Michael KohlhaasMaterialsammlung
Spielzeit 2012/13
Inhalt
Zur Einführung S. 03
Zum Autor S. 07
Zum Werk S. 29
Kontexte S. 58
2
Zur Einführung: Ankunft in der Ortlosigkeit
Einen »ortlosen Autor« hat Heiner Müller ihn genannt: Heinrich von Kleist, der Heimatlose, der
Gehetzte, der Ruhelose zwischen allen Stühlen. Das »Wegwollen« habe ihn zeitlebens
ausgemacht, und doch habe er niemals so recht gewußt wohin; fand Halt weder in der Tradition
seiner Familie noch im Militär, weder im Staatsdienst noch im Literaturbetrieb, weder in der
Vernunftwelt der Aufklärung noch im Sturm der frühen Romantik, weder im rechtwinkligen Gefüge
des Preußischen Staates noch in den kreisenden Aufbrüchen der Französischen Revolution. »Die
Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war«, schreibt Kleist am 21. November 1811 an
die geliebte Halbschwester Ulrike, wenige Stunden vor dem Kopfschuss.
Doch der berühmte Suizid verführt in seiner finalen Faktizität allzu leicht zum Rückschluss auf eine
Art Generalauthentizität aller Kleist'schen Lebensäußerungen. Wer seinen Worten solche Tat
folgen ließ, der muss doch ernst und echt gesprochen haben? Über viele Jahrzehnte hindurch war
die Kleist-Forschung bemüht, aus den in Briefen und Notizen festgehaltenen Krisen und
Entschließungen Kleists das Bild eines gemarterten Dichters zusammenzusetzen, der – seiner Zeit
weit voraus – am Ungenügen der Welt zugrunde ging.
Dabei ist auffällig, wie wunderbar vielseitig sich ein solcherart für authentisch befundenes und
folgerichtig durch Freitod beendetes Dichterleben einsetzen ließ. Die Autoren der Moderne
erkannten in dem Querling, dessen Tragödie »Penthesilea« Goethe befremdet an den Absender
zurücksandte, das Modell ihrer eigenen Abkehr von überkommenen literarischen Traditionen. Die
Nationalsozialisten sahen in Kleist den gegen Napoleonische Fremdherrschaft verglühenden
Vorreiter faschistischen Gehorsamkeitskults und nationalistischer Emphase. Die Kleist-Rezeption
der Nachkriegszeit entdeckte dagegen im preußischen Junkerssohn den Revolutionär: Während
Claus Peymann im Westen die »Hermannsschlacht« als Blaupause der Stadtguerilla inszenierte,
erkor die Kulturpolitik der DDR »Michael Kohlhaas« zur proto-marxistischen Kritik an der
Ungerechtigkeit der feudalen Ständeordnung.
Immer wieder war es der Selbstmord, der dabei als finales Echtheitszertifikat des jeweiligen
Kleistbildes herhalten musste. Schuld waren die Verhältnisse, egal welche: Wahlweise scheiterte
Kleist daher am Widerspruch zwischen Klassenherkunft und revolutionärem Bewusstsein oder an
der unpatriotischen Außenpolitik Friedrich Wilhelms III. Erst die jüngere Kleistforschung hebt die
Bedeutung von Simulation und Dissimulation in den Texten Kleists hervor, erklärt die Strategien
der Selbstinszenierung des Dramatikers in seinen Briefen und entlarvt die Mythen der
geheimnisvollen »Kant-Krise« oder der »Würzburger Reise« des Autors als fintenreiche
3
Stilisierungen vor dem Auge von Familie und Zeitgenossen. Sind wir damit endlich bei der
Wahrheit über Kleist angelangt? »Rezeptionsgeschichte ist immer Vereinnahmungsgeschichte«,
schreibt der Literaturkritiker Iljoma Mangold 2011, und konstatiert: »Wir Postmodernen rühmen
[heute] das Sprachgenie Kleist, dessen poetische Mehrdeutigkeiten auf keinen Begriff zu bringen
seien. Wir reden allenfalls von der Gewalt der Zeichen. Aber auch diese Lektüre dürfte dermaleinst
als ideologisch belächelt werden.«
Kein Ausweg, nirgends, aus der Ideologie – das ist die »Kant-Krise 2.0« unserer Zeit, die zwar
nicht mehr unmittelbar mit Kant, aber viel mit Kleists weltwehem Ausruf von 1801 zu tun hat: »Wir
können nicht entscheiden, ob das was wir Wahrheit nennen, wahrhaftig Wahrheit ist oder ob es
uns nur so scheint«. In der Tat: Mit der Wahrheit ist es schwierig geworden in unseren Zeiten.
Epistemologische Grundsatzbedenken müssen wir dabei schon gar nicht mehr erwägen, da wir ja
wissen, dass aller Wahrscheinlichkeit nach bereits die Tageszeitung zur Hälfte von Werbekunden
gefälscht und zur anderen irgendwie ideologisch ist. Sicher scheint da nur der Rückzug in
achselzuckenden Relativismus und passiv-liberale Abgeklärtheit.
Und dennoch wäre es verfehlt, die »Ortlosigkeit« Kleists, von der Heiner Müller sprach, zur
Entschuldigung für den müden Kalauer zu bemühen, dass es sich zwischen allen Stühlen eben
(Freitod abgerechnet) am bequemsten sitzt. Das Sitzen, Verweilen, das Ausruhen auf Positionen
wäre schon der erste Fehler. Denn Kleists ortlose Texte ermöglichen uns im Gegenteil, mit und in
ihnen Reisende zu bleiben – also die Vorläufigkeit, Bedingtheit und Konstruiertheit dessen, was wir
mit ›Welt‹ und ›Wissen‹ bezeichnen, anzuerkennen. Zugleich enthalten sie – und das dürfte
überraschen bei einem Autor, der von Wissenschaft und Zeitgenossen als Zauderer, Hypochonder
und Orientierungsloser konstruiert wurde – Modelle radikaler Handlungsfähigkeit, zeigen
Entscheidungen im Angesicht des Unentscheidbaren.
Kein Text Kleists tut dies deutlicher als »Michael Kohlhaas«. Sein Protagonist steht in einem
doppelten Spannungsfeld jeweils zweier konkurrierender rechtsphilosophischer Diskurse, die
historisch sowohl auf der Handlungs- als auch auf der Entstehungsebene verortet sind: Das ist
zum einen die Konkurrenz zwischen der auf das Recht, ja sogar die Pflicht zur Selbst-
(Rechts-)hilfe abhebende Rechtsordnung des Mittelalters, wie es sich z.B. im Sachsenspiegel
äußert, und der durch Luther vertretenen Rechtsauffassung des Absolutismus (Gottesgnadentum,
Pflicht des Untertans zum Gehorsam, Zwei-Reiche-Lehre). Verdoppelt und gespiegelt wird dies
zum anderen durch die Konkurrenz zwischen der naturrechtlich-rationalistischen Vertragslehre
Hobbes, die in der Aufklärung durch Rousseau u.a. (bis in ihr Gegenteil) weiterentwickelt wurde,
und der anti-liberalistischen Staatsauffassung der Politischen Romantik und des beginnenden 19.
Jahrhunderts, also der Zeit Kleists. Dieser zweite Konflikt ist dabei meines Erachtens der eigentlich
interessante, denn er liegt historisch an der Entstehungszeit unserer heutigen modernen Staats-
und Rechtsauffassungen. Ideologien finden sich jedenfalls hier in Häufung, und eben diese
4
Häufung, oder vielmehr Überlagerung verschiedener Werte- und Weltsysteme ist das
Entscheidende. Im Schnittpunkt nämlich steht ein zentraler Begriff: Gerechtigkeit. Aber welche?
Wie lässt sich Gerechtigkeit herstellen? Wie begründen?
Die Idee der Gerechtigkeit ist in heutigen Gesellschaften, wie der berühmte Soziologe Niklas
Luhmann schreibt, die zentrale Kontingenzformel des Rechtssystems, weil die Voraussetzungen
eines naturrechtlichen Gerechtigkeitsbegriffs heute entfallen sind. Das bedeutet (weiter mit
Luhmann), dass durch die zunehmende Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Systeme unsere
Handlungsoptionen in solchen Maße zugenommen haben, dass die Erfahrung von Kontingenz
(nach Aristoteles: die Tatsache, dass nichts notwendig und nichts unmöglich ist ) historisch immer
wahrscheinlicher wird. Gerechtigkeit besteht nur innerhalb des sich selbst (re-)produzierenden
Rechtssystems, dessen Funktion mithin die Überwindung der Kontingenzerfahrung durch
Kommunikation wäre: Gerechtigkeit kann so oder auch anders sein, kann aber innerhalb des
Rechtssystems nur jeweils so sein, wie sie in den Ereignissen und Differenzen des Systems
produziert wird.
Liest man diesen kurzen Ausschnitt aus der Theorie Luhmanns quer mit einer Äußerung des
Kleist-Freundes und Staatstheoretikers Adam Müller, so ergibt sich eine interessante Perspektive.
Müller schreibt 1809 in »Elemente der Staatskunst«: »Der Mensch ist nicht zu denken außerhalb
des Staates.« Man könnte Luhmanns Feststellung als Folge aus diesem Satz interpretieren: Wenn
außerhalb des Staates kein Bürger existiert, dann auch außerhalb des Rechtssystems kein Recht,
und außerhalb jedes Systems nichts außer reine Kontingenz. Müller zufolge ist es allerdings die
Pflicht des Staats, den Schwächeren zu schützen, und er schreibt außerdem (progressiver, als es
der Rest seiner Theorie vermuten ließe): »Die Schranke der Freiheit des einzelnen Bürgers ist die
Freiheit der übrigen Bürger«. Im Gegenzug sei das Heraustreten aus der Ordnung des Staates
nicht möglich oder, wenn es doch stattfände, Hochverrat. Eben diese Rolle des Staates findet sich,
und zwar in der »Politik der Gesellschaft«, ähnlich auch bei Luhmann im Kontext der Beschreibung
der Entstehung des Nationalstaates. Luhmann geht allerdings davon aus, dass die Probleme der
Gesellschaft grundsätzlich unlösbar seien, und dass das System der Politik lediglich der
Simulation ihrer Lösungen diene. Hierbei spielt – durch verschiedene Verfahren – die Herstellung
von Legitimität eine besondere Rolle.
Das Heraustreten aus der Ordnung des Staates – eben das ist es, was uns »Michael Kohlhaas« in
aller Konsequenz demonstriert. Ein Verbrechen, wenn wir Müller, und ein Ding der Unmöglichkeit,
wenn wir Luhmann glauben. Die Frage ist allerdings, ob Luhmanns Theorie nicht selbst Produkt
ihrer Zeit ist. Lässt sich unsere Gesellschaft, so wie sie ist, trefflich ohne einen Begriff von
Handlungsträgern beschreiben, weil sie gesellschaftliche Handlung tatsächlich nicht mehr
vorsieht? Wie handeln die Bürger des 21. Jahrhunderts angesichts vermeintlicher oder
tatsächlicher staatlicher Ungerechtigkeit? Sie demonstrieren, oder auch nicht (in Zypern,
5
Griechenland, Spanien), sie zünden Autos und Läden an (Paris, London, Stockholm), sie wählen
extreme Parteien (oder auch nicht) bzw. gründen neue (Italien), sie stürzen Regierungen, d.h. sie
tun eigentlich genau das, was sie im Laufe der Geschichte immer schon getan haben. Zumindest
in den Ländern Europas stellt sich angesichts dessen umso mehr die Frage nach dem Unterschied
zwischen politischer Handlung und ihrer Simulation. Ist es nicht so, dass Luhmanns Versicherung
und theoretische Ableitung, die gesellschaftlichen Probleme seien grundsätzlich nicht lösbar,
mittlerweile zur Überzeugung der Mehrheit geworden ist? Die Integrationsmechanismen unserer
Gesellschaftsordnung, die aus der Sorge um die Zukunft der Welt eine vermarktbare Ware
machen, dienen als gesellschaftliches Barbiturat, das – wie jedes andere Barbiturat – seine
Wirkung auch dann noch zu entfalten vermag, wenn es in seiner Wirkungslosigkeit in Bezug auf
die Gründe dieser Sorge allgemein durchschaut worden ist. Wo Bürger sich aus der
Wahrnehmung eines Unrechts in Opposition zum Staat begeben, begeben sie sich, wenn
Luhmann Recht hat, in Opposition zu einem System, das ihnen gar keine Genugtuung bieten
kann, weil sein Anlass nicht die Herstellung von Gerechtigkeit, sondern die Produktion von
Legitimität und die Simulation von Lösungen ist.
Kohlhaas dagegen ist Handlungsträger – und er handelt innerhalb eines Ideen-Raums, den es gar
nicht geben dürfte, in einem ›Außerhalb‹ und ›Dazwischen‹ aller Ordnungen, in einem ›ortlosen
Ort‹. Was daraus folgt, ist mithin, dass die Anerkenntnis der Konstruiertheit von Welt – die
»Gebrechlichkeit der Welt«, um mit Kleist zu sprechen – nicht zwangsläufig auch zur Anerkenntnis
der Sinnlosigkeit oder Aussichtslosigkeit eines Konstruktionswechsels führen muss. Ob diese
Mitteilung Kleists Absicht war oder nicht, muss uns heute nicht unbedingt interessieren. Es genügt,
die Ortlosigkeit Kleists, die immer nichts mehr und nichts weniger als die Ortlosigkeit seiner Texte
ist, für unsere Zeit produktiv zu machen. AL
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
30
Kleist, im Verhältnis zu Goethe, dem Europäer und Meister des Gleichgewichts,
und Schiller dem Deutschen, der ein versetzter Politiker war, steht zu allem zu-
nächst einmal schief. Schief zu seinen Stoffen: Schroffenstein eine Krudität nach
Shakespeare, Käthchen eine Kolportage aus dem Mittelalter, Der Zerbrochne Krug
ein Glücksfall, das Ergebnis einer Wette, Homburg ein Heeresbericht gegen den
Strich gelesen. Das Problem, das bei dem einsamen Kleist manifest wird, heißt
Deutschland, die Figur seiner Sehnsucht war Napoleon/Guiskard.
Heiner Müller. Deutschland ortlos. Anmerkung zu Kleist
*
Es gab eine Inszenierung vom »Nathan« in München von Fritz Marquardt, der
von Lessing leicht geschädigt oder stark geprägt ist: Da sah man plötzlich, wie
sehr Kleist von Lessing kommt. Und was Lessing durch die Weigerung zu träu-
men verdrängt hat, das bricht bei Kleist auf. Das ist, glaube ich, der Punkt: Man
kann sich eine Zeitlang aus Disziplin oder aus Angst das Träumen verbieten, aber
dann bricht es irgendwann furchtbar auf, und der Traum wird eine rotierende
Realität.
Heiner Müller im Gespräch mit Hendrik Werner
*
Kleist ist etwas Fremdes. Das Fremde will man eigentlich sein. Deswegen ist Kleist
so interessant. Mit Schiller kann man sich identifizieren, wenn man 20 ist oder
30. Mit 40 wird es schwieriger, ab 50 ist es unmöglich. Da hat man Einsicht in die
eigenen Irrtümer, Kompromisse, Schwachheiten. Man muß eine Umgangsform
mit dem Gemeinen in jedem Sinn, den man da hineinlegen kann, entwickeln. Das
brauchte Schiller nicht. Der schrieb, seitdem er wußte, daß er krank war, auf den
Tod hin. Da ist Goethe als pragmatischer Zyniker das bessere Modell.
Heiner Müller im Gespräch mit Frank Raddatz
*
Nach dem Ausflug in die Geschichte aus der Gier des Dramatikers auf Katastro-
phen, die vielleicht, wie die Psychoanalytiker behaupten, aus einem gestörten
Verhältnis zum Leben kommt, aber wer könnte ungestört leben, die täglichen
Katastrophen im Blick, außer ein Idiot oder ein Heiliger, wieder zurück zu dem
sehr gestörten Kleist, für den die gebrechliche Einrichtung der Welt Bedingung
seiner Existenz als Autor war und zuletzt der Grund, sich als Person auszulöschen.
Seine Grundmetapher, im Spannungsfeld zwischen Europa und Asien, ist die
Staubsäule, Figur der totalen Beschleunigung im Stillstand, Auge des Taifuns.
Heiner Müller. Deutschland ortlos. Anmerkung zu Kleist
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
52
53
54
55
56
57
58
59
60
61
62
63
64
65
66
67
68
69
70
71
72
74
75
76
77
78
79
80
81
82
83
84
85
86
87
88
89
90
91
92
93
94
95
96
Top Related