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„Ein giftiges Geschenk“Interview: Matthias Burchardt über die Schattenseiten der digitalen Bildung

Rechner kontrolliert wirdund dessen Anweisung aus-zuführen hat. Dazu brauchtes dann keine akademischeLehrerbildung mehr undauch keinen teuren Beamten-status.

Aber das sind All-machtsphantasien von Tech-nikfetischisten. Letztlichwird Hightech von heutezum Elektroschrott von mor-gen, und in 20 Jahren werdenwir uns kopfschüttelnd fra-gen, was wir da angestellt ha-ben. Lehrer sind unverzicht-bar.

Worauf müssen wir unsbildungstechnisch einstel-len?

Auf einen weiteren Nieder-gang: Unausgereifte Refor-men haben spätestens mitden Einflüsterungen derOECD das Bildungswesen sys-tematisch ruiniert, Lehrkräf-te bis zur Besinnungslosig-keit mit unsinnigen Maßnah-men beschäftigt und böseSpuren in den Bildungsbio-graphien der Schülerinnenund Schüler hinterlassen.Nun soll die Digitalisierungdas neuen Zaubermittel sein?

Mein Vorschlag: Wollen wirdiese Reform nicht einfachgelassen aussitzen?

Was ist für eine erfolgrei-che Schulbildung unver-zichtbar?

Die Schule muss wieder zuRuhe kommen. Eigentlich istalles nämlich ganz einfach:Lernen geschieht am bestenim inhaltlich anspruchvol-len, menschlich ansprechen-den und methodisch entspre-chenden Unterricht. Dazubraucht es fachlich, didak-tisch und menschlich gebil-dete Lehrkräfte und organisa-torische Rahmenbedingun-gen (zum Beispiel kleine Klas-sen).

Wesentlich sind aber auchdie Erziehungsaufgabe des El-ternhauses und ein vertrau-ensvolles Verhältnis in dieserpädagogischen Partnerschaftzum Wohle von Kindern undJugendlichen. Wenn all dasgegeben ist, darf dann – jenach Alter und Bildungsgang– gern irgendwann auch malein digitales Produkt auftau-chen, es wird keinen Schadenanrichten. Wir brauchenBildung zur Bewältigung derDigitalisierung, aber keineDigitalisierung der Bildung.

TERMINDer Kreisverband Diepholzin der Gewerkschaft Erzie-hung und Wissenschaft ver-anstaltet am Mittwoch,13. November, um 17 Uhrim Twistringer GasthausOstertor (Penne) seine Mit-gliederversammlung. In die-sem Rahmen referiert Dr.Matthias Burchardt zumThema „Big brother is tea-ching you“.

fil, das am Ende in einemCyber-Zeugnis mündet?

Ich befürchte es, weil dietechnische Möglichkeit dazulängst vorhanden ist. Wasfrüher Straftätern vorbehal-ten war, nämlich Trackingund Profiling, wird nun aufjedermann angewandt. Lear-ning analytics, also die statis-tische Auswertung von Lern-verhalten, ist ein erklärtesZiel des Digitalpakts. FrauWanka hat explizit gesagt:„Wir müssen an die Datender Schüler ran!“

Insofern ist die Forderungnach Datenschutz zu kurz ge-dacht. Es müsste um Daten-vermeidung gehen. Es gehtum gläserne Schüler undLehrkräfte. Meines Erachtenssollte Schule ein Schutzraumsein, in dem man sich erpro-ben und Fehler machen darf,ohne dass man befürchtenmuss, dass alles in ein Perfor-manceprofil eingeht, dasman sein Leben lang als Stig-ma mit sich rumschleppt.

Es gibt eine Fürsorgepflichtvon Eltern und Lehrern, dieeigentlich verhindern sollte,dass man Kinder den Daten-kraken ausliefert. Haben wirschon wieder vergessen, wasEdward Snowden enthüllthat?

Könnte ein solches digita-les System Lehrer über-flüssig machen – oder an-dererseits deren lückenlo-se Überwachung realisie-ren?

Definitiv. Beides ist nicht nurin den Zukunftsvisionen derDigitalisierer angedacht, son-dern auch technisch bereitsrealisierbar. Wenn der Algo-rithmus komplett über-nimmt, verkümmert der Leh-rer zum Lotsen im Maschi-nenpark. In anderen Varia-nten kommt er immerhinnoch als Interface vor, als je-mand, der vom allwissenden

An Frankreichs Schulenherrscht längst ein Handy-Verbot für Schülerinnenund Schüler bis 15 Jahren.Doch sowohl Sinn als auchPraxistauglichkeit diesesGesetzes sind umstritten.Ist es überflüssig – odersinnvoll?

Sinnvoll und notwendig!Handygebrauch schadet derkindlichen Entwicklung, wieder Berufverband der Kinderund Jugendärzte in derBLIKK-Studie eindrucksvollbelegt. Hinzu kommt ein so-zialer Aspekt. Das öffentlicheSchulwesen und die Schul-pflicht sind große Errungen-schaften und dienen dem so-zialen Zusammenhalt, weilsich Menschen unterschiedli-cher Herkünfte an einem öf-fentlichen Ort begegnen undDifferenzen aushalten müs-sen. Wenn jeder in der Pausein seiner digitalen Filterblaseverschwindet, wird einegroßartige Bildungsgelegen-heit verschenkt.

Und ein pädagogisches Ar-gument: Handys haben eingewaltiges Ablenkungspoten-tial, sie stören beim Lernenund zerstören die Konzentra-tionsfähigkeit. Wo esschlichtweg verboten ist, er-spart man Lehrkräften undEltern langwierige Diskussio-nen. Übrigens schicken dieManager der IT-Branche imSilicon-Valley ihre Kinder be-vorzugt in die Waldorfschule,weil diese für analoge Bil-dung steht. Das sollte uns zudenken geben.

Entscheidend für die digi-tale Bildung sind nicht nurdie Geräte, sondern vor al-lem die Lern-Software-Programme – und zumin-dest ist es doch theoretischmöglich, darüber sämtli-che Interaktionen derSchüler zu speichern. Er-warten Sie ein Cyber-Pro-

hin bewusst sein, dass nachder Anschubfinanzierung dieEwigkeitskosten (Wartung,Erneuerung, Support, Fortbil-dung und so fort) tiefe Löcherin die Budgets reißen wer-den, es geht um viel Geld, dasdann anderswo fehlt.

Im Bildungswesen mangeltes vielfach an Personal undtauglichen Gebäuden. Hierwäre das Geld nachhaltigerangelegt.

Um es auf den Punkt zubringen: Die Digitalisierungder Bildung dient nicht denSchulen oder den Kindern,sondern der IT-Branche.

Unter welchen Bedingun-gen sind Tablets undSmartboards im Unterrichtein Gewinn?

Ich halte beides für überflüs-sig. Ein wirklicher Lernvor-teil gegenüber gutem tradi-tionellen Unterricht lässt sichnicht ausmachen.Wichtiger finde ich gut aus-gestattete Computerräumeund einen fundierten Infor-matikunterricht.

Generell gilt: Lehrmittelsind immer nur so gut, wiedas pädagogische Konzept, indem sie eine Rolle spielen sol-len. Sie sind kein Selbst-zweck.

Es gibt durchaus gute Bei-spiele aus den Naturwissen-schaften, wo etwa dieSmartphones unter pädagogi-scher Anleitung der Lehrkraftals wissenschaftliche Messin-strumente genutzt werden.Heikel finde ich, wo die Appden Lehrer ersetzen soll oderviel Medienzirkus betrieben,aber wenig gelernt wird.Erklärvideos zum Beispielsind frontaler als der autori-tärste Frontalunterricht undwenn Schüler zu fachlichenThemen Stopmotion-Filmeproduzieren sollen, verbrin-gen sie nur wenig Zeit mitden Inhalten.

Twistringen – Der Digitalpaktsoll den Unterricht der Zu-kunft gestalten. Aber er hatSchatten, warnt Dr. MatthiasBurchardt, Akademischer Ratan der Universität zu Köln.Der Bildungsfachmann refe-riert am Mittwoch, 13. No-vember, im Kreisverband derGewerkschaft Erziehung undWissenschaft (GEW). Im In-terview erklärt er, welcheSchattenseiten die digitaleBildung hat. Die Fragen stell-te Anke Seidel.

Herr Burchardt, „Bigbrother is teaching you“lautet der provozierendeTitel Ihres Vortrags. SehenSie die Digitalisierung ge-nauso apokalyptisch wieeinst George Orwell - „bigbrother is watching you“ -in seinem düsteren Zu-kunftsroman 1984?

Ohne Abstriche: Ja! Auf denersten Blick hat die Digitali-sierung ja viele Vorteile, aberShoshana Zuboff, eine ameri-kanische Ökonomin ver-gleicht die Prozesse mit derEroberung Südamerikasdurch Kolumbus. Die indige-nen Völker wurden mit Glas-perlen geködert und dannausgeplündert.

Ähnlich geht es uns mit denvielen smarten Funktionen,die unser Leben effizientermachen sollen, während wiruns dem Datenhunger desÜberwachungskapitalismusausliefern. Es entsteht die In-frastruktur eines möglichenTotalitarismus, der in Chinaim Social-Scoring schon ver-wirklicht ist. Menschen wer-den flächendeckend über-wacht und von Algorithmenbewertet. Wer kein Wohlver-halten zeigt, wird sanktio-niert. Orwell ist im Vergleichdazu fast harmlos.

Was brauchen Kinder undJugendliche für eine er-folgreiche Zukunftwirklich?

Sicherlich müssen sie sich inallen Fächern intensiv mitdem Thema der Digitalisie-rung beschäftigen. Sie brau-chen in diesem Gebiet Fertig-keiten für eine erfolgreicheBerufsbiographie, ebenso al-lerdings auch Maßstäbe zurBeurteilung der Risiken die-ser Technologie, damit sie diehumane Zukunft der Gesell-schaft mitgestalten können.

Ansonsten aber brauchensie das, was Kinder zu allenZeiten brauchten: fachlichesWissen, kulturelle Grundfer-tigkeiten (Lesen, Schreiben,Rechnen), Urteilskraft,Selbsterkenntnis.

Am meisten jedoch brau-chen sie die Beziehung zu ei-nem menschlichen Gegen-über, zu einer verantwor-tungsbewussten Lehrkraft,die ihnen Verbindlichkeitund Orientierung bietet. DerMensch wird am Menschenzum Menschen – an der Ma-schine wird er selbst zur Ma-schine.

Per Digitalpakt stehen al-lein für die Schulen desLandkreises Diepholz so-wie seiner Städte und Ge-meinden mehr als elf Mil-lionen Euro zur Verfü-gung. Sollten sie aus IhrerSicht besser auf diesesGeld verzichten?

Ganz ehrlich? Ja! Den Verant-wortlichen sollte klar sein,dass es sich bei diesen Millio-nen um ein vergiftetes Ge-schenk handelt. Hier wird diepädagogische Frage nachdem Sinn von Lehrmittelndurch das Füllhorn entschie-den. Man sollte sich weiter-

Matthias Burchardt, Akademischer Rat an der Universität zu Köln und Bildungsfachmann