfziger Jahre jeden Tag den Gott werden ließ, von morgens 5 Uhr bis abends 7 Uhr bei normalem Geschäftsgang sechzehn Stunden von morgens 4 Uhr bis abends 8 Uhr bei gutem Geschäftsgang gearbeitet— und zwar ohne jede Unterbrechung sogar ohne Mittagspause. Ich selber habe als Junge zwischen fü n f und neun Jahren [...] meinem Vater das Mittagsbrot gebracht. Und ich bin dabeigestanden, wie mein Vater sein Mittagessen, an eine Maschine gelehnt oder auf eine Kiste gekauert, aus dem Henkeltopf mit aller Hast verzehrte, um mir dann den Topf zurückzugeben und sofort wieder an seine Arbeit zu gehen. Mein Vater war von unerschöpflicher Robustheit, aber mit 48 Jahren in Haltung und Aussehen ein Greis.
13.4. Ein Bericht über die soziale Herkunft der Eisenschmelzer bei Krupp:
Die ersten Schmelzer waren Bauemtagelöhner der Meister Vierhaus war ein arbeitsloser Kaffemühlenarbeiter, Huyssohn war ein Schneider von [Beruf] und seinerzeit Bettler, der jetzige Werkführer R. war der Sohn eines armen Feilenhauers, Hagewiesche war Nagelschmied, Strünk war tüchtiger Ackerschmied.
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13.5. Aus einer Rede des Industriellen Alfred Krupp an seine Arbeiter im Jahre 1877:
Genießet, was Euch beschieden ist. Nach getaner Arbeit verbleibt im Kreise der Ewigen, bei den Eltern, bei der Frau und den Kindern und sinnt über Haushalt und Erziehung. Das sei Eure Politik, dabei werdet Ihr frohe Stunden erleben. Aber für die große Landespolitik erspart Euch die Aufregung. Höhere Politik treiben erfordert mehr freie Zeit und Einblicke in die Verhältnisse, als dem Arbeiter verliehen ist. Ihr tut Eure Schuldigkeit, wenn Ihr durch Vertrauenspersonen empfohlene Leute wählt. Ihr erreicht aber sicher nichts als Schaden, wenn Ihr eingreifen wollt in das Ruder der gesetzlichen Ordnung. Das Politisieren in der Kneipe ist nebenbei sehr teuer, dafür kann man im Hause Besseres haben.
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13.6. Aus der Satzung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins von Ferdinand Lassalle, 1863:
Unter dem Namen »Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein« begründen die Unterzeichneten ß r die deutschen Bundesstaaten einen Verein, welcher, von der Überzeugung ausgehend, daß nur durch das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht eine genügende Vertretung der sozialen Interessen des deutschen Arbeiterstandes und eine wahrhafte Beseitigung der Klassengegensätze in der Gesellschaft herbeigeßhrt werden kann, den Zweck verfolgt, auf friedlichem und legalem Wege, insbesondere durch das Gewinnen der öffentlichen Überzeugung ß r die Herstellung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts zu wirken.
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13.7. Bismarck begründet das Sozialistengesetz vor dem Reichstag, 1878:
[Die sozialdemokratischen Organisationen haben] den Charakter einer feindlichen Armee in unserer Mitte [...], die über den Eigentümer, den Kapitalisten, der [...] etwas anlegen will, Gericht halten [möchte], um ihm das wohlerworbene Eigentum zu entziehen oder zu beschränken. [...] Solange die sozialistischen Bestrebungen diese bedrohliche [Form] haben wie jetzt, wird aus Furcht vor der weiteren Entwicklung das Vertrauen und der Glaube im Innern nicht wiederkehren, und deshalb wird die Arbeitslosigkeit auch so lange, wie die Sozialdemokratie uns bedroht [...], anhalten.
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13.8. Bismarck begründet die Sozialgesetzgebung vor dem Reichstag, 1889:
Wenn wir 700.000 kleine Rentner, die vom Reiche ihre Renten beziehen, haben, gerade in diesen Klassen, die sonst nicht viel zu verlieren haben und bei einer Veränderung irrtümlich glauben, daß sie viel gewinnen können, so halte ich das ß r einen außerordentlichen Vorteil [...]. Ich glaube, wenn Sie uns diese Wohltat von mehr als einer halben Million kleinen
Rentnern im Reiche schaffen können, [wird der] gemeine Mann das Reich als eine wohltätige Institution ansehen.
13.9. Bismarck im Jahie 1877 über die Grundsätze seiner Außenpolitik:
Ich [würde] als wünschenswerte Ergebnisse ansehen: 1) [Verstärkung] der russischen und österreichischen Interessen und gegenseitigen Rivalitäten nach Osten hin, 2) den Anlaß für Rußland, eine starke Defensivstellung im Orient und an seinen Küsten zu nehmen und unseres Bündnisses zu bedürfen, 3) für England und Rußland ein befriedigender Status quo, die ihnen dasselbe Interesse an Erhaltung des Bestehenden gibt, das wir haben, 4) Loslösung Englands von dem uns feindlich bleibenden Frankreich
13.10. Im Oktober 1879 wurde zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn der Zweibundvertrag abgeschlossen.
Art. 1. Sollte wider Verhoffen und gegen den aufrichtigen Wunsch der beiden Kontrahenten eines der beiden Reiche von Seiten Rußlands angegriffen werden, so sind die hohen Kontrahenten verpflichtet, einander mit der gesamten Kriegsmacht ihrer Reiche beizustehen und demgemäß den Frieden nur gemeinsam und übereinstimmend zu schließen.
Art. 2. Würde einer der hohen kontrahierende Teile von einer anderen Macht angegriffen werden, so verpflichtet sich hiemit der andere hohe Kontrahent, dem Angreifer gegen s ineJ l hohen Verbündeten nicht nur nicht beizustehen, sondern mindestens eine wohlwollende neutrale Haltung gegen den hohen Mitkontrahenten zu beobachten.
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13.11. Aus dem Dreibund-Vertrag zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien, 1882:
Art. 2. Falls Italien ohne direkte Herausforderung seinerseits von Frankreich aus irgendeinem Grunde angegriffen werden sollte, sollten die beiden anderen vertragsschließenden Parteien gehalten sein, der angegriffenen Partei mit allen ihren Kräften Hilfe und Beistand zu leisten. Diese gleiche Verpflichtung soll Italien im Falle eines nicht unmittelbar herausgeforderten Angriffs Frankreichs gegen Deutschland obliegen.
Art. 3. Wenn eine oder zwei der hohen vertragsschließenden Parteien ohne unmittelbare Herausforderung ihrerseits angegriffen werden sollten und sich in einem Kneg mit zwei oder mehreren Großmächten verwickelt sehen sollten, die den gegenwärtigen Vertrag nicht unterzeichnet haben, so soll der »casus foederis« gleichzeitig ß r alle hohen vertragsschließenden Parteien eintreten.
Art. 4. In dem Falle, wo eine Großmacht, die den gegenwärtigen Vertrag nicht unterzeichnet hat, die Sicherheit der Staaten einer der hohen vertragsschließenden Parteien bedrohen sollte, und die bedrohte Partei sich dadurch gezwungen sehen sollte, gegen sie Kneg ^ ß n - ren, verpflichten sich die beiden anderen, ihrem Verbündeten gegenüber eine wohlwollende Neutralität zu bewahren.
Art. 5. Wenn der Friede einer der hohen vertragsschließenden Parteien unter den Umständen bedroht werden sollte, die in den vorhergehenden Artikeln vorgesehen sind, so werden sich die hohen vertragsschließenden Parteien rechtzeitig über die militärischen Maßnahmen verständigen, die im Hinblick auf etwaiges Zusammenwirken zu treffen wären.
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13.12. Im Juni 1887 wurde zwischen dem Deutschen Reich und Rußland der zunächst mit drei Jahren befristete Rückversicherungsvertrag abgeschlossen.
Art. 1. Für den Fall, daß eine der hohen vertragsschließenden Parteien sich mit einer dritten Großmacht im Krieg befinden sollte, wird die andere eine wohlwollende Neutralität bewahren und ihre Sorge darauf richten, den Streit örtlich zu begrenzen. Diese Bestimmung soll auf einen Krieg gegen Österreich und Frankreich keine Anwendung finden, falls dieser Krieg durch einen Angriff einer hohen vertragsschließenden Partei gegen eine dieser beiden Mächte hervorgerufen ist.
Art. 2 Deutschland erkennt die geschichtlich erworbenen Rechte Rußlands auf der Balkanhalbinsel an und insbesondere der Rechtmäßigkeit seines vorwiegenden und entscheidenden Einflusses in Bulgarien und in Ostrumelien Die beiden Höfe verpflichten sich, keine Änderungen des territorialen Status quo der genannten Halbinsel ohne vorheriges Einverständnis zuzulassen und sich gegebenenfalls jedem Versuch, diesem Status quo Abbruch zu tun oder ihn ohne ihr Einverständnis abzuändem, zu widersetzen
Ganz geheimes Zusatzprotokoll:
Punkt 2: In dem Fall, daß S.M. der Kaiser von Rußland sich in die Notwendigkeit versetzt sehen sollte, zur Wahrung der Rechte Rußlands selbst auf Aufgabe der Verteidigung des Zugangs zum Schwarzen Meer zu übernehmen verpflichtet sich Deutschland, seine wohlwollende Neutralität zu gewähren und die Maßnahmen die S.M. für notwendig halten sollte, um den Schlüssel seines Reiches in der Hand zu behalten moralisch und diplomatisch zu unterstützen
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13.13. Bismarck über die Kolonien:
[1881] Solange das Reich finanziell nicht [gefestigt] ist, dürfen wir an so teure Unternehmungen nicht denken [...] Direkte Kolonien können wir nicht verwalten, nur Kompagnien unterstützen Kolonialverwaltung wäre eine Vergrößerung des parlamentarischen Exerzierplatzes.
[1885] Unsere Kolonialbestrebungen sind Hilfsmittel für die Entwicklung des deutschen Exports. [...] Schutzgebiete, die nichts weiter darstellen als ein weiteres Hilfsmittel zur Entwicklung des deutschen wirtschaftlichen Lebens.
[1888 zu dem Afrikaforscher Wolf] Ihre Karte von Afrika ist ja sehr schön, aber meine Karte von Afrika liegt in Europa. Hier liegt Rußland, und hier liegt Frankreich, und wir sind in der Mitte; das ist meine Karte von Afrika.
13.14. Der liberale Abgeordnete Ludwig Bamberger charakterisiert den Reichstag in der Bismarck-Ära:
Das deutsche Parlament ist das einzige in der Welt, in welchem die Minister und ihre Vertreter mit dem Säbel an der Seite erscheinen und mit der Hand auf dem Degenknauf ihre Reden halten Es ist viel darüber geklügelt worden, warum Fürs! Bismarck seiner Erscheinung in Staatsgeschäften die eines Reiteroffiziers gegeben habe. Trotzdem der Zauber seiner Kraft gewiß nicht in der Uniform lag, hat diese ihm doch Dienste dabei geleistet.
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13.15. Eine Passage aus »Brehm’s Thierleben« (1876-1879):
Der Igel (Erinaceus europaeus) ist ein drolliger Kauz und dabei ein guter, furchtsamer Gesell, welcher sich ehrlich und redlich, unter Mühe und Arbeit durchs Leben schlägt. Wenig zum Gesellschafter geeignet, findet ersieh fast stets allein oder höchstens in Gemeinschaft mit seinem Weibchen Unter den dichtesten Gebüschen unter Reisichhaufen oder in Hecken hat sich jeder einzeln sein Lager aufgeschlagen und möglichst bequem zurechtgemacht. Es ist ein großes Nest aus Blättern, Stroh und Heu, welches in einer Höhle oder unter dichtem Gezweige angelegt wird. Fehlt es an einer schon vorhandenen Höhle, so gräbt er sich mit vieler Arbeit eine eigne Wohnung und füttert diese aus. Sie reicht etwa 30 Centim. tief in die Erde und ist mit zwei Ausgängen versehen, von denen der eine in der Regel nach Mittag, der andere gegen Mitternacht geleg ist. Allein diese Thüren verändert er wie das Eichhorn, zumal bei heftigem Nord- und Südwinde. In hohem Getreide gräbt er sich selten eine Höhle, sondern macht sich bloß ein großes Nest. Die Wohnung des Weibchens ist fast immer nicht weit von der des Männchens, gewöhnlich in einem und demselben Garten Es kommt wohl auch vor, daß beide Igel in der warmen Jahreszeit in ein Nest sich legen; ja zärtliche Igel vermögen es gar nicht, von ihrer Schönen sich zu trennen, und theilen regelmäßig das Lager mit ihr. Dabei spielen sie allerliebst miteinander, necken und jagen sich gegenseitig, kurz, kosen zusammen, wie Verliebte überhaupt zu thun pflegen
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13.16. Aus Friedrich Nietzsches [1844-1900] Buch »Also sprach Zarathustra«:
Ich lehre euch den Übermenschen Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll Was habt ihr getan ihn zu überwinden?
Alle Wesen bisher schufen etwas über sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser großen Flut sein und lieber noch zum Tiere zurückgehn, als den Menschen überwinden?
Was ist der Affe ß r den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und ebendas soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham.
Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht, und vieles ist in euch noch Wurm. Einst wart ihr Affen, und auch jetzt noch ist der Mensch mehr Affe, als irgend ein Affe.
Wer aber der Weiseste von euch ist, der ist auch nur ein Zwiespalt und Zwitter von Pflanze und von Gespenst. Aber heiße ich euch zu Gespenstern oder Pflanzen werden?
Seht, ich lehre euch den Übermenschen!
Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde!
Ich beschwöre euch, meine Brüder; bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht.
Verächter des Lebens sind es, Absterbende und selber Vergiftete, deren die Erde müde ist: so mögen sie dahinfahren!
Einst war der Frevel an Gott der größte Frevel, aber Gott starb, und damit starben auch die Frevelhaften. An der Erde zu freveln, ist jetzt das Furchtbarste, und die Eingeweide des Un- etforschlichen höher zu achten, als den Sinn der Erde!
«•*
13.17. Friedrich Nietzsche konnte mitunter sehr provokativ und ungerecht sein. Auch dafür ein Zitat:
Das Weib will selbständig werden: und dazu fängt es an, die Männer über das »Weib an sich« aufzuklären - das gehört zu den schlimmsten Fortschritten der allgemeinen Verhäßli- chung Europas. Denn was müssen diese plumpen Versuche der weiblichen Wissenschaftlichkeit und Selbst-Entblößung alles ans Licht bringen! Das Weib hat so viel Grund zur Scham; im Weibe ist so viel Pedantisches, Oberflächliches, Schulmeisterliches, Kteinüch- Anmaßliches, Kleinlich-Zügelloses und Unbescheidnes versteckt - man studiere nurseinen Verkehr mit Kindern! - , das im Grund bisher durch die Furcht vor dem Manne am besten zurückgedrängt und gebändigt wurde. Wehe, wenn erst das »Ewig-Langweüige am Weibe« - es ist reich daran! - sich hervorwagen darf! wenn es seine Klugheit und Kunst, die der A nmut, des Spielern, Sorgen-Wegscheuchens, Erleichtems und Leicht-Nehmens, wenn es seine feine Anstelligkeit zu angenehmen Begierden gründlich und grundsätzlich zu verlernen beginnt!
««*
13.18. Das Gral-Motiv in zwei Opern von Richard Wagner [1813-1883]. Zunächst Gur- nemanz’ Erzählung im ersten Aufzug des Musikdramas »Parsifal«:
GURNEMANZ: Titurel, der fromme Held, der kannt’ ihn wohl
Denn ihm, da wilder Feinde List und Macht des reinen Glaubens Reich bedrohten, ihm neigten sich in heilig ernster Nacht
dereinst des Heilands selige Boten: daraus der trank beim letzten Liebesmahle, das Weihgefäß, die heilig edle Schale, darein am Kreuz sein göttlich Blut auch floß, dazu den Lanzenspeer, der dies vergoß - der Zeugengüter höchstes Wundergut - das gaben sie in unsres Königs Hut.Dem Heiligtum baute er das Heiligtum.
Die seinem Dienst ihr zugesindet auf Pfaden, die kein Sünder findet,
ihr wißt, daß nur dem Reinen vergönnt ist, sich zu einen
den Brüdern, die zu höchsten Rettungswerken des Grales (heil’ge) Wunderkräfte stärken.Drum blieb es dem, nach dem ihr fragt, verwehrt,KUngsom, wie hart ihn Müh’ auch darob beschwert Jenseits im Tale war er eingesiedelt; darüberhin liegt üpp’ges Heidenland: unkund blieb mir, was dorten er gesündigt; doch wollt’ er büßen nun, ja heilig werden.Ohnmächtig, in sich selbst die Sünde zu ertöten,
an sich legt’ er die Frevlerhand, die nun, dem Grale zugewandt,
verachtungsvoll des’ Hüter von sich stieß.Darob die Wut nun Klingsom unterwies,
wie seines schmäl’chen Opfers Tat ihm gäbe zu bösem Zauber Rat;
den fand er nun - Die Wüste schuf er sich zum Wonnengarten,
drin wachsen teuflisch holde Frauen; dort will des Grales Ritter er erwarten
zu böser Lust und Höllengrauen: wen er verlockt, hat er erworben; schon viele hat er uns verdorben.
Da Titurel, in hohen Alters Mühen,Dem Sohn(e nun) die Herrschaft hier verliehen:
Amfortas ließ es da nicht ruhn, der Zauberplag’ Einhalt zu tun.Das wißt ihr, wie es da (dort) sich fand: der Speer ist nun in Klingsors Hand;
kann er selbst Heiliger mit dem verwundeten, den Gral auch wähnt er fest schon uns entwunden
Die Gralserzählung in Wagners Musikdrama »Lohengrin«:
LOHENGRIN (in feierlicher Verklärung vor sich herblickend):In fernem Land, unnahbar euren Schritten,liegt eine Burg, die Montsalvat genannt;ein lichter Tempel stehet dort inmitten,so kostbar, als auf Erden nichts bekannt;drin ein Geßß von wundertät’gem Segenwird dort als höchstes Heiligtum bewacht:Es ward, daß sein der Menschen reinste pflegen, herab von einer Engelschar gebracht; alljährlich naht vom Himmel eine Taube, um neu zu stärken seine Wunderkraft:Es heißt der Gral, und selig reinster Glaube erteilt durch ihn sich seiner Ritterschaft.Wer nun dem Gral zu dienen ist erkoren, den rüstet er mit überirdischer Macht; an dem ist jedes Bösen Trug verloren, wenn ihn ersieht, weicht dem des Todes Nacht.Selbst wer von ihm in ferne Land’ entsendet, zum Streiter für der Tugend Recht ernannt, dem wird nicht seine heil’ge Kraft entwendet,
bleibt als sein Ritter dort er unerkannt.So hehrer Art doch ist des Grales Segen, enthüllt - muß er des Laien Auge fliehn; des Ritters drum sollt Zweifel ihr nicht hegen, erkennt ihr ihn - dann muß er von euch ziehn. Nun hört, wie ich verbotner Frage lohne!Vom Gral ward ich zu euch daher gesandt: Mein Vater Parzival trägt seine Krone, sein Ritter ich - bin Lohengrin genannt.
i c k i t * * * * * *
14.1. Zur Begründung der Kolonialpolitik in der Wilhelminischen Ära sagte Kanzler Bülow im Reichstag:
Die Zeiten, wo der Deutsche dem einen seiner Nachbarn die Erde überließ, dem ändern das Meer und sich selbst den Himmel reservierte, wo die reine Doktrin thront - diese Zeiten sind vorüber. [...] Wir müssen verlangen, daß der deutsche Missionar und der deutsche Unternehmer, die deutschen Waren, die deutsche Flagge und das deutsche Schiff in China geradeso geachtet werden wie diejenigen anderer Mächte. Wir sind endlich gern bereit, in Ostasien den Interessen anderer Großmächte Rechnung zu tragen, in der sicheren Voraussicht, daß unsere eigenen Interessen gleichfalls die ihnen gebührende Würdigung finden. Mit einem Wort: Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.
*«*
14.2. Einem Artikel des »Militär-Wochenblattes« vom Juli/August 1889 kann man Aufschlußreiches über die Stellung des Offiziers in der damaligen Gesellschaft entnehmen.
Der Stolz jedes Deutschen ist die Armee, die Blüte des Volkes. Deutschlands Heer - die Elite des Heeres, ist das Offizierskorps. [...] Wenn der Offiziersberuf jetzt nicht mehr wie früher das Monopol des Adels ist, so dürfen doch nur Ebenbürtige, nur Ritter vom Geiste und Kavaliere von Erziehung und Gesinnung Mitglieder und Genossen dieses bevorzugten Standes sein [...] Der bürgerliche sowohl wie der adelige Offizier vertreten [...] die aristokratische Weltanschauung gegen die demokratische. Der junge Offizier aus bürgerlicher Familie bekundet durch die Wahl des Offiziersberufes, daß er [...] sich zur Aristokratie der Gesinnung rechnet, welche den Offizier beseelen muß. [...] Die Gesinnungen [des Offiziersstandes] sind: dynastischer Sinn, unbedingte Treue gegen die Person des Monarchen, erhöhter Patriotismus, Erhaltung des Bestehenden, Verteidigung der seinem Schutze anvertrauten Rechte des Königs und Bekämpfung vaterlandsloser, königsfeindlicher Gesinnung. [...] Vor allen anderen ist der Offizier berufen, die Fahne des Königs von Gottes Gnaden voranzutragen [...] Die Stellung als Offizier erfordert [die] Mißbilligung jener politischen Richtungen, welche das Königtum von Gottes Gnaden bekämpfen oder seine ihm zustehenden Rechte verkürzen möchten
***
14.3. Kaiser Wilhelm ü. [1859 -1941] bei der Rekrutenvereidigung 1891 in Potsdam:
Rekruten! Ihr habt jetzt vor dem geweihten Diener Gottes und angesichts dieses Altars Mir Treue geschworen [...], ihr seid jetzt Meine Soldaten, ihr habt euch Mir mit Leib und Seele
ergeben; es gibt für euch nur einen Feind, und der ist Mein Feind Bei den jetzigen sozialistischen Umtrieben kann es Vorkommen, daß Ich euch befehle, eure eigenen Verwandten, Brüder, ja Eltern niederzuschießen - was ja Gott verhüten möge - , aber auch dann müßt ihr Meine Befehle ohne Murren befolgen
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14.4. Aus der 1900 gehaltenen »Hunnenrede« von Wilhelm ü. bei der Einschiffung der deutschen Truppen nach China, wo sie den Boxeraufstand niederzuschlagen hatten:
Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter König Etzel sich einen Namen gemacht haben, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutscher in China auf tausend Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.
• »*
14.5. Der österreichische Opernsänger Leo Slezak über den preußischen Polizisten:
Dem nächsten Schutzmann, der mit einem kriegerisch aufgezwirbelten Kaber-Wilhelm- Schnurrbart und einer Pickelhaube an der Ecke stand, legte ich vertraulich die Hand auf die Schulter und wollte fragen - da schrie er mich atu »Nicht anfassen, wat fällt Ihnen denn ein? Sie sind wohl!« Ich erschrak und fragte eingeschüchtert: »Ich bitte schön, wie komme ich zum Potsdamer Platz?« »Da jehn Se mal die Friedrichstraße lang bis zur Leipzija Straße, dort rechts an zum Leipzija Platz, den überqueren Se, und dann sind Se am Potsdamer Platz.« »Ich danke schön!« »Gedankt wird nicht, wiederholen!«
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14.6. Das Beamtenverhältnis war und ist ein anstrebenswertes Ziel für viele Deutsche. A nfang des 20. Jahrhunderts wurde es so charakterisiert:
Das Beamtenverhältnis ist nicht bloß ein Vertrag über bestimmte einzelne Arbeitsleistungen, sondern es ist ein Dienstvertrag, ein Treuevertrag, der die ganze Person umfaßt, ein Verhältnis der Treue, die durch den Eid beschworen ist, in welchem dem König Gehorsam und der Verfassung und den Gesetzen Befolgung zugeschworen wird. Mit solchem Eid, mit dem Eingehen eines solchen Treueverhältnisses ist die Zugehörigkeit zu einer Partei [SPD, im Jahre 1913 110 Sitze im Reichstag], die die Republik erstrebt und dieses Ziel auf dem Wege der Gewalt und Revolution erreichen will, unvereinbar.
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14.7. Wilhelm ü. über das reformbedürftige Schulwesen, 1890:
Wer selbst auf dem Gymnasium gewesen ist [...], der weiß, wo es da fehlt. Und da fehlt es vor allem an der nationalen Basis. Wir müssen ab Grundlage für das Gymnasium das Deutsche nehmen; wir sollen nationale junge Deutsche erziehen und nicht junge Griechen und Römer. [...] Der deutsche Aufsatz muß der Mittelpunkt sein, um den sich alles dreht. Wenn einer im Abiturientenexamen einen tadellosen deutschen Aufsatz liefert, so kann man daraus [...] beurteilen, ob er etwas taugt.
14.8. Das österreichische Ultimatum, das am 23. Juli 1914 an Serbien überreicht wurde, sollte die serbische Regierung zu harten Maßnahmen verpflichten:
1. Jede Publikation ist zu unterdrücken, die zum Haß oder zur Verachtung der Monarchie aufreizt und deren allgemeine Tendenz gegen ihre territoriale Integrität gerichtet ist
2 Sofort den Verein »Narodna Odbrana« aufzulösen, dessen gesamte Propagandamittel zu konfiszieren und in derselben Weise gegen die anderen Vereine und Vereinigungen in Serbien einzuschreiten, die sich mit der Propaganda gegen Österreich-Ungarn beschäftigen.
3. Ohne Verzug aus dem öffentlichen Unterricht in Serbien, sowohl was den Lehrkörper als auch was die Lehrmittel betrifft, alles zu beseitigen, was dazu dient oder dienen könnte, die Propaganda gegen Österreich-Ungarn zu nähren.
4. Aus dem Militärdienst und aus der Verwaltung im allgemeinen alle Offiziere und Beamten zu entfernen, die der Propaganda gegen Österreich-Ungarn schuldig sind.
5. Einzu willigen, daß in Serbien Organe der k. u. k. Regierung bei der Unterdrückung der gegen die territoriale Integrität der Monarchie gerichteten subversiven Bewegungen mitwirken.
6. Eine gerichtliche Untersuchung gegen jene Teilnehmer des Komplotts vom 28. Juni einzuleiten, die sich auf serbischem Territorium befinden; von der k.u . k. Regierung hiezu delegierte Örgane werden an den bezüglichen Erhebungen teilnehmen.
***
14.9. Der Abgeordnete Haase, Sprecher der SPD, beim Ausbruch des ersten Weltkrieges im Reichstag, 4. August 1914:
Die Folgen der imperialistischen Politik [...] sind wie eine Sturmflut über Europa hereingebrochen. Die Verantwortung hierfür fällt den Trägem dieser Politik zu; wir lehnen sie ab. [...] Jetzt stehen wir vor der ehernen Tatsache des Krieges. Uns drohen die Schrecknisse der Invasion. [...] Es gilt, diese Gefahr abzuwenden. [...] Da machen wir wahr, was wir immer betont haben: Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich
»**
14.10. Ein Plakat aus dem Jahre 1918:
Bekanntmachung
A u f Abschnitt 36 der Eierkarte kann vom 27. März bis 6. April
ein Ei
abgegeben und entnommen werden.
Berlin, den 23. März 1918Magistrat der Königlichen Haupt- und Residenzstadt
Wermuth
«*«
14.11. Der deutsche Liberale Friedrich Naumann [1860-1919] sagte 1900 beim Besuch der Weltausstellung in Paris über die technische Entwicklung:
Es gibt Maschinen, bei deren Anblick man geradezu glücklich ist vor Freude, daß einem Menschen so etwas glücken konnte. Oft sind das vielleicht nicht die allemotwendigsten und wirtschaftlichsten Maschinen, aber sie beleuchten am besten, was im Grunde die Maschine ist: der eiserne Mensch! Ich habe früher gesagt, die eiserne Hand, finde aber, daß dieser Ausdruck nicht ganz ausreicht. Die Maschine tut alles, was irgendein Glied des Körpers mechanisch leistet, sie sieht, hört, bläst den Staub weg, tritt, knetet, walkt, reibt, preßt, leckt, klebt, schreibt, stempelt, zählt, näht, schmiedet, drechselt, mißt, schiebt, sägt, hobelt, bohrt, nagelt, sticht, gerbt, windet, bindet, rollt, stanzt, punzt, fräst. Man kann nicht sagen• die Maschine liebt, die Maschine hofft, die Maschine bittet um Entschuldigung! Aber abgesehen von diesen rein seelisch-sittlichen Vorgängen, was tut die Maschine nicht? Sie putzt Flaschen, ß llt sie, korkt sie, entkorkt sie - der Mensch aber trinkt. Es ist rührend von der Maschine, daß sie mit Wasser und Kohle zufrieden ist. Sie ist geduldiger und leistungsfähiger als ein Kamel Tagelang bin ich zwischen den Maschinen der Völker hindurchgegangen, den Katalog in der Hand, das Auge offen Das, was ich gesehen habe, kann ich schwer in ein paar kurzen Worten fassen, denn es ist nichts Neues, nichts direkt Überraschendes. Es ist der Eindruck von der unaufhaltsamen Ausbreitung der maschinellen Arbeitsteilung.
***
14.12. Der evangelische Theologe, Arzt, Musiker Albert Schweitzer [1875-1965], der 1953 mit dem Friedensnobelpreis geehrt wurde, schätzte menschliche Werte höher als den technischen Fortschritt.
Die Kräfte der Natur machen wir uns in der Maschine dienstbar. Als ein Schüler des Kungtse [Konfuzius], so wird in den Schriften des Dschuang Dsi [Tschuangtse] erzählt, einen Gärtner sah, der, um Wasser zum Begießen seiner Beete zu holen, jedesmal mit dem Gefäß in den Brunnen hinunterstieg, fragte er ihn, ob er sich die Arbeit nicht erleichtern wolle. »Wieso denn?«, erwiderte dieser. Kungtses Schüler sprach: »Man nimmt einen hölzernen Hebelarm, der hinten beschwert und vorne leicht ist. A u f diese Weise kann man das Wasser schöpfen, daß es nur so sprudelt. Man nennt das einen Ziehbrunnen.« Da antwortete der Gärtner, der ein Weiser war: »Ich habe meinen Lehrer sagen hören: Wenn einer Maschinen benützt, so betreibt er alle seine Geschäfte maschinenmäßig; wer seine Geschäfte maschinenmäßig betreibt, der bekommt ein Maschinenherz, wenn aber einer ein Maschinenherz in der Brust hat, dem geht die reine Einfalt verloren«
Die von jenem Gärtner im 5. Jahrhundert vor Christus geahnten Gefahren treten uns in ihrer ganzen Schwere auf. Rein mechanische Arbeit ist das Los vieler um uns her geworden Vom eigenen Haus und vom eigenen nährenden Boden losgelöst, leben sie in einer drückenden, materiellen Unfreiheit. Durch die Umwälzung, die die Maschine hervorgerufen hat, sind wir fast alle einem allzu geregelten, allzu eingeengten und allzu anstrengenden Arbeitsdasein unterworfen worden Selbstbesinnung und Sammlung sind uns schwer gemacht. Das Familienleben und die Erziehung der Kinder leiden Not. Alle sind wir mehr oder weniger in Gefahr, Menschendinge statt Persönlichkeiten zu werden. Vielfache materielle und geistige Schädigung der Menschenexistenz ist also die Schattenseite der Errungenschaften des Wissens und Könnens.
*** *** ***
15.1. Mitteilung über die Abdankung des deutschen Kaisers Wilhelm ü. am 9. November 1918:
Der Kaiser und König hat sich entschlossen, dem Throne zu entsagen. [...] Er beabsichtigt, dem Regenten die Ernennung des Abgeordneten Ebert zum Reichskanzler und die Vorlage eines Gesetzesentwurfes wegen der sofortigen Ausschreibung allgemeiner Wahlen für eine verfassungsgebende deutsche Nationalversammlung vorzuschlagen, der es obliegen würde, die künftige Staatsform des deutschen Volkes [...] endgültig festzustellen. Der Reichskanzler Max, Prinz von Baden.
• **
15.2. Am 11. November 1918 verzichtete der österreichische Kaiser Karl I. auf die Ausübung der Regierungsgeschäfte. Darüber erließ er folgende Kundgebung in der Extraausgabe der offiziellen »Wiener-Zeitung«.
Seit Meiner Thronbesteigung war Ich unablässig bemüht, Meine Völker aus den Schrecknissen des Krieges herauszuführen, an dessen Ausbruch ich keinerlei Schuld trage.
Ich habe nicht gezögert, das verfassungsmäßige Leben wiederherzustellen, und habe den Völkern den Weg zu ihrer selbständigen staatlichen Entwicklung eröffnet.
Nach wie vor von unwandelbarer Liebe für alle Meine Völker erfüllt, will Ich ihrer freien Entfaltung Meine Person nicht als Hindernis entgegenstellen.
Im voraus erkenne Ich die Entscheidung an, die Deutschösterreich über seine künftige Staatsform trifft.
Das Volk hat durch seine Vertreter die Regierung übernommen, Ich verzichte auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften.
Gleichzeitig enthebe Ich Meine österreichische Regierung ihres Amtes.
Möge das Volk von Deutschösterreich in Eintracht und Versöhnlichkeit die Neuordnung schaffen und befestigen. Das Glück Meiner Völker war von Anbeginn das Ziel Meiner heißesten Wünsche.
Nur der innere Friede kann die Wunden dieses Krieges heilen.
Karl m.p. Lammasch m.p.
'***
15.3. Am 12. November 1918 wurde die »Erste Republik« in Österreich ausgerufen. Den Text der Proklamation, von dem hier der Anfang zitiert wird, verfaßte der Sozialdemokrat Karl Renner, den man zum Staatskanzler wählte.
Kraft Beschlusses der Provisorischen Nationalversammlung verordnet der Staatsrat wie folgt:
Art. 1. Deutschösterreich ist eine demokratische Republik. Alle öffentlichen Gewalten werden vom Volk eingesetzt.
Art. 2 Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik. Besondere Gesetze regeln die Teilnahme Deutschösterreichs an der Gesetzgebung und Verwaltung der Deutschen Republik sowie die Ausdehnung des Geltungsbereichs von Gesetzen und Einrichtungen der Deutschen Republik auf Deutschösterreich.
Art. 3. Alle Rechte, die nach der Verfassung der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder dem Kaiser zustanden, gehen einstweilen, bis die konstituierende Nationalversammlung die endgültige Verfassung festgesetzt hat, auf den deutschösterreichischen Staatsrat über.
»•*
15.4. Zwei Artikel aus der Verfassung der Republik Österreich. Der erste verpflichtet den österreichischen Staat zur Wahrung seiner Unabhängigkeit (und macht dadurch Artikel 2 der vorhin zitierten Proklamation ungültig); der zweite bestimmt, daß Österreich, ebenso wie seine Verbündeten, die Schuld am Ausbruch des Krieges gegenüber der Weltöffentlichkeit auf sich zu nehmen und Reparationen zu zahlen habe.
Art. 88. Die Unabhängigkeit Österreichs ist unabänderlich, es sei denn, daß der Rat des Völkerbunds einer Abänderung zustimmt. Daher übernimmt Österreich die Verpflichtung, sich, außer mit Zustimmung des gedachten Rates, jeder Handlung zu enthalten, die mittelbar oder unmittelbar oder auf irgendwelchem Wege, namentlich - bis zu seiner Zulassung als Mitglied des Völkerbunds — im Wege der Teilnahme an den Angelegenheiten einer anderen Macht seine Unabhängigkeit gefährden könnte.
Art. 177. Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären und Österreich erkennt an, daß Österreich und seine Verbündeten als Urheber für die Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Reperungen und ihre Staatsangehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Österreich-Ungarns und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben.
**«
15.5. Artikel 80 des Versailler Friedensvertrags 1919 hatte das Verbot eines Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich zum Inhalt.
Art. 80. Deutschland erkennt die Unabhängigkeit Österreichs innerhalb der durch den Vertrag zwischen diesem Staat und den alliierten und assoziierten Hauptmächten festzusetzenden Grenzen an und verpflichtet sich, sie unbedingt zu achten; es erkennt an, daß diese Unabhängigkeit unabänderlich ist
*»*
15.6. Auszüge aus der Weimarer Verfassung:
Art. 25: Der Reichspräsident kann den Reichstag auflösen, jedoch nur einmal aus dem gleichen Anlaß.
Art. 48: Der Reichspräsident kann, wenn die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung [...] erforderlichen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten
Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen. [Davon] hat der Reichspräsident unverzüglich dem Reichstag Kenntnis zu geben. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichstages außer Kraft zu setzen.
Art. 53: Der Reichskanzler und auf seinen Vorschlag die Reichsminister werden vom Reichspräsidenten ernannt und entlassen.
Art. 54: Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstages. Jeder von ihnen muß zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzieht.
**«
15.7. Für die Niederlage im ersten Weltkrieg machten einflußreiche Kreise in Deutschland jene Kräfte verantwortlich, die die Revolution auslösten und damit der Front »in den Rücken gefallen waren«. Diese Dolchstoßlegende wurde auch von hohen Offizieren, zum Beispiel von General Groener, gestützt:
[...] mir konnte es nur lieb sein, wenn bei diesen unglückseligen Verhandlungen [den Waffenstillstandsverhandlungen], von denen nichts Gutes zu erwarten war, das Heer und die Heeresleitung so unbelastet wie möglich blieb. [...] Die Heeresleitung stellte sich bewußt auf den Standpunkt, die Verantwortung für den Waffenstillstand und alle späteren Schritte von sich zu weben. Sie tat dies, streng juristisch gesehen, nur mit bedingtem Recht, aber es kam mir und meinen Mitarbeitern darauf an, die Waffe blank und den Generabtab für die Zukunft unbelastet zu erhalten.
***
15.8. Der Schriftsteller Ernst Jünger erinnert sich an den ersten Weltkrieg im Buch »In Stahlgewittern« (1920) so:
Wir sind nicht gewillt, diesen Krieg aus unserem Gedächtrüs zu streichen, wir sind stolz auf ihn. Wir sind durch Blut und Erinnerung unlöslich verbunden. [...] Wir brauchen für die kommenden Zeiten ein ebemes, rücksichtsloses Geschlecht. Wir werden wieder die Feder durch das Schwert [...] ersetzen, sonst treten uns andere in den Dreck. Wir haben aus der Revolution gelernt. [...] Uns leite über alles Niederträchtige hinweg unsere große [...] Idee: das Vaterland
***
15.9. Aus dem Vertrag von Rapallo, 1922:
Art. la. Das Deutsche Reich und die russbche Sowjetrepublik verzichten gegenseitig auf Ersatz der Kriegskosten sowie auf Ersatz der Kriegsschäden, d. h. derjenigen Schäden, die ihnen und ihren Staatsangehörigen durch im Kriegsgebiet vorgenommene Requbitionen entstanden sind. [...]
y,rt. 3. Die diplomatbchen und konsularischen Beziehungen zwbchen dem Deutschen Reich und der Sowjetregierung werden sogleich wieder aufgenommen [...]
Art. 4. Beide Reperungen sind sich ferner auch darüber einig, daß für die allgemeine Rechtsstellung der Angehörigen des einen Teib im Gebiet des anderen Teib und für die allgemeine
Regelung der beiderseitigen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen der Grundsatz der Meistbegünstigung gelten solL [...]
Art. 5. Die beiden Regierungen werden den wirtschaftlichen Bedürfnissen der beiden Länder in wohlwollendem Geist wechselseitig entgegenkommen.
»«•
15.10. Am 24. Juni 1922 wurde Außenminister Walther Rathenau [1877-1922] von einem aufgehetzten jungen Mann erschossen. Rathenaus Mutter wandte sich in einem offenen Brief an die Mutter des Mörders.
In namenlosem Schmerz reiche ich Ihnen, Sie ärmste aller Frauen, die Hand Sagen Sie Ihrem Sohn, daß ich im Namen und Geist des Ermordeten ihm verzeihe, wie Gott ihm verzeihen möge, wenn er vor der irdischen Gerechtigkeit ein volles offenes Bekenntnis ablegt und vor der göttlichen bereut. Hätte er meinen Sohn gekannt, den edelsten aller Menschen, den die Erde trug, so hätte er eher die Mordwaffe auf sich selbst gerichtet als auf ihn. Mögen diese Worte Ihrer Seele Frieden geben
**•
15.11. Auszüge aus der ersten und der letzten Rede des deutschen Außenministers Gustav Stresemann (Friedensnobelpreis 1926) vor dem Völkerbund:
[1926] Eine starke Gärung der Gedanken kämpft unter den Völkern der Erde. Die einen vertreten das Prinzip der nationalen Geschlossenheit und verwerfen die internationale Verständigung, weil sie das national Gewordene nicht durch den allgemeinen Begriff der Menschheit ersetzen wollen [...] Der göttliche Baumeister der Erde hat die Menschheit nicht geschaffen als ein gleichförmiges Ganzes. [...] Aber es kann nicht der Sinn einer göttlichen Weltordnung sein, daß die Menschen ihre nationalen Höchstleistungen gegeneinander kehren und damit die allgemeine Kulturentwicklung immer wieder zuriickwerfen
[1929] Die deutsche Regierung hat stets den Standpunkt vertreten, daß der Ausgangspunkt aller Bemühungen um die Friedenssicherungen der Ausbau der Methoden für die friedliche Bereinigung jeder Art von Staatskonflikten sein muß. [...] Ich glaube denen, die in den Erinnerungen leben an den Heroismus der Jugend aller Völker, das eine zurufen zu dürfen, daß die technischen Kriege der Zukunft, selbst wenn man von allem anderen absieht, für persönlichen Heroismus wenig Bestätigungsmöglichkeiten geben werden. [...] Wir in unserem Kreise, wir haben die nüchterne Aufgabe, die Völker einander näherzubringen, ihre Gegensätze zu überbrücken [...] Auch diese Arbeit wird nicht nur durch Elan und Hurra allein sich lösen lassen
*** ***
16.1. Am 28. Februar 1933, dem Tag nach dem Reichstagsbrand, erschien die »Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat«.
§ 1. Die Artikel 114, 115, 117,118, 123, 124 und 153 der Verfassung des Deutschen Reiches werden bis auf weiteres außer Kraft gesetzt. Es sind daher Beschränkungen der persönlichen Freiheit, des Rechtes, der freien Meinungsäußerung, einschließlich der Pressefreiheit, des Vereins- und Versammlungsrechts, Eingriffe in das Brief-, Post-, Telegrafen- und Fem- sprechgeheimnis, Anordnungen von Hausdurchsuchungen und von Beschlagnahmungen
sowie Beschränkungen des Eigentums auch außerhalb der sonst hiefiir bestimmten gesetzlichen Grenzen zulässig.
***
162 . Die am 2. August 1934 eingeführte Eidesformel bei der Reichswehr:
Ich schwöre bei Gott diesen heiligen Eid, daß ich dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, dem Oberbefehlshaber der Wehrmacht, unbedingten Gehorsam leisten und als tapferer Soldat bereit sein will, jederzeit für diesen Eid mein Leben einzusetzen
*»*
16-3. Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels verkündete 1934:
Wir Nationalsozialisten haben [...] niemals behauptet, daß wir Vertreter eines demokratischen Standpunktes seien, sondern wir haben offen erklärt, daß wir uns demokratischer Mittel nur bedienen, um die Macht zu gewinnen, und daß wir nach der Machteroberung unseren Gegnern alle die Mittel versagen würden, die man uns in Zeiten der Opposition zugebilligt hatte.
*«*
16.4. Die totale Beherrschung der Menschen war eines der Hauptziele der nationalsozialistischen Bewegung. In einer Rede erklärte Hitler:
Diese Jugend lernt ja nichts anderes als deutsch denken, deutsch handeln, und wenn diese Knaben mit zehn Jahren in unsere Organisation hineinkommen und dort zum erstenmal überhaupt frische Luft bekommen und fihlen, dann kommen sie vier Jahre später vom Jungvolk in die Hitler-Jugend, und dort behalten wir sie wieder vier Jahre. Und dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände unserer alten Klassen- und Standesgegner, sondern dann nehmen wir sie sofort in die Partei, in die Arbeitsfront, in die SA oder in die SS [...] und so weiter. Und wenn sie dort zwei Jahre oder anderthalb Jahre sind und noch nicht ganz Nationalsozialisten geworden sein sollten, dam kommen sie in den Arbeitsdienst und werden dort wieder sechs oder sieben Monate geschliffen, alles mit einem Symbol, dem deutschen Spaten Und was dann nach sechs oder sieben Monaten noch an Klassenbewußtsein oder Standesdünkel da oder da vorhanden sein sollte, das übernimmt dann die Wehrmacht zur weiteren Behandlung auf zwei Jahre, und wenn sie nach zwei, drei oder vier Jahren zurückkehren, dann nehmen wir sie, damit sie auf keinen Fall rückfällig werden, sofort in die SA, SS und so weiter, und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben lang.
***
16.5. Im Mai 1933 stand in der deutschen Presse:
Bekanntmachung!
1. Sämtliche Gaststätteninhaber werden ersucht, künftighin in ihren Lokalen keine Jazzmusik mehr spielen zu lassen. Entstehen hinsichtlich des Begriffes »Jazzmusik« Zweifel, so entscheidet SA-Obermusikmeister K .. endgültig.
2 Sämtliche Gaststätteninhaber werden ersucht, in ihren Lokalen an gut sichtbarer Stelle Plakate mit folgender Aufschrift aufzuhängen: Die deutsche Frau raucht nicht!
Der Sonderkommissar Sch..
Sturmbannführer.
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16.6. Am A nfang der Hitlerherrschaft waren kritische Stimmen noch möglich. Kabarettist Werner Finch spöttelte beispielsweise Abend für Abend über die Hitler-Eiche:
»Vor ein paar Monaten war sie noch ganz klein, gerade bis zu meinen Knöcheln, dann reichte sie mir bis an die Knie, und jetzt steht sie mir schon bis zum Hals.«
Bei solchen Pointen hatten zwei Herren unten an den Tischen jedesmal eifrig mitgeschrieben. Mitunter kamen die Lacher zu schnell und die Beamten nicht nach. Finch fragte dann vom Podium herunter:
»Kommen Sie mit, oder soll ich mitkommen?«
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16.1. Erich Kästner [1899-1974] gehört zu den wenigen deutschen Schriftstellern, die ihre Heimat auch in den Jahren der Hitlerherrschaft nicht verließen. Er war zugegen, als seine Bücher verbrannt wurden.
Im Jahre 1933 wurden meine Bücher in Berlin, auf dem großen Platz neben der Staatsoper, von einem gewissen Herrn Goebbels, mit düster-feierlichem Pomp verbrannt. Vierundzwanzig deutsche Schriftsteller, die symbolisch für immer ausgetilgt werden sollten, rief er triumphierend bei Namen Ich war der einzige der Vierundzwanzig der persönlich erschienen war, um dieser theatralischen Frechheit beizu wohnen.
Ich stand vorder Universität, eingekeilt zwischen Studenten in SA-Uniform, den Blüten der Nation, sah unsere Bücher in die zuckenden Flammen fliegen und hörte die schmalzigen Tiraden des kleinen abgefeimten Lügners. Begräbniswetter hing über der Stadt. Der Kopf einerzerschlagenen Büste Magnus Hirschfelds stak auf einer langen Stange, die, hoch über der stummen Menschenmenge, hin und her schwankte. Er war widerlich
Plötzlich rief eine schrille Frauenstimme: »Dort steht ja der Kästner!« Eine junge Kabarettistin, die sich mit einem Kollegen durch die Menge zwängte, hatte mich stehen sehen und ihrer Verblüffung übertrieben laut Ausdruck verliehen Mir wurde unbehaglich zumute. Doch es geschah nichts. (Obwohl in diesen Tagen gerade sehr viel zu »geschehen« pflegte.) Die Bücher flogen weiter ins Feuer. Die Tiraden des kleinen abgefeimten Lügners ertönten weiterhin Und die Gesichter der braunen Studentengarde blickten, die Sturmriemen unterm Kinn, unverändert geradeaus, hinüber zu dem Flammenstoß und zu dem psalmodierenden, gestikulierenden Teufelchen
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16.8. Joseph Goebbels ordnete am 27. November 1936 mit Gesetzeskraft die Aufhebung der Kritik a a
Da auch das Jahr 1936 keine befriedigende Besserung der Kunstkritik gebracht hat, untersage ich mit dem heutigen Tage endgültig die Kunstkritik in der bisherigen Form. An die Stelle der bisherigen Kunstkritik, die in völliger Verdrehung des Begriffes »Kritik« in der Zeit jüdischer Kunstüberfremdung zum Kunstrichtertum gemacht worden war, wird ab heute der Kunstbericht gestellt; an die Stelle des Kritikers tritt der Kunstschriftleiter. Der Kunstbericht soll weniger Wertung als vielmehr Darstellung und damit Würdigung sein.
16.9. Plakat für die Ausstellung »Entartete Kunst« (München 1937):
Gequälte Leinwand -
Seelische Verwesung -
Krankhafte Phantasten -
Geisteskranke Nichtskönner
von Judencliquen preisgekrönt, von Literaten gepriesen, waren Produkte und Produzenten einer »Kunst«, für die Staatliche und Städtische Institute gewissenlos Millionenbeträge deutschen Volksvermögens verschleuderten, während deutsche Künstler zur gleichen Zeit verhungerten. So, wie jener »Staat« war seine »Kunst«.
Seht Euch das an! Urteilt selbst!
Besuchet die Ausstellung
»Entartete Kunst«
Hofgarten-Arkaden, Galeriestraße 4
Eintritt frei Für Jugendliche verboten
»«»
16.10. Alle Künstler und Geistesschaffenden waren im Dritten Reich den Weisungen des Ministeriums für Volksaufklärung und Propaganda unterworfen. Wer nicht gehorchte, erhielt Berufsverbot, wie der expressionistische Maler Karl Schmidt-Rottluff:
Aktenzeichen: IIB /M 756/87
HerrnKarl Friedrich Schmidt-Rottluff Berlin W 30, Bambergerstraße 19
Anläßlich der mir seinerzeit vom Führer aufgetragenen Ausmerzung der Werke entarteter Kunst in den Museen mußten von Ihnen allein 608 Werke beschlagnahmt werden Eine Anzahl dieser Werke war auf den Ausstellungen »Entartete Kunst« in München, Dortmund und Berlin ausgestellt.
Aus dieser Tatsache mußten Sie ersehen, daß Ihre Werke nicht der Förderung deutscher Kultur in Verantwortung gegenüber Volk und Reich entsprechen
Obwohl Ihnen außerdem die richtungwebenden Reden des Führers anläßlich der Eröffnung der Großen Deutschen Kunstausstellungen in München bekannt sein mußten, geht aus Ihren nunmehr zur Einsichtnahme hergereichten Originalwerken der Letztzeit hervor, daß Sie auch heute noch dem kulturellen Gedankengut des nationabozialbtbchen Staates fentstehen.
Ich vermag Ihnen auf Grund dieser Tatsache nicht die ß r die Mitgliedschaft bei meiner Kammer erforderliche Zuverlässigkeit zuzuerkennen. A u f Grund des § 10 der Ersten Durchführungsverordnung zum Reichskulturkammergesetz vom 1. November 1933 (RGBL 1, S. 797) schließe ich Sie aus der Reichskammer der bildenden Künste aus und untersage Ihnen mit sofortiger Wirkung jede berufliche - auch nebenberufliche - Betätigung auf den Gebieten der bildenden Künste. [...]
Gez. Ziegler
***
16.11. Einer der gefeierten Autoren des Hitlerstaates war Hermann Claudius [1878-1980], der Urenkel des Dichters Matthias Claudius [1740-1815]. Hier ein Text von ihm aus dem Hausbuch »Ewiges Deutschland« (1940):
Deutscher Spruch
Herrgott,steh ’ dem Führer bei daß sein Werk das Deine sei daß sein Werk das Deine sei Herrgott,steh ’ dem Führer bei!Herrgott,steh’uns allen bei daß sein Werk das Unsre sei Unser Werk das seine sei Herrgott,steh ’ uns allen bei!
***
16.12. SA-Befehl zur »Reichskristallnacht«, 9./10. November 1938:
Sämtliche jüdbche Geschäfte sind sofort von SA-Männem in Uniform zu zerstören [...] Jüdische Synagogen sind sofort in Brand zu stecken [...] Die Feuerwehr darf nicht eingreif en [...] Der Führer wünscht, daß die Polizei nicht eingreift. [...] An den zerstörten jüdbchen Geschäften, Synagogen usw. sind Schilder anzubringen mit etwa folgendem Text:
Rache ß r Mord an vom Rath [Deutscher Botschaftssekretär in Paris, der am 7. November erschossen wurde.]
Tod dem internationalen Judentum.
16.13. Franz Ferdinand Höß, Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz, im Nürnberger Prozeß:
Wir bemühten uns, die Opfer zum Narren zu halten, indem sie glaubten, daß sie ein Entlausungsverfahren durchzumachen hätten Natürlich erkannten sie auch häufig unsere wahren Absichten, und wir hatten deswegen manchmal Aufruhr und Schwierigkeiten Sehr häufig wollten Frauen ihre Kinder unter den Kleidern verbergen, aber wenn wir sie fanden, wurden die Kinder natürlich zur Vernichtung hineingesandt. Wir sollten diese Vernichtungen im geheimen ausführen, aber der faule und Übelkeit erregende Gestank, der von der ununterbrochenen Körperverbrennung ausging, durchdrang die ganze Gegend, und alle Leute, die in den umliegenden Gemeinden lebten, wußten, daß in Auschwitz Vernichtungen im Gange waren
16.14. In Bertolt Brechts [1898-1956] »Flüchtlingsgesprächen« steht der Satz:
Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen
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16.15. Radnöti Miklös, Naplö:
Hogy fäjhatnak a nemeteknek most a rendhagyö igöik.
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16.16. Der österreichische Kanzler Schuschnigg mußte Hitler auf dessen Aufforderung am 12. Februar 1938 einen Besuch auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden abstatten, von dem er später im Buch »Requiem in Rot-Weiß-Rot« so berichtete:
[Hitler] »Ich sage Ihnen, ich werde die ganze sogenannte österreichische Frage lösen, und zwar so oder so! Glauben Sie, ich weiß nicht, daß Sie die österreichische Grenze gegen das Reich befestigen lassen? [...] Ich brauche nur einen Befehl zu geben, und über Nacht ist der ganze lächerliche Spuk an der Grenze zerstoben Sie werden doch nicht glauben, daß Sie mich auch nur eine halbe Stunde aufhalten können? Wer weiß - vielleicht bin ich über Nacht auf einmal in Wien; wie der Frühlingssturm! Dann sollen Sie etwas erleben!«
[Schuschnigg] »Ich werde mich erkundigen und alle eventuellen Grenzarbeiten an der deutschen Grenze einstellen lassen Ich weiß natürlich, daß Sie in Österreich einmarschieren können; aber, Herr Reichskanzler, ob wir es wollen oder nicht - das wird ein Blutvergießen geben; wir sind nicht allein auf der Welt. Das bedeutet wahrscheinlich den Krieg.«
[Hitler] »Das sagt sich sehr leicht; jetzt, wo wir beide in Klubsesseln sitzen. Aber dahinter steht eine Unsumme von Leid und Blut. Das wollen Sie auf Ihre Verantwortung nehmen, Herr Schuschnigg? Glauben Sie nur nicht, daß mich irgend jemand in der Welt in meinen Entschlüssen hindern wird! Italien? - Mit Mussolini bin ich im reinen; ich bin mit Italien aufs engste befreundet. England? - England wird keinen Finger für Österreich rühren [...] Und Frankreich? - Ja, vor zwei Jahren noch cds wir mit einer Handvoll Bataillone ins Rheinland einmarschierten - damals habe ich viel riskiert. Aber jetzt ist es für Frankreich zu spät!«
* * *
16.17. Am Abend des 11. März 1938 trat der österreichische Bundeskanzler Schuschnigg zurück. In seiner Abschiedsrede, die vom Rundfunk übertragen wurde, wandte er sich an das österreichische Volk:
Österreicher und Österreicherinnen!
Der heutige Tag hat uns eine schwere und entscheidende Situation gestellt. Ich bin beauftragt, dem österreichischen Volk über die Ereignisse des Tages zu berichten. Die deutsche Regierung hat dem Herrn Bundespräsidenten [Miklas] ein unbefristetes Ultimatum gestellt, nach welchem der Herr Bundespräsident einen von ihm vorgeschlagenen Kandidaten zum Bundeskanzler zu ernennen und die Regerung nach den Vorschlägen der deutschen Reichsregierung zu bestellen hätte, widrigenfalls der Einmarsch deutscher Truppen für diese Stunde in Aussicht genommen wurde.
Ich stelle fest vor der Welt, daß die Nachrichten, die in Österreich verbreitet wurden, daß Arbeiterunruhen gewesen seien, daß Ströme von Blut geflossen seien, daß die Regierung nicht Herrin der Lage wäre und aus eigenem nicht hätte Ordnung machen können, von A bis Z erfunden sind
Der Herr Bundespräsident beauftragt mich, dem österreichischen Volk mitzuteilen, daß wir der Gewalt weichen. Wir haben, weil wir um keinen Preis, auch in ernster Stunde nicht, deutsches Blut zu vergießen gesonnen sind, unserer Wehrmacht den Auftrag gegeben, für den Fall, daß der Einmarsch durchgeführt wird, ohne Widerstand sich zurückzuziehen und die Entscheidung der nächsten Stunden abzuwarten. Der Herr Bundespräsident hat den General der Infanterie Schilhawsky, den Generaltruppeninspektor, mit der Führung der Wehrmacht betraut. Durch ihn werden weitere Weisungen an die Wehrmacht ergehen.
So verabschiede ich mich in dieser Stunde von dem österreichischen Volk mit einem deutschen Wort und einem Herzenswunsch: Gott schütze Österreich!
***
16.18. Telefongespräch Görings mit dem nach Wien gesandten Staatssekretär Keppler am 11. März 1938 um 20.48 Uhr:
Keppler: Wir haben jetzt die Regierung [Seyss-Inquart].
Göring: Nun passen Sie auf: Folgendes Telegramm soll der Seyss-Inquart hersenden: [...] »Die provisorische Regerung die nach der Demission der Regierung Schuschnigg ihre Aufgabe darin sieht, die Ruhe und Ordnung in Österreich wieder herzustellen, richtet an die deutsche Regierung die dringende Bitte, sie in ihrer Aufgabe zu unterstützen und ihr zu helfen, Blutvergießen zu verhindern. Zu diesem Zweck bittet sie die deutsche Regierung um baldmöglichste Entsendung deutscher Truppen.« [...] Legen Sie ihm das Telegramm vor und sagen Sie ihm, wir bitten - er braucht das Telegramm ja gar nicht zu schicken, er braucht nur zu sagen: einverstanden.
***
16.19. Kurz nach dem Anschluß, am 15. März 1938, hielt Hitler eine »Befreiungskundgebung« auf dem Wiener Heldenplatz. Vom unerwarteten Erfolg berauscht, rief er in die Massen:
Ich kann somit in dieser Stunde dem deutschen Volk die größte Vollzugsmeldung meines Lebens abstatten. Als Führer und Reichskanzler der deutschen Nation und des Reiches melde ich vor der Geschichte nunmehr den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich
*•*
16.20. Im Anschlußgesetz, das für mehr als sieben Jahre das Schicksal Österreichs bestimmen sollte, steht unter anderem:
Art. 1. Österreich ist ein Land des Deutschen Reiches.
A rt 2. Sonntag, den 10. April 1938, findet eine freie und geheime Volksabstimmung der über 20 Jahre alten deutschen Männer und Frauen Österreichs über die Wiedervereinigung mit dem Deutschen Reich statt
A rt 3. Bei der Volksabstimmung entscheidet die Mehrheit der abgegebenen Stimmen.
Art. 4. Die zur Durchführung und Ergänzung dieses Bundesverfassungsgesetzes erforderlichen Vorschriften werden durch Verordnung getroffen.
Art. 5. Dieses Bundesverfassungsgesetz tritt am Tag seiner Kundmachung in Kraft. Mit der Vollziehung dieses Bundesverfassungsgesetzes ist die Bundesregierung betraut.
**«
16.21. Hitlers Befehl zum Angriff auf Polen (Geheime Kommandosache OKW-WFA 170-39).
Nachdem alle politischen Möglichkeiten erschöpft sind, um auf friedlichem Wege eine für Deutschland unerträgliche Lage an seiner Ostgrenze zu beseitigen, habe ich mich zur gewaltsamen Lösung entschlossen.
Der Angriff gegen Polen ist nach dem für den »Fall Weiß« getroffenen Vorbereitungen zu führen mit Abänderungen, die sich beim Heer durch den inzwischen fast vollendeten Aufmarsch ergeben.
Aufgabenverteilung und Operationsziel bleiben unverändert
Angriffstag: 1. 9.1939 - Angriffszeit: 4,45 Uhr.
*«*
16.22. Mit folgenden Worten einer Rundfunkrede am 1. September 1939 begründete Hitler vor der Weltöffentlichkeit den Angriff auf Polen:
Polen hat heute nacht auf unserem eigenen Territorium auch durch reguläre Soldaten geschossen. Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen. [...] Ich habe mich daher nun entschlossen, mit Polen in der gleichen Sprache zu reden, mit der Polen nun seit Monaten mit uns spricht.
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1623. Nach der Niederlage von Stalingrad rief Goebbels Parteigenossen zu einer Kundgebung in den Sportpalast in Berlin und verkündete von dort aus unter dem jubelnden Beifall der Menge den »totalen Krieg«.
Ihr also, meine Zuhörer, repräsentiert in diesem Augenblick die Nation. Und an euch möchte ich zehn Fragen richten, die ihr mir und dem deutschen Volk vor der ganzen Welt, insbesondere aber vor unseren Feinden, die uns auch an ihrem Rundfunk zuhören, beantworten sollt. [...]
Die Engländer behaupten, das deutsche Volk wehrt sich gegen die totalen Knegsmaß- nahmen der Regerung. Es will nicht den totalen Kneg, sondern die Kapitulation. Ich frage euch; Wollt ihr den totalen Krieg? Wollt ihr ihn, wenn nötig, totaler, radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt noch vorstellen können?
Schon nach der ersten Frage scholl Goebbels aus dem Munde der Tausende ein einstimmiges Ja entgegen, das nach jeder weiteren Frage von neuem den Sportpalast erdröhnen ließ.
«**
16.24. Das letzte Flugblatt der »Weißen Rose«, einer Studentengruppe um die Geschwister Scholl in München, 1943:
Der Tag der A b re ch n u n g ist gekommen, der Abrechnung der deutschen Jugend mit der verabscheuungswürdigsten Tyrannis, die unser Volk je erduldet hat. Im Namen der deutschen Jugend fordern wir vom Staat Adolf Hitlers die persönliche Freiheit, das kostbarste Gut des Deutschen, zurück, um das er uns in der erbärmlichsten Weise betrogen.
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1625. Das populärste Lied des zweiten Weltkrieges war »Lili Marleen« (Musik: Norbert Schulze, Text: Hans Leiß). Es wurde erstmals von Laie Andersen über den Belgrader Sender gesungen und bald in zahlreiche Sprachen übersetzt. »Lili Marleen« wurde zu dem Lied, das die Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung ausdrückte - egal, an welcher Seite der Front.
Vor der Kaserne,vor dem großen Torstand eine Laterne,und steht sie noch davor,so wolln wir uns da wiedersehrt,bei der Laterne wolln wir stehnwie einst, Lili Marleen.
Unsre beiden Schatten sahn wie einer aus.Daß wir so lieb uns hatten, das sah man gleich daraus.Und alle Leute solln es sehn, wenn wir bei der Laterne stehn, wie einst, Lili Marleen.
Schon rief der Posten, sie blasen Zapfenstreich, es kann drei Tage kosten! Kamerad, ich komm ja gleich.Da sagten wir wohl auf Widersehn wie gerne wollt ich mit dir gehn, wie einst, Lili Marleen.
Deine Schritte kennt sie, deinen zieren Gang, alle Abend brennt sie, mich vergaß sie lang.Und sollte mir ein Leids geschehn, wer wird bei der Laterne stehn mit dir, Lili Marleen?
Aus dem stillen Raume, an der Erde Grund - hebt mich wie im Traume dein verliebter Mund.Wenn sich die späten Nebel drehn, werd ich bei der Laterne stehn wie einst, Lili Marleen.
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17.1. Die Bestimmungen des Potsdamer Abkommens hinsichtlich der »Überführung deutscher Bevölkerungsteile«:
Die Konferenz erzielte folgendes Abkommen über die Ausweisung Deutscher aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn: Die L.] Regerungen haben die Frage in all ihren Aspekten beraten und erkennen an, daß die Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, in der Tschechoslowakei und in Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland durchgeführt werden muß. Sie stimmen darin überein, daß jede derartige Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll
***
17.2. Bereits in der »Moskauer Deklaration« (1. November 1943) deutet sich das Schicksal Österreichs nach dem zweiten Weltkrieg an.
Die Regierungen des Vereinigten Königreiches, der Sowjetunion und der Vereinigen Staaten von Amerika sind darin einer Meinung daß Österreich, das erste freie Land, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte, von deutscher Herrschaft befreit werden soll
Sie betrachten die Besetzung Österreichs durch Deutschland am 13. März 1938 als null und nichtig. Sie betrachten sich durch keinerlei Änderungen, die in Österreich seit diesem Zeitpunkt durchgeführt wurden, als irgendwie gebunden. Sie erklären, daß sie wünschen, ein freies und unabhängges Österreich wiederhergestellt zu sehen und dadurch ebensosehr den Österreichern selbst wie den Nachbarstaaten, die sich ähnlichen Problemen gegenüberge
stellt sehen werden, die Bahn zu ebnen, auf der sie die politische und wirtschaftliche Sicherheitfinden können, die die einzige Grundlage für einen dauerhaften Frieden ist.
Österreich wird aber daran erinnert, daß es für die Teilnahme am Krieg an der Seite Hitler- Deutschlands eine Verantwortung trägt, der es nicht entrinnen kann, und daß anläßlich der endgültigen Abrechnung Bedachtnahme darauf, wieviel es selbst zu seiner Befreiung beigetragen haben wird, unvermeidlich sein wird.
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173. Am 27. April 1945 wurde die Wiederherstellung der Republik Österreich (»Zweite Republik«) proklamiert. Staatskanzler wurde Karl Renner.
Angesichts der Tatsache,
daß der Anschluß des Jahres 1938 nicht durch Verhandlungen von Staat zu Staat vereinbart und durch Staatsverträge abgeschlossen, sondern durch militärische Bedrohung von außen und den hochverräterischen Terror einer nazifaschistischen Minderheit eingeleitet, endlich durch militärische kriegsmäßige Besetzung des Landes dem hilflos gewordenen Volk Österreichs aufgezwungen worden ist
und angesichts der Tatsache,
daß die nationalsozialistische Reichsregierung Adolf Hitlers kraft dieser völligen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Annexion des Landes das macht — und willenlos gemachte Volk Österreichs in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg geführt hat, den kein Österreicher jemals gewollt hat, erlassen die Unterzeichneten Vertreter aller antifaschistischen Parteien Österreichs ausnahmslos die nachstehende
UNABHÄNGIGKEITSERKLÄRUNG
Art. I: Die demokratische Republik Österreich ist wiederhergestellt und im Geist der Verfassung von 1920 einzurichten.
Art. II: Der im Jahr 1938 dem österreichischen Volk aufgezwungene Anschluß ist null und nichtig.
Art. III: Zur Durchführung dieser Erklärung wird eine Provisorische Staatsregierung eingesetzt und vorbehaltlich der Rechte der besetzenden Mächte mit der vollen Gesetzgebungsund Vollzugsgewalt betraut.
Art. IV: Am Tag der Kundmachung dieser Unabhängigkeitserklärung sind alle von Österreichern dem Deutschen Reich und seiner Führung geleisteten militärischen, dienstlichen oder persönlichen Gelöbnisse nichtig und unverbindlich.
Art. V: Von diesem Tag an stehen alle Österreicher wieder im staatsbürgerlichen Pflicht- und Treueverhältnis der Republik Österreich
***
17.4. In einer Rundfunkrede anläßlich des Neujahrstages 1950 schlug der österreichische Bundespräsident Karl Renner selbstbewußte Töne an:
Meine lieben Mitbürger müssen verstehen, Österreich ist ein europäisches Problem, ja ein Weltproblem geworden. Soweit es unser Problem ist, haben wir es selbst längst gelöst. Jeder Österreicher empfindet: Laßt unser Land in Ruhe, wir sind imstande, unsere Angelegenheiten selbst zu regeln. [...] Wir wollen allein sein, also laßt uns allein!
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17.5. Das Gedicht »Land der Berge, Strand am Strome« von Paula von Preradovic ist mit Musik von Mozart die österreichische Nationalhymne:
Land der Berge, Land am Strome,Land der Äcker, Land der Dome,Land der Hämmer, zukunftsreich!Heimat bist du großer Söhne,Volk, begnadet für das Schöne,Vielgerühmtes Österreich!
Heiß umfehdet, wild umstritten Liegst dem Erdteil du inmitten,Einem starken Herzen gleich Hast seit frühen Ahnentagen Hoher Sendung Last getragen,Vielgeprüftes Österreich!
Mutig in die neuen Zeiten,Frei und gläubig sieh uns schreiten,Arbeitsfroh und hoffnungsreich,Einig laß in Brüderchören,Vaterland, dir Treue schwören,Vielgeliebtes Österreich!
***
17.6. Aus einem Bericht der amerikanischen Erziehungskommission über die Not in Deutschland 1946:
Nirgends in der Welt ist es möglich gewesen, das Gebäude einer erfolgreichen demokratischen Selbstregierung auf der Grundlage des Hungers und der wirtschaftlichen Unordnung zu errichten. [...] Im Juli [betrug] das Durchschnittsgewicht der 10jährigen Knaben beinahe 10 % unter der Altersnorm. [...] Das erschreckende Ansteigen der Tuberkulose [...] beleuchtet die Emährungskrise sehr eindringlich, während .das Auftreten der Krätze die Aufmerksamkeit auf die Folgen des Mangeb an Seife und warmem Wasser lenkt.
***
17.7. US-Außenminister Marshall an der Harvard-Universität, 5. Juni 1947:
Wenn die Vereinigten Staaten [...] zum Gesundungsprozeß der europäbchen Welt beitragen, müssen die Länder Europas untereinander zu einer Einigung kommen [...] und selbst dazu beitragen [...], eine volle Auswertung der Maßnahmen unserer Regerung zu erzielen. [...]Ein Programm [für] die wirtschaftliche Wiederaufrichtung Europas [zu entwerfen], bt Sache der Europäer selbst. Die Initiative muß von Europa ausgehen. [...] Unsere Rolle sollte darin bestehen, den Entwurf eines europäbchen Programms [...] zu unterstützen.
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17.8. Je ein Zitat aus der Präambel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (1949) und der Verfassung der DDR (1949).
[Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland] [Um] seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Mitglied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat das deutsche Volk in den Ländern [elf Ländernamen], um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben [...], dieses Grundgesetz [...] beschlossen. Es hat auch für jene Deutsche gehandelt, denen mitzuwirken versagt war. Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.
[Verfassung der DDR] Vom Wdlen erfüllt, die Freiheit und die Rechte des Menschen zu verbürgen, das Gemeinschafts- und Wirtschaftsleben in sozialer Gerechtigkeit zu gestalten, dem gesellschaftlichen Fortschritt zu dienen, die Freundschaft mit allen Völkern zu fördern und den Frieden zu sichern, hat sich das deutsche Volk diese Verfassung gegeben.
***
17.9. Die Nationalhymne der Deutschen Demokratischen Republik wurde 1949 von Johannes R. Becher verfaßt.
Auferstanden aus Ruinen Und der Zukunft zugewandt,Laß uns dir zum Guten dienen,Deutschland, einig Vaterland Alte Not gilt es zu zwingen,Und wir zwingen sie vereint,Denn es muß uns doch gelingen,Daß die Sonne schön wie nie Über Deutschland scheint.
Glück und Friede sei beschieden Deutschland, unsrem Vaterland!Alle Welt sehnt sich nach Frieden!Reicht den Völkern eure Hand Wenn wir brüderlich uns einen,Schlagen wirdes Volkes Feind.Laßt das Licht des Friedens scheinen,Daß nie eine Mutter mehr Ihren Sohn beweint!
Laßt uns pflügen, laßt uns bauen,Lernt und schafft wie nie zuvor,Und der eignen Kraft vertrauend Steigt ein frei Geschlecht empor.Deutsche Jugend, bestes Streben Unsres Volks in dir vereint,Wirst du Deutschlands neues Leben,Und die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint.
* * *
17.10. »Paris Match« 1952 zu der wirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik:
Der deutsche Arbeiter hat das Totenhaus, das Deutschland nach dem Kriege war, in ein Bienenhaus verwandelt.
*•*
17.11. Die Hallstein-Doktrin (nach dem damaligen Staatssekretär im Auswärtigem Amt, Walther Hallstein) bestimmte lange die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Bundeskanzler Konrad Adenauer formulierte ihr Wesen 1955 so:
Ich muß [...] feststellen, daß die Bundesregierung auch künftig die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der DDR durch dritte Staaten [...] als einen unfreundlichen Akt ansehen würde, da er geeignet wäre, die Spaltung Deutschlands zu vertiefen.
***
17.12. Auszüge aus der Rede Walter Ulbrichts [1893-1973] zum Bau der Berliner Mauer, gehalten am 18. August 1961 im Fernsehen der DDR.
Meine lieben Bürger der Deutschen Demokratischen Republik und liebe Freunde in Westdeutschland und Westberlin!
Ereignisreiche Tage liegen hinter uns. Hier und da gingen die Wogen etwas hoch Sie glätten sich allmählich Die von Schöneberg und Bonn künstlich geschürte Aufregung ist abgeebbt. Natürlich müssen wir weiterhin wachsam sein. Aber das Leben geht seinen ruhigen Gang. Sie erwarten mit Recht, daß ich als Vorsitzender des Staatsrates der DDR einiges zu den Geschehnissen und zu der neuen Situation sage.
Doch zuvor drängt es mich, den prächtigen Söhnen und Töchtern unserer Werktätigen, die gegenwärtig Uniform tragen, den prächtigen Jungen in der Nationalen Volksarmee und in der Volkspolizei, den Unteroffizieren und Generalen unserer bewaffneten Kräfte im Namen des Staatsrates, im Namen der Regierung der DDR und im Namen der Partei der Arbeiterklasse herzlichen Dank zu sagen. Sie haben die erfolgreiche Aktion vom 13. August hervorragend und diszipliniert, mit großartigem Kampfgeist und großartiger Moral durchgeführt. Der Dank gebührt allen Angehörigen unseres Staatsapparates, der hier bewiesen hat, daß er zu großen Leistungen fähig ist.
Wir haben - so glaube ich - einen wichtigen Beitrag zum Frieden geleistet, indem wir die Grenzen der DDR gegenüber Westberlin und gegenüber Westdeutschland gesichert haben. Wir haben uns bei unseren Maßnahmen an die Vereinbarungen mit der Sowjetunion und mit den anderen Staaten des Warschauer Vertrages gehalten, die uns verpflichten, die Grenzen unseres Staates wirksam zu schützen und unter Kontrolle zu halten. [...]
Manche Leute haben gesagt, durch die Maßnahmen der Regierung der DDR würden die Brüder und Schwestern in Westdeutschland von uns getrennt. Aber wer hat denn die Menschen in Westdeutschland von uns getrennt? Das waren doch die amerikanischen Imperialisten, weil sie Westdeutschland in einen Rammbock gegen den Sozialismus verwandeln wollten.
Wie ist das eigentlich mit den Brüdern und Schwestern? Die Sache ist doch so: Wir sind für enge Beziehungen mit der westdeutschen Bevölkerung. Leider aber haben unsere westdeutschen Brüder und Schwestern zugelassen, daß bei ihnen Militarismus und Nazismus wiederum starke Machtpositionen einnehmen, die dazu ausgenutzt werden, einen dritten Weltkrieg vorzubereiten.
***
17.13. Zwei verschiedene Antworten auf die Frage, ob es zwei deutsche Nationen gibt. Die erste stammt von Albert Norden, Mitglied des Politbüros des ZK der SED aus dem Jahr 1973, die zweite von Bundeskanzler Willy Brandt aus dem Jahr 1970.
[Norden] Die Arbeiterklasse der DDR [hat sich] mit der Eroberung der politischen Macht »als Nation konstituiert«. Sie hat mit ihren Verbündeten den sozialistischen Nationalstaat DDR geschaffen. [...] Bei uns in der [DDR blüht] die sozialistische Nation auf[...\ während in der BRD die kapitalbtische Nation [...] fortbesteht. Von [einer] »Einheit der Nation« kann überhaupt keine Rede sein.
[Brandt] Nation umfaßt und bedeutet mehr ab gemeinsame Sprache und Kultur, als Staat und Gesellschaftsordnung. Die Nation gründet sich auf das fortdauernde Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen eines Volkes. Niemand kann leugnen, daß es in diesem Sinne eine deutsche Nation gibt und geben wird.
«**
17.14. Der französische Journalist und Schriftsteller Jean-Jacques Servan-Schreiber sagte 1968 in einer Fernsehdiskussion:
Wenn unsere Generation die amerikanische Herausforderung nicht erkennt und ihr nicht entsprechend begegnet, so wird es in 15 Jahren zu spät sein. [...] Wir müssen begreifen, daß die Herausforderung unserer Kultur und nicht unserem Geld gilt. Und dagegen müssen wir uns durch geeignete Maßnahmen zur Wehr setzen. Letzte Woche war ich in einem sehr hübschen, sonnigen Ort an der Südküste Frankreichs in der Nähe von Nizza. Diesen Ort hatte der amerikanische Elektronik-Gigant IBM gewählt, um dort sein Hauptlaboratorium in Europa zu errichten. [...] In Wahrheit verkörpert dieses IBM-Gebäude die eigentliche Besatzung. Hier wird mit französischem Geld, französischen Wissenschaftlern und auf französischem Boden gearbeitet, um Erfindungen zu machen. Und diese französischen Wissenschaftler machen fortlaufend Erfindungen und schicken sie jeweils per Telex nach New York. [...]
Wissen Sie, wir könnten darüber diskutieren, ob wir Amerikaner werden und die amerikanische Lebensweise übernehmen möchten oder nicht. Aber um diese Frage geht es im Grund ja nicht, sie ist rein theoretischer Art. Angenommen, wir versagen und die Amerikaner beherrschen in zehn Jahren das Wirtschaftsleben Europas. Was wird dann aus uns? Werden wir Amerikaner? Niemals! Wir werden von Amerika kolonisiert.
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17.15. Zitate aus dem Neckermann-Urlaubskatalog 1973.
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18.1. In einer lateinischen Urkunde aus dem Jahre 1291 bestätigen die Urkantone Schwyz, Uri und Unterwalden das Bündnis von 1273.
1. Die Leute der Täler erneuern einen bestehenden älteren Bund und verpflichten sich in Anbetracht der Arglist der Zeit eidlich, einander mit Rat und Tat, mit Leib und Gut, aller Macht und Anstrengung innerhalb und außerhalb der Täler beizustehen wider alle und jede, die ihnen odereinem von ihnen irgendwelche Gewalttat, Beschwerde oder Beleidigung zufügen würden.
2 Wer einem Grundherrn verpflichtet ist, soll seine Verpflichtungen nach Recht erfüllen. Doch haben die Landleute mit einhelligem Beifall festgesetzt und verordnet, daß sie keinen Gerichtsherm, der dies Amt irgendwie um Geld erkauft hätte oder der nicht ihr Einwohner und Landsmann wäre, annehmen oder anerkennen.
3. Das Urteil der einheimischen Richter, denen allein Gehorsam geleistet werden muß, ist an eine Landfriedensordnung gebunden. Alle Verbündeten oder Eidgenossen stehen dafür ein, daß kein Verurteilter sich dem Richterspruche widersetzen kann.
4. Wenn sich unter den Eidgenossen Parteien bilden oder Streit entsteht, dann sollen die verständigsten Männer als Schiedsgericht zusammentreten, um die Mißhelligkeit zu beseitigen. Den Teil, der sich ihrem Entscheide nicht unterwirft, müssen alle übrigen dazu zwingen.
5. Der Bund und seine Satzungen sollen, so Gott will, ewig dauern. Deswegen ist darüber auch eine Urkunde ausgefertigt und mit den Regeln der drei Uinder bekräftigt worden.
***
182 . Schweizerdeutsches Volkslied. Der Ballade liegt wohl eine historische Begebenheit aus dem Jahre 1670 zugrunde, als die Werbungen für den Kriegsdienst in Flandern begannen.
Babeli
Es het a Buur es Töchterli mit Name heißt es Babeli, es het zwei Zöpfli rot wie Gold, drum isch em au der Dursli hold
Der Dursli lauft em Ätti noh »OÄtti, wollsch mer’s Babeli lo?«
»Mis Babeli isch no vil zu chlei, es schloft das Jahr no sanft allei«
Der Dursli lauft in vollem Zom wohl in die Stadt gage Solothum.Er lauft die Gassen i und us,ins daß er chunt vor’s Hauptmes Hus.
»O Hauptme, lieber Hauptme mi, i will mi dingen i Flanderen L«Der Hauptme zieht der Sackei us und git em Durs drei Taler drus.
Der Dursli geit jetz wieder hei, hei zu söm liebes Babeli chlei.»O Babeli, du liebs Babeli mi, i ha mi düngen i Flanderen L«
Das Babeli lauft wohl hinger’s Hus, es grint im fascht sini Äugeli us.»O Babeli, tue doch rtit esol I wott ja wieder umme chol
Und chumm i über’s Jahr rät hei, so schriebe i dir es Briefli chlei.Darinne soll geschriebe stoh- Mis Babeli wott i rät verloh
Und wenn der Himmel papierig war, und jeder Stern e Schriber war, und jeder Schriber hätt sebe Hand, sie schriebe doch all miner Liebe kes End.«
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18.3. Im Roman »Die letzte Freude« des norwegischen Schriftstellers Knut Hamsun [1859-1952] stoßen diverse Ansichten über die Schweiz aufeinander.
Schweiz, sagte Frau Brede, ich weiß nichts über die Schweiz; aber ich habe einmal einen Kleiderstoff von dort bekommen, das war der schlimmste Betrug, den ich je erlebt habe.
Die Lehrerin sprach von dem, was sie gelernt hatte, von den Uhrenfabriken und den Alpen und Calvin -
Ja, das sind aber auch die drei einzigen Dingen in tausend Jahren, sagte der Adjunkt, bleich vor Ingrimm.
Der Rechtsanwalt aber begann von diesem wunderbaren Lande zu erzählen, dem Muster für alle kleinen Staaten der Welt. Diese Gesellschaftsordnung, diese Volksabstimmung, welch eine Planmäßigkeit in der Ausnützung der landschaftlichen Schönheiten; dort gab es Hotels, dort verstand man die Kunst, Reisende zu behandeln! Kolossal! Wenn wir nur hier daheim einen solchen Schweizerkäse machen könnten, sagte er. Dann wären wir nicht so arm. Sie
können uns dort alles lehren, ihre Sparsamkeit, den Fleiß, die Abendarbeit, die kleine Hausindustrie -
Und so weiter! unterbricht ihn der Adjunkt, die Kleinlichkeiten, die Nichtigkeiten, das Negative. Ein Land, das nur durch die Gnade der Nachbarn besteht, dürfte denn doch kein Vorbild für irgend ein anderes Land auf der Erde sein. Wir müssen versuchen, uns über diese Jammergedanken zu erheben, wir werden nur kläglich davon. Die großen Länder, die großen Dinge sind es, die ein Vorbild sein sollen. Denn alles wächst, selbst das Kleine, wenn es nicht zu einem Liliputdasein geboren ist... Sie haben dort nicht einmal ein einziges Märchen. Da sitzen sie Geschlecht auf Geschlecht und feilen Uhrenräder und fuhren die Engländer auf ihre Gipfel; aber es ist ein Land, das aller Volkslieder und Märchen bar ist. Und nun sollten wir fest arbeiten, damit Norwegen auch in diesem Punkt werde wie die Schweiz, nicht wahr... Schweiz, unser großes Ziel ist, dir zu gleichen; wer kann so viel aus seinen Alpen herauswirtschaften, wer kann solche Uhrenräder feilen wie du?
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18.4. In den Reisenotizen »Sväjci terefere« (»Pesti Hfrlap«, 1927) schreibt Kosztolänyi Dezsö:
Az emberek roppant becsületesek Utänam hozzäk felöltömet, mefyet elhagytam egy padon. Ha väsärlok valam.it, meg se keil olvasnom a pinzem et Sohase adnak vissza kevesebbet. Ez megnyugtat. De többet se adnak vissza. Ez viszont lever.
*«*
18.5. Der Schweizer Psychologe Carl Gustav Jung [1875-1961] über seine Landsleute:
Aus der Erdgebundenheit des Schweizers gehen sozusagen alle seine guten und schlechten Eigenschaften hervor, die Bodenständigkeit, der Sparsinn, die Gediegenheit, der Eigensinn, die Ablehnung des Fremden, das Mißtrauen, das ärgerliche Schwyzerdütsch und die Unbekümmertheit oder Neutralität - politisch ausgedrückt.«
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18.6. Friedrich Dürrenmatt [ 1921 -1990] sprach in seinen Werken viele peinliche Wahrheiten über die Schweiz aus. Im kurzen Dialog aus dem Drama »Romulus der Große« distanziert er sich beispielsweise von dem für seine Landsleute heiligen Patriotismus:
REA: Soll man denn nicht das Vaterland mehr lieben als alles andere in der Welt?
ROMULUS: Nein, man soll es weniger lieben als einen Menschen. Man soll vor allem gegen sein Vaterland mißtrauisch sein. Es wird niemand leichter ein Mörder als das Vaterland
In einem Essay analysiert er die Haltung der Eidgenossenschaft in und nach dem zweiten Weltkrieg:
Unser Davonkommen war nicht vorbildlich, auch eine erfolgreiche Politik hat ihre bitterbösen Seiten. Wir ließen unsere Opfer nicht im Land oder schoben sie wieder über die Grenze und damit aus unserem Bewußtsein. Wir hatten Verräter, wir erschossen sie, wir hatten Mitläufer, wir vergaßen sie, wir hatten Antisemiten, wir haben sie noch Wir bewährten uns, indem wir es nicht ganz zur Bewährung kommen ließen, wir hielten an unseren Idealen fest, ohne sie unbedingt anzu wenden, wir schlossen die Augen, ohne gerade blind zu werden. Teil
spannte zwar die Armbrust, doch grüßte er den Hut ein wenig - beinahe fast nicht und das Heldentum blieb uns erspart.
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18. 7. Zwei aphoristische Definitionen des Schweizer Wesens von den Schriftstellern Ludwig Hohl [1904-1980] und Walter Vogt [1929-1988]:
[Hohl] Die Schweizer sind stolz darauf, daß sie so schöne Berge geschaffen haben.
[Vogt] Die Schweiz - der Traum der ändern.
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Der Limes
Das Weströmische Reich unter germanischer Herrschaft
Wlß. Rafcb C U o tM p S il — B m m d M F n n t e in l d a u n a » O ttS ab d w rB M ta
Das Reich Korb des Großen
Das Reich Ottos des Großen
Die Kreuzzüge
Europäische Handelszentren
Die Erwerbungen Habsburgs im Kampf gegen die Türken
Die Staaten Europas nach dem Wiener Kongreß
Europa nach dem ersten Weltkrieg
Stilkarte Gotik
Stilkarte Barock
Stilkarte Biedermeier
Worms, Dom, 1171-1230
Freiburg im Breisgau, Münster, 1275-1350
Köln, Dom, um 1380 begonnen, erst 1842-1880 beendet
Heidelberg, Schloß, 1556-1604
Leipzig, Altes Rathaus, 1556
Pommersfelden, Schloß Weißenstein, 1711-1718
Wien, Palais Schwarzenberg, 1697-1704
Ellwangen, Wallfahrtskirche auf dem Schönenberg, 1682-1702
Berlin, Brandenburger Tor, 1788-1792
Berlin, Altes Museum, 1824-1830
Chronologie der Herrscher
Die KarolingerKarl Martell 737-741
König der Franken (de facto)Pippin 751-768
König der FrankenKarl I. (der Große) 768-814
768: König der Franken 800: Kaiser
Ludwig I. (der Fromme) 814-840 813: Mitkaiser (Mitregent)814: Alleinherrscher 816: Kaiser
a) Ludwig II. (der Deutsche) 843-876Teilkönig der Ostfranken
b) Lothar 1.840-855Kaiser
c) Karl II. (der Kahle) 843-877843:Teilkönig der Westfranken 875: Kaiser
Karl III. (der Dicke) 876-887876: König in Alemannien 881: Kaiser
Arnulf (von Kärnten) 887-899887: König der Ostfranken 896: Kaiser
Ludwig (das Kind) 900-911 König der Ostfranken
Ludwig III. (der Blinde) 901-905 Kaiser
Konrad 1.911-918König der Ostfranken
Die sächsischen Herrscher (Ottonen; Liudolfinger)Heinrich I. (der Vogler) 919-936Otto I. (der Große) 936-973
962: KaiserOtto II. 973-983
961: Mitkönig 967: Mitkaiser
Otto III. 983-1007 996: Kaiser
Heinrich II. 1002-1024 1014: Kaiser
Die fränkischen Herrscher (Salier)Konrad II. 1024-1039
1027: KaiserHeinrich III. 1039-1056
1046: KaiserHeinrich IV. 1056-1106
1053: römischer König 1084: Kaiser
Heinrich V. 1106-11251099: römischer König 1111: Kaiser
Lothar II. 1125-11371125: römischer König 1133: Kaiser
Die schwäbischen Herrscher (Staufer; Hohenstaufen)Konrad III. 1138-1152
1127-1135: Gegenkönig 1138: römischer König
Friedrich I. (Barbarossa) 1152-1190 1155: Kaiser
Heinrich VI. 1190-11971169: römischer König1191: Kaiser1194: König von Sizilien
Konstanze (Witwe Heinrichs VI.)1197-1198: Regentin
a) Philipp (von Schwaben) 1198-1208römischer König
b) Otto IV. (von Braunschweig)1198-12181198: römischer König 1209: Kaiser
c) Friedrich II. 1212-12501198: König von Sizilien 1212: Gegenkönig 1220: Kaiser
[Heinrich (VII.) 1220-1235 1220: römischer König 1228: Regent in Deutschland]
Konrad IV. 1250-12541231: römischer König 1243: Regent in Deutschland
[Heinrich Raspe (von Thüringen)1246-1247 Gegenkönig]
»Interregnum«Wilhelm (von Holland) 1254-1256
1247-53: Gegenkönig 1254: römischer König
a) Richard (von Cornwall) 1257-1272römischer König
b) Alfons (von Kastilien) 1257-1273römischer Gegenkönig
Die Habsburger/1Rudolf 1.1273-1291
römischer König
Adolf von Nassau 1292-1298
Die Habsburger/2Albrecht 1.1298-1308
römischer König
Die Luxemburger/1Heinrich VII. 1308-1313
1312: Kaiser
Die Wittelsbacher/1a) Ludwig IV. (der Bayer) 1314-1347
1328: Kaiser
Die Habsburger/3b) Friedrich (III.) (der Schöne)
1314-1330 1314: Gegenkönig 1325: Mitregent
Die Luxemburger/2Karl IV. 1346-1378
1346: Gegenkönig 1347: Alleinherrscher 1355: Kaiser
[Günther von Schwarzburg 1349-1349 Gegenkönig]
Wenzel 1378-14001376: römischer König
Die Wittelsbacher/2 (die pfälzische Lime)Ruprecht (von der Pfalz) 1400-1410
römischer König
Die Luxemburger/3a) Jobst (von Mähren) 1410-1411
römischer Kömg, Gegenkönigb) Sigismund 1410-1437
1410-1411: römischer König 1433: Kaiser
Die Habsburger/4Albrecht II. 1438-1439
römischer KönigFriedrich III. (IV.) 1440-1493
1452: KaiserMaximilian 1.1493-1519
1486: Mitkönig (Mitregent) 1508: Kaiser
Karl V. 1519-1556 1530: Kaiser
Ferdinand 1.1556-15641531: römischer König (Mitregent)1556: römischer König (Alleinherrscher im Reich) 1558: Kaiser
Maximilian II. 1564-15761562: römischer König 1564: Kaiser
Rudolf II. 1576-1612 Kaiser
Matthias 1.1612-1619 Kaiser
Ferdinand II. 1619-1837 Kaiser
Ferdinand III. 1637-16571636: römischer König 1637: Kaiser
Leopold 1.1658-1705 Kaiser
[Ferdinand IV. 1653-1654römischer König, Mitregent]
Joseph 1.1705-17111690: römischer König (Mitregent)1705: Kaiser
Karl VI. 1711-1740 Kaiser
Karl VII. (Albrecht) 1742-1745Franz I. Stephan (von Lothringen)
1745-1765 Kaiser (de jure)
[Maria Theresia 1740-1780 Regentin de facto 1740: Erzherzogin von Österreich 1741: Königin von Ungarn 1743: Königin von Böhmen]
Joseph II. 1765-17901764: römischer König (Mitregent)1765: Kaiser1780: Alleinregierung (in Österreich, Ungarn usw.)
Leopold II. 1790-1792 Kaiser
Franz II. (I.) 1792-18351792-1806: römischer Kaiser (als Franz IL)1804-1835: Kaiser von Österreich (als Franz I.)
Ferdinand 1.1835-1848Kaiser von Österreich
Franz Joseph 1.1848-1916 Kaiser von Österreich
Karl 1.1916-1918 „Kaiser von Österreich
Die Regenten in Brandenburg und Preußen (Hohenzollem)Johannes Sigismund 1608-1619
Kurfürst von BrandenburgGeorg Wilhelm 1619-1640
Kurfürst von BrandenburgFriedrich Wilhelm (»der große
Kurfürst«) 1640-1688 Kurfürst von Brandenburg Herzog von Preußen
Friedrich 1.1688-17131688: Kurfürst von Brandenburg und Herzog von Preußen 1701: König in Preußen
Friedrich Wilhelm 1.1713-1740König in Preußen und Kurfürst von Brandenburg
Friedrich II. (der Große) 1740-1786 1740: König in Preußen 1772: König von Preußen
Friedrich Wilhelm II. 1786-1797 König von Preußen
Friedrich Wilhelm III. 1797-1840 König von Preußen
Friedrich Wilhelm IV. 1840-1861 König von Preußen
Wilhelm 1.1861-18881858: Regent in Preußen 1861: König von Preußen 1871: deutscher Kaiser
Friedrich III. 1888deutscher Kaiser und König von Preußen
Wilhelm II. 1888-1918deutscher Kaiser und König von Preußen
Die spanischen HabsburgerPhilipp II. 1556-1598
König von SpanienPhilipp III. 1598-1621
König von SpanienPhilipp IV. 1621-1665
König von SpanienKarl II. 1665-1700
König von Spanien
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