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KATJA MARTENS VIER PFOTEN FÜR JULIA
Winterzauber
my digital garden
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Originalausgabe 2014 Copyright © 2014, my digital garden UG (haftungsbeschränkt), Potsdam
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages und der Autorin wiedergegeben und verbreitet
werden.
Titelabbildung: Africa Studio (Mädchen mit Katze), Greenland (Zettel) www.shutterstock.com
ISBN: 978-‐3-‐945690-‐01-‐7
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Hunde kommen, wenn sie gerufen werden. Katzen nehmen die Mitteilung zur Kenntnis und kommen gelegentlich darauf zurück.
Mary Bly
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1 Re: Nur noch zwei Wochen bis Weihnachten Von: Julia Sperling An: Carola Aldag Am liebsten würde ich Weihnachten in diesem Jahr ausfallen lassen, Caro. In letzter Zeit geht alles nur noch schief. Mein Großvater kann sich plötzlich nichts mehr merken. Er vergisst von einer Stunde zur nächsten, dass er schon zu Mittag gegessen hat oder noch Schneeschippen wollte. Gestern wusste er nicht einmal mehr seine eigene Telefonnummer. Ich mache mir Sorgen, aber du kennst ihn ja. Zum Arzt geht er erst, wenn er den Kopf schon unter dem Arm trägt. Das ist aber noch nicht alles. Stell dir vor: Lennard hat mir die Vertretung in Ahrenshoop weggeschnappt! Seinem Angebot, für die Hälfte des üblichen Honorars zu arbeiten, konnte die Leitung der Tierklinik nicht widerstehen. Nun sitze ich ohne Stelle da. (Erinnerst du dich eigentlich noch an Lennard?) Frustrierte Grüße, Julia Re: Nur noch zwei Wochen bis Weihnachten Von: Carola Aldag An: Julia Sperling Natürlich erinnere ich mich an Lennard Thiess: ein Meter neunzig geballte Energie, mit dunklen Haaren, so dicht, dass man seine Hände darin verlieren kann und ein Tausend-‐Watt-‐Lächeln gegen das die Weihnachtsbeleuchtung am Rockefeller Center eine müde Funzel ist, richtig? Ihr wart auf der Uni ein Paar. Sag bloß, er wohnt jetzt wieder in deiner Nähe? Ist das nur ein Zufall? Oder will er an eure Vergangenheit anknüpfen? Nach allem, was damals war? Du musst mir unbedingt mehr erzählen, wenn wir wieder telefonieren!
Was ist eigentlich mit Marc? Du hast schon ewig nicht mehr von deinem sexy Polizisten und seiner niedlichen Tochter gesprochen. Bei deinem vorigen Einsatz im Bayrischen Wald wart ihr unzertrennlich. Und jetzt Funkstille? Was ist passiert?
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Weißt du, was gegen deinen Weihnachtsfrust helfen würde? Wenn du dich spontan in den Zug setzt und deine beste Freundin in Berlin besuchst! Wir könnten zusammen shoppen gehen, Eis laufen und so viele gebrannte Mandeln essen, bis uns richtig schlecht wird. Überleg es dir, ja? Wir … Oh, verflixt, ist es wirklich schon kurz vor fünf? Ich muss los, wir haben gleich Redaktionssitzung. Melde mich später wieder. Bis dahin gönn dir eine Packung Lebkuchen und schau dir ‚Anastasia‘ auf DVD an. Das wird schon! Caro Julia Sperling nippte an ihrem Teebecher, während sie die E-‐Mail zum zweiten Mal las. Ihre beste Freundin hatte rote Locken und ein überschäumendes Temperament. Außerdem war sie immer bereit, sich kopfüber in ein neues Abenteuer zu stürzen – sei es in ihrem Beruf als Journalistin oder privat mit einem neuen Mann. Ihre Beziehungen hielten nie lange, aber sie war eine verlässliche Freundin, auf die Julia jederzeit zählen konnte.
Was ist eigentlich mit Marc? Diese Frage ließ Julia nicht los. Ihre Freundin legte den Finger auf ihren wunden Punkt. Seit einer Woche hatte sie nichts von ihm gehört. Kein Sterbenswort. Dabei hatte er ihr versprochen, sich zu melden. Warum schwieg er sich nun aus?
Ihr erster Einsatz als Vertretungstierärztin hatte Julia in ein bayrisches Dorf geführt. Dort war sie einer Organisation von Schmugglern auf die Schliche gekommen, die Tiere für den Transport von Drogen über die tschechische Grenze ins Land missbrauchten. Gemeinsam hatten Marc und sie ihnen das Handwerk gelegt. Darüber waren sie sich nähergekommen. Zum Abschied hatte Marc ihr sein Wort gegeben, dass sie sich bald wiedersehen würden, und sie geküsst. Ihr wurde immer noch heiß, wenn sie an seinen Kuss dachte. Es hatte sich angefühlt, als würde die Welt aus den Angeln gehoben. Sein Schweigen gab ihr nun Rätsel auf. Hatte er es sich anders überlegt? Oder hatte er einfach nur viel zu tun?
Julia drehte ihren Becher zwischen den Fingern. Vor ihrem Fenster wirbelten weiße Flocken vom Himmel, als würden sie zu einer unhörbaren Melodie tanzen. Es war so kalt geworden, dass die Bewohner des Darß schon befürchteten, die Ostsee könnte wieder zufrieren, wie es ungefähr alle zwanzig Jahre einmal vorkam.
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Seit ihrem Abschluss arbeitete Julia als Springer und vertrat Kollegen, die ihrer Arbeit eine Zeit lang nicht nachgehen konnten. Zuletzt hatte sie sich in der Tierklinik Ahrenshoop beworben, die keine Viertelstunde Autofahrt von ihrem Zuhause entfernt war. Lennard Thiess war ihr jedoch zuvorgekommen und hatte der Klinikleitung ein Angebot gemacht, das diese nicht ausschlagen konnte.
Nun saß Julia also ohne neue Stellung in dem gemütlichen Darßhäuschen ihres Großvaters – mit dem reetgedeckten Dach, das sich unter der Schneelast bog. Ihr Zimmer verfügte über einen kleinen Kamin und war mit seinen schrägen Wänden überaus gemütlich. Neben dem Bett stapelten sich Romane und Fachbücher in einem Bücherregal. Und auf dem Fensterbrett staubte ihre Kakteensammlung vor sich hin. An einer Wand hing ein Poster von den schottischen Highlands, in denen Julia zu gern einmal Urlaub machen würde.
Unter ihrem Schreibtisch hatte sich Raudi zusammengerollt und den Kopf auf die Vorderpfoten gebettet. Die Französische Bulldogge mit den Fledermausohren wich Julia nicht von der Seite, seitdem sie ihr mit einer Notoperation das Leben gerettet hatte. Er kaute am liebsten auf ihren Pantoffeln herum. Außerdem stibitzte er hin und wieder ein Stück Käse aus der Küche, wenn niemand zusah.
Ob ich den Kleinen mit nach Berlin nehmen kann? Die Großstadt kennt er noch nicht. Carola wird ihn gar nicht mehr weglassen wollen, wenn sie ihn sieht. Sie spricht seit Jahren davon, dass sie gern einen Hund hätte, aber bei ihrem Beruf ist daran nicht einmal zu denken. Sie ist ja ständig unterwegs. Ich würde sie wirklich gern besuchen … Soweit war die Tierärztin gerade mit ihren Gedanken gekommen, als plötzlich sämtliche Lichter in ihrem Zimmer den Geist aufgaben. Auch ihr Computer schaltete sich ab. Schlagartig war es stockdunkel im Raum.
»Was ist denn nun los?« Verwundert kniff Julia die Augen zusammen. Selbst das rote Standby-‐Lämpchen an ihrem Fernseher war erloschen. Ein Stromausfall? Sie öffnete die obere Schublade ihres Schreibtischs und wühlte darin herum. Hatte sie früher hier nicht eine Taschenlampe gehabt? Sie musste doch hier irgendwo … »Autsch!« Etwas Spitzes bohrte sich in ihren Daumen. Vermutlich die Spitze des Zirkels, der noch aus ihrer Schulzeit stammte. Die Taschenlampe fand sie jedoch nicht. Also brauchte sie einen Plan B. Julia tastete nach der Kerze und den Streichhölzern auf
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ihrem Schreibtisch und riss eines an. Im nächsten Augenblick wurde ihr Zimmer in den sanften Schein der Kerze getaucht. Die E-‐Mail ihrer besten Freundin würde sie allerdings erst beantworten können, wenn es wieder Strom gab.
Mit der Kerze in der Hand verließ Julia ihr Zimmer. Ein Stockwerk tiefer befanden sich fünf Gästezimmer sowie der
Frühstücksraum der Pension ‚Seestern‘, die ihrem Großvater gehörte. Das weiß gekalkte Kapitänshaus war nur einen Steinwurf von den Prerower Dünen entfernt. Julia ging hinunter ins Erdgeschoss. Das Trappeln von Pfoten verriet, dass Raudi ihr auf dem Fuß folgte. Sie wandte sich dem Arbeitszimmer ihres Großvaters zu. Als sie die Tür aufstieß, knisterte ein Birkenholzfeuer im Kamin. Im Lichtschein kramte ihr Großvater in seinem Schreibtisch. Rasmus Sperling war ein groß gewachsener Mann, der sich stets so aufrechthielt, dass man ihm seine neunundsechzig Jahre nicht ansah. Seine Haare waren weiß und kurz geschnitten, ein ordentlich gestutzter Bart zierte sein Gesicht. Er murmelte etwas vor sich hin, das nicht zu verstehen war. Julia blieb in der offenen Tür stehen. »Was ist denn passiert? Ist der Strom ausgefallen?«
»Nein. Vermutlich ist nur die Sicherung rausgesprungen. Wo habe ich bloß diese verflixte Taschenlampe hingetan? Ah, da ist sie ja.« Triumphierend brachte er das Gesuchte hervor und knipste die Lampe an. »Schon besser, oder?«
»Was meinst du, warum sie rausgesprungen ist?« »Vermutlich habe ich es mit dem Dekorieren übertrieben. Ich habe
gerade eine Lichterkette am Fenster des Frühstücksraums angebracht. Als ich sie einschalten wollte, wurde es plötzlich dunkel im Haus.«
»Noch eine Lichterkette?« Julia rollte die Augen. »Deine Pension ist doch kein Coca-‐Cola-‐Truck. Wenn du noch mehr Lichter anbringst, machen dich die Stromwerke noch zum Ehrenkunden.«
»So viele sind es gar nicht.« »Du hast drei Tage gebraucht, um alle Lichterketten aufzuhängen. Als
dein Nachbar eine Laterne vor seiner Haustür aufgestellt hat, hast du zwei doppelt so große Laternen gekauft. Und als er ein beleuchtetes Rentier in seinem Garten aufgebaut hat, kamst du mit einer ganzen Hirschfamilie an.«
»Findest du das zu viel?«
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»Jedenfalls ist es zu viel für unsere Stromkabel. Was hältst du davon, wenn ich dir helfe, etwas von der Dekoration wieder abzubauen? Anschließend trinken wir eine heiße Schokolade zusammen und kosten die frischen Kokosmakronen.«
»Du willst die Lichter abnehmen?« Ihr Großvater sah sie so entgeistert an, als hätte sie ihm soeben vorgeschlagen, das Haus niederzubrennen.
»Ansonsten verbringen wir den Abend im Dunkeln«, gab Julia zu bedenken.
Ihr Großvater kämpfte sichtlich mit sich. »Also schön, ich werde eine Lichterkette abmachen, aber nur eine. Vorher muss ich noch nach den Sicherungen sehen.« Er stapfte durch den Flur und werkelte am Sicherungskasten herum. Nach ein paar Handgriffen ging das Licht im Haus wieder an. Julia atmete auf.
Auf dem Fensterbrett saß Poppy. Die Katze ihres Großvaters hatte braun getigertes Fell und grüne Augen. Ursprünglich war ihr Name Madame Pompadour gewesen, aber im Lauf der Zeit war Poppy daraus geworden. Sie ließ keinen Blick von Raudi. Er hütete sich jedoch, sich ihr weiter als eine Armlänge zu nähern, denn gleich an seinem ersten Tag hatte er Bekanntschaft mit ihren Krallen gemacht. Eine Schorfwunde an seinem rechten Ohr zeugte davon, dass sie keine Zurückhaltung kannte, wenn es darum ging, einem Neuankömmling klarzumachen, dass sie die Dame des Hauses war.
»Möchtest du jemanden über die Feiertage einladen?« Ihr Großvater drehte sich um. »Deine Freundin vielleicht?«
»Das wäre schön, aber Carola ist schon anderweitig verplant. Sie fährt zu ihren Eltern.«
»Verstehe. Was ist mit diesem Marc? Als du hergekommen bist, hast du ständig von ihm gesprochen. Kommt er her?«
»Ich glaube nicht. Er hat sich seit Tagen nicht gemeldet.« »Das ist recht unerfreulich, oder?« Ihr Großvater legte tröstend eine
Hand auf ihre Schulter. »Vielleicht ist es besser so. Du bist in deinem Beruf ständig woanders im Einsatz. Das wäre eine Belastungsprobe für jede Beziehung.«
Stimmte das? Hatten Marc und sie nie eine Chance gehabt? Darüber dachte Julia gerade nach, als es unerwartet an der Haustür klingelte. Ihr
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Großvater öffnete und kurz darauf kam eine kleine, rundliche Frau mit einer Kuchenplatte herein. Ihre Haare waren kinnlang, braun gefärbt und schienen ebenso wie sie selbst ständig in Bewegung zu sein. Es war Gerti Winkler, die Nachbarin ihres Großvaters.
»Ihr seid also doch noch wach!«, rief sie munter aus. »Ich dachte schon, ihr wollt heute einmal mit den Hühnern zu Bett gehen, weil es plötzlich stockdunkel war. Was war denn los? Hast du es mit den Lichtern übertrieben, Rasmus?«
»Fang du nicht auch noch an, Gerti. Julia behauptet auch ständig, ich würde zu viele Lichter anbringen«, brummte er.
»Mach dir nichts draus. Deine Pension strahlt so hell, dass sie bestimmt noch vom Weltraum aus zu sehen ist. Falls irgendwelche Raumfahrer auf der Suche nach einem Quartier sind, finden sie auf jeden Fall hierher.« Gerti kniff verschmitzt ein Auge zu. »Ich habe euch ein paar Stücke von meinem Bratapfelkuchen aufgehoben. Ihr solltet sie gleich essen. Frisch schmecken sie am besten.«
»Hört sich gut an, aber das muss leider warten. Ich habe versprochen, die Gerstners vom Bahnhof abzuholen. Sie wussten nicht, ob sie so spät noch ein Taxi erwischen. Ich muss los. Bis später, ja? Und vielen Dank für den Kuchen, Gerti!« Rasmus nahm seine Winterjacke vom Haken, schlüpfte in seine Stiefel und war kurz darauf aus der Tür.
Julia bat Gerti ins Haus, aber die Besucherin winkte ab. »Ich habe das Café voller Gäste und muss wieder rüber. Wir trinken ein andermal zusammen Kaffee, ja?«
»Sehr gern. Du, sag mal, Gerti …« »Ja? Was ist denn, Schätzchen?« »Du kennst meinen Großvater schon viele Jahre. Ist dir in letzter Zeit
etwas an ihm aufgefallen?« Gerti musste nicht überlegen. »Du meinst, dass er ein bisschen
vergesslich geworden ist? Natürlich ist mir das aufgefallen. Er sollte Ginkgo-‐Kapseln nehmen. Ich habe neulich einen Artikel darüber gelesen. Der Wirkstoff ist rein pflanzlich und verbessert die Durchblutung im Gehirn. Ich werde deinem Großvater eine Packung besorgen.«
»Du hast es also auch bemerkt?« »Freilich, aber dagegen können wir etwas tun.« Die
Vierundsechzigjährige probierte liebend gern Gesundheitstipps aus, die sie
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in Illustrierten und der Apothekenzeitung sammelte. »Ich mache gerade eine Ölziehkur. Dabei werden Giftstoffe aus dem Körper gezogen und man fühlt sich viel frischer und wacher. Das solltest du deinem Großvater auch einmal vorschlagen. Ich bringe euch morgen das Ginkgo, in Ordnung?« Mit diesen Worten drehte sich die Besucherin um und machte sich auf den Weg.
Julia blickte ihr kurz nach, bis Gerti in ihrem Café am Ende der Straße verschwand. Hinter ihren Schläfen pochte es. Vielleicht würde ein Spaziergang das unangenehme Gefühl vertreiben? Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende gebracht, als Raudi heranflitzte. Er hielt seine Leine zwischen den Zähnen und wedelte erwartungsvoll mit der Rute.
»Du kannst wohl Gedanken lesen, was?« Lächelnd machte Julia die Leine an seinem Halsband fest. Danach zog sie ihre wattierte Jacke und Stiefel an. Sie nahm ihren Schlüssel vom Brett und schloss die Haustür hinter sich. Kaum hatte sie einen Fuß nach draußen gesetzt, schauderte sie unwillkürlich. Der Nordwind war eiskalt und brachte den salzigen Geruch der Ostsee mit. Julia schlug ihren Kragen hoch und schob ihre Hände in die Taschen, ehe sie losmarschierte. Der Schnee knirschte unter ihren Sohlen. Raudi sauste nur so voraus, dass der Schnee unter seinen Pfoten aufstob.
Julias Eltern waren vor zehn Jahren bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen. Danach hatte ihr Großvater sie bei sich aufgenommen. Julia liebte ihre Heimat. Der Darß hatte zu jeder Jahreszeit seine Reize. Er konnte sich wild und rau zeigen, aber auch sanft und voller Wärme. Hier schienen die Uhren ein wenig langsamer zu ticken als in der Großstadt. Die höchste Erhebung der Halbinsel war die Hohe Düne mit ganzen vierzehn Metern Höhe, was so manchem Urlauber aus dem Süden einen ungläubigen Blick entlockte.
Es schneite sacht, als Julia die Straße entlanglief. Die Laternen tauchten den Gehweg in ein gedämpftes Licht. Bei dieser Kälte blieben selbst die Möwen in ihren Verstecken, sodass sich nirgendwo Leben regte. Hier und da blinkten reich mit Lichtern geschmückte Buchsbäume hinter den Zäunen.
Mit einem Mal zerriss ein Ruf die Stille. »Hilfe, Julia. Hier drüben. Ich brauche Ihre Hilfe!«
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2 Am Ende der Waldstraße stand das Tierheim von Prerow. Es war in einem Rohrdachhaus mit einer orangefarbenen Fassade untergebracht. Im Garten bogen sich Rhododendren unter der Schneelast. Ein vom Schnee geräumter Pfad führte um das Gebäude herum zum hinteren Teil des Grundstücks, in dem mehrere Tierunterkünfte eingerichtet waren. Rauch ringelte sich aus dem Schornstein in den Abendhimmel.
Die Eingangstür des Heims war mit schmückenden Ornamenten verziert, die typisch für den Darß waren. Symmetrisch aufgemalte Blumenranken, eine Sonne und ein grüner Rahmen zierten die Tür. In der Öffnung stand ein groß gewachsener Mann mit einem dunklen Vollbart und winkte lebhaft. »Kommen Sie rüber, Julia! Schnell!«
Jonte Langstein leitete das Tierheim seit vier Jahren. Er wirkte von Kopf bis Fuß bodenständig. Seine kräftigen Hände verrieten, dass er keine schwere Arbeit scheute. Der grob gestrickte Pullover und die Jeans, die er trug, schienen schon allerhand mitgemacht zu haben. Hinter seiner rahmenlosen Brille blickten seine braunen Augen offen und etwas nachdenklich in die Welt. Julia ging zu ihm. »Ist etwas passiert?« »Leider ja. Sie schickt der Himmel, Julia. Gerade hat mir der Pfarrer einen Hund gebracht. Er hat ihn am Waldrand gefunden. Verletzt!«
»Wurde er angefahren?« »Nein, angeschossen!« »Was sagen Sie da? Angeschossen?!« »Ja, er scheint einem Jäger oder Wilderer vor die Flinte gelaufen zu
sein. Hier auf dem Darß gibt es eine Menge Rotwild, aber der Schuss muss fehlgegangen sein. Wer auch immer das war, er hat den Hund einfach liegen gelassen. Der arme Kerl konnte sich noch bis zum Waldrand schleppen, aber dort haben ihn wohl die Kräfte verlassen.«
»Das ist ja furchtbar. Bringen Sie mich bitte zu ihm.« Jonte nickte und bedeutete ihr, ins Haus zu kommen. Sie folgte ihm
und machte Raudi im Flur von der Leine los. »Warte hier, Raudi.« Folgsam rollte sich der kleine Hund zusammen und legte den Kopf auf den Vorderpfoten.
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Jonte Langstein führte Julia zum Quarantäneraum, in dem Neuankömmlinge untergebracht wurden, bis feststand, dass sie gesund waren. Hier gab es einen Schrank mit verschiedenen Medikamenten, Futtermitteln und Instrumenten, die im täglichen Umgang mit den Tieren nützlich waren. Außerdem stand hier ein Tisch mit einer Metallplatte, auf dem Tiere untersucht und im Notfall behandelt werden konnten. Ein solcher Notfall lag jetzt vor. Auf dem Tisch lag ein Golden Retriever. Er zitterte am ganzen Leib und winselte so kläglich, dass sich etwas in der Tierärztin zusammenzog. Blut sickerte aus einer Wunde an seiner rechten Vorderpfote und verkrustete bereits sein Fell.
Die Tierärztin nahm sich ein Paar Einweghandschuhe aus dem Regal und zog sie an. Dann beugte sie sich über den Rüden. »Ich weiß, es tut weh, aber ich werde alles tun, um dir zu helfen.« Sie blickte auf. »Halten Sie bitte seinen Kopf, Jonte, damit er nicht zuschnappen kann?«
»Natürlich.« Der Chef des Tierheims hatte genügend Erfahrung, um zu wissen, was zu tun war.
Julia untersuchte den verletzten Hund behutsam. Er hatte eine Wunde am Ellbogen, aus der dunkles Blut austrat. Seine Schleimhäute waren rosafarben und sein Blick wach und aufmerksam. Das Zittern war jedoch kein gutes Zeichen. »Gibt es hier ein Blutdruckmessgerät?«
»Ja, dort drüben. Im Schrank mit der Ausrüstung.« Julia holte das Messgerät hervor und fand ihre Befürchtung wenig
später bestätigt. Der Blutdruck des Rüden betrug 180/145 mmHg. Das war zu hoch. Die Schmerzen und der kompensatorische Schock ließen seine Werte ansteigen.
Sie wünschte sich, sie hätte die Ausrüstung einer Tierarztpraxis, vor allem einen Röntgenapparat, aber daran war nicht einmal zu denken. Das Tierheim verfügte nur über eine medizinische Grundausstattung. Julia legte einen Tropf an und führte dem verletzten Hund Flüssigkeit zu. Sie stach die Nadel in eine Hautfalte, die sie mit den Fingern zusammenschob. Außerdem gab sie ihm Oxymorphin gegen die Schmerzen. Anschließend bedeckte sie seine Wunde mit einer sterilen Auflage. Es dauerte nicht lange, dann ließ sein Zittern nach.
»Mehr kann ich hier leider nicht für ihn tun. Er muss in die Klinik und geröntgt werden. Außerdem müssen einige Tests gemacht werden, bevor er operiert wird. Können Sie ihn in die Klinik fahren?«
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»Natürlich. Mein Wagen parkt draußen. Was glauben Sie: Wird er es schaffen?«
»Das ist ohne Röntgenbild schwer zu sagen. Im Moment ist sein Zustand stabil. Das ist schon viel.«
»Ich verstehe. Und seine Pfote? Ist sie noch zu retten?« »Das kommt auf den Grad der Zertrümmerung an. Schusswunden
können schwere Zerstörungen verursachen. Wenn die Wunde gründlich gereinigt wird und sich keine Infektion einstellt, ist es möglich, die Extremität zu erhalten.«
»Also heißt es, die Daumen zu drücken.« Jonte strich dem Retriever über den Kopf. »Und du drückst am besten alle Pfoten, Kleiner, zumindest die gesunden, hast du verstanden?«
»Wissen Sie schon, wem er gehört?« »Leider nein, aber er trägt eine Marke, also werden wir seinen
Besitzer schon ausfindig machen. Bis dahin werde ich mich um ihn kümmern. Vielen Dank für Ihre Hilfe, Julia.«
»Dafür bin ich doch da. Kommen Sie, bringen wir ihn gemeinsam zu Ihrem Wagen. Haben Sie eine Decke zum Unterlegen? Falls er den Verband durchblutet?«
»Natürlich.« Jonte hob den Rüden vorsichtig auf seine Arme. Julia hielt den Infusionsbeutel fest, während sie zu seinem Wagen hinausgingen. Im Flur sprang Raudi auf und trottete ihnen nach.
Der Heimleiter nahm eine Plane aus seinem Kofferraum und breitete sie auf der Rückbank aus, ehe er den Rüden darauf ablegte. Der Retriever schien keine Schmerzen mehr zu haben, denn er rollte sich zusammen. Das Medikament wirkte.
Julia erlaubte sich ein leises Aufatmen. Sie verabschiedete sich mit dem Versprechen, in der Tierklinik Bescheid zu sagen, dass er auf dem Weg war. Der Chef des Tierheims bedankte sich noch einmal bei ihr, ehe er sich in seinen Wagen setzte und davonfuhr. Wenig später verschwanden die roten Rücklichter seines Autos im dichten Schneefall.
Julia holte ihr Mobiltelefon aus ihrer Tasche und rief in der Tierklinik an. Sie kündigte das Eintreffen eines Hundes mit Schusswunde an. Eine mürrisch klingende Frau versprach ihr, alles Nötige an den zuständigen Tierarzt weiterzuleiten.
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Seufzend legte Julia auf. Wenn alles nach Plan verlaufen wäre, würde ich jetzt in der Notfallambulanz stehen und den Retriever behandeln. Hoffentlich kommt er durch …
Tief in Gedanken versunken schob sie ihre Hände in die Jackentaschen und schlenderte die Straße hinunter. Raudi trottete neben ihr her. Sie wollte noch nicht nach Hause, deshalb lenkte sie ihre Schritte zum Einkaufsviertel. Hier reihten sich Geschäfte aneinander. In den Schaufenstern blinkten Weihnachtslichter um die Wette. Julia kam an einem Geschäft mit der Aufschrift ‚Bernsteinzimmer‘ vorbei. Hier lagerte nicht etwa der lang verschollene, russische Schatz. Stattdessen wurden Schmuckstücke und Figürchen aus Bernstein zum Kauf angeboten. Julia bewunderte die Auslagen und entdeckte eine liebevoll gearbeitete Katze aus Bernstein. Das Material schimmerte geheimnisvoll im Licht.
Das wäre etwas für Großvater, dachte Julia. Er liebt Poppy, diese Katze hat Ähnlichkeit mit ihr. Was sie wohl kostet? Julia spähte auf das Preisschild und schluckte. Die Katze überstieg ihr Budget um einiges. Sie wandte sich ab und ging weiter. Warum war es so schwierig, ein Weihnachtsgeschenk für ihren Großvater zu finden? Seit Wochen suchte sie danach, hatte bis jetzt aber noch nichts Passendes gefunden. Sie konnte ihm doch nicht schon wieder eine Pfeife schenken! Und wenn sie ihn nach seinen Wünschen fragte, meinte er nur, alles zu haben, was er brauche. Eine große Hilfe war das nicht gerade. Zum Glück waren es noch zwei Wochen Zeit bis Weihnachten. Bis dahin musste ihr doch noch etwas einfallen!
Der Wind wurde heftiger. Julia begann zu frieren. Sie beschloss, nach Hause zurückzukehren. Diesmal folgte sie jedoch nicht der Straße, sondern lief am Strand entlang. Raudi rannte ein gutes Stück voraus und wedelte mit seiner Rute. Im Dunkeln wirkte das Meer düster und bedrohlich. Der Wind peitschte die Wellen hoch und erfüllte die Luft mit salzigem Sprüh. Julia schlug ihren Kragen höher und war froh, als sie wieder daheim ankam.
Sie schloss die Haustür auf, rief Raudi – und hörte im nächsten Augenblick das glockenhelle Lachen einer Frau. Im Flur stand die Urlauberin, die an diesem Tag angereist war: Wiebke Süncksen. Sie war schätzungsweise Anfang dreißig und hatte hellblond gefärbte Haare, die sie nun schwungvoll über ihre Schultern warf. Ihre Hand lag auf dem Arm von Julias Großvater. Rasmus Sperling strahlte sie an, als wäre sie geradewegs vom Himmel gefallen.
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»Ach, Rasmus, Sie sind ein Schatz«, sagte sie gerade. Julia wunderte sich über den vertraulichen Ton der Fremden. Da fiel
ihr Blick auf die Girlande aus Immergrün, die mit Lichtern bestückt und um das Treppengeländer gewickelt war. Sie musste während ihres Spaziergangs angebracht worden sein. »O nein«, stöhnte sie. »Noch mehr Dekoration?«
»Warum nicht? Wiebke hat mir geholfen, die Girlande anzubringen. Sieht es nicht großartig aus?«
»Hatten wir nicht vereinbart, etwas von der Dekoration zu entfernen, damit der Strom nicht wieder ausfällt?«
»Ach, so viel verbrauchen die paar Lämpchen nicht. Außerdem hat Hinnerk nebenan auch noch Lichter an seinen Buchsbäumen angebracht. Da muss ich doch mithalten.«
»Trotzdem wolltest du ein paar Stromfresser entfernen.« »Wann soll ich das gesagt haben?« »Vorhin. Als der Strom ausgefallen war.« »Der Strom war weg? Wann?« »Kurz nachdem du das Fenster im Frühstücksraum geschmückt
hattest. Weißt du das etwa nicht mehr?« Ihr Großvater schwieg sekundenlang, ehe er eine Handbewegung
machte, als wollte er die Frage wegwischen. »Unsinn. Stromausfall«, murmelte er. »Die Girlande sieht schön aus. Und sie bleibt, wo sie ist.«
»Großvater?« Eine kalte Hand schien plötzlich nach dem Herz der Tierärztin zu greifen. »Erinnerst du dich an den Stromausfall heute?«
»Natürlich erinnere ich mich«, fuhr er auf. »Ich bin vielleicht schon über sechzig, aber durchaus Herr meiner Sinne. Außerdem schmücke ich mein Haus gern weihnachtlich. Verdirb mir bitte nicht die Freude daran, Julia.«
»Das möchte ich ja gar nicht.« »Dann ist es ja gut.« Rasmus Sperling wandte sich an die Urlauberin.
»Trinken Sie eine heiße Schokolade mit mir, Wiebke? Ein paar Kokosmakronen sind auch noch da.«
Die Urlauberin willigte mit leuchtenden Augen ein und folgte ihm in die Küche.
»Aber Großvater, wollten wir beide nicht zusammen …« Weiter kam sie nicht, denn schon waren sie außer Hörweite.
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Julia sah ihnen nach und wusste nicht, was sie denken sollte. Warum hatte sich ihr Großvater zuerst nicht an den Stromausfall erinnert? Er war doch kaum zwei Stunden her? Und warum wusste er nicht mehr, dass er eigentlich mit ihr Kakao trinken wollte? Das beunruhigte sie. Sie hätte das gern mit Marc besprochen, weil sie wusste, dass er ihre Sorgen verstanden hätte. Der Polizist hatte selbst schon viel Leid erlebt und konnte sich deshalb gut in andere Menschen hineinversetzen.
Ob sie ihn jetzt erreichen würde? Kurzentschlossen griff sie nach dem Telefon und wählte seine
Nummer. Es klingelte nur einmal. Dann meldete sich eine gleichgültige Frauenstimme. »Dieser Anschluss ist zurzeit nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt erneut.« Es klickte, als die Verbindung beendet wurde.
Enttäuscht ließ Julia den Hörer sinken. Wo bist du, Marc? Warum kann ich dich nicht erreichen?
Ende der Leseprobe. Hat es Ihnen gefallen und Sie möchten weiterlesen? „Vier Pfoten für Julia – Winterzauber“ von Katja Martens ist überall erhält-‐
lich, wo es E-‐Books gibt.
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