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tatsächlich zu körperlichen Beeinträchtigungen kommt.“Im Gegenzug konnten Forschungen beweisen, dass es durchdie Mangelernährung zu Veränderungen im Gehirn kommt,die kaum mehr reversibel sind.

„Den klassischen Betroffenen zu skizzieren fällt schwer“,so Sudi. „Es ist ein breites Spektrum. Viele von ihnen sindsehr leistungsorientiert und stehen unter Druck, mehrleisten zu müssen als andere.“ Oft hängt es auch mit denErwartungen des Umfeldes zusammen, die den Schritt indie Essstörung fördern können. Im Hochleistungsport lässtsich Mangelernährung meist rasch aufdecken. Hobbysportlerfinden kaum oder nicht so schnell aus diesem Systemheraus. Im Gegenteil: „Viele denken noch immer, zu wenigtrainiert und zu viel gegessen zu haben, und agieren nochextremer“, erläutert Sudi. Die vorherrschende Meinung,hauptsächlich Frauen seien von dieser Essstörung betroffen,stimmt nicht. „50 Prozent sind Männer.“ Die Fälle vonAnorexia athletica stiegen in den letzten Jahrzehnten starkan. Prof. Dr. Sudi sieht den Grund darin, „dass immer mehrMenschen auch im fortgeschrittenen Alter in Sportartenhineindrängen, wo die körperliche Darstellung und Leis-tungsfähigkeit eine große Rolle spielen. Es bedeutet füreinen 40-Jährigen einen erheblichen Mehraufwand, wie ein20-Jähriger zu performen und auszusehen.“

Das Umfeld ist der Situation hoffnungslos ausgeliefert. „Esklingt hart, aber Familie und Freunde können nur hoffen,dass das Verhalten rasch zum Leistungsabfall führt, umdem Betroffenen die Situation bewusst machen zu können“,

so der Professor. The-rapeutisch sieht er alseinzige Möglichkeitdie Inanspruchnah-me von professionel-ler, psychischer Be-treuung. „Um erst garnicht in die Spiralezu geraten, sollte je-der Athlet – gleich obAmateur oder Profi –jene Lebensmittel es-sen, nach denen derKörper verlangt.“ Inder Zusammenset-zung gilt es, das ge-sunde Mittelmaß zufinden. Eine nicht

einfache Herausforderung, sind doch jene Sportler, die sichnormal ernähren, mittlerweile in der Minderheit. Dass im Langstreckenlauf Top-Leistungen auch ohne Man-gelernährung möglich sind, davon ist der erfahrene Sport-wissenschaftler absolut überzeugt: „Wer im Training nieseine Grenzen ausloten kann, weil ihm die notwendigenReserven – wie etwa Glykogen – fehlen, wird auch imKampf um den Sieg erfolglos sein. Hinzu kommt die psy-chologische Komponente: Durch die Unterversorgung machtdas Training keinen Spaß, alles wird zur Qual. Und wersich nicht wohlfühlt, kann kaum Erfolg haben!“

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Zu Beginn ist es ein großartiges Er-folgserlebnis: Die Pfunde purzeln

und mit ihnen die Bestzeiten. „Diesepositive Erfahrung, bei verringerterNahrungsaufnahme bessere Leistungenerbringen zu können, kann der Anfangvon Anorexia athletica sein“, weiß Prof.Dr. Karl Sudi von der Privaten Univer-sität im Fürstentum Liechtenstein(UFL). Bereits seit 15 Jahren beschäftigtsich der promovierte und habilitierteSportwissenschaftler mit dieser The-matik. Mit dem sportlichen Erfolgkommt gleichzeitig das Streben nachdem Mehr: noch schneller und nochleichter. Das funktioniert meist lange,doch irgendwann, ganz still und heim-lich, kippt das System. Wann genauder scheinbar positive Effekt in einen

Leistungsrückgang umschlägt, kannweder der Athlet selbst, noch der Au-ßenstehende erkennen und vorherse-hen. „Von Anorexia athletica sprichtman, wenn es zu einer Entkoppelungzwischen verbesserter körperlicher Leis-tungsfähigkeit und geringerer Nah-rungsaufnahme kommt. Dabei wird dienotorische Unterversorgung mit Nähr-stoffen verstärkt fortgesetzt, gleichzeitignoch mehr trainiert, aber die Leistungs-fähigkeit verringert sich“, erklärt Su-di.Die Grenzen zwischen Anorexia Ner-vosa, umgangssprachlich auch Mager-sucht genannt, und Anorexia athleticaverschwimmen, aber sie unterscheidensich hauptsächlich durch eine wesent-liche Komponente: „Während es sich

bei Magersucht vorrangig um die psy-chologische Komponente dreht, seineneigenen Körper in den Griff zu bekom-men, geht es bei der Essstörung vonSportlern darum, einen physikalischenVorteil durch geringes Körpergewichtauszunützen“, stellt der Universitäts-professor klar. Vor allem in Sportarten,wo Ästhetik und Gewicht eine großeRolle spielen, tritt sie verstärkt auf.„Wir nehmen an, dass rund 50 Prozentder Spitzenathleten davon betroffensind. Dieser Prozentsatz gilt auch fürden ambitionierten Breitensport, wobeidort die Dunkelziffer wahrscheinlichnoch viel höher liegt.“

„Es lässt sich pauschal nicht beantwor-ten, wann genau das System kippt. Eshängt vom individuellen Metabolismusab, aber auch von der Ausgangsbasisbei welchem Körperfettanteil der Athletin den Sport einsteigt. Gleichzeitig giltes, seine grundlegende Körperzusam-mensetzung zu begutachten“, stellt Prof.Dr. Sudi fest. Gerade bei Ausdauer-sportarten kommt es aufgrund des er-höhten Energiebedarfs und der dadurchstark entleerten Glykogenspeicher zueinem baldigen Leistungsabfall.

Die langfristigen gesundheitlichen Aus-wirkungen lassen sich vorher kaumvorhersagen. Zu wenige Forschungs-und Studienergebnisse liegen bis datovor. „Wir gehen davon aus, dass es zuOsteoporose, Schwächung des Immun-systems durch den verringerten Kör-perfettanteil, Antriebslosigkeit, Hor-monschwankungen, Entgleisungen imElektrolythaushalt und im Stoffwechselsowie psychischen Beeinträchtigungenkommen kann“, so der Sportwissen-schaftler und fügt hinzu: „es gibt auchVermutungen, dass es zu Veränderun-gen der Herzmuskelzellen und des Ske-lettsystems führt. Doch das alles sindunbestätigte Annahmen.“ Eines weißman gewiss: „Der Körper kann relativlange diesen Zustand ertragen, bis es

TITELSTORY | Anorexia athletica

Es klingt einfach: Je geringer die Masse, desto schneller lässtsich bei gleichem Energieaufwand der Weg zurücklegen. Dochein notorisches Zuwenig kann zur Gefahr werden: Anorexiaathletica, die Essstörung unter Sportlern, stellt eine Erkrankungdar, die nicht nur im Hochleistungssport angesiedelt ist. ImGegenteil: Immer mehr Hobbysportler, angeblich insbesondere

Frauen, sind davon betroffen. RUNNING – Das Laufmagazin fragte genauernach.

� Prof. Dr. Karl Sudi gab uns fachkompetenteAuskunft

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von Edith Zuschmann