68 Im Blickpunkt
ifo Schnelldienst 24/2013 – 66. Jahrgang – 23. Dezember 2013
Mindestlohn in Deutschland: Wie viele sind betroffen?
Oliver Falck, Andreas Knabe, Andreas Mazat und Simon Wiederhold*
In ihren jüngsten Koalitionsvertragsverhandlungen haben sich CDU/CSU und SPD auf die Einführung eines Mindestlohns in Höhe von 8,50 Euro spätestens ab 2017 geeinigt. Die Verhandlungen wurden begleitet von einer hitzig ge führten Debatte um das Für und Wider des Mindestlohns: Seine Befürworter sehen im Mindestlohn ein schnell umsetzbares Mittel zur Schaffung von mehr Gerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt, durch das der Staat durch Einsparung von Lohn ergänzungszahlungen an »Aufstocker« sogar noch Geld einsparen würde. Kritiker dagegen befürchten den Verlust zahlreicher Arbeitsplätze.
In der öffentlichen Diskussion kursieren dabei ganz unterschiedliche Zahlen darüber, wie viele Beschäftigte von der Einführung des geplanten Mindestlohns betroffen wären. So behauptete etwa ein Einspieler in der Talkshow von Maybrit Illner vom 21. November 2013, dass von einem Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro unmittelbar 8 Mill. Arbeitnehmer profitieren würden. Einen Verweis auf die Quelle dieser Zahl blieb die Sendung allerdings schuldig. Die wohl bislang fundiertesten aktuellen Studien zur geplanten Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns in Deutschland basieren auf Daten des Soziooekonomischen Panels (SOEP) (vgl. Schöb und Thum 2013; Brenke und Müller 2013). Die Studien kommen zu dem Ergebnis, dass ungefähr 17% der Beschäftigten (ohne Auszubildende) weniger als 8,50 Euro pro Stunde in den Jahren 2011/2012 verdienten.
Das SOEP ist eine im Auftrag des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) durchgeführte Bevölkerungsbefragung unter 20 000 Personen aus rund 11 000 Haushalten in Deutschland. Knapp die Hälfte der befragten Personen sind abhängig Beschäftigte (ohne Auszubildende). Das SOEP gibt u.a. Auskunft über das monatliche Erwerbseinkommen der befragten Personen sowie über Wochenarbeitszeit und bezahlte Überstunden. Ein Problem freiwilliger Bevölkerungsbefragungen, wie dem SOEP, sind allerdings fehlende oder falsche Einkommensangaben einzelner befragter Personen. Ziel dieses Beitrags ist es daher zunächst, die auf Basis des SOEP berechnete Betroffenheit, d.h. der Anteil an Beschäftigten, die weniger als 8,50 Euro pro Stunde verdienen, mit der auf Basis der Verdienststrukturerhebung berechneten Betroffenheit zu vergleichen.
Die Verdienststrukturerhebung liefert alle vier Jahre das wohl exakteste Bild der Bruttostundenlöhne – allerdings nur in Betrieben außerhalb der Land und Forstwirtschaft und mit mindestens zehn Beschäftigten (vgl. Statistische Ämter der Länder 2013). Das Gesetz über die Statistik der Verdienste und Arbeitskosten (VerdStatG) verpflichtet eine repräsentative Auswahl an Betrieben, alle vier Jahre exakte Informationen über die Struktur der Arbeitsverdienste an die Statistischen Landesämter zu berichten. Die Verdienststrukturer
hebung enthält detaillierte Informationen über Verdienste und Arbeitszeiten von knapp 1,9 Mill. Beschäftigten aus mehr als 32 000 Betrieben. Ihr Umfang ist damit fast das 190fache der Anzahl an abhängig Beschäftigten im SOEP. Darüber hinaus ist wegen der gesetzlichen Auskunftspflicht das Problem fehlender oder falscher Einkommensangaben in der Verdienststrukturerhebung als eher gering anzusehen.
Unser Vergleich zeigt, dass man mit dem SOEP und der Verdienststrukturerhebung zu sehr ähnlichen Aussagen über den Anteil der Beschäftigten gelangt, die weniger als 8,50 Euro pro Stunde verdienen, wenn man in beiden Datenquellen vergleichbare Arbeitnehmergruppen betrachtet (Beschäftigte in Betrieben mit mindestens zehn Mitarbeitern außerhalb der Land und Forstwirtschaft). Die Ergebnisse des (relativ) kleinen SOEP werden somit durch die deutlich umfangreichere Verdienststrukturerhebung bestätigt. Die mit der Verdienststrukturerhebung ermittelten Betroffenheitsanteile liegen bei 7,4% in den alten und 19,1% in den neuen Bundesländern, die mit dem SOEP ermittelten Anteile betragen 8,7% bzw. 18,3%. Das SOEP enthält aber auch Daten zu den Beschäftigten in Kleinstbetrieben mit weniger als zehn Beschäftigten. Berücksichtigt man auch diese, ergeben sich insgesamt deutlich höhere Anteile von Beschäftigten mit Stundenlöhnen unter 8,50 Euro (15,4% bundesweit, 13,0% in den alten und 25,3% in den neuen Bundesländern).
In der öffentlichen Diskussion wurde auch immer wieder das Beispiel Großbritannien angeführt, wo 1999 ein Mindestlohn eingeführt wurde, der die Arbeitslosigkeit angeblich nicht erhöht hat (für eine Diskussion vgl. Stewart 2004). In der Debatte blieb bislang aber weitgehend unberücksichtigt, wie viele Beschäftigte in Großbritannien überhaupt vom Mindestlohn betroffen waren. Doch was würde der Verweis auf Großbritannien noch taugen, wenn der Anteil der vom Mindestlohn betroffenen Beschäftigten dort viel geringer gewesen wäre als in Deutschland? Während bei einer eher geringen Betroffenheit Betriebe möglicherweise Lohnerhöhungen noch verkraften können, sind bei hoher Betroffenheit Stellenabbau und Betriebsschließungen eher zu erwarten. In der Tat hatten zum Zeitpunkt der Einführung des Mindestlohns in Großbritannien nur 5,2% der über 18jährigen Beschäftigten1 Stundenentgelte unterhalb der Lohnuntergrenze. Dagegen ist der entsprechende Anteil der vom Mindestlohn Betroffenen in Deutschland mit 15% ungefähr dreimal so hoch wie in Großbritannien.
Die Lohnverteilung im Sozio-oekonomischen Panel
Die meisten Studien, die sich bisher mit der Frage beschäftigt haben, wie viele Arbeitnehmer in Deutschland von einem
1 Bis 2004 gab es in Großbritannien keinen Mindestlohn für Beschäftigte unter 18 Jahren.
* Die Autoren danken Steve Machin und Marcel Thum für wertvolle Kommentare sowie Julia Zimmermann für ihre Unterstützung bei der Erstellung dieses Beitrags.
ifo Schnelldienst 24/2013 – 66. Jahrgang – 23. Dezember 2013
69Im Blickpunkt
Mindestlohn betroffen wären, nutzen das Soziooekonomische Panel (SOEP) als Datengrundlage. Diese Studien ermitteln im Allgemeinen relativ hohe Betroffenheitsraten bei einem Mindestlohn von 8,50 Euro. Nach den eingangs erwähnten Studien (Brenke und Müller 2013; Schöb und Thum 2013) verdiente in den Jahren 2011/2012 ein Anteil von 17% der Arbeitnehmer einen Lohn unter 8,50 Euro (15% in den alten und 27% in den neuen Bundesländern). Auch andere Studien ermitteln auf Grundlage der im Jahr 2011 erhobenen Daten des SOEP Betroffenheitsanteile in ähnlicher Größenordnung. So bestimmt das Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) einen Anteil von 20,5% aller Arbeitnehmer, die bundesweit weniger als 8,50 Euro verdienen (18% für Westdeutschland, 32,2% für Ostdeutschland; vgl. Kalina und Weinkopf 2013). Eine ähnliche Größenordnung weisen auch die Zahlen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) auf (19,2% bundesweit, 16,4% für Westdeutschland, 32,1% für Ostdeutschland; vgl. Heumer et al. 2013).
In diesem Beitrag wollen wir bestimmen, wie viele Arbeitnehmer bei Einführung eines Mindestlohns zum gegenwärtigen Zeitpunkt betroffen wären. Dazu nutzen wir Daten der neuesten Welle des SOEP, die im Jahr 2012 erhoben wurde, und schreiben die Lohnentwicklung auf das Jahr 2013 fort.2 Wir beschränken uns in unserer Analyse auf abhängig Beschäftigte in Vollzeit, Teilzeit oder geringfügiger Beschäftigung. Auszubildende und Selbständige werden nicht berücksichtigt. In der 2012Welle des SOEP finden sich damit Angaben von knapp 9 000 abhängig Beschäftigten.
Das SOEP enthält keine direkten Angaben zu Bruttostundenlöhnen. Stattdessen werden die befragten Personen gebeten anzugeben, wie viele Arbeitsstunden sie pro Woche vertraglich vereinbart haben und wie viele Stunden sie tatsächlich arbeiten. Außerdem werden sie nach der Zahl der im letzten Monat bezahlt oder unbezahlt geleisteten Überstunden befragt. Für unsere Studie sind wir am vertraglich vereinbarten Bruttostundenlohn interessiert. Diesen ermitteln wir, indem wir das erhaltene Bruttomonatseinkommen durch die tatsächlich entlohnten Arbeitsstunden (vertraglich vereinbarte Arbeitszeit zzgl. bezahlter Überstunden) dividieren. Da nicht alle Befragungspersonen alle notwendigen Fragen beantwortet haben, fehlen teilweise Informationen zu Monatslöhnen oder Arbeitsstunden. Das betrifft etwa 17% der relevanten Beobachtungen.3
2 Im Jahr 2012 betrug das Bruttostundenlohnwachstum 2,5% (vgl. Statistisches Bundesamt 2013).
3 Um zu berücksichtigen, dass diese Informationsausfälle in den drei Beschäftigtengruppen (Vollzeit, Teilzeit, geringfügige Beschäftigung) möglicherweise
In Abbildung 1 stellen wir die nach dieser Methode aus dem SOEP ermittelte Verteilung der Bruttostundenlöhne, getrennt nach West und Ostdeutschland, dar.4 In den alten Bundesländern finden wir einen durchschnittlichen Bruttostundenlohn von 16,70 Euro. Die neuen Bundesländer weisen insgesamt niedrigere Löhne als die alten Bundesländer auf. Der Durchschnittsstundenlohn liegt dort bei 13,32 Euro. Die ermittelte Lohnverteilung zeigt, wie groß der Anteil der Beschäftigten ist, die momentan einen Bruttostundenlohn unterhalb der Grenze von 8,50 Euro verdienen. In den alten Bundesländern betrifft das insgesamt 13,0% der Beschäftigten, in den neuen Ländern sind es 25,3%. Diese Anteile sind etwas kleiner als die in den oben zitierten Studien angegebenen. Hauptverantwortlich dafür sind zwei Gründe. Zum einen nutzen wir Daten des Jahres 2012 und schreiben die Löhne bis zum Jahr 2013 fort. Aufgrund des durchschnittlichen Lohnwachstums ergeben sich damit geringere Beschäftigungsanteile unter 8,50 Euro. Zum anderen berechnen einige der oben genannten Studien die Stundenlöhne auf Basis der tatsächlich geleisteten Stunden (inkl. unbezahlter Überstunden), wohingegen wir nur die bezahlten Ar
unterschiedlich stark auftreten, nehmen wir an, dass die Beobachtungen mit vollständigen Informationen repräsentativ für alle Beschäftigten der jeweiligen Gruppe sind. Wir passen dann die individuellen Hochrechnungsfaktoren so an, dass die hochgerechnete Gesamtzahl der in jeder der drei Gruppen beobachteten Personen der tatsächlichen Beschäftigtenzahl (nach Angaben des Statistischen Bundesamts) entspricht.
4 Im SOEP wird für Berlin zwischen dem ehemaligen West und Ostteil unterschieden. In unserer Analyse wird der Westteil den alten und der Ostteil den neuen Bundesländern zugerechnet.
Abb. 1Die Bruttostundenlohnverteilung in Ost- und Westdeutschland auf Basis der SOEP-Daten
Anmerkungen: Bruttostundenlohnverteilung in Ostdeutschland (rote Kurve) und Westdeutschland (blaue Kurve) auf Basis der SOEPDaten (ohne Auszubildende und Selbständige). Die Löhne wurden anhand der allgemeinen Nominallohnentwicklung auf das Jahr 2013 fortgeschrieben. Die vertikale Linie repräsentiert den geplanten Mindestlohn von 8,50 Euro. Die Fläche unterhalb der jeweiligen Kurven bis zur Mindestlohnlinie repräsentiert den kumulierten Anteil der Beschäftigten in Ost bzw. Westdeutschland, die weniger als den Mindestlohn verdienen. In dieser Analyse wurde der Westteil Berlins den alten und der Ostteil Berlins den neuen Bundesländern zugerechnet.
Quelle: Berechnungen der Autoren auf Basis des SOEP 2012.
Fortsetzung Fußnote 3:
70 Im Blickpunkt
ifo Schnelldienst 24/2013 – 66. Jahrgang – 23. Dezember 2013
beitsstunden zugrunde legen. Dadurch ermitteln wir tendenziell etwas höhere Bruttostundenlöhne. Insgesamt zeigt sich aber, dass die Größenordnung der von uns bestimmten Betroffenheitsquoten sehr nah bei den Ergebnissen der anderen genannten Studien liegt.
Eine detailliertere Aufgliederung der Betroffenheitsanteile für unterschiedliche Beschäftigtengruppen zeigt, dass nur ein vergleichsweise geringer Teil der Vollzeitbeschäftigten vom Mindestlohn betroffen wäre (4,2% im Westen und 15,5% im Osten). Bei den Teilzeitbeschäftigten sind die Anteile schon deutlich höher (6,6% im Westen und 29,5% im Osten). Am höchsten sind die Betroffenheitsanteile allerdings bei den geringfügig Beschäftigten. In dieser Gruppe verdienen 66,8% in den alten und 83,6% in den neuen Bundesländern weniger als 8,50 Euro. Bei der Bestimmung dieser Anteile haben wir hinzuverdienende Rentner und Studenten nicht berücksichtigt. Wenn man diese beiden Gruppen betrachtet, dann zeigt sich bei den Rentnern ein Betroffenheitsanteil von 44,3% im Westen und 47,9% im Osten. Bei den Studenten finden wir etwas höhere Anteile (48,0% im Westen und 66,5% im Osten).
Verdienststrukturerhebung: Die Struktur der Arbeitsverdienste in Deutschland
Die detaillierten Angaben in der jüngsten Verdienststrukturerhebung aus dem Jahr 2010 ermöglichen es uns, den Bruttostundenlohn eines Beschäftigten für eine reguläre Arbeitsstunde exakt zu berechnen, wobei die Verdienststrukturerhebung nur Beschäftigte außerhalb der Land und Forstwirtschaft und in Betrieben mit mindestens zehn Beschäftigten enthält. Der Bruttostundenlohn ergibt sich aus dem monatlichen Bruttoverdienst abzüglich eines möglichen zusätzlichen Entgeltes für Überstunden und Schicht, Nacht, Sonntags sowie Feiertagsarbeit. Der daraus resultierende korrigierte Bruttomonatsverdienst wird durch die Anzahl der bezahlten monatlichen Arbeitsstunden ohne Überstunden geteilt. Abbildung 2 zeigt die für das Jahr 2013 fortgeschriebene Struktur des so errechneten Bruttostundenlohns für Ost und Westdeutschland getrennt, wobei Berlin zu Westdeutschland gezählt wird. Auszubildende sowie Ferienarbeiter, Werksstudenten und Praktikanten sind von der Analyse ausgeschlossen. Der durchschnittliche Bruttolohn für eine reguläre Arbeitsstunde in Betrieben mit mindestens zehn Beschäftigten außerhalb der Land und Forstwirtschaft liegt in Ostdeutschland mit
15,40 Euro im Jahr 2013 deutlich unter dem westdeutschen Niveau von 19,50 Euro.
Die vertikale Linie in Abbildung 2 repräsentiert den Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro. Unseren Berechnungen zufolge müssten bei heutiger Einführung des geplanten Mindestlohns 19,1% der Beschäftigten in Ostdeutschland und 7,4% der Beschäftigten in Westdeutschland in Betrieben mit mindestens zehn Beschäftigten außerhalb der Land und Forstwirtschaft einen höheren Stundenlohn erhalten. Im bundesweiten Durchschnitt würde der Mindestlohn 9,0% der Beschäftigten oder ungefähr zwei der rund 24 Mill. Beschäftigten in Betrieben mit mindestens zehn Beschäftigten außerhalb der Land und Forstwirtschaft betreffen.5
Löhne unterscheiden sich nach Region, Geschlecht, Alter, Ausbildung, aber auch nach Betriebsgröße und Branche. Ein undifferenzierter Mindestlohn würde sich also sehr unterschiedlich auf verschiedene Arbeitsverhältnisse auswirken. Sowohl in Ost als auch in Westdeutschland müssten vor allem die Löhne von weiblichen Beschäftigten, Teilzeitarbeitskräften, Beschäftigten ohne Berufsausbildung und jungen Beschäftigten angehoben werden. Besonders auffällig ist, dass bei den unter 18Jährigen in Ostdeutschland fast neun von zehn Beschäftigten vom Mindestlohn betrof
5 Eine vergleichbare Analyse haben bereits Ragnitz und Thum (2007) auf Basis der Gehalts und Lohnstrukturerhebung 2001 vorgelegt. Das Statistische Bundesamt hat bei der Veröffentlichung der Daten der Verdienststrukturerhebung 2010 im Jahr 2012 ebenfalls bereits Berechnungen zum Mindestlohn angestellt (vgl. Statistisches Bundesamt 2012).
Abb. 2Die Bruttostundenlohnverteilung in Ost- und Westdeutschland auf Basis der Verdienststrukturerhebung
Anmerkungen: Bruttostundenlohnverteilung in Ostdeutschland (rote Kurve) und Westdeutschland inkl. Berlin (blaue Kurve) in Betrieben mit mindestens zehn Beschäftigten außerhalb der Land und Forstwirtschaft (ohne Auszubildende und Selbständige). Die Löhne wurden auf das Jahr 2013 fortgeschrieben. Die vertikale Linie repräsentiert den geplanten Mindestlohn von 8,50 Euro. Die Fläche unterhalb der jeweiligen Kurven bis zur Mindestlohnlinie repräsentiert den kumulierten Anteil der Beschäftigten in Ost bzw. Westdeutschland, die weniger als den Mindestlohn verdienen.
Quelle: Berechnungen der Autoren auf Basis der Verdienststrukturerhebung 2010.
ifo Schnelldienst 24/2013 – 66. Jahrgang – 23. Dezember 2013
71Im Blickpunkt
fen wären, in Westdeutschland wären es immerhin noch sieben von zehn. Außerdem müssten bei beinahe jedem dritten Teilzeitarbeitsplatz im Osten und jedem sechsten Teilzeitarbeitsplatz im Westen die Stundenlöhne angehoben werden. Bei den Beschäftigten ohne Berufsausbildung zeigt sich ein ähnliches Bild.
Darüber hinaus würde der Mindestlohn kleine Unternehmen stärker betreffen als ihre großen Konkurrenten. In Ostdeutschland (Westdeutschland) liegt der Stundenlohn in Kleinbetrieben mit zehn bis 49 Mitarbeitern bei 30% (11%) der Beschäftigten unter dem Mindestlohn. In großen Unternehmen mit mindestens 250 Mitarbeitern ist dagegen nicht einmal jeder zehnte Arbeitsplatz im Osten bzw. jeder 20. Arbeitsplatz im Westen betroffen. Hinsichtlich der Branchen müssten die Löhne insbesondere im Gastgewerbe (bundesweit: 40,3%) und in den »sonstigen wirtschaftlichen Dienstleitungen«6 (bundesweit: 27,0%) infolge des Mindestlohns steigen.
SOEP und Verdienststrukturerhebung ergeben sehr ähnliches Bild
Die Lohnverteilungen und Anteile der vom geplanten Mindestlohn Betroffenen, die wir in den vorangegangenen Abschnitten aus dem SOEP und der Verdienststrukturerhebung ermittelt haben, weichen z.T. stark voneinander ab. Dafür gibt es verschiedene Ursachen. Zum einen gibt es kleinere methodische Unterschiede in der Erhebung der Lohnangaben in beiden Datenquellen. Zum Beispiel werden in der Verdienststrukturerhebung Überstundenzuschläge separat angegeben, so dass es möglich ist, die Bruttostundenlöhne für reguläre Arbeitsstunden zu ermitteln, wohingegen diese Bereinigung der Stundenlöhne im SOEP nicht möglich ist. Auch wird in der Verdienststrukturerhebung bei geringfügig Beschäftigten die vom Arbeitgeber pauschal abgeführte Lohnsteuer als Teil des Bruttolohns behandelt, im SOEP dagegen nicht. Da das SOEP eine freiwillige Bevölkerungsbefragung ist, leidet es stärker unter fehlenden, oder möglicherweise sogar falschen Einkommensangaben. Diese Unterschiede sollten sich aber nur in geringem Maße auf die ermittelten Lohnverteilungen auswirken.
Deutlich stärkeren Einfluss haben die unterschiedlichen Abgrenzungen der Grundgesamtheiten, die von den zwei Stu
6 »Sonstige wirtschaftliche Dienstleistungen« umfassen u.a. die Vermittlung und Überlassung von Arbeitskräften, Wach und Sicherheitsdienste und Gebäudebetreuung.
dien erfasst werden. Während das SOEP repräsentativ für alle Personen in Deutschland sein soll und somit alle Arbeitnehmer erfasst, beschränkt sich die Verdienststrukturerhebung auf Betriebe mit mindestens zehn Beschäftigten und schließt die Land und Forstwirtschaft aus. Um zu ermitteln, wie stark sich die durch SOEP und Verdienststrukturerhebung beschriebenen Lohnverteilungen tatsächlich unterscheiden, betrachten wir im SOEP nur die zur Grundgesamtheit der Verdienststrukturerhebung korrespondierende Teilgruppe der Arbeitnehmer, die nach eigenen Angaben in Betrieben mit mehr als zehn Beschäftigten arbeiten und außerhalb der Landwirtschaft tätig sind. Abbildung 3 zeigt die Lohnverteilung im SOEP für diese Gruppe.
Auch wenn die Lohnverteilungen aus SOEP und Verdienststrukturerhebung nicht vollkommen deckungsgleich sind, ergeben sich keine substantiellen Unterschiede zwischen beiden Datenquellen. Das zeigt sich auch bei der Bestimmung der Betroffenheitsanteile. Wenn man im SOEP nur Arbeitnehmer betrachtet, die in Betrieben mit mehr als zehn Mitarbeitern außerhalb der Landwirtschaft tätig sind, dann verdienen davon in den alten Bundesländern 8,7% und in den neuen Bundesländern 18,3% weniger als 8,50 Euro. Diese Werte liegen sehr dicht bei denen, die wir mit der Verdienststrukturerhebung ermittelt haben. In den Kleinstbetrieben mit bis zu zehn Mitarbeitern sind hingegen deutlich mehr Arbeitnehmer betroffen (24,9% in Westdeutschland und 37,7% in Ostdeutschland).
Problematisch könnte die genaue Abgrenzung des eigenen Betriebs in subjektiven Arbeitnehmerbefragungen sein. Im
Abb. 3Die Bruttostundenlohnverteilung in Ost- und Westdeutschland:Vergleich zwischen Verdienststrukturerhebung (VSE) und SOEP
Anmerkungen: Bruttostundenlohnverteilung in Ostdeutschland (rote Kurven) und Westdeutschland (blaue Kurven) von Beschäftigten in Betrieben mit mindestens zehn Beschäftigten außerhalb der Land und Forstwirtschaft. Die Löhne aus dem SOEP (gepunktete Linien) und der Verdienststrukturerhebung (durchgezogene Linien) wurden auf das Jahr 2013 fortgeschrieben. Die vertikale Linie repräsentiert den geplanten Mindestlohn von 8,50 Euro.
Quelle: Berechnungen der Autoren auf Basis des SOEP 2012 und der Verdienststrukturerhebung 2010.
72 Im Blickpunkt
ifo Schnelldienst 24/2013 – 66. Jahrgang – 23. Dezember 2013
SOEP wird dazu zum einen nach der Beschäftigtenzahl der Betriebsstätte als auch nach der des Gesamtunternehmens, in dem der Arbeitnehmer beschäftigt ist, gefragt. Wenn man die Betroffenheitsmaße nicht nach der Betriebs, sondern nach der Unternehmensgröße trennt, ergeben sich zwar leicht höhere Betroffenheitswerte für Arbeitnehmer, die in Unternehmen mit einer Gesamtbeschäftigung von mehr als zehn Mitarbeitern arbeiten (10,0% in Westdeutschland und 20,9% in Ostdeutschland). Diese Zahlen sind aber immer noch vergleichsweise dicht an denen der Verdienststrukturerhebung.
Insgesamt zeigt dieser Vergleich, dass SOEP und Verdienststrukturerhebung ein sehr ähnliches Bild der Lohnverteilung zeichnen, wenn man sich auf Betriebe mit mehr als zehn Beschäftigten außerhalb der Landwirtschaft beschränkt. Das SOEP erlaubt aber zusätzlich die Betrachtung der Kleinstbetriebe, in denen im Durchschnitt deutlich niedrigere Löhne gezahlt werden. Dadurch ergeben sich in der Gesamtbetrachtung entsprechend höhere Betroffenheitsquoten im SOEP als in der Verdienststrukturerhebung. Auch wenn die Lohnverteilungen im SOEP etwas »unruhiger« verlaufen als in der Verdienststrukturerhebung, was insbesondere auf die geringere Anzahl an Beobachtungen im SOEP zurückzuführen sein dürfte, kommen beide Datenquellen für sehr ähnliche Stichproben auch zu vergleichbaren Ergebnissen. Daher gehen wir davon aus, dass die im SOEP für alle Beschäftigten geschätzte Betroffenheit vom Mindestlohn von ca. 15,4% auch tatsächlich die Gesamtbetroffenheit in Deutschland gut widerspiegelt.
Mindestlohn in Großbritannien deutlich niedriger
In der öffentlichen Diskussion um den Mindestlohn in Deutschland wird immer wieder ins Feld geführt, dass in anderen europäischen Ländern ebenfalls ein Mindestlohn existiert, ohne dass dies zu größeren Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt geführt hätte. Bei dieser Argumentation wird allerdings zumeist ignoriert, auf wie viele Arbeitnehmer sich die Einführung des Mindestlohns in den einzelnen Ländern ausgewirkt hat. Da die meisten europäischen Länder mit einem gesetzlichen Mindestlohn diesen bereits vor langer Zeit eingeführt haben – und sich die Lohnverteilung vor der Mindestlohneinführung daher nicht mehr ohne Weiteres nachvollziehen lässt –, konzentrieren wir uns auf Großbritannien. Hier wurde der Mindestlohn erst 1999 eingeführt. Im Folgenden gehen wir der Frage nach, ob durch die Einführung des geplanten Mindestlohns in Deutschland ein höherer Anteil der Beschäftigten betroffen wäre, als dies bei Einführung des Mindestlohns in Großbritannien der Fall war.
Der Mindestlohn in Großbritannien, welcher bereits durch den am 31. Juli 1998 verabschiedeten National Minimum Wage Act Gesetzeskraft erhielt, wurde am 1. April 1999 flä
chendeckend eingeführt. Er belief sich zum Zeitpunkt der Einführung auf 3,60 Britische Pfund für Personen älter als 22 Jahre und auf 3,00 Britische Pfund für Personen zwischen 18 und 21 Jahren. Der Stundenlohn wurde in den darauf folgenden Jahren immer wieder leicht erhöht und seit Oktober 2004 auch auf Beschäftigte unter 18 Jahren erweitert. Die jeweilige Höhe und Abdeckung des Mindestlohns basiert auf den jährlichen Empfehlungen der Low Pay Commission (LPC), die 1997 als nichtlegislative Expertenkommission vom Premierminister eingesetzt wurde (vgl. Metcalf 1999). Die LPC besteht aus Arbeitnehmer und Arbeitgebervertretern sowie Wissenschaftlern. Zur Festlegung der anfänglichen Höhe des Mindestlohns führte die LPC im Vorfeld Interviews, VorOrtBesuche und umfangreiche Analysen auf Basis der britischen Arbeitsmarktstatistiken durch.
Bei der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns in Großbritannien lag der Bruttostundenlohn von insgesamt 1,21 Mill. Beschäftigten über 18 Jahren unter dem Mindestlohn. Damit verdienten 5,2% der Beschäftigten über 18 Jahren weniger als den Mindestlohn (vgl. Milton 2004; Low Pay Commission 2005). Unsere Berechnungen zeigen, dass durch die sofortige Einführung des geplanten Mindestlohns in Deutschland ungefähr 15% der Beschäftigten über 18 Jahre betroffen wären. Der Anteil der Beschäftigten, deren Stundenentgelte durch einen gesetzlichen Mindestlohn angehoben werden müssten, wäre damit in Deutschland ungefähr dreimal so hoch wie in Großbritannien bei dortiger Einführung des Mindestlohns.
Zusammenfassung
Ziel dieses Beitrags ist es, mehr empirische Fakten in die weitgehend wertegeladene Debatte um die Einführung eines Mindestlohns in Deutschland einzubringen. Daher haben wir bewusst auf eine Zusammenfassung oder Bewertung der umfassenden Literatur zu den Effekten von Mindestlöhnen verzichtet (vgl. hierzu z.B. Brown 1999; Neumark und Wascher 2008). Stattdessen nutzen wir zwei verschiedene Datensätze zur Struktur der Arbeitsverdienste in Deutschland – das Soziooekonomische Panel und die Verdienststrukturerhebung – um den Anteil der Beschäftigten zu ermitteln, die von dem im Koalitionsvertrag beschlossenen Mindestlohn betroffen wären, wenn er heute eingeführt würde.
Unsere Ergebnisse zeigen, dass der Mindestlohn in Deutschland rund dreimal so viele Beschäftigte betreffen würde wie der britische Mindestlohn bei dessen Einführung. Außerdem ist zu erwarten, dass die flächendeckende Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns gerade die Arbeitskosten in kleinen Betrieben erhöhen würde. Aus unserer Sicht ist es kaum vorstellbar, dass etwa Kleinstbetriebe
ifo Schnelldienst 24/2013 – 66. Jahrgang – 23. Dezember 2013
73Im Blickpunkt
in Ostdeutschland, in denen im Durchschnitt knapp 40% der Belegschaft weniger als den geplanten Mindestlohn verdienen, ohne Weiteres für diese Beschäftigten den Lohn anheben können. Ein möglicher Beschäftigungsabbau dürfte darüber hinaus insbesondere jüngere und weniger qualifizierte Mitarbeiter treffen.
Diese Probleme dürften allerdings dadurch etwas gemildert werden, dass im Koalitionsvertrag die nominale Fixierung des Mindestlohns auf 8,50 Euro beschlossen wurde. Infolge der zu erwartenden positiven allgemeinen Nominallohnentwicklung wird der Mindestlohn bei seiner vorgesehenen verbindlichen Einführung im Jahr 2017 wohl etwas weniger Beschäftigte betreffen als die von uns geschätzten 15%. Selbst bei einer optimistisch geschätzten Nominallohnerhöhung von 10% bis zum Jahr 2017 wären allerdings in Deutschland immer noch mehr als doppelt so viele Beschäftigte vom Mindestlohn betroffen wie in Großbritannien bei der dortigen Einführung des Mindestlohns.
Literatur
Brenke, K. und K.U. Müller (2013), »Gesetzlicher Mindestlohn – kein verteilungspolitisches Allheilmittel«, DIW-Wochenbericht 39, 3–17.
Brown, C. (1999), »Minimum Wages, Employment, and the Distribution of Income«, in: O. Ashenfelter und D.E. Card (Hrsg.), Handbook of Labor Eco-nomics, Vol. 3, NorthHolland, Amsterdam, 2101–2163.
Heumer, M., H. Lesch und C. Schröder (2013), »Mindestlöhne, Einkommensverteilung und Armutsrisiko«, IW-Trends 1, Köln.
Kalina, T. und C. Weinkopf (2013), »Niedriglohnbeschäftigung 2011. Weiterhin arbeitet fast ein Viertel der Beschäftigten in Deutschland für einen Niedriglohn«, IAQ-Report Nr. 1, Duisburg.
Low Pay Commission (2005), National Minimum Wage – Report 2005, The Stationery Office.
Metcalf, D. (1999), »The Low Pay Commission and the National Minimum Wage«, The Economic Journal 109(453), 46–66.
Milton, J. (2004), »Low Pay Estimates for 2004«, Labour Market Trends 112(481), 3.
Neumark, D. und W. Wascher (2008), Minimum Wages, MIT Press, Cambridge, MA.
Ragnitz, J. und M. Thum (2007), »Zur Einführung von Mindestlöhnen: empirische Relevanz des Niedriglohnsektors«, ifo Dresden berichtet 14(3), 36–39.
Schöb, R. und M. Thum (2013), »Ein Mindestlohn für Deutschland«, in: K. A. Konrad, R. Schöb, M. Thum und A. Weichenrieder (Hrsg.), Die Zukunft der Wohlfahrtsgesellschaft – Festschrift für Hans-Werner Sinn, Campus Verlag, Frankfurt, New York, 193–213.
Statistische Ämter der Länder (2013), »ScientificUseFile zur Verdienststrukturerhebung 2010«.
Statistisches Bundesamt (2012), »11% der Beschäftigten verdienten 2010 weniger als 8,50 Euro je Stunde«, Pressemitteilung Nr. 258, Wiesbaden.
Statistisches Bundesamt (2013), »Nominallohnindex«, online verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/VerdiensteArbeitskosten/RealloehneNettoverdienste/Tabellen/Reallohnentwicklung.html.
Stewart, M. (2004), »The Employment Effects of the National Minimum Wage«, The Economic Journal 114, C110–C116.
Top Related