Neue Serie: Ihr Weg zu einem besseren KörpergefühlGesünder leben
Klaus Kinskis Tochter Pola Vom eigenen Vater missbraucht
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NR. 3 10. 1. 2013 Deutschland € 3,50Österreich € 3,80 / Schweiz CHF 6,50
Christian und Bettina Wulff
Szenen einer gescheiterten Ehe
Das Video-Edi-
torial präsentiert
Höhepunkte
dieser Ausgabe
Für Videostart den Bildcode
mit dem Smart-phone und
einer App für QR-Codes scannen
Dolche in den Gewändern
3 / 2 0 1 3 stern 3
Editorial 2
Liebe Leserinnen, liebe Leser,wenn die rund sechs Millionen Wahlberechtigten
am 20. Januar in Niedersachsen ihren neuen Landtag
wählen, entscheiden sie über weit mehr als bloß
eine neue Regierung. Schon lange ist klar, dass das
Schicksal der FDP auf dem Wahlgang lastet: Es blit-
zen bereits die Dolche in den Gewändern mancher
FDPisten, bereit für den Fall, dass ihr Chef Rösler an
der Fünf-Prozent-Hürde scheitert oder ein miserables
Ergebnis einfährt. Seit Jahresende hängt noch eine
weitere Bürde an der Niedersachsenwahl. Peer Stein-
brück schleppt sie mit sich herum, weil er das zu
niedrige Kanzlergehalt bejammert hat – und das, wo
er doch schon als Kanzlerkandidat zu Deutschlands
Bestverdienern zählt. Verfehlt die SPD die vor Weih-
nachten prognostizierten guten Umfrageergebnisse
oder vermasselt sie gar den Regierungswechsel in
Hannover, wird es für Steinbrück über Nacht unge-
mütlich. Dann wird die immer noch starke Linke in
der deutschen Sozialdemokratie murren und nicht
nur hinter vorgehaltener Hand klagen: zu viel Bein-
freiheit, zu wenig soziale Erdwärme – wir haben es
ja schon immer gewusst! Durchaus möglich, dass die
Sache nicht nur für Rösler, sondern auch für Stein-
brück nicht gut ausgeht. Im November vergangenen
Jahres glaubten noch 51 Prozent der Deutschen, Peer
Steinbrück sei der richtige Kanzlerkandidat der SPD.
In den Umfragen Ende vergangener Woche ist diese
Zahl auf 42 eingebrochen. Noch schärfer wird das
Bild bei der Antwort auf die Frage nach der Kanzler-
präferenz: Angela Merkel oder Peer Steinbrück?
Satte 58 Prozent entscheiden sich für die Kanzlerin,
nur noch magere 22 Prozent für den SPD-Mann
(siehe Seite 32). Diese Zahlen, von Forsa im Auftrag
des stern erhoben, machen deutlich, wie dünn-
häutig das Publikum auf den Dickhäuter Steinbrück
reagiert. Zu Recht. Es war einfach saudämlich, um
im Jargon des Kandidaten zu bleiben, das Kanzler-
gehalt zu thematisieren, während die eigene Hono-
rar debatte gerade erst im Abklingbecken auskühlt.
Aber selbst wenn er die Kette der Ungeschick-
lichkeiten fortsetzt, darf die SPD nicht ins Mosern
und Mobben verfallen, wenn sie bei der Bundestags-
wahl im Herbst den Hauch einer Chance haben
will. Steinbrück bleibt der beste Mann, um Deutsch-
lands politische Mitte für die SPD zu gewinnen.
Und vielleicht hat ja auch ein gereifter Politiker wie
Steinbrück, der sich mit der Unanfechtbarkeit eines
Elefanten bewegt, eine Lernkurve!
Andreas Petzold, Chefredakteur
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TitelGesundheit Schlanker,
schöner, frischer –
fünf Männer und Frauen
suchen ein besseres
Körpergefühl. Der stern begleitet sie in einer neuen
fünfteiligen Serie auf
ihrem individuellen Weg zu
mehr Leichtigkeit im Sein 54
Test: Wie gestresst sind Sie
wirklich? 62
Bilder der WocheRussland Neuer Bürger in alter Tracht 16
Syrien Das Leid des Krieges 18
Österreich Sturz nach fulminantem Skisprung 20
China Flossen für die Suppe 22
Bulgarien Lametta für die Braut 24
Trends der Wochestern-Umfrage FDP in neuem Tief 28
Kronprinz der Woche Nicolás Maduro,
designierter Nachfolger von Venezuelas krankem
Präsidenten 30
PolitikPeer Steinbrück Was darf ein Politiker so von
sich geben? Unterwegs mit dem SPD-Kandidaten
und der Kanzlerin 32
Zwischenruf Das Schweigen des Geldes.
Von Hans-Ulrich Jörges 40
Vortragshonorare CDU-Politiker Michael Fuchs
und sein geheimnisvoller Auftraggeber
in London 52
AuslandIndien Gewalt gegen Frauen ist in dem Land tief
verwurzelt 42
USA Preppers sind vorbereitet – auf einen
Weltuntergang und andere üble Zwischenfälle.
Eine Reise durch das Amerika der Paranoia 82
WirtschaftMehrwertsteuer 7 oder 19 Prozent – auch
Angela Merkel hat das Chaos nicht beseitigt.
Ein Trauerspiel – erzählt in fünf Akten 46
128Unverschämt lässigRichtig schlau wird man nicht aus Ryan Gosling. Genau das macht den Schauspieler so reizvoll
70GescheitertNicht einmal ein Jahr nach dem Rücktritt vom Bundespräsiden-tenamt ist die Ehe der Wulffs am Ende. Bilder einer öffent-lichen Beziehung
82Bereit für den Tag XMillionen Amerikaner rechnen mit Katas-trophen aller Art. Einige, wie die Familie Dervaes, pflanzen ihr Essen selbst an, andere bauen Bunker und horten Waffen
Inhalt2 Nr. 3 vom 10. Januar 2013
GesellschaftChristian und Bettina Wulff Es begann wie ein
Märchen, nun ist alles aus: Das ehemalige Bundes-
präsidentenpaar hat sich getrennt 70
MedizinOrganvergabe Ärztefunktionär Hans Lilie erklärt, wie
künftig Manipulationen unterbunden werden sollen 100
DeutschlandHausfrauen Besuch im vornehmen Hamburg-
Blankenese, wo das Lebensmodell der
Vollzeitmutter noch selbstverständlich ist 102
AutoFord Mit dem Schlüsselsystem Mykey können Eltern
ihren übermütigen Nachwuchs ausbremsen 108
KulturPola Kinski Gespräch mit der Schauspielerin über den
jahrelangen Missbrauch durch ihren Vater Klaus 110
Kulturmagazin Bestseller
Film: Große Liebe in „Der Geschmack von Rost
und Knochen“ 122
Musik: Patchwork aus Barock und Pop –
Rachel Zeffiras Debütalbum 124
Kunst: Mike Kelleys letzte Ausstellung in Amster-
dam – geplant noch vor seinem Freitod 125
Buch: Hinreißend komisch – der Comic „Marsch
der Krabben“ des Bretonen Arthur de Pins 126
LeuteRyan Gosling Hollywoods derzeit begehrtester
Schauspieler ist cool und ein wenig abgründig 128
Was macht eigentlich die ehemalige Skirennläuferin
Martina Ertl? 134
HumorLuftblasen, Haderer, Greser & Lenz 9, 14, 30
Til Mette, Tetsche 68, 80
RubrikenEditorial Dolche in den Gewändern.
Von Andreas Petzold 3
Neues vom stern 6
Briefe 12
Blick in die Welt 26
stern-Leserservice, Impressum 69
32VerplappertDie SPD versucht die Wahl in Nieder-sachsen zu gewinnen, aber das ganze Land redet nur darüber, was Peer Steinbrück jetzt schon wieder gesagt hat
110„Er nahm sich, was er wollte“Pola Kinski ist die Tochter des Schau-spielers Klaus Kinski. Erstmals erzählt sie vom Martyrium ihrer Kindheit
Es stand im stern
AUSLAND
Tod im FriedenEtwas Glück im großen Unglück
fand der US-Marineinfanterist
Ty Ziegel. Entstellt war er aus dem
Irak zurückgekehrt, ohne linke
Hand und mit einer halben rech-
ten, ohne Nase, Ohren und das
rechte Auge. Aber er lebte, und
seine Hochzeit mit Renee wurde
als ein Happy End gefeiert. Das
Hochzeitsfoto ging um die Welt,
selbst Präsident Bush gratulierte.
Der stern erzählte seine Geschich-te (Nr. 1/2007). Ende Dezember
ist der Kriegsheld im Alter von
30 Jahren gestorben. Nach einem
Sturz. Ziegel war auf Eis aus-
gerutscht, auf einem Parkplatz. FOT
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Diese Woche im stern eMagazine
KULTUR
Eine Maske fälltGern spielte er Scheusale, Menschen, die Ungeheuerliches taten. Nun
zeigt sich: Offenbar war auch er ein solcher Mensch. Klaus Kinski
zerstörte die Kindheit seiner Tochter Pola, missbrauchte sie über Jahre
(Interview ab Seite 110). In einem eMagazine-Video berichtet stern-AutorStephan Maus von seinem Treffen mit der Schauspielerin. Zögernd
erzählte Kinski, über mehrere Stunden. Draußen wurde es dunkel, doch
niemand wagte, Licht anzuschalten, so intensiv war dieses Gespräch.
Pola Kinski als junge Frau (Privat-
foto), Vater Klaus 1961 in einem
Edgar-Wallace-Film
BLINDGÄNGER
Wo, bitte, geht es hier zum
Weltuntergang? Tim Ralston
verband stern-Redakteurin
Helen Bömelburg und
Fotograf Charles Ommanney
die Augen, bevor er sie zu
seinem Bunker in Arizona
fuhr. Er bereitet sich, wie
eine Reihe Amerikaner,
auf finale Katastrophen vor
(Seite 82). Den Ort, in dem
er überleben will, sollten
die beiden nicht wiederfin-
den können.
Der stern erscheint auch digital für iPads und Android-Tablets, immer mit exklusivem Zusatz-material. Download mittwochs ab 18 Uhr. Abonnenten des stern können das eMagazine kostenlos laden, siehe www.stern.de/eabo. Einzelkäufer zahlen pro Ausgabe 2,69 Euro, siehe www.stern.de/emagazine
Neues stern GESUND LEBEN
MOTIVATON
Ziele setzen – und erreichenAbnehmen, fit werden, Ballast abwerfen:
Vorsätze sind gut. Aber wie bleibt man
in der Umsetzung konsequent? Sich Druck
machen hilft nicht. Die neue Ausgabe
von stern GESUND LEBEN zeigt einenentspannten Weg, mit Tipps aus der
Hirnforschung. Außerdem: Gerichte mit
viel Gemüse – der beste Weg zu einem
gesunden Körpergewicht. Ab sofort im Handel
Der Neue, die Alte: Mo-deratoren Daniel Hart-wich und Sonja Zietlow
Jetzt auf www.stern.de
FERNSEHEN
Ab in den UrwaldDer exaltierte Schauspieler Helmut
Berger, Kaufhauserpresser „Dagobert“
und neun weitere irgendwoher Bekannte
gehen für RTL ins Dschungelcamp. Wir
berichten jede Nacht über die Ereignisse,
beobachten, wie sich die Kandidaten
machen – und natürlich Daniel Hartwich
als Moderator-Nachfolger von Dirk Bach.
www.stern.de/dschungelcamp
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2 Neues vom stern
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Prominenten in den Mund geschoben
Von Rolf Dieckmann
Die Fraktionsvorsitzen-den der Grünen, Renate Künast und Jürgen Trittin
Irgendwie niedlich, wie er …
… seine Gefühle für die Bundes-kanzlerin …
… einfach nicht verbergen kann!
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Luftblasen 2
SCHREIBEN SIE UNS
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Telefax: 040/37 03 56 27
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Die Redaktion behält
sich Kürzungen vor.
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Glaube, Wissen und Intuition
In der Logik-Schleife„Weniger planen, mehr leben!“ – Wissenschaftler entdecken die Kraft des Bauchgefühls neustern Nr. 2/2013
Der Autor nutzt wissenschaft-
liche Erkenntnis, um zu propa-
gieren, dass wissenschaftliche
Erkenntnis nicht alles sein
kann. Aus der Logik-Schleife
komme ich nicht raus. Jeder
ernst zu nehmende Wissen-
schaftler weiß, dass seine Er-
kenntnis nur ein winziger
Baustein in einem Prozess ist.
Brigitte Nussbaum, Münster
Der Artikel sprach mir aus
dem Herzen. Ich habe mein
Studium begonnen, als ich
schon drei Kinder hatte, habe
mein viertes während des Stu-
diums bekommen. Das war
kraftraubend, aber ich war
jung und hatte Power. Heute
sind meine Kinder zwischen
18 und 28, ich bin 50 und
bedaure meine Altersgenos-
sinnen um mich herum, die
keine Kinder oder vielleicht
nur eins bekommen haben.
Sabine Erichsen, Osnabrück
Das Biedermännchen und der Glanz des Amtes „Sold und Sühne“ – das neue Leben des gescheiterten Bun-despräsidenten Christian Wulffstern Nr. 1/2013
Ein Biedermännchen nimmt
sich eine junge, vermeintlich
mondäne Frau, sonnt sich im
Glanz seines Amtes als BP, mu-
Der heutige Mensch steht vor der Schwierigkeit, sich selbst in ei nem Dreieck aus Glaube, Wissen und Intuition zu positionieren. Helfen könnten dabei die Tugenden Demut, Gelassenheit und Aufmerksamkeit. Sascha Wollny, Bellenberg
stern-Titel Nr. 2/2013
tiert zum Raffzahn und reibt
sich erstaunt die Augen, dass
niemand mehr etwas von ihm
wissen will, nachdem er aus
dem Amt gejagt worden ist.
Als Bundespräsident Joachim
Gauck während seines An-
trittsbesuchs in NRW nach
Bottrop kam, wurde er herz-
lich von der Bevölkerung emp-
fangen. Anschließend war in
der hiesigen Presse das Zitat
einer Frau zu lesen: „Für Wulff
hätten wir uns nicht hier hin-
gestellt.“ Das sagt wohl alles.
Bettina Richter, Bottrop
Der Artikel schließt mit dem
Satz: „Der Boden unter Chris-
tian Wulff ist noch sumpfig.“
Dem hätte noch hinzugefügt
werden müssen: „Und die
Medien werden diesen Sumpf
immer wieder wässern und
umrühren, damit er niemals
festgetrampelt werden kann.“
Denn das war ja wohl der
hauptsächliche Sinn des Arti-
kels. Hermann Wöhrle, Ettlingen
Unlösbare Aufgaben„Wenn die Bestie erwacht“ – Zwischenruf von Hans-Ulrich Jörgesstern Nr. 1/2013
Es freut mich, dass ein Me-
dienprofi wie Sie so selbstkri-
tisch ist. Allerdings wird uns
die Lösung dieses Problems
vor nahezu unlösbare Aufga-
ben stellen, da auch in der
Medienwelt der Machterhal-
tungstrieb sehr ausgeprägt ist.
2 Briefe
12 stern 3 / 2 0 1 3
Die Medien sind sich ihrer
gesellschaftlichen Verantwor-
tung oftmals nicht bewusst.
Axel Bertsch, Eningen u. A.
Sie gehörten doch zu der vor-
dersten Reihe der Reiter, ging
es um Westerwelle oder Gut-
tenberg, Wulff oder Rösler.
Und nun diese Wandlung à la
Zauberlehrling? Jetzt könnten
Sie Ihren Lesern doch mal er-
klären, warum es immer nur
Opfer auf schwarz-gelber Seite
gibt. Und warum Herr Wowe-
reit tun kann, was er will, kein
Journalist kümmert sich. Und
warum auf einmal Herr Stein-
brück niedergemacht wird, ist
er doch der einzige Soze, der
eine Chance gegen Frau Mer-
kel hat. Will die Bestie etwa
Herrn Trittin zum Kanzler ma-
chen? Klaus Popp, Dietzenbach
Irgendwie überleben„Die Schlecker-Frauen“ – Geschichten voller Stolz und bescheidener Wünschestern Nr. 1/2013
Ihr Artikel über die Schlecker-
Frauen hat mich sehr aufge-
wühlt. Ich bin selbst betroffen,
war fast 20 Jahre bei Karstadt,
dann bei Hertie. Ich war zum
Zeitpunkt der Insolvenz 55
Jahre. Fast alle die Menschen,
die über 40 sind, haben nur
noch als Billigkraft oder Prak-
tikantIn eine „Chance“, egal,
was sie für Qualifikationen
haben. Kornelia Paulus, Detmold
Begrenztes Vokabular„75 000 000“ – der Welterfolg des Romans „Shades of Grey“ stern Nr. 1/2013
Ich habe James’ Buch im Origi-
nal gelesen, um die Aufregung
im englischsprachigen Raum
zu verstehen und mir selbst
eine Meinung zu bilden. Ich
habe selten ein Buch gelesen,
das über ein so begrenztes Vo-
kabular verfügt und sich so in
Klischees und Allgemeinplät-
zen ergeht, dass man glauben
möchte, die Autorin habe Text-
bausteine verwendet.
Jasminka Zukic, Villingen-
Schwenningen
3 / 2 0 1 3 stern 13
Sorgen, nichts als Sorgen: Die amerikanische Staatsverschuldung erreicht astronomische Höhen
2 Haderer
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www.stern.de/haderer Umfangreiches Archiv mit Haderer-Cartoons
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RUSSLAND
Obelix beiden RussenNein, dies ist keine neue
Witzfilm-Rolle von GÉRARD
DEPARDIEU. Es ist bizarre
Wirklichkeit. Hier präsen-
tiert der französische
Schauspieler auf einer Bühne
in der Provinzstadt Saransk,
Teilrepublik Mordowien,
seinen neuen Pass, stil-
gerecht im Folkloregewand.
Normalerweise geht es ja
eher in die andere Richtung.
Reiche Russen lassen es sich
an der Côte d’Azur gut gehen.
Letzten Freitag wechselte
nun aber Depardieu die
Seiten – aus Steuergründen.
Zur Feier seiner Einbürge-
rung gab es eine Umarmung
und ein Privatessen mit Prä-
sident Putin, dessen Land
Depardieu als „große Demo-
kratie“ lobte. Mordowien,
wo Depardieu eine Wohnung
angeboten wurde, ist bislang
vor allem bekannt für seine
Straflager. In einem sitzt
derzeit auch Nadeschda Tolo-
konnikowa. Der Name ihrer
Punkband: Pussy Riot.
16 stern 3/2013
2 Bilder der Woche
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SYRIEN
LeidtragendMan will die Worte nicht
mehr hören. Sie klingen
schon nach Seufzen, wenn
man sie ausspricht, sie
klingen nach Weghören:
wieder Tote in Syrien. Ein
Mann steht in einer Straße
in Aleppo und schreit vor
Schmerz, weil er gerade
zwei Kinder verloren hat.
Nach Rebellenangaben star-
ben sie, als regimetreue
Truppen ein Haus beschos-
sen. Zwei weitere OPFER
eines Krieges, der laut UN
über 60 000 Menschen
das Leben genommen hat.
Viele werden folgen, wenn
Präsident Baschar al-Assad
im Amt bleibt. Assad hat die
Aufständischen am Wochen-
ende „eine Gruppe Krimi-
neller“ genannt, die das
syrische Volk bekämpften.
Das Land werde von ihnen
„um Jahrhunderte zurück-
geworfen“, Kinder könnten
nicht mehr in die Schule
gehen. Die Kinder dieses
Mannes können auch nicht
mehr zur Schule gehen. Weil
Assads Truppen sie getötet
haben. Waren sie Kriminelle?
Sie sind nur: zwei weitere
Tote in Syrien.
2 Bilder der Woche
18 stern 3/2013
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ÖSTERREICH
Absturz Was war das für ein Flug:
133,5 Meter trug es den
deutschen Skispringer
Andreas Wellinger beim
letzten Springen der
VIERSCHANZENTOURNEE in
Bischofshofen – kein Kon-
kurrent sprang im ersten
Durchgang weiter. Gleich
nach der Landung riss Wel-
linger ju belnd einen Arm
in die Höhe – zu früh: Denn
nun verkanteten seine
Ski, er stürzte, glücklicher-
weise ohne sich zu verletzen.
Sein Malheur passte zum
Auftritt des deutschen
Teams: Bis zum letzten
Springen hatte sich die
Mannschaft prima präsen-
tiert, Wellingers Kamerad
Severin Freund machte
sich sogar Hoffnungen
auf einen vorderen Platz
in der Gesamtwertung.
In Bischofshofen patzten
dann fast alle, bei fünf
Grad und Dauerregen.
Wellinger durfte immerhin
als Weitenbester trotz
seines Sturzes im zweiten
Durchgang starten, nicht
schlecht für einen 17-Jähri-
gen, der sich etwas traut.
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2 Bilder der Woche
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CHINA
Was vom Fischeübrig bliebDicht an dicht reihen sich
gut 18 000 Haiflossen auf
diesem Gebäude in Hong-
kong. Fischhändler haben
hier ihren wertvollen Fang
zum Trocknen ausgebreitet.
Die Metropole gilt weltweit
als Zentrum des FLOSSEN-
HANDELS. Der Platz über
den Dächern ist nicht zu-
fällig gewählt: Die Ware
verliert in der luftigen Höhe
rasch an Feuchtigkeit, und
sie reift zudem versteckt vor
der Öffentlichkeit. Beson-
ders die Fangmethode des
„Shark Finning“ ist Tier-
schützern ein Dorn im Auge:
Fischer zerren die Haie dabei
aus dem Wasser, schneiden
ihnen die Flossen ab und
werfen die Tiere zurück ins
Meer. Millionen Haie finden
so jährlich den Tod. Hai-
flossen werden pro Kilo mit
etwa 1000 Euro gehandelt.
Sie landen in Asien meist in
Hochzeitssuppen.
2 Bilder der Woche
22 stern 3/2013
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BULGARIEN
Glitterwochen Das Ritual ist so alt, dass
längst keiner mehr weiß,
woher es kommt. Dabei geht
es nicht um die Geldscheine
am Revers des Bräutigams.
Das ist der neumodische Teil
der HOCHZEITSZEREMONIE.
Es geht um das weiße
Gesicht der Braut, um die
Girlanden und Blumen, die
ihren Schleier bilden und
sie wie eine Mischung
aus Weihnachtsbaum und
Peking-Opern-Sängerin
aussehen lassen. So wie
Dschamal Sirakow und
seine Auserwählte, Fatme
Ulanowa, heiraten alle Paare
im Dorf Ribnowo im Süd-
westen des Landes. Sie
gehören zur Minderheit der
Muslime, die von den Türken
einst gezwun gen wurden,
ihr Christentum aufzugeben.
Jeweils im Winter finden
diese Hochzeiten statt. Sie
ziehen sich über Tage hin. Im
Sommer fällt das Dorf wie-
der in seinen Trott, be völkert
nur von den Alten, während
die Jungen in Griechenland,
Spanien oder Deutschland
das Geld verdienen, um
eine typische Hochzeit aus-
richten zu können.
2 Bilder der Woche
24 stern 3/2013
DEUTSCHLAND
Sicherer SchlafForscher der Fraunhofer-
Gesellschaft haben einen
Babystrampler mit Sensor-
band entwickelt, das die
Atmung eines Säuglings
in der Nacht überwacht.
So soll plötzlicher Kinds-
tod verhindert werden.
Die Technik wird derzeit für
den Alltag getestet.
USA
ObamaniaAllen Haushaltsstreitig-
keiten zum Trotz fiebern
die Fans von Präsident
Obama dessen Vereidigung
zur zweiten Amtszeit am
20. Januar entgegen. Das
Geschäft mit den Sou-
venirs boomt. Neben
dem Angebot vom
freien Markt gibt es
eine offizielle
Gedenkkollektion
mit Stickern, Gläsern
und Wimpeln: https://
store.2013pic.org
PANAMA
Turbo-LachsDas 17-jährige Verfahren
steht vor dem Ab schluss:
US-Behörden wollen einen
Gen-Lachs, der doppelt so
schnell wächst wie Wild-
lachs, nun zulassen – wenn
die Tiere aus kanadischen
Eiern in Panama gezüchtet
werden. Kritiker sehen
darin eine Abwälzung der
Umweltgefahren auf das
mittelamerikanische Land.
MAURETANIEN
Tödliches FutterViele Ziegen, Schafe und
Rinder ernähren sich im
Wüstenstaat von Müll –
und verenden am Plastik
darin. Die Regierung hat
deshalb die Herstellung
und den Gebrauch von
Kunststofftüten verboten.
2 Blick in die Welt
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14,7
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4,2
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Organspenden von Toten pro eine Million Einwohner 2011
Türkei
Spanien
Kroatien
Belgien
Österreich
USA
Deutschland
Frankreich
Norwegen
Italien
Israel
Portugal
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FRANKREICH
Für LiebhaberMit der De Havilland aus
dem Jahr 1929 flogen Karen
Blixen (Meryl Streep) und
ihr Geliebter, Großwild-
jäger Denys Finch-Hatton
(Robert Redford), im Kinohit
„Jenseits von Afrika“ über
die Savanne. Anfang Februar
wird der flugtüchtige Doppel-
decker in Paris versteigert.
Schätzpreis 150 000 Euro.
PALÄSTINA
Rasend freiEin Rallye-Team namens
Speed Sisters macht im
Nahen Osten Furore –
zuletzt in Jordanien. Betty
Saadeh (o.), 32, aus Beth-
lehem sagt: „Im Westjor-
danland kann ich mit dem
Auto nirgendwohin fahren,
nicht nach Jerusalem oder
Tel Aviv, nicht mal an den
Strand. Die Rallye gibt mir
ein Gefühl der Freiheit.“
CHINA
BakterienkillerIm Blut des Großen Panda
fanden Forscher ein hoch-
wirksames Antibiotikum.
Es tötet Bakterien fünfmal
schneller ab als andere
Antibiotika. Sorgen,
dass deshalb Tiere
gequält werden,
seien unbegründet:
Das Medikament lasse
sich leicht synthetisieren
und im Labor produzieren.
SPANIEN
Lebens-SpenderRechtslage, Religion, Aufklä-
rung der Bürger, medizini-
sche Koordination – es sind
viele Faktoren, von der die
Bereitschaft zur Organ-
spende abhängt. Im Länder-
vergleich liegt Spanien vorn,
Deutschland tut sich schwer.
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CDU/CSU
PiratenparteiSonstige
152
3
42 %
4
9
25SPD
Grüne
+2
Die Linke
+1
–2
+1
–2FDP
Was die FDP-Wähler von 2009 heute wählen würden
ANGABEN in Prozent
2009 2010 2011 2012 2013Stand 4. 1. 13
Die Zustimmung zur FDP im stern-RTL-Wahltrendseit der letzten Bundestagswahl bis heute
ANGABEN in Prozent
Ergebnis Bundestagswahl 27. 9. 2009
14,6
0
5
10
15
2
erneut FDP15
nicht wählen17
CDU/CSU48 %
sonstigeParteien20
Rösler wird Wirtschafts-minister und FDP-Chef
Millionenspende eines Hotelunternehmers bringt FDP in Bedrängnis
Westerwelle-Zitat von „spätrömischer Dekadenz“
Generalsekretär Lindner tritt zurück
Debatte um Parteivorsitz
Wahlerfolge in NRW und Schleswig-Holstein
weiß nichtja nein
insgesamt
7025 % 5
18–29 Jahre
8515
30–44 Jahre8118
45–59 Jahre6927 4
60 Jahre und älter5833 9
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STERN-RTL-WAHLTREND
„Steinbrück zieht SPD nach unten“
Herr Güllner, wann lag die
Union zuletzt bei 42 Prozent?
Kurz vor der Bundes-
tagswahl 2005. Es ist
somit der beste Wert
für CDU und CSU, seit
Merkel Kanzlerin ist.
Woher kommen die Wähler?
Die Union profitiert
vom Zerfall der FDP:
Fast die Hälfte der libe-
ralen Wähler von 2009
würden sich jetzt für
CDU/CSU entscheiden.
Ihr nützt aber auch die
Schwäche der SPD.
Hinzu kommt die große
Beliebtheit von Merkel.
Der SPD schadet Steinbrücks
Kritik am Kanzlergehalt.
Ja, die Menschen sehen
ihn mittlerweile eher
negativ. Zum Vergleich:
Als Gerhard Schröder
1998 Kanzlerkandidat
wurde, löste das einen
Sog zur SPD aus. Stein-
brück dagegen zieht die
Partei nach unten.
Kann Steinbrück sich von
dem Imageverlust erholen?
Wenn sich ein negatives
Bild bei den Menschen
erst mal festgesetzt hat,
wie es bei Steinbrück
der Fall ist, halte ich das
für sehr schwierig.
Forsa-Chef Manfred Güllner
2
Neues Tief für die FDPDie Liberalen streiten offen über ihren Parteichef PHILIPP RÖSLER. Die Wähler werden verschreckt, die Partei sackt auf nur noch zwei Prozent.
Es war ein Hilfeschrei auf
offener Bühne. Entwicklungs-
minister Dirk Niebel sagte
beim Dreikönigstreffen der FDP,
der Zustand der Liberalen quäle
ihn: „Es zerreißt mich innerlich.“
Die Parteiführung hinter ihm auf
der Bühne erstarrte wie schock-
gefrostet. Doch die Zuschauer
im Stuttgarter Opernhaus applau-
dierten. Die einfachen FDP-Mit-
glieder und die Sympathisanten
der Partei haben den Glauben an
die FDP unter Parteichef Philipp
Rösler verloren. Die Wähler wen-
den sich fast vollständig ab.
Im aktuellen stern-RTL-Wahltrend
trauen null Prozent der Wähler
der FDP zu, mit den Problemen
in Deutschland fertigzuwerden.
Die Umfragewerte sind so mies,
dass sie kaum mehr messbar
sind. Nur noch zwei Prozent der
Wähler möchten ihre Stimme der
FDP geben.
Es ist der schlechteste Wert für
die Liberalen seit Februar 2012.
Damals litt die Partei unter den
Folgen der Flucht von Hoffnungs-
träger Christian Lindner, der sich
mit Rösler überworfen hatte.
Heute, fast ein Jahr später, ist
Röslers Lage so fragil wie eh
und je. Verpasst die FDP bei der
Wahl in Niedersachsen den Ein-
zug in den Landtag, wird seine
Zeit als Parteivorsitzender zu
Ende sein. Ihm nachfolgen dürfte
aller Voraussicht nach Fraktions-
chef Rainer Brüderle. Der 67-Jäh-
rige muss dann dafür sorgen, dass
Spötter keinen Anlass mehr be-
kommen, den Namen der Libe-
ralen umzudichten in FDP wie
„Fast drei Prozent“.
Zwei Drittel der Bürger trauen Horst Seehofer nicht viel zu
Die Rundumschläge von CSU-Chef Horst
Seehofer, 63, sind gefürchtet. Selbst
enge Mitstreiter kanzelt er als „charak-
terschwach“ (Söder), „Zar Peter“
(Ramsauer) oder „Glühwürmchen“ (über
Guttenberg) ab. Bundespolitisch ist er
plötzlich offen für Schwarz-Grün. Doch bei
den Deutschen verfängt sein Populismus
nicht. Zwei Drittel (67 Prozent) wollen nicht,
dass er künftig eine größere Rolle
spielt. Der Ansicht sind sogar
60 Prozent der Unionswähler.
Ist Ihre Bereitschaft zur Organspende gesunken?
28 stern 3 / 2 0 1 3
2 Trends der Woche
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Kronprinz der Woche
Eigentlich ist er mehr der Typ
Gefolgsmann, eher Hinter-
zimmer statt Staatsemp-
fang. Er trägt einen buschigen
Schnauzbart, wirkt gemütlich
statt charismatisch, mag Base-
ball, Zigarren und gefüllte Mais-
fladen. Nicolás Maduro hat kei-
nen Uni-Abschluss und verdingte
sich gelegentlich als Bodyguard.
Kann so einer Venezuelas Staats-
chef Hugo Chávez nachfolgen?
Diesem hyperaktiven Quassler,
der in den USA den „Teufel“
sieht und Ölmanager schon mal
der „Luxusorgien“ bezichtigt?
Chávez selbst ist davon über-
zeugt. Bevor sich Venezuelas
Präsident erneut zur Krebs-
behandlung nach Kuba begab,
ließ er verkünden, er wünsche
für den Fall seines Ablebens,
dass Maduro ihm nachfolge. Das
könnte schnell passieren. Ma-
duro ist bisher Außenminister
und Vizepräsident. Der heute
50-Jährige stammt aus einer
armen Familie in Caracas. Nach
der Schule ging er zum poli-
tischen Training nach Kuba.
Zurückgekehrt, arbeitete er
zunächst als Busfahrer –
dafür belächeln ihn viele
Bürgerliche bis heute.
Maduros Karriere ist
verflochten mit der
seines Mentors. Als Chá-
vez 1992 nach einem
Putschversuch im Ge-
fängnis landete, besuchte
er ihn dort oft. Maduros
Frau Cilia Flores, eine An-
wältin, war es schließlich, die
Chávez freibekam. Dabei lern-
ten sich die beiden Männer
näher kennen. Nach dem Wahl-
sieg 1998 machte ihn Chávez
zum Fraktionsführer seiner
Sozialisten, dann zum Parla-
mentspräsidenten.
Ein radikaler Kurswechsel
wäre von Maduro kaum zu er-
warten. Immer wieder betont
er die Treue zu Chávez und
dessen vom Ölgeld gespeisten
Linkspopulismus. Als Anhänger
nach einer Rede vor Kur-
zem begannen, Madu-
ros Namen zu rufen, würgte der
den Jubel ab und skandierte
stattdessen: „Chávez, Chávez“.
Als sich der Präsident gen Kuba
verabschiedete, beteuerte Ma-
duro unter Tränen, er werde
Chávez gegenüber loyal sein,
„auch über dieses Leben hin-
aus“. Zwar gilt Maduro inner-
halb der Bewegung als gemä-
ßigt und hat den Konflikt mit
dem Nachbarn Kolumbien ent-
schärft, doch ist er ein enger
Freund der Castro-Brüder und
anderer linker Führer der Re-
gion. Einen US-Staatssekretär
beschimpfte er schon mal als
„zweitrangigen Beamten mit
Vorstrafenregister“.
„Schaut, wo Nicolás gelandet
ist, der Busfahrer, über den
sich die Bourgeoisie lustig ge-
macht hat“, sagte Hugo Chávez,
als er Maduro zum Vizeprä-
sidenten ernannte. Es dürfte
nicht die letzte Station des
Busfahrers gewesen sein.
Marc Goergen
Hugos BusfahrerVenezuelas krebskranker Präsident Chávez hat NICOLÁS MADURO zum Nachfolger gekürt
Revolutionäre Pose: Nicolás Maduro, 50
30 stern 3 / 2 0 1 3
2 Trends der Woche
In der KlartextfalleZum Auftakt des Wahljahrs steht SPD-Kanzlerkandidat PEER STEINBRÜCK vor der Gretchenfrage: Darf er sagen, was er denkt? Die Umfragen zeigen: nein. Angela Merkel vermeidet das sowieso. Eine Reise zum gesprochenen Wort
Wackelkandidat in Emden: Peer Steinbrück am vergangenen Freitag beim Wahlkampf-auftakt der Nieder-sachsen-SPD. Die Partei hat dort am 20. Januar gute Chancen. Eigentlich
2 Politik
32 stern 3/2013
Merkel hat die politische Rede perfektioniert. Oder gekillt. Je nach SichtEin Hype fast wie bei Obama: Bundeskanzlerin Angela Merkel und Niedersachsens Ministerpräsident David McAllister beim Wahlkampf-auftakt der CDU in Braunschweig. Merkels Rede ist langweilig, gefeiert wird trotzdem
2 Politik
34 stern 3/2013
Glauben Sie, dassSteinbrück ein guterKanzler wäre?
Ende November 2012
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D ie Geschichte vom Ab-
sturz des Peer Steinbrück
ist in erster Linie eine
über das Reden. Erst hielt
er Reden für viel Geld. Dann
redete er viel zu spät über diese
Reden. Dann redete er über die
schlechte Bezahlung des Kanz-
lers. Und dann sagte er eine Wo-
che lang gar nichts mehr, bis er
sagte, es sei alles gesagt.
Aber Steinbrück und das Nicht-
reden sind von Natur aus keine
ganz einfache Kombination.
Am vergangenen Freitagabend
sitzt der Kanzlerkandidat der SPD
mit Parteifreunden beim Bier in
einem Hotel in Ostfriesland. Hin-
ter ihm liegt der erste Tag im nie-
dersächsischen Wahlkampf, kein
einfacher Tag. Es drehte sich wie-
der alles nur um seinen Kommen-
tar zum Kanzlergehalt. Auf einem
Wandgemälde erblickt er das Se-
gelschiff „Passat“. „Meeeensch“,
ruft er begeistert. Dann geht er
zum Gemälde und hält einen klei-
nen Vortrag über den Viermaster
in schwerer See. „Was möchten
Sie trinken?“, fragt die Kellnerin.
„Pinot Grigiooooo“, johlt er – so
laut, dass alle Reporter es hören.
Es soll eine Anspielung auf seine
Äußerung sein, dass er Pinot Gri-
gio unter fünf Euro nicht trinke.
Peer Steinbrück freut sich die-
bisch über die Aktion. Es ist der
Auftakt zu einem langen Abend.
Steinbrück trinkt ein Pils. Er
überlegt, ob er Fisch essen solle,
aber nach dem Verzehr von Hecht
hatte er mal eine Gicht-Attacke. Er
nutzt den Anlass für einen kurzen
Fachvortrag über Gicht, Purine
und Gelenkschmerzen, und dann
ist es auch nicht mehr weit bis zum
Thema Reden und Verplappern.
Werden Sie jetzt vorsichtiger in
Ihrer Wortwahl sein?, fragt ihn
der Reporter.
Ja, was wollen Sie denn, ent-
gegnet er. Wollen Sie solche Poli-
tiker? Abgerundet wie Kieselstei-
ne? Mit einer Schere im Kopf?
Nur noch Worthülsen?
Es sind keine rhetorischen Fra-
gen. Er will tatsächlich Antwor-
ten. Er wirkt etwas ratlos. Was
soll er nun sein? Der Klartextpo-
litiker, den er groß angekündigt
hat – oder ein Kandidat mit Schere
im Kopf? Die männliche Ausgabe
der Angela Merkel?
Es ist eine zentrale Frage seines
Wahlkampfs. Angela Merkel kann
problemlos 30 Minuten reden,
aber nichts sagen. Er konnte das
noch nie. Bei ihm wollen die Ge-
danken immer raus in die Welt.
Also redet er, lästert über Me-
dien, die sich nur auf Neben-
sächlichkeiten stürzen, statt über
Inhalte zu berichten. Warnt, dass
Bürger bei derlei Anfeindungen
inzwischen Angst haben, in die
Kommunalpolitik zu gehen. Regt
sich darüber auf, dass Journalisten
recherchieren, ob er ein Anwesen
in Namibia besitze oder Wohnun-
gen habe verfallen lassen.
Er begann mit einer Frage und
endet mit einer Lektion.
Irgendwann, so scheint es, liegt
die Schuld seiner Misere nicht
mehr bei Peer Steinbrück, sondern
bei den Medien. Wäre die Situa-
tion öffentlich, wäre er wieder
mal dabei, sich um Kopf und Kra-
gen zu reden.
Auf den Einwand des Reporters,
es sei die Pflicht von Journalisten,
solchen Hinweisen wie dem nach
den Wohnungen nachzugehen,
sagt er verärgert, dass man seine
Integrität angreife.
Er wird nun etwas lauter. Sein
Gesicht läuft rot an, wie häufiger
an diesem Abend. Da sitzt ein
Mann, den diese ersten Wochen
der Kandidatur schwer mitgenom-
men haben. Er fühlt sich unge-
recht behandelt, wirkt aber auch
mit sich selbst nicht im Reinen. Es
brodelt in ihm. In seinem Gesicht
spiegeln sich in loser Reihenfolge
Ratlosigkeit, Trotz, Erheiterung.
Manchmal flüchtet er sich in eine
Ironie, die schnell in Sarkasmus
übergeht: Nächstes Mal werde er
am Gründonnerstag sagen, dass
der Ostermontag abgeschafft wer-
den soll, ach was, der Karfreitag.
Er lacht laut und blickt zu sei-
nem Tischnachbarn, der sich ent-
scheidet, ihm beiseitezustehen
und etwas mitzulachen.
*Peer Steinbrück wollte mit Be-
ginn des Wahljahrs auch seiner
Kandidatur einen Relaunch ver-
passen. Neues Jahr, neues Glück.
Er wollte Rot-Grün bei der Wahl in
Niedersachsen am 20. Januar zum
Sieg verhelfen und damit Merkel
unter Druck setzen. Seine letzten
Von JAN CHRISTOPH
WIECHMANN (Text)
und ANDREAS HERZAU (Fotos)
Interesse an Röhren und Schweißnähten: Steinbrück bei den Nordsee- werken in Emden
36 stern 3 / 2 0 1 3
2 Politik
21. 12. 2012
4. 1. 2013
Wen würden Sie direktzum Kanzler wählen?
keinen von beiden
Angela Merkel
CDU
Peer Steinbrück
SPD
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Ist Steinbrück noch derrichtige Kanzlerkandidatfür die SPD?
Ende November 2012
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was sagt, was für Schlagzeilen
taugt. Ich bin nicht gern konfron-
tativ, gibt er beim Essen zu. Ich
möchte McAllister noch in die
Augen blicken können. Das ist
der amtierende Ministerpräsi-
dent, Weils Gegner.
Am vergangenen Freitag war er
in Berlin. Eigentlich wollte er
dort seinen Wahlkampf vorstel-
len. Stattdessen muss er ständig
über Steinbrücks Fehler reden.
Weil lächelt tapfer, muss aber ge-
nervt sein. Er steht vor dem übli-
chen Dilemma politischer Kom-
munikation. Sagt er die Wahrheit,
fällt er seinem Kanzlerkandidaten
in den Rücken. Sagt er sie nicht,
glaubt ihm kein Mensch. In sol-
chen Momenten flüchten sich
Politiker normalerweise in furcht-
bare Floskeln. Weils Floskel lautet:
Die Diskussion um Kanzlergehäl-
ter habe keine Bremsspuren in
Niedersachsen hinterlassen.
Später am Abend spricht ihn
der Reporter am Büfett darauf an:
Die SPD-Basis sieht das anders.
Die Leute sind sauer, dass sie stän-
dig auf Steinbrücks Patzer ange-
sprochen werden.
Sie meinen, ich lüge, fragt er.
Jedenfalls sagen Sie nicht die
ganze Wahrheit.
Weil erklärt nun, dass er des-
wegen die Formulierung mit den
Bremsspuren gewählt habe. Eine
Lüge sei das nicht. Die Umfrage-
werte seien bisher stabil. Er sei
Jurist. Er achte auf Präzision.
Auf die Frage, ob er sich näher
beim Klartextredner Steinbrück
sehe oder bei der vorsichtig
formulierenden Merkel, sagt er:
Kennen Sie den Trainer Huub
Stevens? Dessen Devise laute: Die
Null muss stehen.
Sie wägen Ihre Worte also sehr
genau?
Sehr genau. Je höher man
steigt, desto vorsichtiger sollte
man sein.
Weil hätte statt Stevens auch An-
gela Merkel nennen können. Am
vergangenen Samstag spricht die
Kanzlerin beim Wahlkampfauf-
takt der niedersächsischen CDU in
Braunschweig in einer großen Are-
na. Sie hat für die Wahlkampagne
eine neue Agentur angeheuert,
den früheren SPD-Wahlkampfma-
nager Lutz Meyer. Es folgt eine
Inszenierung wie aus dem Wahl-
kampf Obamas, mit Lightshow,
Trommlern, Popband und Kaba-
rettisten. Dagegen wirkt der SPD-
Wahlkampfauftakt am Tag zuvor
wie aus den 70er Jahren.
Merkel ist in komfortabler Posi-
tion: Neun Monate vor der Bun-
destagswahl hat die Kanzlerin
ihren Gegner genau dort, wo sie
ihn haben will. Vor fünf Jahren
waren sie gemeinsam die Krisen-
manager der Nation. Heute gilt
sie als fürsorgliche Mutti und er
als raffgieriger Vortragsmillionär.
Merkel weiß immer, was sie
sagen darf. Ihr würde bei einem
Interview nie ein Steinbrück’scher
Patzer durchrutschen, und sollte
er ihr doch mal unterlaufen, holen
ihre Leute den bei der Autori-
sierung wieder raus. Merkel lässt
Interviews schon mal bis zur
Unkenntlichkeit umschreiben. Mit
Authentizität hat das nichts zu
tun, aber darum geht es ihr auch
nicht.
Merkels Reden kann man im
Schlaf runterbeten. Sie drehen
sich vor allem um Sicherheit,
Ordnung und Solidität. Ihre häu-
figsten Wörter an diesem Tag in
Braunschweig sind „wunder-
Zahlen aber sind katastrophal.
Laut einer Forsa-Umfrage für den stern asso ziieren die Menschen
mit dem Namen Steinbrück als
erstes „Nebeneinkünfte“ und
„Hono rare“, gefolgt von „unsym-
pathisch“, „arrogant“, „ehrlich“ –
ohne dass die Interviewer einen
dieser Begriffe vorgegeben hätten.
68 Prozent halten den SPD-
Kandidaten für schlagfertig, aber
nur 34 Prozent für vertrauens-
würdig. Und nur noch 42 Prozent
glauben, dass er der richtige Kan-
didat ist, 49 Prozent wollen einen
anderen. Peer Steinbrück weiß,
dass er etwas ändern muss. Nur
bei sich selbst will er damit nicht
anfangen.
Ausgerechnet zu Beginn des
Bundestagswahljahrs steht er –
etwas perplex – vor der so rele-
vanten Frage: Wie authentisch
darf ein Politiker sein?
In dieser Geschichte soll es des-
halb nicht nur um Steinbrück
gehen. Es geht ums Reden in der
Politik. Um fatale Worte. Vage
Worte. Falsche Worte.
Eine erste Antwort liefert am
vergangenen Freitag Stephan Weil.
Das ist der Spitzenkandidat der
SPD in Niedersachsen. Er ist weit-
hin unbekannt, weil er selten et- ➔
Interesse am Machterhalt: Merkel
auf dem Weg zum Rednerpult beim
Wahlkampfauftakt in Braunschweig
3 / 2 0 1 3 stern 37
Wie schätzen SieSteinbrück ein?
kompetent
–4
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vertrauenswürdig
–8
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sympathisch
–7
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schlagfertig
+/– Im Vergleich zu Mitte Oktober 2012
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schön“ und „toll“, sie bringt aber
auch „Grünkohl“, „Landenten“
und „Gänse“ unter. Sie hält mal
wieder eine mediokre Rede, die
Menschen aber himmeln sie an
wie einen Superstar. Steinbrück
dagegen ist am Vortag nur so etwas
wie die Vorgruppe für Stephan
Weil. Er hält sich bewusst zurück
und versteckt sich beim Singen
hinten im Shanty-Chor.
Auf gewisse Weise ist Stein-
brück Opfer der Merkelisierung
politischen Redens. Weil Politiker
immer mehr Floskeln benutzen,
stürzen sich Journalisten mittler-
weile auf jeden ungeschickten
Halbsatz. Und weil diese Halbsät-
ze dann so viel Aufmerksamkeit
bekommen, reden Politiker nur
noch selten Klartext.
Wenn man so will, hat Merkel
das politische Reden perfektio-
niert. Oder gekillt. Je nach Sicht.
Die Kanzlerin hat zur Sprache
auch den eigenen Ton ge-
funden, er wirkt wie ein
Beruhigungsmittel. Er hat nichts
von der Angriffslust Steinbrücks,
er ist monoton. Merkels Neujahrs-
ansprache klang, als wollte sie die
Nation in den Schlaf wiegen. Das
ist der Unterschied zu Steinbrück.
Sie drückt sich oft vor der Wahr-
heit, aber bei ihr bilden Naturell
und politische Kommunikation
eine authentische Einheit: vor-
sichtig, nüchtern, unaufgeregt.
Keine Visionen, aber auch keine
Überraschungen. Sie erfüllt – im
Jahr fünf nach der Finanzkrise –
auch verbal den Wunsch ihres
ängstlichen Volkes nach Ruhe,
Geborgenheit, Stabilität.
Sie könnte auch das Wahl-
kampfmotto Konrad Adenauers
aus den 50er Jahren wieder her-
vorholen: Keine Experimente!
Bei seiner Wahlkampfrede am
Freitag erwähnt Steinbrück da-
mit, dass er beim letzten Besuch
in Emden sechs Bier und acht
Korn getrunken habe. Merkel
würde so etwas nie sagen. Sie
würde nie so laut wie er reden.
Sie würde nie so oft „ich“ sagen.
Die Frage ist, ob Steinbrücks Art
der Kommunikation noch in die
Zeit passt. Das Laute, Mackerhaf-
te, Polemische hat es schwer in
„Ja.“
„Nicht dass der Rotor zurück
übern Deich kommt.“
„Nee.“
„Mensch, ich bin in Hamburg
geboren. Ich hab die Sturmflut 62
erlebt.“
Wenn es eine Inszenierung
sein sollte, dann die eines Fach-
manns für Stürme und nicht die
eines Arbeiterfreunds.
Irgendwann trifft Steinbrück
auf einen Arbeiter, der per Fern-
lenkung einen Kran steuert. „Das
ist ja wie zu Hause mit der Carre-
ra-Bahn“, ruft er.
„Ach ja?“, fragt Rainer Schne-
pel, er steuert Modultransporter.
„Mensch, das hab ich mir im-
mer gewünscht.“ Steinbrück freut
sich jetzt wie ein kleiner Junge.
Schnepel will noch was sagen,
aber da ist der Kandidat schon
weitergezogen.
Freut es ihn, dass Steinbrück
hier ist?
„Nö“, sagt Schnepel. „Ich freue
mich nur, wenn’s hier weiter-
geht.“
Was halten Sie von ihm?
„Er ist ja sehr umstritten. Was
man so in den Medien hört. Aber
wir hoffen, dass die SPD uns ir-
gendwie retten kann.“
Zeiten wachsender Gleichberech-
tigung. Wer im 21. Jahrhundert
noch den Macho raushängen
lässt, hat es nicht nur in der Liebe
schwer, sondern inzwischen auch
in der Politik.
Vor seinem Auftritt besuchte
Peer Steinbrück die Nordsee werke
in Emden, ein von der Pleite be-
drohtes Offshore-Windkraftunter-
nehmen; 700 Arbeitsplätze sind
dort in Gefahr. Es ist sein erster
öffentlicher Termin seit dem Pat-
zer, er will sich an der Seite von
Arbeitern zeigen, einer Gruppe,
die nicht recht warm mit ihm wird.
Steinbrück geht durch die gro-
ße Werkshalle und lässt sich vom
Betriebsratsvorsitzenden Erwin
Heinks alles erklären. Es wäre die
Gelegenheit, den Arbeitern zu-
zuhören, sie nach ihrem Befinden
zu fragen, den Familien. Aber
Steinbrück fragt nach dem Ge-
wicht der Röhren, nach Durch-
messern, Schweißnähten.
„Was wiegt so’n Teil?“
„Um die 30 Tonnen.“
„Wie weit stehen die draußen,
20 Meilen?“
„Jenseits der Tankerautobahn.“
„Und wenn der blanke Hans
kommt mit Orkanstärke, halten
die das aus?“
Angst vor falschen Tönen: Beim Shanty- Singen steht Steinbrück lieber in der letzten Reihe, links vor ihm SPD-Spitzenkandidat Stephan Weil
2 Politik
38 stern 3 / 2 0 1 3
Gegen Ende des Rundgangs fragt
der Reporter Steinbrück, was er
als Kanzler mit den Nordseewer-
ken machen würde. Er scheint die
Frage zu mögen. Endlich mal keine
zum Kanzlergehalt. Er zögert kei-
ne Sekunde und spult das ganze
Programm in 30 Sekunden runter:
Transfergesellschaft, Landesbürg-
schaft, Masterplan, zack, zack.
Steinbrücks Schlagfertigkeit
kann beeindruckend sein. Aber
eben auch ein Risiko.
Fährt man in diesen Tagen
durch Niedersachsen, aufs Land
nach Cloppenburg, in Städte wie
Braunschweig oder Wolfenbüttel,
trifft man fast überall auf den
Wunsch nach Sicherheit und
einem starken Staat, auf ein vor-
sichtiges „Weiter so“. Er folgt ei-
nem bizarren Reflex: Je mehr die
Menschen durch Merkel von der
Schwere der Eurokrise und härte-
ren Zeiten hören, desto mehr
wünschen sie sich Merkel. Das
deckt sich mit der stern-Umfrage,
nach der 51 Prozent Steinbrück
für keinen guten Kanzler hielten.
Im November waren es nur 37
Prozent.
Selbst in der SPD-Hochburg
Emden ist keine Euphorie
für Steinbrück zu spüren.
„Unsere Leute sind geschockt,
weil sie nur die Zuspitzung
des Interviews hören“, sagt der
Landtagsabgeordnete Hans-Dieter
Haase. „Was will der Steinbrück
denn? Will der mehr Geld? Der
Einzige, der solche Redehonorare
verdient, ist Helmut Schmidt.“
Haase ist ein Urgestein der
SPD. Er sitzt in einem Café im
Zentrum und kommt kaum zum
Reden, weil ihn ständig Bürger
ansprechen. Er hat in Emden
immer gewonnen. Er hofft, dass
es bei den Wahlen am 20. Januar
reicht für Rot-Grün in Hannover.
Dann wäre Merkel in Not. Dann
wäre Steinbrück wieder da.
„Aber die Ungeschicklichkeiten
müssen vorbei sein. Jeder hat ein
paar Klopser frei, aber jetzt ist
mal gut.“
Haase ist der Einzige, der Klar-
text redet, selbst viele Lokalpoli-
tiker wollen sich mit ihrer Kritik
an Steinbrück nicht zitieren las-
sen. „Neulich war Steinbrück
beim Nautischen Verein“, erzählt
Haase. „Der ist super angekom-
men. Aber der Vorsitzende muss
nun allen erklären, dass Stein-
brück kein Geld bekommen hat.
So weit ist das schon.“
Steinbrück habe nur eine
Chance, glaubt Haase: Er müsse in
seinen Reden sozialdemokrati-
scher klingen als jeder andere
Sozialdemokrat, weil man ihm das
Parteibuch nicht abnimmt. Auch
Merkel klinge immer sozialdemo-
kratischer, und nun fange selbst
die FDP mit dem Mindestlohn an.
Und wenn Niedersachsen ver-
loren geht?
„Wenn wir hier massiv einbre-
chen, ist das Thema Steinbrück
durch. Dann würde ich sagen: Ist
er noch der Richtige?“
*
Spät am Abend geht Steinbrück
ans Nachtisch-Büfett. Rote Grütze,
Vanilleeis, Crème brulée. Er freut
sich. Pressesprecher sehen es
nicht gern, wenn man über solche
Abende berichtet, dabei handelt
es sich um einen der wenigen an-
nähernd authentischen Momente.
Will man die von Steinbrück ge-
forderte Authentizität erleben,
dann hier.
Er sagt, dass er sich mit dem
Reden jetzt etwas zurückhalten
werde. Weniger Talkshows. Aus-
gewählte Interviews. Er schimpft
über Onlinedienste, über Kom-
mentatoren, die ihn nie getroffen
haben, aber über ihn herziehen –
„auch in Ihrem Medium“. Er
blickt nun fast drohend.
In diesen zwei Stunden des
abendlichen Plauschens sieht er
viele Fehler der anderen, macht
aber nur ein einziges Eingeständ-
nis. Auf der Folie der Kanzler-
kandidatur dürfe er Dinge, die er
früher mal gesagt habe, nun nicht
mehr sagen. Es klingt merkwür-
dig gedrechselt für einen Mann,
dessen Stil es wäre zu sagen: Ich
habe Mist gebaut.
Haben Sie noch Spaß?, fragt ihn
eine Journalistin. Da lacht Stein-
brück kurz und hält dann inne.
„Gute Frage“, sagt er.
Es ist die beste Frage des
Abends. Und für einen kurzen
Augenblick ist er mal still. 2
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Video-Zwischen-
ruf mit einem
zweiten aktuellen
Thema
Für Videostart den Bildcode mit dem Smart-phone und einer App für QR-Codes scannen
Zwei Herren schweigen, auffällig. Zwei
Herren, von denen die Öffentlichkeit ange-
sichts der spektakulären Umstände des Falles
eigentlich etwas hätte hören müssen: Anshu
Jain, Co-Vorstandschef der Deutschen Bank, und
Peer Steinbrück, Kanzlerkandidat der SPD. Im De-
zember wurde das feine Frankfurter Geldhaus gleich
zweimal von Staatsanwälten und Polizei durch-
sucht. Jain aber, früherer Chef der Londoner In-
vestmentabteilung, die Ermittlungen und Schadens-
ersatzforderungen verfolgen wie der Schweif den
Kometen, ließ nichts vernehmen zu den Razzien.
Sein Amtsbruder Jürgen Fitschen, der sich telefo-
nisch beim hessischen Regierungschef Volker Bouf-
fier beschwerte, stand mutterseelenallein im Feuer.
Noch irritierender ist indes Steinbrücks rhetori-
sche Enthaltsamkeit. Der Raubauz, der sich brüstet,
zu sagen, was er denkt, und zu tun, was er sagt, wur-
de in der Öffentlichkeit von Parteichef Sigmar Ga-
briel vertreten, der nach der Frankfurter Razzia
gegen Fitschen austeilte: „Ein Politiker hätte bei
einem solchen Versuch, die Arbeit von Staatsanwalt
und der Polizei durch einen Anruf beim Minister-
präsidenten zu behindern, bereits seinen Job ver-
loren.“ Der Kanzlerkandidat indes nahm Fitschen
und die Bank, drei Tage später und in einem öffent-
lich unbemerkten Interview mit der „Passauer
Neuen Presse“, sogar ausdrücklich in Schutz: „Herr
Fitschen hat das als Fehler erkannt und sich ent-
schuldigt. Ich rate dazu, die weiteren Ermittlungen
ab zuwarten, so lange gilt im Rechtsstaat die Un-
schuldsvermutung.“ In einer Podiumsdiskussion mit
Fitschen in der Essener Philharmonie, ideales Fo-
rum für eine Abrechnung mit verlotterter Banken-
kultur, mied er sogar jedes Wort zu dem dankbaren
Skandal. Stattdessen verbreitete er sich über
Deutschland, Europa und die Energiewende, 22 Mi-
nuten lang.
Was ist los mit dem Kandidaten? Im September
noch hatte er ein detailliertes Konzept zur „Bändi-
gung der Finanzmärkte“ präsentiert, 30 Seiten lang.
Kernpunkt: Abspaltung des spekulativen Invest-
mentbanking vom normalen Kundengeschäft, was
insbesondere die Deutsche Bank treffen würde. In-
zwischen aber hat Steinbrück sein vermeintliches
Leib- und Magenthema, das seine Kompetenz als
Finanzminister der Großen Koalition in den turbu-
lenten Zeiten der Finanzkrise in Erinnerung rufen
könnte, generell fallen lassen. Ein Auftritt mit dem
grünen Spitzenkandidaten Jürgen Trittin Mitte De-
zember hatte nur formal das Bankenthema zum
Anlass, in Wahrheit ging es um die Demonstration
rot-grüner Gemeinsamkeit. Seither meidet es Stein-
brück, in Interviews und öffentlichen Auftritten,
wie der Banker den Kredit für Hartz-IV-Empfänger.
In der Führung der Deutschen Bank ist mancher so
verblüfft wie an der Spitze der SPD: Steinbrück
bespiele sein originäres Thema gar nicht mehr, habe
aber auch kein anderes gefunden. Kein Wunder,
dass Jain und Fitschen, wie aus der Bank zu hören
ist, gut über den verblassten Bankenbändiger reden
und ihren Kontakt zu ihm rühmen.
Könnte das womöglich einen Grund haben, ein
persönliches Motiv? Anfrage also bei Steinbrück-
Sprecher Michael Donnermeyer: Ist oder war Peer
Steinbrück „Kunde bei der Deutschen Bank“? Ant-
wort Donnermeyer nach Rücksprache mit dem Kan-
didaten: „Er und seine Frau haben Konten bei meh-
reren Banken, über die er aber nicht Auskunft geben
will.“ Das darf man vielleicht als verhüllte Bestäti-
gung nehmen. Denn die Antwort hätte auch schlicht
Nein lauten können, oder: Die Steinbrücks haben
Konten bei mehreren Banken, aber keines bei der
Deutschen Bank. Versuchen wir, der Sache noch
näher zu kommen. E-Mail an Donnermeyer: „Die
Deutsche Bank wird schon darunter sein …“ Ant-
wort Donnermeyer: „Stadtsparkasse auch.“ Auch.
Eine Verbindung des Kandidaten zur Deutschen
Bank wäre keine Überraschung, denn zum einen
zählte Adelbert Delbrück, Urgroßonkel Steinbrücks,
1870 zu den Mitbegründern des heute bedeutends-
ten deutschen Geldhauses. Zum anderen hat sich
der Kandidat durch Vortrags- und Buchhonorare ein
veritables Vermögen geschaffen.
Wie verhält es sich eigentlich, nun ganz theore-
tisch erörtert, wenn der Kunde „X“ Vermögen bei
der Deutschen Bank anlegt? Wäre das erklecklich,
zählte er zu den bevorzugten Privatkunden, mit per-
sönlichem Berater. Der wiederum spräche, je nach
Risiko- und Renditeneigung des Kunden, mehr oder
weniger riskante Anlageempfehlungen aus, Finanz-
derivate inklusive. Der Kunde könnte sogar die Meh-
rung seines Vermögens an den Berater delegieren,
Abrechnung alle paar Monate. Wie auch immer: Das
würde nicht nur ein Band des Vertrauens knüpfen.
Das schüfe auch Wissen – über den Kunden. 2
Das Schweigen des GeldesDer Kanzlerkandidat der SPD gibt Rätsel auf: Warum sind die Banken für PEER STEINBRÜCK kein Thema mehr, speziell die Affären der Deutschen Bank? Eine Spurensuche
Der Zwischenruf aus Berlin von HANS-ULRICH JÖRGES
„In der Führung der Bank ist man so verblüfft wie an der Spitze der SPD“
40 stern 3 / 2 0 1 3
2 Politik
Nicht länger wegEine brutale Tat hat INDIEN wachgerüttelt. Die Gewalt gegen Frauen kann niemand mehr
2 Ausland
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Das Motto des Zuges lautet:
„Wir fordern die Nacht
zurück.“ Mehrere Hun-
dert Menschen sind ge-
kom men, um von einer Fußgän-
gerzone in Saket im Süden von
Delhi loszumarschieren. Ihr Ziel
ist eine neue glänzende Shop-
pingmall mit Kino. An diesem Ort
hatte das Martyrium der indi-
schen Studentin seinen Ausgang
genommen, die im Dezember in
einem Bus zu Tode gequält wurde
und deren Ver gewaltiger nun vor
einem Schnellgericht stehen. Es
ist nicht der erste Protest in der
Hauptstadt Indiens, die auch
„Hauptstadt der Vergewaltigun-
gen“ genannt wird. Doch nun ge-
hen Menschen auf die Straße, die
man bisher nie auf Demonstratio-
nen sah. Fast alle gehören der
wohlhabenden Mittelschicht an.
Es ist bitterkalt. Die Temperatu-
ren in Nordindien sind in diesem
Winter so tief wie seit Jahrzehn-
ten nicht. Die Männer kommen
in Mänteln und Hüten, manche
haben Schals vors Gesicht gebun-
den. Die Frauen tragen Mäntel
und elegante Stiefel.
Medha Chaturvedi arbeitet un-
ter der Woche als Marketingbera-
terin. „Ich bin aus einer Kleinstadt
nach Delhi gekommen und seit-
dem immer wieder in öffentli-
chen Nahverkehrsmitteln beläs-
tigt worden“, erzählt die 30-Jährige.
„Für uns Frauen gehört so etwas
hier zum Alltag.“ Sie habe sich des-
halb ein Auto gekauft. „Aber dann
spielten Männer laut Musik, wenn
sie an Ampeln neben mir standen.
Und wenn mehrere Typen im Auto
saßen, machten sie zotige Bemer-
kungen.“ Nun aber kämen endlich
andere Männer zu Hilfe, wenn
Frauen belästigt werden.
Der Geschäftsmann Deepak
Dutta, 45, kam vom Abendessen
mit einem Freund, er schloss sich
spontan der Demonstration an.
„Ich habe einen Sohn und eine
Tochter, und ich unterscheide
zwischen den beiden nicht“, sagt
er. „Denn ich glaube, die Proble-
me fangen an, wenn die Eltern zu
Hause zwischen Söhnen und
Töchtern unterscheiden.“ ➔
schauen leugnen. Doch die Vorurteile sitzen tief
Auch Männer machen sich bei
Demonstrationen jetzt für Frauen-
rechte stark
Von SASCHA ZASTIRAL
3 / 2 0 1 3 stern 43
Die Protestierenden halten alle
Kerzen in den Händen. Sie wis-
sen, dass ihr Indien, die aufstre-
bende Wirtschaftsmacht mit den
Bürotürmen, Einkaufszentren und
Informatikkonzernen, auch eine
dunkle Seite hat. Einerseits ken-
nen sie das Indien der Großstäd-
te, in dem sich Frauen aus der
Mittelschicht schon lange ihre
Freiheiten und Rechte erkämpf-
ten. Die bekleiden in Indien auch
einige der höchsten Ämter: Der
regierenden Kongresspartei, der
Opposition im Unterhaus des Par-
laments und vier Bundesstaaten
stehen Frauen vor. Mit 68 Jahren
werden Frauen in Indien heute
im Schnitt zwei Jahre älter als
Männer. Mehr Frauen denn je
können lesen und schreiben. Im-
mer mehr machen einen Hoch-
schulabschluss. Es gibt promi-
nente Anwältinnen, Richterinnen
und Journalistinnen. Einige be-
deutende Wirtschaftskonzerne
werden von Frauen geführt.
Andererseits leben immer
noch zwei Drittel aller Men-
schen auf dem Land, die
meisten in tiefster Armut. Vor al-
lem in den Dörfern Nordindiens
haben weiterhin die Männer das
Sagen. Dort herrschen auch nach
wie vor rigide Kastenschranken.
Sexuelle Übergriffe auf niedrig
gestellte Frauen durch Männer
aus höheren Kasten sind an der
Tagesordnung.
Frauen in diesen Gegenden
werden häufig Opfer häuslicher
Gewalt. Das Risiko für Frauen
und Mädchen aus armen Fami-
lien, verkauft zu werden, ist groß.
Frauen haben in vielen Regionen
kaum Zugang zu angemessener
medizinischer Versorgung. Und
noch werden in Indien knapp die
Hälfte aller Mädchen verheiratet,
bevor sie 18 Jahre alt sind.
Die Thomson Reuters Founda-
tion kommt in einer Studie von
2011 zu dem Schluss, dass Indien
das viertgefährlichste Land der
Welt für Frauen ist. Selbst das
kriegsgeschüttelte Somalia wird
für Frauen als sicherer eingestuft.
„Der Unterschied zwischen
Männern und Frauen in Indien ist
riesig“, sagt Sadhna Arya, Profes-
sorin für Politik an der Universität
Delhi und bekannte Frauenrechts-
aktivistin. Es gebe zwar viele
Gesetze, in denen der Schutz und
die Gleichberechtigung von Frau-
en klar geregelt seien, „aber de-
ren Umsetzung ist schlecht“.
Eines der Gesetze verlange von
den Behörden, Opfer häuslicher
Gewalt zu schützen und prügeln-
de Ehemänner des Hauses zu ver-
weisen. „Aber jedes Mal wenn
wir um diesen Schutz bitten, wird
er den Frauen nicht gewährt.“
Gewalt gegen Frauen, sagt die
Publizistin Nilanjana Roy, sei
nicht nur das Ergebnis der tradi-
tionellen Diskriminierung, son-
dern auch eine Art „Strafe“ dafür,
dass Frauen in den Städten unab-
hängiger geworden seien und im-
mer mehr Freiheiten forderten.
Viele Männer in Indien können
sich offenbar nicht mit der
Vorstel lung abfinden, dass Frau-
en aus ihren traditionellen Rollen
ausgebrochen sind. Ihre Antwort
darauf: dumpfe Gewalt.
Die beginnt in Indien häufig
schon vor der Geburt. Jedes Jahr
lassen Zigtausende Paare das
Geschlecht ihrer ungeborenen
Kinder bestimmen, was eigentlich
unter Strafe verboten ist, und trei-
ben weibliche Föten ab. Die Fol-
gen sind in den Bevölkerungszah-
len abzulesen. Es ist eine Statistik
der Schande: In Assam im Nordos-
ten des Landes kommen auf 1000
Männer noch 954 Frauen. Im
westindischen Gujarat sind es 918.
Im überbevölkerten Armutsstaat
Uttar Pradesh 908. In Haryana –
westlich von Delhi – gar nur noch
877. Nur in den südlichen Bundes-
staaten Kerala und Puducherry
leben laut der letzten Volkszäh-
lung aus dem Jahr 2011 mehr Frau-
en als Männer. Experten schätzen,
dass Indien durch gezielte Abtrei-
bungen in den vergangenen zehn
Jahren 15 Millionen Frauen ver-
loren hat. Und sie fürchten, dass
vor allem in Regionen, in denen
es immer weniger Frauen gibt, die
sexuellen Übergriffe zunehmen.
Dass sich so viele Paare so
vehe ment dagegen wehren, eine
Tochter zu bekommen, hat vor
allem einen Grund: die eigentlich
seit den 1960er Jahren verbotene
Mitgift. Bei den meisten Hochzei-
ten ist es bis heute üblich, dass
die Brauteltern die Familie des
Bräutigams dafür entschädigen
müssen, dass diese ihre Tochter
aufnimmt. Ärmere Väter stürzen
sich oft in den Ruin, um ihre
Töchter zu verheiraten.
80 Prozent aller Kredite in In-
dien, schätzen Kritiker, dienen
dazu, solche Mitgiften und die
Hochzeiten zu finanzieren. Der
Trend nimmt seit Beginn des
Wirtschaftsbooms in den 1990er
Jahren deutlich zu. Mitgiftforde-
rungen werden ausschweifender,
je wohlhabender das Land wird.
Und häufig verlangen Schwieger-
eltern auch nach der Heirat noch
Geld von den Eltern der Braut.
Lalita hatte gerade die zehnte
Klasse beendet, als ihre Eltern
sie verheirateten. Gern wäre sie
weiter in die Schule gegangen, so
wie ihre Brüder. Für die Mit-
gift wandten die Eltern der 18-Jäh-
rigen auf, was sie nur konnten:
Sie kauften den Eltern des Bräuti-
gams einen Kühlschrank, ein
Motorrad, Möbel, eine Wasch ma-
schine. Sie gaben ihnen 150 000
Rupien in bar (nach heutigem
Stand rund 2000 Euro) und aller-
lei kleine Geschenke, darunter
viele Goldketten und Anhänger.
Ihre Tochter sollte es in der neuen
Familie gut haben.
Doch schon nach einem Jahr
ging es bergab. Ihr Mann ver-
langte weitere Geschenke. Ein
Auto sollte es sein, das Motorrad
reichte ihm nicht mehr. In dieser
Zeit fing er auch an, seine Frau zu
schlagen. Kam sie einmal von
einem Besuch bei ihren Eltern
nach Hause, ohne ein kostbares
Geschenk mitzubringen, prügelte
ihr Mann auf sie ein. Er warf
Gegenstände nach ihr, fügte ihr
Brandwunden zu. In einem Wut-
anfall zertrümmerte er den Kühl-
schrank und forderte einen neuen.
Er zerschlug das Telefon, das ihr
Vater ihr gegeben hatte, um mit
seiner Tochter in Verbindung zu
bleiben. Dann begann er, auch die
gemeinsamen Kinder zu schlagen,
um seine Forderungen durch-
zusetzen. Erst nach 13 Jahren
schaffte Lalita es, sich von ihm zu
trennen. Dafür zahlte sie einen
„Viele Männer in Indien glauben, Frauen seien ihr Eigentum, mit dem sie alles machen können“Frauenrechtlerin Lalita
2 Ausland
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verwendet wird, und zündet
sie an. Der Mord wird dann als
Unfall hingestellt. Verzweifelte
Schwiegertöchter fliehen auch vor
den Schikanen, indem sie sich das
Leben nehmen.
Und immer wieder sind es auch
die eigenen Väter oder Brüder, die
in Indien Frauen ermorden. Die
Vorstellung, dass Frauen mit ihren
Handlungen die „Ehre“ ihrer Fa-
milie gefährden könnten, hält sich
in vielen ländlichen Regionen. Im
Mai vergangenen Jahres riet ein
hochrangiger Polizist im nordindi-
schen Bundesstaat Uttar Pradesh
Dorfbewohnern, ein 14-jähriges
Mädchen zu erschießen, das kurz
zuvor von mehreren Männern
entführt worden war. Den Eltern
sagte er: „Falls sie weggelaufen
ist, solltet ihr euch schämen und
euer Leben beenden.“
Mehr als 1000 Menschen wer-
den in Indien jedes Jahr Opfer sol-
cher „Ehrenmorde“, Männer wie
Frauen. Vergangenen Juli erst hat
ein Vorfall im Bundesstaat Raja-
sthan für Entsetzen gesorgt, da
enthauptete ein Mann seine 20
Jahre alte Tochter und lief an-
schließend mit ihrem Kopf und
dem blutverschmierten Schwert
durch das Dorf.
Die angeblich zu verteidigende
„Ehre“ ist auch ein zentrales Motiv
für die konservative Elite des
Landes. So behauptete Mohan
Bhagwat, Leiter der hinduna-
tionalistischen Organisation RSS,
dieser Tage, Vergewaltigungen ge-
be es nur in den Städten, da diese
„verwestlicht“ seien. In „Bharat“ –
also dem ländlichen Indien – ken-
ne man so etwas nicht, da dort
noch immer „traditionelle Werte“
aufrechterhalten würden. Frauen
sollten sich wieder auf ihre Rolle
besinnen und sich um den Haus-
halt kümmern, so wie das im „Ge-
sellschaftsvertrag“ vorgesehen sei.
Dabei ist Bhagwat nicht ir-
gendein unbedeutender religiöser
Eiferer. Seine Organisation steht
auf demselben ideologischen
Fundament wie die wichtigste
Oppositionspartei des Landes, die
Indische Volkspartei (BJP), die
bei den kommenden Wahlen
wieder an die Macht kommen
könnte.
Dass die Mittelschicht nun für
die Rechte der Frauen auf die
Straße geht, ist ein neues Phäno-
men. Der Kampf gegen den Miss-
brauch währt schon länger. Vor
Jahren hat er sogar eine Banditen-
königin zur Volksheldin gemacht.
Phoolan Devi war erst elf, als sie
einen mehr als dreimal so alten
Mann heiraten musste. Er miss-
handelte sie schwer und verstieß
sie dann. Ihre Familie wollte sie
nicht wieder aufnehmen. Devi,
die einer niedrigen Fischerkaste
angehörte, wurde zum Freiwild
für die Männer ihres Dorfs. Sie
wurde mehrfach vergewaltigt,
auch von Polizisten.
Später entführten Banditen
die junge Frau, und Phoolan
Devi heiratete den Banden-
chef. Als er erschossen wurde,
führte sie selbst eine Gruppe der
Desperados an. Der Legende nach
teilte sie das Geld, das sie und
ihre Männer bei Raubzügen er-
beuteten, mit Menschen niedri-
ger Kasten. Gleichzeitig machte
sie erbarmungslos Jagd auf Mit-
glieder hoher Kasten. 1981 er-
mordete ihre Bande bei einem
Massaker 22 Mitglieder der Tha-
kur-Kaste, unter ihnen angeblich
auch mehrere Männer, die sie
vergewaltigt hatten. 1983 ergab
sie sich dem Ministerpräsidenten
des Bundesstaates Madhya Pra-
desh. 1994 wurde sie begnadigt,
ohne dass ihr je der Prozess ge-
macht worden wäre. Sie wurde
als Vorkämpferin der Entrechte-
ten gefeiert, ging in die Politik
und zog 1996 als Abgeordnete ins
indische Unterhaus ein.
Doch ihre Geschichte nahm
kein glückliches Ende. Im Juli
2001 wurde sie vor ihrem Bunga-
low in Delhi von drei Maskierten
erschossen. Der Hauptverdächti-
ge stellte sich kurze Zeit später
der Polizei. Er war der Cousin
einer der Männer, die Phoolan
Devi ermordet hatte.
Er habe sich dafür rächen wol-
len, sagte er, dass eine Frau aus
einer niedrigen Kaste so viele
Männer aus einer hohen Kaste
getötet habe.
Mit Recherchen von Ravinder Bawa
hohen Preis: Ihre Tochter konnte
sie mitnehmen, ihre Söhne je-
doch musste sie bei ihrem Mann
lassen.
Heute ist Lalita 31 Jahre alt. Sie
arbeitet im Büro einer Menschen-
rechtsorganisation in Delhi und
trägt einen roten Salwar Kamiz,
ein indisches Kleid. Sie zeigt
ei nige der Verletzungen, die sie
aus ihrer Ehe mitgenommen hat:
eine Narbe unter der Augen-
braue, Brandwunden auf der
rechten Hand und am Rücken.
„Die Männer in Indien denken,
dass Frauen schwach sind, und
wollen sie unterwerfen“, sagt sie.
Den Hauptgrund für Gewalt
gegen Frauen in Indien sieht
Lalita in der wirtschaftlichen Ab-
hängigkeit der Frauen. „Männer
in Indien glauben, die Frauen sei-
en ihr Eigentum, mit dem sie alles
machen können.“
Offiziellen Zahlen zufolge gab
es 2011 mehr als 8600 Todesfälle
in Mitgift-Streitigkeiten. Häufig
übergießt die Familie des Mannes
die eingeheiratete Frau mit Petro-
leum, das vielerorts zum Kochen
2
Oben: der Bus, in dem sechs Männer
am 16. Dezember eine Studentin
vergewaltigten und so misshandelten,
dass sie später starb. Unten: zwei der
mutmaßlichen Täter, Akshay T., links, und
Busfahrer Ram S. Nach indischem
Recht darf die Iden-tität der Männer erst
nach einer Verurtei-
lung gelüftet werden
3 / 2 0 1 3 stern 45
Das große Steuer-Theater
7 oder 19 Prozent – das ist hier die Frage. Doch auch die Regierung
von Angela Merkel hat das Mehrwertsteuer-Chaos nicht, wie versprochen, beseitigt.
Sie hat nur viel Lärm um nichts gemacht. Die Politik der schwarz-gelben Koalition –
ein TRAUERSPIEL in fünf Akten. Vorhang auf
Seid ihr alle daaaa? Na, liebe Leser, dann mal gut auf-gepasst, wie in Deutschland Politik gemacht wird
2 Wirtschaft
46 stern 3/2013
Manchmal geht es in der
Politik zu wie im richti-
gen Leben. Da gibt es
Dinge, die zwar danach
schreien, erledigt zu werden, die
man aber endlos aufschiebt. Zu
mühselig. Den Brief an Onkel
Egon schreiben. Den Keller ent-
rümpeln. Solche Sachen.
In der Politik ist es die Mehr-
wertsteuer mit ihren beiden un-
terschiedlich hohen Sätzen. Auf
Waren und Dienstleistungen be-
trägt sie 19 Prozent. Im Normal-
fall. Für Lebensmittel und Kultur-
güter werden nur 7 Prozent fäl-
lig, jedenfalls war das mal so
gedacht. Über die Jahrzehnte ist
jedoch ein Wust von irren Aus-
nahmeregeln gewachsen. Es wäre
höchste Zeit, einmal aufzuräu-
men. Aber auch das kennt man
aus dem richtigen Leben: Wem
Mut oder Kraft oder Lust oder
alles zusammen fehlt, etwas an-
zupacken, der täuscht gern Han-
deln vor.
Willst du dich nicht langsam
mal um den Keller kümmern?
Doch, Liebling! Ich habe sogar
schon nachgeguckt, wo man
Müllcontainer bestellen kann!
Man nennt es schlechtes Ge-
wissen. In der Politik gründet
man in solchen Fällen gern eine
Kommission. So hielten es auch
Union und FDP zu Beginn dieser
Legislaturperiode. Sie hatten im
Wahlkampf ziemlich getönt, dass
sie das Steuersystem einfacher
und verständlicher machen wol-
len. Weil ihnen im Regierungs-
alltag aber Mut und Kraft und
Lust fehlten, sich gegen Lobby-
interessen durchzusetzen, taten
sie in den vergangenen Jahren
wenigstens so, als ob, und führ-
ten den Bürgern ein komplett ab-
surdes Reformtheater vor. Man
kann so etwas nur selten derart
deutlich und durchsichtig insze-
niert beobachten. Deshalb zum
Start ins Wahljahr 2013: Vorhang
auf für ein Lehrstück über vor-
getäuschtes Handeln und Politik-
verweigerung.
VORSPIEL
oder: Maulesel 7 Prozent, Hausesel 19 Prozent
„Eine Vielzahl der Regelungen hat ausgesprochenen Subven-tionscharakter. Ihre Abschaffungließe die soziale Balance nicht ins Ungleichgewicht geraten.Veränderte Bedürfnisse der Bevölkerung lassen viele Ver-günstigungen als überkommen erscheinen. Eine stichhaltige Begründung ist in vielen Fällen entfallen. Die Regelungen sinddem Bürger gegenüber teilweisenicht mehr vermittelbar.“Aus einem Bericht des Bundesfinanz-
ministeriums über die „Anwendung
des ermäßigten Umsatzsteuersat-
zes“ an den Finanzausschuss des
Bundestages vom 30. Oktober 2007
„Wir brauchen eine strukturelle Mehrwertsteuerreform, undzwar jetzt und nicht erst in Jah-ren. So ist die unterschiedlicheBesteuerung für Tierfutter mitniedrigen Sätzen und notwendi-ge Babyausstattung mit hohen Sätzen kaum zu erklären.“CSU-Vorsitzender Horst Seehofer
im März 2009
ERSTER AKT
oder: Medikamente für Tiere 7 Prozent, für Menschen 19 Prozent
„Wir wollen eine strukturelleÜberprüfung der Vorschriftenzur Mehrwertsteuerbelastung mit dem Ziel, nicht mehr zeitgemäße und für die Bürger nicht nach-vollziehbare Belastungswirkun-gen zu korrigieren.“Aus dem Regierungsprogramm von
CDU und CSU vom 28. Juni 2009
„Warum zahlen Sie für Tafelwas-ser 19 Prozent Mehrwertsteuer und für den Skilift 7 Prozent? Da stimmt doch was nicht, und da muss doch einer mal rangehen. Wir wollen den ermäßigten Mehrwertsteuersatz für die Be-dürfnisse des täglichen Lebens.“FDP-Chef Guido Westerwelle am
13. September 2009
„Benachteiligungen gehören auf den Prüfstand. Aus diesemGrund wollen wir eine Kom- mission einsetzen, die sich mit der Systemumstellung bei der Umsatzsteuer sowie dem Kata-log der ermäßigten Mehrwert-steuersätze befasst.“Aus dem Koalitionsvertrag
zwischen CDU, CSU und FDP
vom 26. Oktober 2009
ZWEITER AKT
oder: Trüffel 7 Prozent (mit Essig zubereitet: 19), Hummer 19 Prozent
„Die Senkung des Umsatzsteuer-satzes bei Beherbergungsleis- tungen im Hotel- und Gastrono-miebereich (ist) eine Maßnahme, die unter Wettbewerbsgesichts-punkten vertretbar ist und die richtig und angemessen ist. Wir werden in dieser Legisla- turperiode, wie es in unseremKoalitionsvertrag vereinbart ist, im Steuersystem weiterestrukturelle Vereinfachungenund Verbesserungen vornehmen. Darüber werden wir im nächs- ten Jahr zu reden haben.“Finanzminister Wolfgang Schäuble
(CDU) am 12. November 2009 über
das „Wachstumsbeschleunigungs-
gesetz“, mit dem die Mehrwert-
steuer für Übernachtungen in Hotels
auf 7 Prozent gesenkt wurde
„Ich freue mich, dass wir den Dienstleistungsbetriebendes Beherbergungsgewerbesdurch wesentliche Hilfen einen Lichtblick eröffnen konnten,auch wenn vielleicht eine Überprüfung der ermäßigtenUmsatzsteuer im Gesamtkontextstattfinden muss.“Aus der Rede des CSU-Abgeordneten
Hans Michelbach im Bundestag
am 4. Dezember 2009 vor der
Verabschiedung des Gesetzes
Also: Mit der Politik ist es manchmal so wie beim Esel. Wenn ihr zu wohl ist …
Von ANDREAS
HOIDN-BORCHERS (Text)
und WALTER
SCHIESSWOHL (Fotos)
2 Wirtschaft
48 stern 3 / 2 0 1 3
DRITTER AKT
oder: Brennholz aus Spänen und Holzabfällen („Industriehackschnitzel“)7 Prozent, Brennholz ausBaumstämmen („Wald-hackschnitzel“) 19 Prozent
„Warum nicht die Erleichterun-gen für Schnittblumen knicken?Warum werden Windeln, Kinder-kleidung und -spielzeug mit dem normalen Umsatzsteuersatz, Katzen- und Hundefutter jedoch mit ermäßigtem Satz belastet?Ich fordere daher dringend eine Reform der Mehrwertsteuer, weil die Begründungen für oder gegen einen ermäßigten Umsatzsteuer-satz nicht zu verstehen sind.“Sachsens Ministerpräsident
Stanislaw Tillich (CDU) im Mai 2010
„Die generelle Prüfung der ermäßigten Mehrwertsteuersätze wird bis 2013 dauern.“Bundesfinanzminister
Wolfgang Schäuble im Juni 2010
„Blätter, Zweige, Gräser undMoos, die zu Binde- oder Zier-zwecken verwendet werden,unter liegen dem ermäßigtenSteuersatz, wenn sie frisch sind. Mit ihrer Trocknung geht dersteuer liche Vorteil verloren. So ist auch ein Adventskranz nur dann begünstigt, ‚soweit frisches Material charakterbestimmend ist‘. Wird er dagegen aus Trocken-
pflanzen hergestellt, muss derKunde 19 % Umsatzsteuer zahlen.Das Bundesfinanzministerium weist darauf hin, dass Trocken-moos durch Anfeuchten nichtwieder zu frischem Moos wird.“Aus einem Bericht des Bundes-
rechnungshofs vom 28. Juni 2010.
Dessen Schlussfolgerung lautet:
„Der Bundesrechnungshof hält eine einheitliche Besteuerung im Einzelfall für zweckmäßig, um schwierige Abgrenzungsfragen sowie Verwaltungsaufwand zu vermeiden und das Steuerrecht erheblich zu vereinfachen. Jede einzelne Begünstigung sollte auf systematische Schwachstellen untersucht und kritisch hinter-fragt werden.“ Das Finanzministerium verzichtete
auf eine „detaillierte Stellung-
nahme zu diesem Bericht, um der
vorgesehenen Kommission nicht
vorzugreifen“. Zudem habe man
einen Forschungsauftrag vergeben,
„dessen Ergebnisse im Sommer
2010 vorliegen sollen“.
„Dieses Gutachten ist wesent- licher Baustein der Arbeit derKommission. Wir warten jetztdas Gutachten ab. Insofern kannich Ihnen zu konkreten Beset-zungsplänen der Kommissionhier und heute keine Auskunftgeben.“Schäubles Sprecher Michael Offer
am 29. Juni 2010
PAUSE„Die Erfahrungen mit den Regelungen zu den ermäßigten Steuersätzen sind ernüchternd: Erstens führt die Verringerung der staatlichen Einnahmen im Vergleich zum Normalsteuer- satz dazu, dass ein höherer Regelsteuersatz angewendet werden muss, um das gleiche Steueraufkommen zu erzielen. Zweitens verkomplizieren die Steuerermäßigungstatbestände das Umsatzsteuerrecht. Dadurchentstehen zahlreiche Rechts- streitigkeiten. Die Bürokratie- kosten des Staates und die Befolgungskosten der Wirtschaftsind erheblich. Drittens werdenAnreize dafür geschaffen, Ressourcen auf Lobbyarbeit zu verwenden, um die Steuerbe-günstigungen zu sichern oder zu erlangen. Viertens verbleiben
vielfach Wertungswidersprüche,die das Steuerrecht als unge-recht erscheinen lassen. DiesenKosten steht häufig kein nach-weisbarer bedeutsamer Nutzengegenüber. Der Wildwuchs beiden Steuersatzermäßigungensollte mutig zurückgestutzt wer-den. Das würde die Effizienzder Steuererhebung erhöhen.“Aus dem über 430 Seiten dicken
Forschungsgutachten, das Wissen-
schaftler von fünf Universitäten
im Auftrag des Bundesfinanzminis-
teriums erarbeitet haben. Es wird
im September 2010 vorgelegt –
und verschwindet danach sang- und
klang- und folgenlos in den tiefen
Schubladen des Ministeriums.
Später sickert durch, dass Wolfgang
Schäuble mit den Empfehlungen
nicht zufrieden war und um Nach-
besserung bat. Die Gutachter aber
blieben bei ihrer Meinung, „dass
allein die Steuersatzermäßigung
für Lebensmittel gerechtfertigt
erscheint“ und alle anderen Ausnah-
men gestrichen werden sollten.
… geht sie aufs(dünne) Eis und denkt, jetzt mach
ich aber mal was ganz Tolles …
… zum Beispieleine Reform! Na, und weil das mit der Mehrwert-steuer so doof …
3 / 2 0 1 3 stern 49
➔
VIERTER AKT
oder: pürierte Früchte7 Prozent, gepresste Früchte 19 Prozent
„Beginnen wir mit dem Thema Mehrwertsteuer: Da hat maneine Kommission aus Bundes- finanzminister Schäuble, Bundeswirtschaftsminister Brü-derle, Kanzleramtschef Pofallaund den drei Generalsekretärengebildet. Sie sollen auf der Basisder vorliegenden Gutachten bis nächstes Jahr konkrete Vor-schläge unterbreiten, wie das Mehrwertsteuerrecht gestaltet werden kann, welche Ausnahmen bleiben und welche Regelungen vielleicht verändert werden.“Regierungssprecher Steffen Seibert
nach dem Treffen des Koalitionsaus-
schusses am 18. November 2010
„Bis Ende 2011 kann ein Reform-konzept stehen.“Wirtschaftsminister Rainer Brüderle
(FDP) am 14. Februar 2011
FÜNFTER AKT
oder: Bratwurst im Sitzen19 Prozent, Bratwurst imGehen oder Stehen 7 Pro-zent – oder auch nicht
„Ich gehe davon aus, dass der Finanzminister die für dieReform bereits gebildete Kommission bald einberuft.“Der neue FDP-Vorsitzende
Philipp Rösler im Juni 2011
„Das Thema Reform der Mehr-wertsteuer steht unverändert aufder Agenda der Bundesregie-rung. Ein Termin für die Arbeits-gruppe steht noch nicht fest.“Regierungssprecher Seibert
am 2. Dezember 2011
„Der Betreiber eines Imbiss- standes gibt verzehrfertige Würst-chen, Pommes frites usw. an seine Kunden in Pappbehältern oder auf Porzellangeschirr ab.Der Kunde erhält dazu eine Serviette, ein Einwegbesteckund auf Wunsch Ketchup, Ma-yonnaise oder Senf. Der Imbiss-stand verfügt über eine Theke,an der Speisen im Stehen einge-nommen werden können. DerBetreiber hat vor dem Stand drei Stehtische aufgestellt. Un- abhängig davon, ob die Kundendie Speisen zum Mitnehmen oder zum Verzehr an Ort undStelle erwerben, liegen insge-samt begünstigende Lieferungen
„Eine am Nachmittag angesetzteerste Runde der Regierungs- kommission wurde kurzfristig abgesagt. Grund sei die Aktuelle Stunde des Bundestages zu den Plagiatsvorwürfen gegen Ver- teidigungsminister Karl-Theodorzu Guttenberg, hieß es.“Meldung der Deutschen Presse-
Agentur vom 23. Februar 2011
„Im Rahmen der Kommissions-arbeit wird über den Zeit- und Arbeitsplan der Beratungen zu entscheiden sein. Nach Beendigung der Kommissions-arbeit wird die Bundesregierung prüfen, welche Vorschläge sie dem Deutschen Bundestag unterbreiten wird.“Antwort von Hartmut Koschyk,
Parlamentarischer Staatssekretär
im Finanzministerium, auf eine
Anfrage der SPD am 25. März 2011
„Es ist noch nicht einmal dieHälfte der Legislaturperiode um. Das Thema ist keineswegs,wie Sie es ausdrücken, versenktworden. Die Bundesregierunghat sich ein Verfahren gegeben,um sich diesem Thema zu nä-hern. An diesem Verfahren wirdfestgehalten. An dieses Verfah-
ren glaubt auch die Bundeskanz-lerin. Das wird nun seinen Lauf nehmen.“Regierungssprecher Steffen Seibert
am 20. Mai 2011
„Es liegen doch alle Vorschläge auf dem Tisch. Man muss nurden politischen Willen haben, sie umzusetzen.“Michael Fuchs, stellvertretender
Vorsitzender der CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion, am 20. Mai 2011
„Damit wir zu Ergebnissen kommen, sollte der Bundes- finanzminister der Koalitionjetzt seinen Reformvorschlagunterbreiten.“FDP-Generalsekretär
Christian Lindner am 20. Mai 2011
„Ich weiß nicht, was die Dis- kussion jetzt in der politischen Landschaft zu suchen hat.“CSU-Chef Horst Seehofer
am 20. Mai 2011
… ist und keinMensch versteht, warum zum Beispiel Birnen oder Apfelsinen …
2 Wirtschaft
50 stern 3 / 2 0 1 3
EPILOG
oder: „Mission: Impossible“ im Kino 7 Prozent, auf DVD 19 Prozent
„Wir können g’rad machen, was wir wollen. Solange wir zweiunterschiedliche Mehrwert-steuersätze haben, werden wir uns mit diesem Thema völlighoffnungslos wieder und wieder herumschlagen. Es wird keine überzeugende Lösung geben.Aber irgendwann eines Tages,wenn die Stunde ist, muss mandie Chance nutzen, einen ein-heitlichen Steuersatz zu machen.“Wolfgang Schäuble in seiner Rede
auf dem Steuerforum 2012
des Zentralverbands des Deutschen
Handwerks
*Kurz vor Weihnachten 2012
taucht im Bundesfinanzministe-
rium ein Papier auf, in dem die
Abschaffung des reduzierten
Mehrwertsteuersatzes erwogen
wird. Ein Sprecher Schäubles
dementiert prompt: „Es gibt
keine derartigen Pläne für nach
der Wahl.“
Die Kommission zur Reform der Mehrwertsteuer tagteexakt null Mal.
NACHTRAG Wer immer nach der Wahl
im Herbst 2013 regiert, ob Rot-
Grün, Schwarz-Gelb, Ampel
oder Große Koalition, wird eine
Reform der Mehrwertsteuer
beschließen – und dann abwar-
ten. Der Irrsinn geht weiter.
Jede Wette. Veränderungen
brauchen Zeit, in der Politik wie
im richtigen Leben. Guckt in
eure Keller!
vor. Verfügt der Imbissstandneben den Stehtischen über ausBänken und Tischen bestehende Bierzeltgarnituren, liegen nicht begünstigende Leistungen vor. Auf die tatsächliche Inanspruch-nahme der Sitzgelegenheitenkommt es nicht an.“Aus einem Schreiben des Bundes-
finanzministeriums an die Obersten
Finanzbehörden der Länder vom
1. August 2012. Darin versuchen die
Beamten auch zu klären, wann ein
Partyservice oder andere Caterer
nur 7 Prozent Mehrwertsteuer auf
die „zubereiteten, verzehrfertigen
Speisen“ berechnen müssen und
wann den vollen Satz. Dieser wird
bereits dann fällig, wenn Besteck
oder Geschirr mitgeliefert wird;
ob Plastik oder Porzellan, ist egal.
Für „Mahlzeitendienste“ wie „Essen
auf Rädern“ gilt das allerdings nicht
und somit der ermäßigte Satz.
„Der Deutsche Steuerberater- verband bedauert, dass die Diskussion zur Reform der Umsatzsteuer eingestellt wurde.Unter Berücksichtigung derweitreichenden Abgrenzungs-
schwierigkeiten im Zusammen-hang mit den derzeit beste- henden Steuerermäßigungen – der vorliegende Entwurf ist ein weiteres Beispiel hierfür – sollten die Gespräche bezüglich einer Neukonzeption dringend (wie-der) aufgenommen werden. Eine tatsächliche Vereinfachung kann allein durch die Einleitung einer grundlegenden Reform erreicht werden.“Aus der Reaktion des Steuer-
beraterverbandes vom 21. Septem-
ber 2012 auf das Schreiben des
Finanzministeriums
2
… oder Bratwürstemal mit 7 oder mal mit 19 Pro-zent besteuert werden, sagt die Politik …
… das ändern wirjetzt. Dann macht
sie aber doch nix. Und am Ende
frisst sowieso alles das Krokodil
3 / 2 0 1 3 stern 51
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Nein, auf den ersten Blick
hat der 63-jährige CDU-
Fraktionsvize und Wirt-
schaftsexperte so gar
nichts mit James Bond gemein-
sam. Der Koblenzer Christdemo-
krat und der Agent im Auftrag
Ihrer Majestät – definitiv zwei
Welten. Man muss schon genauer
hinsehen, um Fuchs’ Geschäfts-
beziehungen zu einem Londoner
Unternehmen zu entdecken, dem
enge Verbindungen zum briti-
schen Auslandsgeheimdienst MI6
nachgesagt werden. Und ein biss-
chen erinnert es sogar an Schlapp-
hutmanier, wie die Verbindung
zwischen Fuchs und der Firma
über vier Jahre lang verborgen
blieb.
Es ist jedenfalls neuer Stoff für
die Debatte über die Nebentätig-
keiten von Bundestagsabgeord-
neten, die SPD-Kanzlerkandidat
Peer Steinbrück unfreiwillig aus-
gelöst hat. Seit August 2008 hielt
der CDU-Politiker Fuchs mehr
als 13 Vorträge für das Londoner
Beratungsunternehmen Hakluyt &
Company. Allein 2012 stand
Fuchs vier Mal in London auf der
Matte. Die Firma zahlte ihm da-
für in all den Jahren zusammen
über 57 000 Euro.
Hakluyt & Company eilt nicht
der allerbeste Ruf voraus, obwohl
unter ihren Anteilseignern heute
auch der frühere BDI-Präsident
Hans-Peter Keitel ist. Ursprünglich
mitgegründet von Ex-Mitarbeitern
des James-Bond-Dienstes MI6, ver-
rät die Firma bis heute sehr wenig
über ihre Tätigkeiten, die sich
irgendwo zwischen Wirtschafts-
detektei und Privatgeheimdienst
bewegen. In die Schlagzeilen ge-
riet sie vor einigen Jahren wegen
einer fragwürdigen Aktion: Für
Hakluyt forschte ein Mann mit
deutscher Geheimdienstvergan-
genheit in den Neunzigern die
Umweltschutzorganisation Green-
peace aus, getarnt als linker Sym-
pathisant. Hakluyt arbeitete damals
für BP und Shell. Im November
2011 wurde in China der Brite Neil
Heywood ermordet, von der Frau
des damaligen hohen KP-Funk-
tionärs Bo Xilai. Kurz danach kam
heraus, dass Heywood zumindest
gelegentlich auch für Hakluyt ge-
arbeitet hatte – und dass Hey-
woods Informationen auch beim
MI6 gelandet sein sollen.
Dennoch blieb der CDU-Mann
Fuchs von Nachfragen wegen sei-
ner London-Connection bisher
verschont. Der Grund: Auf der
Bundestagswebsite war in all
den Jahren nicht der korrekte
Firmenname angegeben, sondern
die nach demselben historischen
Namensgeber – einem britischen
Geografen – benannte Hakluyt
Society.
Die hat mit dem Unternehmen
jedoch nichts zu tun. Es ist eine
1846 gegründete ehrwürdige Fach-
gesellschaft, die alte Reisebe-
schreibungen verlegt. Bei der So-
ciety war man bass erstaunt, als
sich ein Rechercheur der Organi-
sation Abgeordnetenwatch im ver-
gangenen Jahr erstmals wegen
der vielen Reden des Herrn Fuchs
erkundigte – und dabei auf die
mögliche MI6-Verbindung stieß.
Inzwischen räumt Fuchs zwar
ein, dass sein Auftraggeber in
der Tat die Company im exklusi-
ven Londoner Stadtteil Mayfair
war, weist aber jeden Vorwurf zu-
rück. Er habe den Firmennamen
stets korrekt beim Bundestag an-
gegeben.
Ganz so wird das vom Bundes-
tag nicht bestätigt. Fuchs habe
den Namen „Hakluyt“ angegeben
und dabei „einmal auch“ von
„Hakluyt & Co“ gesprochen. Aber
wenn das stimmt – warum ver-
fremdete der Bundestag über
mehr als vier Jahre hinweg diese
Angaben zur „Hakluyt Society“,
bevor sie online gestellt wurden?
Dies „lässt sich leider nicht mehr
rekonstruieren“, behauptet eine
Mitarbeiterin von Parlamentsprä-
sident Norbert Lammert (CDU).
Und warum fiel dessen Partei-
freund Fuchs in all den Jahren nie
auf, dass auf seiner Bundestags-
seite ein falscher Name prangte?
Auch das bleibt im Dunkeln, denn
der CDU-Mann will sich zu kei-
nerlei Details der Sache öffentlich
äußern. Er kann sich nicht ein-
mal genau entsinnen, zu welchen
Themen er in London in solch
raschem Rhythmus Vorträge hielt.
Kurios überdies, dass sein Lands-
mann Keitel, der bei Hakluyt im
Beirat sitzt, von der intensiven
Redetätigkeit seines Landsmanns –
den er gut kennt – gar nichts mit-
bekam. Er habe davon „keine
Kenntnis“, ließ er mitteilen.
Ein Ausmaß an Konspiration,
so scheint es, das auch für einen
James Bond wenig zu wünschen
übrig ließe. Und tatsächlich: In
den ersten Jahren von Hak-
luyt & Company war auch ein ge-
wisser Fitzroy MacLean dabei –
angeblich das Vorbild für Ian Fle-
mings berühmten Agenten 007.
Mathew D. Rose, Hans-Martin Tillack
2
Sein Name ist Fuchs, Michael FuchsLondon calling – seit Jahren hält der CDU-Politiker Vorträge bei einer Firma, die Verbindungen zum britischen GEHEIMDIENST haben soll
Falscher Firmenname: Nicht bei der harmlosen Hakluyt Society (wie auf seiner Bundestags -website angegeben) hielt Michael Fuchs Vorträge, sondern beim Beratungsunternehmen Hakluyt & Company. Gelohnt hat sich’s. Entgeltliche Tätigkeiten der „Stufe 2“ schlagen mit 3500 bis 7000 Euro zu Buche
52 stern 3 / 2 0 1 3
2 Politik
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Die Pfad-FinderSERIE, TEIL 1
Schlanker, schöner, frischer: Die neueFünf Frauen und Männer haben sich
Fünf Menschen am Start: Kirsten Lietz will mehr selbst kochen, Florian van de Wauw in Bewegung kommen. Audrey Pohl-Großer und Axel Sandmann möchten besser mit Stress um-gehen, Sonja Krabbes wird viel schwimmen
54 stern 3 / 2 0 1 3
stern-Serie zeigt, wie es gelingen kann, mehr LEICHTIGKEIT INS SEIN zu bringen. Ziele gesetzt – und machen sich auf ihren jeweils ganz eigenen Weg
Titel 2
SCHWERPUNKT: STRESSMANAGEMENT
Axel Sandmann, 47, Maklerbetreuer im Versicherungswesen, 98 Kilo bei einer Größe von 1,88 Meter (BMI: 27,8)
ZIEL: „Mit 95 Kilo geht es mir
gut, aber mein absolutes
Wohlfühlgewicht liegt bei 90 Kilo.
Da will ich hin – weil ich mich
damit fit fühle, beweglich bin
und beim Joggen keine Schmerzen
in den Gelenken habe.“
WEG: „An stressigen Tagen
kontrolliere ich kaum, wie viel ich
esse. Ich möchte mich darauf
konzentrieren, meine Anspannung
regelmäßig abzubauen – dann
wird sich auch mein Gewicht
regulieren lassen.“
Der Taillen- umfang deutscher Frauen ist von 1994 bis 2009 um durch- schnittlich 4,1 Zentimeter gewachsen
Ein einfaches „Tschüs“
hätte es auch getan.
Oder ein „Auf Nimmer-
wiedersehen“. Aber
dann gab es doch noch
ein Feuerwerk, eine
Flasche Sekt und einen definitiv
letzten Krapfen. Danach war klar:
Ab jetzt wird alles anders – we-
niger Couch, weniger Futter,
weniger Kilos. 34 Prozent der
Deutschen starteten 2013 mit
dem großartigen Vorsatz ab-
zunehmen. Mit der Sehnsucht
nach einem gesünderen, leichte-
ren Körper.
Viele allerdings werden bald
schon sagen: War wohl nichts.
Die Naschbox ist dann wieder
prall gefüllt, die Gewichtskurve
klettert aus einer kurzzeitigen
Baisse nach oben. Rund vier
Millionen Deutsche versuchen
sich jedes Jahr an einer Diät. Der
überwiegende Teil scheitert.
Und das fast zwangsläufig. Viel
zu rabiat attackieren die meisten
ihre Fettreserven, und viel zu
pauschal. Dabei zeigt die For-
schung: Es gibt ihn nicht, den
Königsweg ins leichte Leben.
Wer dauerhaft formschön und fit
sein will, braucht anderes als
eine One-fits-all-Diät. Er muss
seine individuellen Schwächen
kennen und seine Stärken. Und
einen Plan machen, der zu ihm
passt: einen durchdachten Mix
aus besserer Ernährung und
mehr Bewegung. Mit Komponen-
ten, die die Seele stärken und
den Umgang mit alltäglichem
Stress erleichtern.
Der stern möchte Ihr Begleiter
sein auf dem Weg ins leichte
Leben. Die fünf Folgen dieser Se-
rie beschreiben Schritt für Schritt,
wie sich das persönliche Ziel und
der eigene Weg finden lassen.
Fünf Frauen und Männer gehen
an den Start und zeigen, wie es
gelingen kann, dem Leben eine
gesunde Wendung zu geben –
nachhaltig, mit Elan und Spaß.
Am Anfang stehen Fragen, die
banaler klingen, als sie sind: Wie
viel will ich abnehmen – und
warum? Geht es wirklich darum,
dass die Ziffern der Waage weni-
ger anzeigen? Geht es darum,
leichter zu sein? Oder attraktiver?
Gesünder?
Vielleicht müssen zum Errei-
chen des Ziels ja gar nicht zehn
Kilo runter, sondern nur drei.
Und dazu gibt es dann ein effek-
Von SILKE PFERSDORF, NICOLE
SIMON (Text), ISADORA TAST
(Fotos) und ANDREW TIMMINS
(Illustrationen)
*Zur Berechnung des BMI teilen Sie Ihr Gewicht in Kilogramm durch Ihre Körpergröße in Metern zum Quadrat. Beispiel: Ein 1,85 Meter56 stern 3 / 2 0 1 3
2 Titel
SCHWERPUNKT: ERNÄHRUNG
Kirsten Lietz, 31, Teamleiterin in der Unternehmenskommuni-kation einer Zeitarbeitsfirma, 105 Kilo bei einer Größe von 1,70 Meter (BMI: 36,4)
ZIEL: „Ich möchte vor allem ein
besseres Körpergefühl. Schon
mit ein paar Kilo weniger werde
ich nicht mehr so müde sein,
mehr Energie und Ausstrahlung
haben. Irgendwann will ich
wieder in Größe 40 passen.“
WEG: „Bei mir ist der Knack-
punkt die Ernährung, das zu
spontane Essen. Genau da will
ich auch beim Abnehmen an-
setzen. Ich werde für mich und
die Familie vorkochen. Und wir
starten künftig den Tag mit
Getreidemüsli statt Brötchen.“
Fast jeder vierte 14- bis 29-Jährige ersetzt regelmäßig Mahlzeiten durch Snacks
tives Muskeltraining. Auch ober-
halb des „Normalgewichts“ kann
der Mensch in aufsehenerregen-
der Form sein. Und ganz gewiss
gesund.
Vorbei die Zeiten, in denen der
Body-Mass-Index (BMI)* als ver-
lässliche Größe zur Berechnung
eines medizinisch vertretbaren
Gewichts galt. Mitte der 90er
Jahre hatte die WHO verkündet,
dass ein BMI von 18,5 bis 24,9
als „normal“ und wünschenswert
gelten sollte. Zwischen 25 und
29,9 verortete sie „Übergewicht“,
ab 30 „Adipositas“ – Fettsucht.
Das Verhältnis von Speck zu
Muskeln? War damals völlig egal.
Heute ist klar: Wer beschwert
wird von opulenten Kraftpaketen,
hat keinen Anlass, Diät zu halten.
Und auch vielen anderen, die
sich jenseits der magischen 25er-
Grenze bewegen, geht es trotz
ihres vermeintlichen Überge-
wichts ganz prächtig. Die Wahr-
scheinlichkeit für einige Krankhei-
ten liegt bei ihnen höher als bei
schlankeren Mitmenschen, für an-
dere hingegen niedriger.
Alles in allem ist das Risiko
baldigen Ablebens für Mol-
lige geringer als für Norm-
gewichtige. Das Langlebigkeits-
Optimum liegt laut Statistik
bei einem BMI von 27 – vor
dem 70. Lebensjahr. Jenseits die-
ser Marke ist es sogar sicherer,
noch ein paar Kilo mehr auf den
Knochen zu haben. „Die bis-
herige An nahme, Übergewicht
berge ge genüber dem sogenann-
ten Normalgewicht ein erhöhtes
Morbiditäts- und Mortalitätsri-
siko, muss spezifiziert werden“,
lautet etwas sperrig das Fazit
von Hamburger Gesundheitsfor -
schern, die das Thema im Auf-
trag der Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung um-
fassend untersuchten. Kein Grund
also, sich zu sorgen, nur weil man
auf einen BMI von 27 oder 28
kommt.
Jenseits von BMI 30, da sind
sich die Wissenschaftler weitge-
hend einig, wachsen die Risiken.
Schwere Fettleibigkeit (mit einem
BMI von mehr als 35) geht einher
mit einer klaren Zunahme an
Diabetes, Fettleber und
Bluthochdruck. Gerade
hat eine Meta-Analyse
von US-Forschern wie-
der gezeigt, dass bei
den Superdicken die
Lebenserwartung deut-
lich verkürzt ist.
Für die Gesundheit
der U-30er hingegen ist
nicht die Zahl der Pfunde
an sich von Bedeutung,
sondern die Frage, wo
diese lagern. Das soge-
nannte viszerale Fett, das
vor allem als Rettungsring
um die Leibesmitte ➔
großer Mann mit 90 Kilo Gewicht hat einen BMI von 26,3. Denn 90 : (1,85 x 1,85) = 90 : 3,4225 = 26,3. 3 / 2 0 1 3 stern 57
34 Prozent der Deutschen wollen 2013 abnehmen
sichtbar wird, platziert sich zwi-
schen und in den Organen und
setzt dort entzündungsfördernde
Stoffe frei, die Diabetes und
Gefäßerkrankungen begünstigen.
Auch wenn sich das individuelle
Risiko nicht sicher mit dem Maß-
band bestimmen lässt, arbeiten
Ärzte mit einem Orientierungs-
wert: Beträgt der Taillenumfang
bei Frauen mehr als 87, bei
Männern mehr als 101
Zentimeter, ist es wohl
Zeit, etwas zu tun.
Wer genau wissen
möchte, ob sein Ge-
wicht noch gesund ist,
sollte sich vom Arzt
durchchecken lassen.
Neben dem Bauchum-
fang zeigen nämlich
auch Blutdruck, Cho-
lesterin- und andere
Blutfettwerte, ob es
medizinische Gründe zur
Selbstverkleinerung gibt.
Die Untersuchungen kann der
Hausarzt vornehmen oder der
Sportarzt. Wobei Letzterer den
Vorzug hat, dass er nicht nur bei
der Bestimmung des Abnehm-
Ziels helfen kann, sondern auch
speziell bei der Suche nach dem
richtigen Weg dorthin.
Falsche Ernährung, zu wenig
Bewegung, ein ungesunder Um-
gang mit schlechten Gefühlen:
Wie die Zahnräder einer großen
Maschine greifen diese Probleme
ineinander und treiben das Ge-
wicht nach oben – aber wie bei
einer Maschine bewirkt oft schon
das Drehen an einer Stellschrau-
be, dass auch andere Schrauben
sich leichter bewegen lassen und
schließlich alle Räder wieder
rund laufen.
Doch wo beginnen? Um das
beantworten zu können, gilt
es, mehrere Fragen zu stellen:
Welche Veränderungen sind me-
dizinisch angeraten – und vor
welchen warnt der Arzt? Wo
liegt das größte Problem? Und,
auch dies ganz wichtig: Was
macht am meisten Spaß?
Veränderungen, die Freude
bringen, hält der Mensch eher
durch als quälende. Und die ers-
ten Schritte müssen nicht gewal-
tig sein. Jeder kleine Erfolg pflegt
das Selbstbewusstsein und macht
die nächste Etappe leichter.
Psychologen sprechen von der
Erfahrung der „Selbstwirksam-
keit“, die Motivation und Wil-
lensstärke wachsen lässt.
Florian van de Wauw hätte am
meisten Lust auf Bewegung,
das war ihm schon klar, ehe
er zur Untersuchung ging. „Als
ich noch regelmäßig Sport machte,
war ich körperlich leistungs fähi-
ger, habe mich fitter gefühlt, im
Winter nicht gefroren, die Klamot-
ten passten besser – mein Gesamt-
gefühl war einfach angenehmer.“
Muskelmessung: Kirsten Lietz bei der sport- medizinischen Untersuchung
Fitnesscheck: Sonja Krabbes auf dem Fahrradergo-meter. Die Maske dient zur Analyse der Atemgase
58 stern 3 / 2 0 1 3
2 Titel
SCHWERPUNKT: STRESSMANAGEMENT
Audrey Pohl-Großer, 48, Bankkauffrau, 62 Kilo bei einer Größe von 1,65 Meter (BMI: 22,8)
ZIEL: „Ich möchte wieder beim
Bikinikaufen in der Umkleide-
kabine stehen und mit meiner
Figur zufrieden sein. Vier
Kilo weniger und ein strafferer
Bauch wären schön.“
WEG: „Unter Spannung oder
wenn ich mich ärgere, greife ich
sofort zu Schokolade und
Pralinen. Ich muss lernen, in
Stresssituationen auch
ohne Extrakalorien runterzu-
kommen. Und ich werde ein
bisschen mehr Sport treiben.“
Rund 42 Prozent der 14-jährigen Mädchen in Deutsch-land haben schon mindestens eine Diät gemacht
Doch das ist eine ganze Weile
her. Heute wiegt der 34-Jährige
106,5 Kilo bei einer Größe
von 1,83 Meter und glaubt ei-
gentlich nicht, dass er loslegen
darf, ehe er abgespeckt hat. Aber
der Check-up im Hamburger
Institut für Sport- und Bewe-
gungsmedizin bringt Überra-
schungen.
Erst einmal muss van de Wauw
Blut und Schweiß lassen im Labor
und auf dem Ergometer. Seine
Atmung wird getestet, die Musku-
latur überprüft. Wichtige Tests,
die zeigen: Wo sind die Schwach-
stellen? Wann bleibt die Puste
weg? Wie verhält sich das Herz
unter Belastung, und was kann
man dem Körper zumuten? Eine
der sechs Personen, die ihr Leben
mit stern-Begleitung umkrempeln
wollten, musste schon ausschei-
den. Die Untersuchung hatte ge-
zeigt, dass ihr Herz nicht gesund
war.
Auch Florian van de Wauw
konfrontiert der Sportmediziner
Klaus-Michael Braumann nach
dem Check erst einmal mit er-
nüchternden Fakten: unterdurch-
schnittliche Fitness, beiderseits
verkürzte Schultergürtelmuskula-
tur, erhebliche Verkürzungen
auch in der Muskulatur von
Hüfte und Waden, die Laborwerte
geben Hinweise auf ein erhöhtes
Diabetes-Risiko. Van de Wauw, so
viel ist klar, muss dringend ab-
nehmen. Und vor Bewegung will
Braumann ihn nicht etwa war-
nen, er empfiehlt sie mit großem
Nachdruck. „Da war ich doch
positiv überrascht“, sagt van de
Wauw.
Eine innere Blockade ist damit
aus dem Weg geräumt. „Viele
Leute, die sich seit Jahren nicht
richtig bewegt haben, sind total
verunsichert. Sie haben große
Angst, dass sie etwas kaputt ma-
chen“, sagt der Mediziner Brau-
mann. Einige Frauen seien bereits
irritiert, wenn ihnen beim Belas-
tungstest auf dem Fahrradergome-
ter warm werde. „Ich höre sogar
oft das Argument, da könne doch
eine Ader im Gehirn platzen.“
Auch die anderen Männer und
Frauen, die sich bei Braumann
haben checken lassen, dürfen
loslegen. Die Untersuchungen
brachten einiges ans Licht: ver-
kümmerte Muskeln, schlechte
Blutwerte, Mangelerscheinun-
gen, hier und da eine miese
Kondition und eben auch
medizinisch bedenkliches
Übergewicht.
Wie Florian van de
Wauw will auch Sonja
Krabbes zunächst ein-
mal an der Schraube Be-
wegung drehen. Nicht,
dass sie bis jetzt nichts
getan hätte – sie
schwimmt und sie walkt,
und das macht ihr auch ➔
3 / 2 0 1 3 stern 59
SCHWERPUNKT: BEWEGUNG
Florian van de Wauw, 34, Salesmanager, 106 Kilo bei einer Größe von 1,83 Meter (BMI: 31,8)
ZIEL: „Ich will fitter werden
und beweglicher, mich wohler
fühlen und wieder in meine alten
Klamotten passen. Und der Arzt
hat gesagt, auch für meine
Gesundheit sei Abnehmen wich-
tig. 15 Kilo kommen runter.“
WEG: „Wenn ich mich mehr
bewege, plane ich Sporteinheiten
irgendwann wieder automatisch
in meinen Alltag ein – das ist wie
eine Initialzündung. Natürlich
muss ich, um abzunehmen, aber
auch meine Ernährungsgewohn-
heiten ändern.“
Ein Postbote macht im Schnitt täg-lich 18 000 Schritte, ein Verkäufer nur 5000
Spaß. Gerade für sie ist aber laut
Untersuchungsbericht die körper-
liche Betätigung „von heraus-
ragender Bedeutung“, zusätzlich
zu einer ausgewogenen Ernäh-
rung. „Ich möchte für meine Ge-
sundheit das Richtige tun“, sagt
die 52-Jährige. „Vor drei Jahren
bekam ich Rückenprobleme, da
stand ich auf der Waage und dach-
te: So geht das nicht weiter. Für
die Bandscheiben ist das
Gewicht ja auch entschei-
dend. Ich nahm 29 Kilo
ab, dann wurde ich
krank, musste lange
Kortison nehmen und
hatte viel wieder
drauf. Jetzt mache
ich einen neuen
Anlauf, und mehr
Sport ist dabei für
mich sehr wichtig.“
Ob Laufen, Schwim-
men oder Eisenstemmen
– regelmäßige Ertüchti-
gung verbessert Körperform und
-gefühl, macht Lust auf noch
mehr Bewegung. Ein Selbstläu-
fer. Und eben ein gesunder: Sport
senkt die Blutfettwerte und setzt
entzündungshemmende Stoffe
frei. Das Immunsystem wird akti-
viert, sogar die Bildung und Ver-
drahtung von Nervenzellen im
Gehirn wird durch Muskelaktivi-
tät gefördert. Außerdem: Bewe-
gung lässt Botenstoffe wirken,
die die Stimmung heben. Sie
stärkt die Psyche, macht sie
widerstandsfähiger gegen Stress.
Und natürlich hat Bewegung
auch Einfluss auf das Ge-
wicht. Kontinuierlich holt
sich jeder Muskel aus der Blut-
bahn Traubenzucker und Fettsäu-
ren, um sie zu verbrennen – wo
mehr Muskeln sind, wird mehr
verbrannt. Selbst im Ruhezustand
benötigen die Faserbündel mehr
Energie als Fettzellen. So steigern
sie den Grundbedarf des Körpers
– man verbraucht mehr Kalorien,
auch wenn man auf dem Sofa liegt.
Und doch weiß Sonja Krabbes,
dass Bewegung allein sie nicht
dramatisch dünner machen wird.
„Nur mit Sport abzunehmen ist
mühselig, da sollte man sich
nichts vormachen“, sagt Brau-
mann. Um ein halbes Kilo zu ver-
lieren, muss man 56 Kilometer
stramm spazieren gehen. Und ein
Kilo zusätzlicher Muskelmasse
verbraucht im Jahr rund 2,5 Kilo
Fett. Nicht viel für jemanden, der
richtig Pfunde lassen will. Über
kurz oder lang muss jeder ambi-
tionierte Abspecker deshalb auch
das Thema Ernährung angehen.
Das wichtigste Werkzeug dafür:
ein Esstagebuch, penibel zu füh-
ren über mindestens eine Woche –
und am Ende zuweilen ein Quell
irritierender Erkenntnisse. Kirs-
ten Lietz hat jeden Pott Tee aufge-
schrieben, jedes Brötchen (Kör- ➔
60 stern 3 / 2 0 1 3
2 Titel
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1. ZielbestimmungDer Weg zu einem besseren Lebensge-fühl beginnt mit scheinbar schlichten Fragen: Warum will ich eigentlich abnehmen? Möchte ich attraktiver werden oder beweglicher, gesünder? Geht es vor allem um Anerkennung oder um ein besseres Körpergefühl? Seien Sie ehrlich zu sich selbst: Ist Ihr Ziel wirklich mit Gewichtsreduktion zu erreichen, beziehungsweise ist sie dafür nötig? Wenn es Ihnen um die Gesundheit geht, sollten Sie sich weniger an Kilozahl und BMI als am Bauchumfang orientieren: Bei Frauen gelten mehr als 87 Zentimeter als be-denklich, bei Männern mehr als 101. Kommen Sie zu dem Schluss, dass Sie wirklich Gewicht verlieren möchten, überlegen Sie, wie viel. Falls es mehr als zehn Kilo sind, sollten Sie sich rea-listische Etappenziele setzen.
2. Medizinischer CheckEgal, ob Sie abnehmen oder sich an-derweitig in Form bringen möchten: Lassen Sie sich, ehe Sie loslegen, vom Arzt durchchecken. Er sollte Muskeln und Gelenke untersuchen, dazu Herz und Lungen, Blutfette, Zuckerwerte und Blutdruck. Dann kann er Ihnen nicht nur sagen, ob es womöglich von Ihnen selbst nicht erkannte medizi-nische Gründe zum Abnehmen gibt, sondern auch, ob Ihr Körper fit genug für ein komplexes Bewegungspro-gramm ist. Ein Sportmediziner wird Ihnen zudem helfen, ein für Ihren Körper und Ihr Ziel optimales Bewe-gungsprogramm zu entwickeln.
3. Ernährungs-CheckWer schwarz auf weiß dokumentiert, wann und wie viel er isst oder trinkt, erkennt, wo sich Kalorien am besten einsparen lassen. Notieren Sie min-destens eine Woche lang jeden Bissen und jeden Schluck. Schreiben Sie auch auf, in welchen Situationen und Stimmungen Sie gegessen und getrunken haben. Vielleicht werden Sie überrascht sein, wie groß der Ein-fluss Ihrer Gefühle auf Ihre Ernährung
ist. Wenn Sie keine Vorstellung davon haben, welche Lebensmittel beson-ders anschlagen, sollten Sie sich die Mühe machen, die Kalorien zu all ihren Eintragungen herauszusuchen – entsprechende Tabellen finden Sie im Buchhandel oder im Internet (zum Beispiel: www.uni-hohenheim. de/wwwin140/info/interaktives/ lebensmittel.htm).
4. Stress-CheckOft gibt schon das Ernährungstage-buch Hinweise auf eine erhöhte Stress-belastung. Denn schlecht bewältigter Druck im Alltag kann sich nicht nur durch Schlafstörungen, Niedergeschla-genheit und Schäden an den Gefäßen zeigen, sondern auch in der Ernährung. Suchen Sie also in Ihren Aufzeichnun-gen nach Zusammenhängen zwischen mentaler Belastung und reichlichem Essen. Auf Seite 62 finden Sie zudemeinen wissenschaftlich evaluierten Fra-gebogen, der Ihnen hilft, Ihren Umgang mit Stress einzuschätzen. Wer dort aufdeutlich überdurchschnittliche Werte
kommt, sollte nicht nur sein Ess- verhalten hinterfragen, sondern seine gesamte Lebensführung.
5. Weg festlegenDie Einschätzungen des Mediziners und Ihre Erkenntnisse nach Auswertung von Esstagebuch und Stresstest bieten eine gute Grundlage für die Festlegung Ihres individuellen Wegs. Konzentrie- ren Sie sich zunächst auf ein oder zwei Schwerpunkte. Diese Initialveränderun-gen sollten Ihnen möglichst leicht-fallen, also Ihren Neigungen entgegen-kommen. Und sie sollten in Bereichen liegen, von denen Sie sich schnelle Erfolge versprechen. Wer immer schon Freude an Bewegung hatte, kann versu-chen, erst einmal wieder in die Gänge zu kommen, und das Thema Ernährung nachrangig behandeln. Wer glaubt, dass ihm anderes Essen oder ein klüge-rer Umgang mit Stress leichterfallen, sollte dort ansetzen. Wie Sie im Ein- zelnen vorgehen können, lesen Sie in den nächsten Folgen dieser Serie.Nicole Simon
ZIEL UND WEG
So gehen Sie an den StartLernen Sie Ihre Stärken und Schwächen kennen – und handeln Sie danach
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Leib und Seele: Ein gut geführtes Ernährungstage-
buch offenbart
nicht nur, was einer isst – sondern oft
auch, warum
Befürchtung, dass irgendetwas Unangenehmes passiert
Ich bemühe mich vergebens, mit guten Leistungen Anerkennung zu erhalten
Zeiten, in denen ich zu viele Verpflichtungen zu erfüllen habe
Zeiten, in denen ich sorgenvolle Gedanken nicht unterdrücken kann
Obwohl ich mein Bestes gebe, wird meine Arbeit nicht gewürdigt
Erfahrung, dass alles, was ich zu tun habe, zu viel ist
Zeiten, in denen ich mir viele Sorgen mache und nicht damit aufhören kann
Zeiten, in denen ich nicht die Leistung bringe, die von mir erwartet wird
Zeiten, in denen mir die Verantwortung für andere zur Last wird
Zeiten, in denen mir die Arbeit über den Kopf wächst
Befürchtung, meine Aufgaben nicht erfüllen zu können
Zeiten, in denen mir die Sorgen über den Kopf wachsen
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nie selten manchmal häufig sehr häufig
Erfahrung In den letzten drei Monaten wie oft erlebt?
Wie gestresst bin ich?In der folgenden Tabelle sind Situationen beschrieben, die Sie womöglich schon erlebt haben. Auch in den vergangenen drei Monaten? Auf diesen Zeitraum kommt es bei diesem Test an. Wie oft also haben Sie im letzten Vierteljahr die Erfahrungen gemacht, die in der linken Spalte genannt werden? Rechts sehen Sie die fünf Antwort-möglichkeiten.
Bedenken Sie alle Situationen der Reihe nach, ohne zwischendurch eine auszulassen oder zu überspringen. Einige Aussagen klingen ähnlich. Bitte bearbeiten Sie sie trotzdem. Denn der vorliegende Test ist nach wissenschaftlichen Kriterien entwickelt und evaluiert worden. Nehmen Sie sich für jeden Punkt so viel Zeit, wie Sie möchten. Sie müssen also nicht spontan antworten.
TEST
Auswertung
Zu jedem Feld, das Sie angekreuzt haben, gehört ein bestimmter Zahlen-wert. Bilden Sie von allen angekreuzten Zahlen die Summe. Sie zeigt an, wie viel Stress Sie im Vergleich mit einem Durchschnitts-zeitgenossen haben.
0–5 Punkte Ihre Stressbelastung ist unter-durchschnittlich. Offenbar gehören Sie zu den Glücklichen, deren Leben in ruhigen Bahnen verläuft. Entweder das Schick-sal meint es besonders gut mit Ihnen, oder Sie haben die Fähigkeit, sich von Sorgen und Problemen wenig beeindrucken zu lassen. Im Idealfall kommt beides zusammen.
6–23 Punkte Sie haben eine durchschnitt- liche Stressbelastung. Wie bei den meisten Menschen gibt es auch in Ihrem Alltag Zeiten, in denen das Leben an Ihren Nerven zerrt. Sie finden aber offenbar immer wieder auch
Gelegenheit, zur Ruhe zu kommen und neue Kraft zu schöpfen.
24–48 Punkte Ihrem Testergebnis nach leiden Sie an einer überdurchschnitt-lichen Stressbelastung. Das kann an Bedingungen in Ihrem Leben liegen, auf die Sie wenig Einfluss haben. Andere Stress-quellen sind womöglich ver-meidbar. Und vielleicht können Sie auch lernen, mit Sorgen und Problemen entlastender umgehen, als das derzeit offen-bar der Fall ist. Gönnen Sie sich für Ihr Leben eine Marsch-erleichterung, vielleicht auch mit professioneller Hilfe.
(SCREENING-SKALA AUS DEM TRIERER
INVENTAR ZUM CHRONISCHEN STRESS (TICS)
VON P. SCHULZ, W. SCHLOTZ UND P. BECKER;
MIT FREUNDLICHER GENEHMIGUNG DES
HOGREFE VERLAGS)
62 stern 3 / 2 0 1 3
2 Titel
SCHWERPUNKT: BEWEGUNG
Sonja Krabbes, 52, Krippenerzieherin, 111 Kilo bei einer Größe von 1,74 Meter (BMI: 36,8)
ZIEL: „Mir geht es vor allem
um die Gesundheit. So viel
Gewicht geht auf die Bandschei-
ben. Mein Rücken schmerzt
ohnehin, und richtig wohl fühle
ich mich auch nicht. 20 Kilo
weniger sollten es schon sein.“
WEG: „Bisher habe ich einmal
pro Woche Sport getrieben,
bin gewalkt oder geschwommen.
Das hat mir immer Spaß
gemacht. Jetzt werde ich auf
dreimal erhöhen. Das ist
ein guter Anfang für viele Ände-
rungen im Leben.“
Frauen sitzen im Durch-schnitt 6,7 Stunden am Tag, Männer 7,1
ner), jedes Rührei (mit getrockne-
ten Tomaten und Nüssen) und
auch die Pralinen (10). Das alles
mit Uhrzeiten und Stimmungen.
„Manchmal hätte ich die Dinge,
die ich gegessen habe, lieber foto-
grafiert“, gibt die Hamburgerin
zu. „Wenn ich mehrere Brotschei-
ben eintragen musste, klang das,
als wäre ich total verfressen.“
Nach einer Woche stellte sie
angesichts ihres Protokolls
fest: Die Spontaneität, die
ihr Leben als berufstätige Mutter
mit einer äußerst quirligen Fami-
lie prägt, zeigt sich auch in ihrer
Ernährung. Kirsten Lietz isst, was
gerade im Kühlschrank liegt, ver-
sorgt sich in der Mittagspause
gern im Café gegenüber, kauft
ein, worauf die Familie eben Lust
hat, und wenn die Kinder Paula
und Jakob ein halbes Butterbrot
übrig lassen, wird auch das noch
verdrückt. „Mir war schon klar,
dass ich viel esse“, sagt sie. „Aber
nicht, dass es so viel außer der
Reihe ist. Gefühlte drei Schoko-
bonbons sind dann tatsächlich
neun. Und so ein Latte macchiato
zwischendurch macht ja auch
nicht dünner.“
Kirsten Lietz will sich in den
nächsten Wochen mehr bewegen.
Vor allem aber will sie anders es-
sen. „Für mich ist es wichtig, erst
mal schnell ein paar Pfund abzu-
nehmen“, sagt sie. „Wenn ich we-
niger wiege, bin ich nicht mehr so
müde, habe mehr Energie und
auch mehr Ausstrahlung, ich habe
dann ein besseres Körpergefühl.
Ich werde ganz automatisch die
Treppe nehmen und nicht mehr
die Rolltreppe.“
Auch Axel Sandmann hat die
erste Protokollwoche überrascht.
Während seiner Geschäftssitzun-
gen isst der Berater deutlich mehr
Kekse, als er vermutet hatte, und
die Tagungsabende enden oft mit
einem Glas Wein. „Das“, staunt
er, „summiert sich, das hätte ich
nicht gedacht.“
Alles in allem sind die Protokoll-
hefte nicht weniger aussagekräftig
als die Laborwerte. Sie dokumen-
tieren Nudelorgien, Schokoex-
zesse und allerlei nebenbei Ge-
futtertes. Viel Fertigessen, viele
Brote, viele, viele Kalorien, die
der Körper nicht braucht.
All den täglichen Ver-
suchungen ausschließlich
mit Tapferkeit zu begeg-
nen – das ist nahezu un-
möglich. „Gegen alte Ge-
wohnheiten kann man
nur bewusst steuern,
wenn man sie durch gang-
bare neue Gewohnheiten
ersetzt“, sagt der Ernäh-
rungspsychologe Christoph
Klotter von der Hochschule
Fulda, der die fünf Lebensver-
änderer auf ihrem Weg berät.
„Man sollte mit Änderun- ➔
3 / 2 0 1 3 stern 63
DIE WEITEREN FOLGEN
TEIL 2 Ernährung – leichter und gesünder: selbst kochen, bewusster genießen und auf Dauer besser essen
TEIL 3 Fitness nach Maß – der passende Sport für jeden: Warum die typgerechte Wahl so entscheidend ist
TEIL 4 Stress runter – Seele im Lot: Inseln im Alltag schaffen, einen gesunden Lebensrhythmus finden, motiviert bleiben
TEIL 5
Durchhalten! Was zählt,
ist Nachhaltigkeit: So schaffen
Sie dauerhafte Veränderungen,
bleiben gesund und fit
MEHR INFORMATIONEN
Viele Tipps für mehr Schwung
und Leichtigkeit im Leben finden
Sie in den stern.de-Ratgebern
„Ernährung“ und „Fitness“: www.stern.de/ernaehrung www.stern.de/fitness
gen beginnen, die einem leichtfal-
len, die ohne Qual zu Selbstver-
ständlichkeiten werden können.“
Das Hirn neue Gewohnheiten
lehren – für den einen kann das
heißen: nie mehr ohne Frühstück
aus dem Haus. Für den anderen
bedeutet es: Kein Nachschlag
mehr, ein voller Teller ist genug.
Das Öl kommt nicht mehr im
Strahl in die Pfanne, sondern mit
dem Pinsel. Und Magermilch
schmeckt gar nicht so schlecht.
Das Ernährungstagebuch er-
öffnet auch den Blick auf
das dritte Problemfeld vie-
ler Kilo-Kämpfer: das Emotions-
management. „Freundin wollte
zum Abendessen kommen, kurz-
fristig abgesagt“, notierte Kirsten
Lietz am 28. November. „Aus
Frust gleich noch zwei selbst ge-
machte Filo-Röllchen gegessen.“
Audrey Pohl-Großers Aufzeich-
nungen dokumentieren Tage vol-
ler Grünzeug, an denen sie nach 18
Uhr kein Kohlenhydrat mehr zu
sich nahm. Und andere Tage, an
denen sie das Wort Pralinen mit
zwei Ausrufezeichen versah und
dahinter nur resigniert „nicht ge-
zählt“ vermerkte. „Das war immer
dann, wenn es im Büro besonders
stressig war. Oder wenn mein
Sohn irgendwas Blödes gesagt hat-
te“, erinnert sie sich. „Manchmal
kam ich nach einem harten Tag
nach Hause und bin an den
Küchenschrank mit den Schoko-
kugeln gegangen, noch ehe ich
den Mantel ausgezogen hatte.“ Im-
mer deutlicher wurde ihr, dass der
Umgang mit Stress ihre größte
Hürde auf dem Weg zum gesünde-
ren Essen ist – und zu einem ge-
sünderen Leben. Denn der Dauer-
druck des Alltags kann sich nicht
nur am Bauch zeigen, sondern
auch in den Gefäßen.
Sieben Tage Esstagebuch, dazu
die Ratschläge des Arztes und das
Nachdenken über die eigenen Zie-
le, Stärken und Schwächen – das
war ein guter Anfang. In den nächs-
ten Wochen wird es dann richtig
losgehen. Mit Walken und Schwim-
men. Mit leckerem Selbstgekoch-
tem statt fettiger Fertigkost. Mit
effektivem Antistresstraining. Ein
jeder mit seinem eigenen Schwer-
punkt und nach seiner Fasson.
2013 wird ein Jahr der Verände-
rung, da ist Florian van de Wauw
sicher. „Ich will schlanker wer-
den und sehr viel fitter – ich will
ein neues Lebensgefühl.“ 2
Hand aufs Herz: Axel Sandmann bei der Ultraschall-untersuchung
seines Pumpmuskels
Zupackend: Mit einer Spezialzange wird Sandmanns Körperfett erfasst – auch unter dem Kinn
64 stern 3 / 2 0 1 3
2 Titel
68 stern 3 / 2 0 1 3
2 Til Mette
www.stern.de/mette Umfangreiches Archiv mit Til-Mette-Cartoons
ivw
S stern Gegründet von Henri Nannen †
GRUNER + JAHR AG & CO KG Druck- und Verlagshaus Sitz von Verlag und Redaktion: Am Baumwall 11, 20459 Hamburg,
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POLITIK UND WIRTSCHAFT Leitung: Norbert Höfler und Lorenz Wolf-Doettinchem, Jan Boris Wintzenburg (stv.). Redaktion: Catrin Boldebuck, Joachim Reuter, Doris Schneyink, Elke Schulze, Matthias Weber. Reporter: Silke Gronwald, Silke Müller, Rolf-Herbert Peters, Johannes Röhrig. Auto: Jan Boris Wintzenburg; Frank Janßen Telefon 040/37 03-36 00, Fax 040/37 03-57 27DEUTSCHLAND UND GESELLSCHAFT Leitung: Florian Gless und Michael Stoessinger, Nina Poelchau (stv.). Redaktion: Nicolas Büchse, Anette Lache, Dominik Stawski. Reporter: Uli Hauser, Kerstin Herrnkind, Kuno Kruse Telefon 040/37 03-44 70, Fax 040/37 03-57 10 AUSLAND Leitung: Hans-Hermann Klare und Peter Meroth. Redaktion: Raphael Geiger. Reporter: Dr. Andreas Albes, Cornelia Fuchs, Marc Goergen, Dr. Tilman Müller, Joachim Rienhardt, Bettina Sengling Telefon 040/37 03-35 93, Fax 040/37 03-57 29 WISSENSCHAFT, MEDIZIN UND TECHNIK Leitung: Dagmar Gassen und Christoph Koch. Redaktion: Dr. Helen Bömelburg, Nicole Heißmann, Werner Hinzpeter (Sonderaufgaben), Katharina Kluin, Inga Olfen. Reporter: Dr. Anika Geisler, Dr. Horst Güntheroth, Dr. Frank Ochmann Telefon 040/37 03-36 92, Fax 040/37 03-58 59KULTUR, UNTERHALTUNG UND MODE Leitung: Ulla Hockerts und Kester Schlenz. Redaktion: Oliver Creutz, Nora Gantenbrink, Stephan Maus, Andrea Ritter, Hannes Roß, Matthias Schmidt, Tobias Schmitz, Bernd Teichmann. Freie Mitarbeit: Jochen Siemens, Dirk van Versendaal. Mode: Aicha Reh, Cathrin Wißmann, Christine Zerwes Telefon 040/37 03-36 85, Fax 040/37 03-57 32SPORT UND LEBENSART Leitung: Stephan Draf, Christian Ewers (stv.). Redaktion: Alf Burchardt, Alexandra Kraft, Wigbert Löer, Beate Wieckhorst. Reporter: Mathias Schneider. Autor und kulinarischer Korrespondent: Bert Gamerschlag Telefon 040/37 03-44 06, Fax 040/37 03-58 41REISE Leitung: Kornelia Dietrich, Bernd Schwer (stv.) Telefon 040/37 03-44 06, Fax 040/37 03-58 41HUMOR UND SATIRE: Rolf Dieckmann. Telefon 040/37 03-35 50RÄTSEL: Telefon 040/37 03-35 75AUTOREN: Rüdiger Barth, Katja Gloger, Irmgard Hochreither, Harald Kaiser, Arno Luik, Ulrike Posche, Peter Pursche, Wolfgang Röhl, Annette Maria Rupprecht, Stefan Schmitz, Michael Streck, Walter Wüllenweber
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NACHRICHTENREDAKTION Leitung: Hans-Peter Junker Telefon 040/37 03-35 55, Fax 040/37 03-56 31
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Bildredaktion Andreas Eucker, Petra Göllnitz, Orsolya Groenewold, Volker Lensch, Beate Magrich, Stephanie Maroscheck, Harald Menk, Claudia Menzel, Guido Schmidtke. Assistenz: Anke Bruns, Jennifer Brück, Carolin Prohl, Isabelle Regnier, Alexandra Uhr Telefon +49/40/37 03-44 39, Fax +49/40/37 03-56 26, E-Mail: [email protected]
DESIGN-DIREKTION: Mark Ernsting
GRAFIK Leitung: Joachim Frank und Christiane Kröger-Stark, Susanne Gräfe (stv.), Carolin Kunz (stv.). Susanne Bremer, Felix Bringmann, Markus Dixius, Silvia Engelhardt, Johannes Ertel, Andreas Fischer, Sabine Harms, Ibrahim Kepenek, Birgit Ludwig, Nicole Prinschinna, John Skudra, Corinna Sobek, Susanne Söffker, Jürgen Voigt
INFOGRAFIK Leitung: Andrew Timmins, Bettina Müller (stv.). Ronja Beer, Harald Blanck, Suse Bordasch, Martin Freiling, Tina Nispel-Lonski, Melanie Wolter
BILDTECHNIK Leitung: Tanja Metzner. Julia Bähre, Gabriele Holona, Anna Prochnow
TITEL Manuel Dollt, Michel Lengenfelder, Derik Meinköhn, Mirtha Zavala. Freie Mitarbeit: Esther Schwarz Telefon 040/37 03-36 36DOKUMENTATION, LEKTORAT, BRIEFE Leitung: Dr. Jochen Murken und Ursula Hien. Susanne Elsner, Hildegard Frilling, Cornelia Haller, Christa Harms, Sandra Kathöfer, Judith Ketelsen, Mai Laubis, Michael Lehmann- Morgenthal, Gabriele Schönig, Cornelia Seßler, Andrea Wolf
REDAKTIONSMANAGEMENT: Catrin Bartenbach
LESERSERVICE: Stefanie Korte, Daniela Leopold
STERN-PROJEKTBÜRO Leitung: Nadja Töpper. Julia Boscheck, Patricia Korrell, Britta Liefländer, Anna-Laura Seidel
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KORRESPONDENTEN UND BÜROS
BERLIN UND OSTDEUTSCHLAND Leitung: Axel Vornbäumen, Jens König (stv.). Redaktion: Laura Himmelreich, Anja Lösel. Reporter: Andreas Hoffmann, Werner Mathes, Franziska Reich, Jan Rosenkranz, Holger Witzel. Investigative Recherche: Hans-Martin Tillack. Autoren: Tilman Gerwien, Andreas Hoidn-Borchers, Frauke Hunfeld, Jan Christoph Wiechmann. Fotoreporter: Michael Trippel SpreePalais am Dom, Anna-Louisa-Karsch-Straße 2, 10178 Berlin, Telefon 030/202 24-0, Fax 030/202 24-224BADEN-WÜRTTEMBERG Ingrid Eißele, Strümpfelbacher Straße 21, 71384 Weinstadt, Telefon 07151/61 05 16, Fax 07151/61 05 18BAYERN Felix Hutt, Dr. Georg Wedemeyer Weihenstephaner Str. 7, 81673 München, Telefon 089/41 52-280, Fax 089/41 52-281NORDRHEIN-WESTFALEN Gerd Elendt, Friedrich-Ebert-Straße 1, 40210 Düsseldorf, Telefon 0211/35 59 59 20, Fax 0211/35 23 38RHEIN-MAIN Frank Donovitz, Uhlandstraße 2, 60314 Frankfurt/Main, Telefon 069/15 30 97-87 46, Fax 040/37 03 17-87 46BANGKOK Bildredaktion: Dirk Claus, Bangkok, Telefon +66/2/715 35 77, E-Mail: [email protected]
BEIRUT Steffen Gassel, Telefon +961/70 02 68 72, E-Mail: [email protected]
BRÜSSEL Boulevard Charlemagne 1/40, 1041 Brüssel, Telefon +32/2/285 09 29, Fax +32/2/280 02 84ISTANBUL Stefanie Rosenkranz, Saray Arkasi Sok. 28/3, 34437 Beyoglu/Istanbul, Telefon und Fax +90/212/251 36 05 LONDON Gruner + Jahr Ltd, Silver House, 31 Beak Street, London W1F 9SX, UK, Telefon +44/20/74 85 37 09, Fax +44/20/75 04 58 67 Bildredaktion: Dagmar Seeland, 38 Yew Tree Road, GB – Southborough/Kent TN4 0BL, Telefon +44/1892/61 82 45, Fax +44/1892/61 81 27
LOS ANGELES Christine Kruttschnitt, 2255 Beverly Glen Place, Los Angeles, CA 90077, Telefon +1/310/470 16 14MOSKAU Dr. Andreas Albes, Kutusowskij Prospekt 7/4, Korp. 1, Kw. 244, 121248 Moskau, Telefon +7/495/956 20 92, Fax +7/495/956 20 93 Fotoreporter: Hans-Jürgen Burkard
NEW YORK Giuseppe Di Grazia, Martin Knobbe. Bildredaktion: Susanne Lapsien, Angelika Hala. Recherche: Anuschka Tomat. Freie Mitarbeit: Ulrike von Bülow; 535 Fifth Avenue, 29th Floor, New York N. Y. 10017, Telefon +1/646/884-71 00, Fax +1/646/884-71 11PARIS Claus Lutterbeck, 12, rue Saint-Germain l’Auxerrois, 75001 Paris, Telefon +33/1/75 58 36 43, Fax +33/1/42 25 55 33ROM Luisa Brandl, Viale delle Mura Gianicolensi, 4, 00152 Rom, Telefon +39/06/45 42 07 70SHANGHAI Janis Vougioukas, Grand Plaza, Block 3,2 B, No. 568, Julu Road, Shanghai 200040, Telefon +86/21/64 45 94 82, Fax +86/21/62 79 17 71, E-Mail: [email protected]
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3 / 2 0 1 3 stern 69
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2 Gesellschaft
70 stern 3/2013
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einmal ...… ein Präsidentenpaar, das wurde aus seinem Schloss vertrieben. Was blieb, war seine Liebe. Nun endet das Märchen. Bettina und ChristianWULFF haben sich getrennt
Wir sind Bundes-präsident: Der
frisch vereidigte Christian Wulff und
seine Frau Bettina am 2. Juli 2010 im
Ehrenhof von Schloss Bellevue
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Carsten Maschmeyer und Freundin Veronica im Dezember 2009mit verdienten Hannoveranern
Ladies first: Bettina Wulff und Michelle Obama im November 2010. Beide mit Fahne
Sie hat die Hosen an:
Bettina Wulff im Juli 2012 auf
einer Modeschau in Berlin – mit
weniger berühm-ten Damen
72 stern 3 / 2 0 1 3
Hochzeitstag im März 2008:
Natürlich nahm Christian Wulff
die Pinke
Gesellschaft 2
Herbst 2011: Im Garten der Präsidenten- villa checkt Bettina Wulff den Dienstwagen ihrer Kinder
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Herzlich beklommen:
Familie Wulff im Juli 2010 beim
Sommerfest auf Schloss Bellevue.
Sie hat Spaß, er versucht’s
Hallöchen. Christian Wulff holt seine Frau im Sep-tember 2012 am Flughafen Hannover ab
3 / 2 0 1 3 stern 75
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Wer sagt eigentlich, dass
er jetzt zu bedauern
ist? Christian Wulff ist
einmal senkrecht in den
Karrierehimmel geschossen und
einmal senkrecht abgestürzt. Er
hatte Frau und Kind, ließ sich
scheiden, heiratete eine prächti-
gere Frau, bekam noch ein Kind,
und nun lässt er sich möglicher-
weise wieder scheiden.
Na und?
Christian Wulff ist 53 Jahre alt,
und er ist Bettina los. Diese blonde
Hypothek aus Enttäuschungen,
Wunden und geplatzten Träu-
men. Er kann jetzt Freundinnen
haben. Er kann mit seiner Büro-
leiterin durch Berlin schlendern,
ohne zu Hause irgendetwas erklä-
ren zu müssen. Er muss nicht
mehr schon beim Frühstück in
ein ehemals „abgöttisch“ geliebtes
Gesicht gucken, das ihm und an-
deren seit einem Jahr eher wie
ein langer schmaler Vorwurf er-
schienen war: „Du hast uns alle
mit reingerissen“ stand auf ihrer
Stirn. Dazu dieser „Das verzeihe
ich dir nie“-Mund.
Magenschmerzen hatte sie
auch. Klar, seine Schuld. Tren-
nungen sind meistens schlimm.
Diese jedoch könnte für alle Be-
teiligten wie eine Erlösung sein.
Vielleicht war es Christian Wulff
mit Bettina Körner ja gegangen
wie mit den Ämtern, in die er
meist zufällig gerasselt war. Eine
Nummer zu groß, eine Liga zu
hoch. Er war einfach nicht ge-
macht für das Amt des Bundes-
präsidenten. Ihm fehlte sowohl
das Soignierte eines Richard von
Weizsäcker wie auch das väter-
liche Charisma eines Johannes
Rau oder eines Joachim Gauck.
Er hatte nie eine Chance in den
Schuhen, in die es ihn gelöffelt
hatte, nachdem Vorgänger Horst
Köhler zurückgetreten war. Und
er war auch nicht gemacht für
eine Frau wie Bettina Wulff. Sein
modisches Statement hieß Schild-
krötkrägelchen, ihres Tribal. Und
niemandem wäre es in den Sinn
gekommen, sie als peinliche Tat-
too-Tussi abzuhaspeln. Im Gegen-
teil. Ihr Muster am rechten Ober-
arm beflügelte Fantasien und gab
der Lady Glamour. In dieser Ehe
war er mehr Harz und sie mehr
Rocky Mountains. Sie hörte gern
die Toten Hosen, er mochte,
wenn der Hawaiianer Israel
Kamakawiwo’ole „Somewhere
Over The Rainbow“ sang. Er
hatte das Ansehen, sie das Ausse-
hen. Gepasst hat es eigentlich
nie. Sie waren einander eher wie
das Upgrade des Lebens. Sie flo-
gen zu hoch, als dass ihre Bezie-
hung auch in der Tiefebene hätte
überleben können. Oder in
Großburg wedel.
„Die sind emotional durch mit-
einander. Die reden nur noch so
viel wie nötig“, sagte, schon im
Herbst 2012, ein Mann, der dach-
te, einmal ein Freund gewesen zu
sein. Auch eine Ehetherapie, der
sich beide unterzogen hatten,
konnte sie nicht mehr zueinander-
bringen. Schon im Herbst glaub-
ten viele zu wissen, die Trennung
des einstigen First Couple stünde
unmittelbar bevor, aber dann
waren die van der Vaarts doch
noch schneller.
Das Buch „Jenseits des Proto-
kolls“, das die ehemalige
First Lady geschrieben hat-
te, wirkte auf den Bonner Politik-
professor Gerd Langguth wie eine
„fast öffentliche Aufkündigung
einer Ehe“. Schonungslos hatte
La Wulff auch über die Ehepro-
bleme während der Amts- und
Skandalzeit geschrieben. Gut weg
kamen darin eigentlich nur sie,
die Kanzlerin Angela Merkel und
Michelle Obama. Ungefähr in
dieser Reihenfolge. „Wenn sich
der Staub gelegt hat“, prognosti-
zierte der stern bereits nach demRücktritt im Februar 2012, „dann
wird Bettina Wulff dafür sorgen,
dass es wieder aufwärtsgeht. Mit
ihm. Oder ohne ihn.“ Jetzt hat sie
die Chance. Ohne ihn.
Nach der berüchtigten „Düssel-
dorfer Tabelle“ müsste Wulff
monatlich mindestens 508 Euro
Un terhalt für den gemeinsamen
Sohn Linus, 4, zahlen. Seiner Frau
steht bis zur Scheidung Tren-
nungsun terhalt zu in Höhe ihres
tatsäch lichen Bedarfs. Und den
muss die selbstständige PR-
Schieß the one: Bettina Wulff startet im Juni 2012 einen Wohl-tätigkeitslauf in, Sie ahnen es, Hannover
Zu Hause ist es leider nur fast am schönsten: Nach dem Rücktritt ihres Mannes im Februar 2012 zieht Bettina Wulff zurück nach Großburg-wedel
Vom Wunsch, ein anderer zu werden: Christian Wulff im Juli 2012, schmal und mit neuer Brille
Von ULRIKE POSCHE
2 Gesellschaft
76 stern 3 / 2 0 1 376 stern 3 / 2 0 1 3
➔
Wir waren Bundespräsident:
der frisch zurückgetretene
Christian Wulff und seine Frau am 17. Februar
2012 im Schloss Bellevue
Frau und Hospitality-Managerin
der Medizintechnik-Firma Otto-
bock gut begründen. Etwa damit,
dass sie sich bislang mit dem
dösbadde ligen Ehemann einen
deutlich luxuriöseren Lebensstil
leisten konnte. Stichwort: Cars-
ten Maschmeyers Urlaubsvilla,
Suite im Hotel Bayerischer Hof,
Sylt und Sause, der elegante
Fitnessklub am Maschsee, viele
Handtaschen. Sie müsste erklä-
ren, dass sie früher viel besser ge-
lebt hätte, als es ihr mit – sagen
wir – 2500 Euro künftig möglich
sein würde.
Sollte das Paar sich am Ende
wirklich scheiden lassen, hätte
sie nach dem neuen Scheidungs-
recht Anspruch auf „nachehe-
lichen Unterhalt“. Wie hoch der
ist? Kommt auf den Nachteil an,
den die nun öfter mal Allein -
er ziehende hat. Christian Wulffs
Unterhaltszahlungen an sie müss-
ten diesen finanziellen Nach-
teil jedenfalls wettmachen. Dazu
kommt der „Versorgungsaus-
gleich“ – im Rentenalter hat Betti-
na Anspruch auf einen Teil seines
Ehrensolds. Schließlich hat er
sich den während der kurzen Ehe
erworben.
Er kennt so etwas. Er hat das
Prozedere schon einmal durch-
exerziert. Seiner ersten Exfrau
Christiane hatte der damalige
Ministerpräsident das Haus in
Osnabrück überlassen. Und Toch-
ter Annalena, 19, ist noch in der
Ausbildungsphase.
Wer sagt denn, dass man
ihn deshalb bedauern
muss? In seiner neuen
Junggesellenbude in Hannover
darf Bettinas Ex-und-hopp-Gatte
in spe jetzt morgens Milch trin-
ken oder Saft, oder Saft und
Milch, und es guckt ihn niemand
mehr mit diesem Groll im Blick
an – ein Blick übrigens, den nur
Frauen draufhaben.
Wenn man es richtig bedenkt,
hat sie sich doch nicht eine
Sekunde für ihn in die Bresche
geworfen, nachdem der Skandal
um den Hauskredit, die Geerkens-
Kohle, das Bobby-Car und den
dusseligen Anruf beim „Bild“-
Chefredakteur Flammen schlug.
Sie ist mit ihm im Aufzug nach
oben gefahren und im Penthouse
ausgestiegen. Runtergefahren ist
er dann allein. Hat sie ihm je in
der Öffentlichkeit die Hand ge-
halten? Nö. Sie guckte, dass ihre
Stiefel gut saßen und die Haare.
Bei seinem Rücktritt stand sie
dekorativ im Saal. Schick im
Rena-Lange-Kostüm, das schon,
aber wo stand sie? Bereits damals
ging sie auf Distanz. Und dafür
bekam sie auch noch gute Presse.
Immer war sie die schöne, samtäu-
gige Schmerzensfrau. Ein Wesen,
dem etwas angetan worden war.
Und er war der Trottel. Der, der
als Bundespräsident gescheitert
war. Der nicht tanzen konnte,
der fleischgewordene Leitz-Ord-
ner, der verliebte Tor. Der, über
den sie in ihrer Autobiografie
schrieb: „Irgendwie fehlten da
ein paar Ecken und Kanten, etwas
Besonderes und Eigenes.“ Heißt
es nicht immer: „Vor Rehen wird
gewarnt“?
Seit einiger Zeit trägt Bettina
Wulff ihren alten Seemanns-
ring aus schwerem Gold
wieder am linken Ringfinger. Er
zeigt die Symbole Anker, Herz
und Kreuz. Ihre Mutter hat ihn
ihr geschenkt. Er bedeutet Glau-
be, Liebe, Hoffnung.
Mag sein, dass Christian Wulff
trotz des Ehrensolds von 217 000
Euro mehr oder weniger pleite
sein wird, wenn sich das Ermitt-
lungsverfahren, das er wegen der
ihm vorgeworfenen Vorteilsan-
nahme am Bein hat, in heiße
Luft aufgelöst hat. Anwaltskos-
ten bleiben dann, Hypotheken,
Un terhalt. Mag auch sein, dass
„Pretty Betty“, wie die „Bunte“
sie neulich nannte, bald schon
einen Neuen hat. Sie steht ja
ohnehin mehr auf den Typus
Rettungsschwimmer – aber er
ist nun frei. Er ist, wie Martin
Luther King gesagt hatte, „free
at last“.
Das Leben hat für ihn noch
einmal die Reset-Taste gedrückt.
Jetzt muss er nur noch was draus
machen.
Mit Recherchen von Jan Rosenkranz undDoris Schneyink
3 / 2 0 1 3 stern 79
Gesellschaft 2
2
80 stern 3 / 2 0 1 3
2 Tetsche
www.stern.de/tetsche Umfangreiches Archiv mit Tetsche-Cartoons
* mit Recherche-Notizen von stern-Reporterin Helen Bömelburg
Alles klar für den WeltuntergangDie PREPPERS bauen Bunker, horten Lebensmittel und bereiten den finalen Ernstfall vor – ob Ökokatastrophe, Atom-schlag oder Wirtschaftskollaps. Eine Reise durch die USA*
2 Ausland
82 stern 3 / 2 0 1 3
Klappe zu,
Tim Ralston
lebt: In seinem
unterirdischen
Bunker will
er Katastrophen
überstehen
Porträt des
Helden mit
Schaufel: Tim
Ralston und
seine „Crovel“
84 stern 3 / 2 0 1 3
In der Garage lagern Waffen,
Camping- ausrüstung und
Nahrung für zwei Jahre
Die Schöne und das Beet: Anaïs Dervaes und ihre Familie essen nur, was sie selbst ernten
86 stern 3/2013
Ihm möchte
man nur
im Grünen
begegnen:
Bauer Jules
Dervaes
88 stern 3 / 2 0 1 3
In diesen Tanks gärt
hausgemachter Biosprit aus
altem Frittenfett
Jason Charles’ Küchenschrank von innen: Medikamente, Walkie-Talkies, Fertigfutter
Bepackt mit Muskeln, Sack
und Pack – Jason Charles
ist bereit
3 / 2 0 1 3 stern 91
Stillleben mit Sturmgepäck und Puppe: das Sofa der Familie Charles
92 stern 3/2013
Nordpol zum Südpol, Atomangrif-
fe, den Totalkollaps der Wirschaft
oder gleich für das Ende der Welt.
Schade, dass es keinen Plural von
Paranoia gibt.
Prepper kommt vom englischen
„preparedness“, vorbereitet sein.
Das passende Verb ist bereits er-
funden: Ich preppe, du preppst,
er/sie/es preppt. Prepping liegt
im Trend. Amerika hat die schrills-
ten und extremsten Vertreter, aber
auch in Deutschland und nahezu
jedem anderen Land sitzt eine
Preppers-Gemeinde. Schwer zu
schätzen, wie viele es sind; nach
der gigantischen Zahl einschlägi-
ger Webseiten, Onlineshops und
Diskussionsforen zu urteilen sehr
viele. Medien sprechen von bis zu
vier Millionen allein in den USA.
Sie horten gefriergetrocknete Le-
bensmittel für Jahre, bauen ihre
Häuser zu Festungen aus, trainie-
ren ihre Kinder an Schusswaffen
Zwei Stunden hinter Phoe-
nix, Arizona, holt Tim
Ralston schwarze Augen-
binden aus dem Hand-
schuhfach. „Sorry, guys. Das muss
sein.“ Wir halten an. Zwischen
Geröll und haushohen Kakteen
fegt glutheißer Wüstenwind über
den Highway 260. Tim sammelt
die Handys ein und lässt sie in
eine bleiverstärkte Tasche fallen.
An die nächste Etappe soll sich
das stern-Team nicht erinnern
können, und auch die Funkspur
der Telefone will Tim verwischen.
Er fährt vom Highway ab und
steil hinauf in die Berge. Wir
sehen nichts, wir sagen nichts.
Nur Tim redet und redet. Von
seinem geheimen Bunker in den
Bergen. Davon, dass er auf der
ganzen Strecke zwischen seinem
Haus in Phoenix und dem Bunker
alle 20 Meilen ein Plastikfass mit
Essen, Wasser und Waffen ver-
graben will. 20 Meilen kann eine
Familie auf der Flucht an einem
Tag laufen, sagt Tim. Wenn die
Katastrophe kommt, werden er,
seine Frau und die drei Kinder
vorbereitet sein.
Welche Katastrophe?
Wahrscheinlich ein EMP, meint
Tim, ein elektromagnetischer
Puls. Also eine Art Mega-Ent-
ladung, die alle elektrischen Ge-
räte und das Stromnetz kurz-
schließt – landesweit. Wahrschein-
lich weltweit! Computerchips,
Herzschrittmacher, alles würde in-
nerhalb von Sekundenbruchtei-
len zerstört. Al-Qaida, Russland,
China, Nordkorea und Irak hätten
bereits die Technologie für eine
EMP-Bombe. Tim verlässt sich
nicht auf die Medien, er hat bes-
sere Quellen: hohe Tiere beim Mi-
litär. Er sagt, ein Jahr nach einem
EMP-Angriff wären 90 Prozent der
Amerikaner tot. Tim und seine
Familie aber würden über leben.
Er genießt es sehr, sein Katastro-
phenfeuerwerk zu zünden.
Tim Ralston ist ein Prepper. So
nennen sich Menschen, die sich
für Katastrophen rüsten – für
Mega-Tsunamis, für die Umkeh-
rung des Erdmagnetfelds vom
Von HELEN BÖMELBURG (Text)
und CHARLES OMMANNEY (Fotos)
und geben Hunderttausende Dol-
lar für Große-Jungs-Spielzeug aus.
Aber warum?
Mit dieser Frage beginnt unsere
Reise durch Amerika, von Ost
nach West, von Manhattan in die
Wüste. Es ist das Land der un-
begrenzten Durchgeknalltheiten.
New York In Harlem sitzt ein massiger
Mann auf seinem zerschlissenen
Sofa. Geschorener Schädel, Ama-
teur-Gewichtheber. Auf seinem
T-Shirt steht „Save the World“.
Seine Tattoos: Knarren und dornige
Rosen, die aus den Twin Towers
wachsen. Jason Charles, 35, ist
Feuerwehrmann. Am 11. Septem-
ber 2001 hat er Leichenteile ein-
sammeln müssen und noch so
einiges mehr gesehen, was für
zwei Leben reiche, sagt er. Seit-
dem ist er Prepper. Gerade kommt
Jason vom Dienst zurück, die
Erschöpfung hat ihm dunkle
Ringe unter die Augen geboxt. No
bullshit, please, wenn’s geht.
Mit dem Maya-Kalender bei-
spielsweise muss man Jason nicht
kommen. „Die Maya haben nie
behauptet, dass am 21. Dezember
die Welt untergeht“, sagt er, „ir-
gendwelche Spinner haben das
in den falschen Hals gekriegt. For-
get it.“ Viel gefährlicher sei doch
Folgendes: Der Yellowstone-Vul-
kan könne jederzeit ausbrechen
und die USA unter einer tödli-
chen Ascheschicht ersticken. Kein
Pflanzenwachstum mehr, keine
Lebensmittel, Bürgerkrieg.
Jason ist vorbereitet: Er kann
Türen und Fenster seiner Drei-
zimmerwohnung innerhalb von
Minuten staubdicht abkleben. Im
Fall von WTSHTF („when the shit
hits the fan“) würde er den 100-Gal-
lonen-Wasserballon füllen, der
eingerollt neben der Badewanne
Nein, er will
einen nicht auf
den Arm
nehmen. Jason
Charles meint
es ernst: „Die
like a cowboy“
94 stern 3 / 2 0 1 3
2 Ausland
liegt, er fasst knapp 380 Liter.
Dann: Propangasherd anschlie-
ßen, den faltbaren Ofen mit Holz
anheizen. In Schränken und unter
dem Ehebett hortet Jason Konser-
vendosen und Hunderte Militärra-
tionen, Proteinpampe in Alufolie.
Muss man nur aufwärmen. Jasons
Frau würde sich mit den zwei Kin-
dern in der Wohnung einschlie-
ßen, während der Mann draußen
die Lage erkundet. Er hat zwei
Dutzend Armeerucksäcke, Pfeil
und Bogen und etwa 25 Messer in
allen Längen, zur Jagd und zur Ver-
teidigung. Die mit den Reißzähnen
an der Oberseite sind zum Auswei-
den. Die Messer lagern in einer
Sporttasche hinter dem Sofa, nein,
nein, die Kids kämen da nicht ran.
Man kann Jason Charles sagen,
dass Wissenschaftler keinen Aus-
bruch des Yellowstone-Vulkans in
den nächsten 10 000 Jahren erwar-
ten. Jason nickt dann. Aber die
Botschaft erreicht ihn nicht. Für
ihn zählt, dass es passieren könn-
te. Möglicherweise kommt ja auch
eine andere Katastrophe. Terroris-
ten könnten ein Forschungslabor
kapern, wo sie gewaltige Hurri-
kans herstellen. So eine Anlage
gebe es bereits in Alaska, bekannt
als HAARP. Schaut euch Hurrikan
„Sandy“ an, der die Ostküste der
USA verwüstet hat, sagt Jason, das
war doch nicht normal!
Jason hätte wahnsinnig gern
Schusswaffen, aber allein die
Lizenz kostet in New York mehr
als 400 Dollar, plus weitere 600 für
eine Knarre. Zu teuer. Seine Frau
findet, dass er sowieso zu viel Geld
fürs Prepping ausgibt.
„Dieses Land macht es einem
schwer, die Verantwortung für
sich und seine Familie zu überneh-
men“, sagt Jason. „Die Politik will,
dass man sich hinlegt und langsam
stirbt, während man auf die Cops
wartet.“ Er will sich nicht auf den
Staat verlassen. Überhaupt: Eine
Gesellschaft, in der alle immer
mehr wollen, ohne etwas zu leis-
ten, sei krank. Jason sagt, mittel-
mäßige Soldaten würden sich bei
den Navy Seals einklagen, indem
sie auf ihr Recht als Minderheiten
pochten; mexikanische Einwan-
derer verlangten einen leichteren
Aufnahmetest, um Feuerwehrleu-
te in New York werden zu können.
Aber das Leben ist hart, Mann,
man muss sich alles selbst ver-
dienen. Deshalb, sagt Jason, nervt
auch Barack Obama, dieser
Marxist, der allen gleich viel ge-
ben will. Unter seiner Regierung
gehe das Land vor die Hunde,
schwarzer Bruder hin oder her.
Für Männer wie Jason ist Prep-
ping die letzte Zone echter Helden,
da zählt nur, was man selbst kann
und besitzt. Ein Mann, sein Ins-
tinkt und seine Fertigmakkaroni.
Los Angeles Die beiden nigerianischen Zwerg-
ziegen heißen Blueberry und
Fairylight. Von einer Pergola
wachsen tropfenförmige Riesen-
kürbisse herunter, Bohnen ranken
in den Himmel. Die Zitronen-
bäume sind wie mit goldenen La-
ternen behängt. Es sieht aus wie
bei den Hobbits. Hier lebt Jules
Dervaes, 65, mit seinen drei er-
wachsenen Kindern in einem
800 Quadratmeter großen Garten.
Pro Jahr ernten sie 2500 Kilo Obst,
Gemüse und Beeren; Hühner und
Enten legen 1800 Bioeier. Jules’
Töchter stellen fast 700 Gläser mit
Eingemachtem her. Familie Der-
vaes braucht keinen Walmart.
„Das ist unsere persönliche Unab-
hängigkeitserklärung“, sagt Jules.
Er stapft in eine Scheune und
zeigt selbst gebaute Tanks mit
Schläuchen dran. Die Dervaes
stellen darin Biodiesel aus altem
Frittenfett her. Sie erhitzen es auf
130 Grad, fügen einen chemischen
Katalysator hinzu. Damit betan-
ken sie ihren klapprigen Mercedes
für einen Dollar pro Gallone. Sie
fahren aber fast nie weg, allenfalls
bringen sie die Ziegen zum Grasen
auf eine andere Wiese. Ansonsten
arbeiten alle sechs Tage in der
Woche auf der Farm. Am siebten
Tag, dem Tag des Herrn, ruhen sie.
Die Dervaes gewinnen ihren
Strom aus der kalifornischen Son-
ne. Sie machen Medikamente
selbst, auch Werkzeuge und saube-
res Wasser. Jules hat seine Kinder
nie in die Schule geschickt, er hat
sie selbst unterrichtet. Das war da-
mals noch illegal. Aber Jules will
von nichts und niemandem abhän-
gig sein. Er misstraut dem Staat,
den Unternehmen, den Medien,
dem modernen Leben.
Jules wünscht sich eine Welt
ohne Technologie. „Jeder Schritt
zurück ist ein Fortschritt“, sagt er.
„Der American Way of Life macht
unsere Erde kaputt. Und sie wehrt
sich gegen uns: Der Hurrikan in
New York, das Erdbeben in Haiti,
der Tsunami in Japan – das hängt
alles zusammen.“ Die meisten
Leute nähmen diese Zusammen-
hänge nicht wahr, weil alles so
langsam geschehe und die Regie-
rungen und Konzerne die Fakten
geheim hielten.
Aber Jules hat es begriffen:
Schaut euch doch mal Monsanto
an, den globalen Saatguthersteller!
Mais und Soja seien in den USA zu
fast 100 Prozent genmanipuliert.
Das Unternehmen mache mit
diesen Pflanzen den riskantesten
Menschenversuch aller Zeiten –
trotzdem säßen Monsanto-Leute in ➔
allen Ministerien und wichtigen
Organisationen. Die US-Regierung?
Durchsetzt mit Lobbyisten, völlig
egal, ob demokratisch oder repub-
likanisch. „Eines Tages wird die
Natur zurückschlagen und einen
absolut resistenten Wurm, ein teuf-
lisches Unkraut oder einen Super-
parasiten hervorbringen“, sagt
Jules. Die Produktion von Nah-
rungsmitteln werde weltweit zu-
sammenbrechen, viele Menschen
würden verhungern.
Die Dervaes aber würden in
ihrer grünen Arche überleben.
Sie wissen, wie man auf einem
Stückchen Land und mit wenig
Wasser mehr Nahrung herstellt,
als man selbst essen kann – das
ist ihre Art des Prepping. „Wir
können nicht warten, bis die Poli-
tik uns rettet“, sagt Jules. „Jeder ist
der Erste, der sein Leben ändern
muss.“ Was ist dieser Mann? Ein
Spinner, der die Wahrheit predigt?
Jules’ Philosophie hat ihn seine
Ehe gekostet. Seine Frau wollte
nicht ewig in einem Wohnwagen
leben, sie wollte ein Haus und Ka-
belfernsehen und ein normales
amerikanisches Leben. Jules wollte
das nicht. Die beiden trennten sich
vor mehr als 20 Jahren, er zog die
Kinder allein auf. Die drei wirken
seltsam verhuscht. Läuft das hier
demokratisch? „Dad entscheidet“,
sagt Justin, 34, der Sohn. Er kann
einem nicht in die Augen sehen.
Beim Gemüseschneiden erzählt
Anaïs, 37, die Älteste, dass sie noch
nie verliebt war. Keines der Kinder
hatte je eine Beziehung. „Ein Part-
ner müsste jemand sein, der wirk-
lich hierher passt. Wir sind sehr
anspruchsvoll“, sagt Anaïs. Wir.
Abends kommen Nachbarn
vorbei, wie jeden Sonntag. Die
Farm ist in den vergangenen
Jahren beliebt geworden. Die
Leute kaufen im Hofladen ein, für
viele ist es die erste Begegnung
mit natürlichem, unbehandeltem
Essen. Sie holen sich Tipps,
welche Pflanzen am wenigsten
Wasser brauchen und wie man
chemiefreie Pestizide herstellt.
Jules’ Ideen von Nachhaltigkeit,
Naturschutz und Konsumkritik
schlagen Wurzeln. Seine Farm ist
eine kleine Ökoinsel im überdreh-
ten, künstlichen Los Angeles.
3 / 2 0 1 3 stern 95
EXKLUSIV IM E-MAGAZINE
Hören Sie den Prepper Tim Ralston im Originalton: Er beschreibt, wie sein Bunker funktioniert, wie er Katastro-phen überleben will und wie man eine Kalaschnikow benutzt
Der Sohn hängt Lichterketten
in die Zweige, die Töchter servie-
ren bunte Salate direkt vom Beet,
sattgrüne Avocados, frisches Chili
ohne Carne. Kaki-Früchte, selbst
gebrannten Schnaps aus dem Ho-
nig der eigenen Bienen. Nirgend-
wo auf dieser Reise werden wir so
gut essen wie in diesem Garten.
Jules steht auf eine Forke ge-
lehnt und gibt den Patriarchen.
Zwei Bärtige mit Holzfäller-
hemden spielen Gitarre, darüber
spannt sich der kalifornische
Himmel dunkelblau. Die Enten
gehen gackernd schlafen. Ein
Besucher sagt, dies sei der einzige
Ort auf der Welt, an dem er nicht
den Drang verspüre, sein Handy
zu checken. Zwei kleine Mäd-
chen versichern, dass Feen in den
Beeten wohnen.
Phoenix, Arizona Tim Ralston bremst, wir sind da.
Irgendwo in den Bergen nordöst-
lich von Phoenix, so ganz genau
wissen wir es ja nicht. In 2500 Me-
ter Höhe steht ein stattliches
Cha let in der Wildnis. Dahinter
hat Tim einen stählernen Schiffs-
container in die Erde senken las-
sen, 12 mal 2,50 Meter groß. Es
gibt eine sturmfeste Einstiegsluke
im Dach und einen Tunnel, der
den Container mit dem Haus
verbindet. Wo die Falltür ist, hält
Tim aus Sicherheitsgründen ge-
heim. Viel leicht unter dem weißen
Klavier, das im Wohnzimmer steht?
Seine Tochter spiele brillant, sagt
Tim.
Zwölf Stockbetten will er in den
Container einbauen, Nah rungs-
mit tel für zwei Jahre ein lagern.
Die Eimer mit Trocken lasagne,
Beef Stroganoff und Chicken Teri-
yaki stehen bereit. Verfallsdatum:
September 2037. Etwa 10 000 Dol-
lar hat die Anlage bisher gekostet.
Tim wird noch eine Sickergrube
für Abwasser anlegen. Strom
kommt aus manns hohen Batterien
in der Garage, sie sollen das Haus
zwei Monate mit Strom versorgen,
falls die Solaranlage ausfällt. Oder
falls die Sonne verdunkelt wird,
das müsse man ja mitbedenken.
20 Minuten Fußmarsch entfernt
liegt Tims Schießplatz. Hier ballert
er an Wochenenden mit seinen
drei halbwüchsigen Kindern, zwei
Jungen und einem Mädchen, auf
Konservendosen und Patronen-
hülsen. Er ist stolz, dass alle drei
schon mit einer AK-47 umgehen
können, einer halb automatischen
Kalasch nikow.
Tim führt uns seine neueste
Erfindung vor: ein Set mit Stahl-
adaptern, mit denen ein einziges
Gewehr Munition jeder Größe ab-
feuern kann – kleine Kugeln für
Karnickel, große Kugeln für Men-
schen. Schließlich kann Tim im
Katastrophenfall nicht mehrere
Waffen herumschleppen.
Er nennt das Set „Scavenger“,
Aasfresser. Noch ist es nicht auf
dem Markt. Am Morgen hat Tim
den Prototyp einem Kunden ge-
zeigt, er betreibt einen Survival-
Laden in Phoenix. Ein bulliger Typ
mit rasiertem Schädel, Prepper
wie Tim. Er fing vor Aufregung an
zu schwitzen, als ihm die unend-
lichen Möglichkeiten des „Scaven-
ger“ aufgingen. „Was wäre Ihnen
das Teil wert?“, hat Tim gefragt.
„Mit Obama als Präsident – viel.
Sagen wir, 1500 Dollar.“ „Es wird
400 Dollar kosten.“ „No way!“
Doch. Tim grinste von Ohr zu Ohr.
Die meisten Preppers haben ein
Lieblingsszenario, auf das sie sich
vorbereiten. Doch die größte
Bedrohung scheinen für sie nicht
Tsunamis, Vulkanausbrüche, Atom-
angriffe zu sein. Sondern andere
Menschen. Die, die keine Prep-
pers sind. Vom Staat verhätschelte
Weicheier. „Spätestens drei Tage
nach dem GAU würden sie anfan-
gen, gegeneinander zu kämpfen“,
sagt Tim. „Solche Leute werden
panisch und gewalttätig, wenn sie
zum ersten Mal im Leben allein
klarkommen müssen.“
Aber Tim, Studien echter Kata-
strophen zeigen, dass sich Men-
schen in lebensgefährlichen Situa-
tionen überwiegend sozial, sogar
selbstlos verhalten. Das war bei
9/11 so und auch nach dem
Wirbelsturm „Katrina“ in New
Orleans. Solche Informationen
perlen an Tim ab. Der Mensch
ist des Menschen Wolf, basta.
Je mehr Leute das glauben, des-
to besser für Tims Business. Er hat
nicht nur Paranoia, er verkauft sie
auch. Zum Beispiel den Auto-
Anhänger „The Boss“, mit dem
man sechs Monate in der Wildnis
überleben soll. Komplett mit
Schlafplätzen, Solarstrom anlage,
Nahrungsmitteln, Wasser, Nacht-
sichtgerät, TV und Mountainbike.
Preis: 25 000 Dollar.
Tim stellt sich auch eine
Tim-Ralston-Überlebenshütte vor.
Außerdem soll sein selbst ent-
wickeltes Hühnchengericht in
Serie gehen, das 15 Jahre hält.
Dazu Tim-Ralston-Kleidung, ein
Tim-Ralston-Motorrad und eine
Tim-Ralston-Reality-Show, in der
er Leuten beibringen will, wie
sie ihre Haushalte katastrophen-
fest machen. Tim Ralston ist der
Held im Tim-Ralston-Universum.
Im wahren Leben hat das nicht
ganz geklappt. Als junger Mann
wollte er zu einer Elitetruppe der
Armee, flog aber raus, weil er
nicht schwimmen konnte. Er hat
dann den Verkehr auf dem Kaser-
nengelände geregelt. Prepping –
das ist auch ein Pflaster auf ge-
kränkten Männerseelen.
In der Dämmerung machen wir
uns auf den Rückweg. Tim erzählt
von seiner letzten Erfindung: Die
„Crovel“ ist ein arm langes Werk-
zeug aus Stahl, eine Mischung aus
Schaufel und Brech eisen. Ideal,
um Angreifern die Kniescheiben
rauszuhauen – quasi ein Riesen-
Schweizer-Messer mit Killerfunk-
tion. Tim konnte das Ding in einem
Zombie-Film platzieren, danach
hat er täglich 400 Stück verkauft,
für 109 Dollar. Bisher sind 10 000
Crovels weggegangen, auch nach
Deutschland.
Wir lassen die Fenster runter,
hören den Sound des kühlen
Nachtwindes. Die Sterne gehen
auf, die Wüste döst langsam ein.
Auf Fox-News zählt ein Kom-
mentator all die Katastrophen
auf, die die Demokraten über die
USA bringen würden. Wir sind
am Ende. 2
FOT
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TIM
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96 stern 3 / 2 0 1 3
2 Ausland
Im Ernstfall wird die Welt ausge-
sperrt: Tim Ralston an der Stahltür seines Bunkers
➔
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RE
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EN
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uch an der Uni-Klinik Leipzig
wird nun wegen Manipu-
lationen bei der Organver-
gabe ermittelt – es ist
bereits der vierte Fall. Wie soll ich
noch darauf vertrauen, dass mit
meinen Organen verantwortungs-
voll umgegangen wird, falls mir
etwas passiert?
Da können Sie ganz sicher sein.
Die Vorgänge, die uns jetzt
unruhig machen, stammen aus
vergangenen Jahren. Wir haben
alle Vorkehrungen getroffen,
dass solche Täuschungen nicht
mehr vorkommen können. Es ist
zum Beispiel sichergestellt, dass
niemand mehr im Alleingang
handeln kann. Meldungen an die
Vermittlungsstelle Eurotrans-
plant macht heute nur eine
inter dis ziplinäre Transplanta-
tionskonferenz.
Aber es werden immer mehr
Organe im sogenannten beschleu-
nigten Verfahren vergeben – also
unter Umgehung von Eurotrans-
plant. Deutet das nicht auf einen
anhaltenden Missbrauch hin?
Nein. Sie müssen sehen, dass die
Spender in Deutschland immer
älter und auch kränker werden.
Oft sind die Organe nicht in dem
Zustand, den sich die Ärzte
wünschen. Da ist es ganz natür-
lich, dass mehr Organe im be-
schleunigten Verfahren vergeben
werden, um lange Transportwege
zu vermeiden.
Das birgt die Gefahr, dass vor Ort
und ohne Kontrolle entschieden
wird.
Wir haben sichergestellt, dass
keine Klinik mehr selbst bestim-
men kann, wer ein Organ be-
kommt. Sie muss Vorschläge an
Eurotransplant machen, die dort
geprüft werden.
Bleibt es ein Risikofaktor, dass
letztlich der behandelnde Arzt fest-
Alegt, wie krank ein Patient ist –
und welche Chancen er auf ein
Spenderorgan hat?
Es geht um Menschen, nicht um
Maschinen. Absolute Objekti vität
wird es da nie geben. Wir ver-
suchen aber die Richtlinien so zu
gestalten, dass Missbrauch un-
möglich ist. Dabei sind etwa für
die Vergabe von Lungen und
Lebern hochkomplexe Regelwerke
entstanden.
Die Kliniken und auch die Ärzte
stehen teils unter massivem Druck,
möglichst hohe Fallzahlen zu
erreichen. Organtransplantation
ist eben auch ein Geschäft.
Aber die Anreize kommen aus
der Budgetierung und Kommer-
zialisierung in den Universi-
tätskliniken. Sie kommen nicht
aus der Medizin selbst.
Sie wirken offenbar trotzdem:
Wieder sind Dutzende Fälle
bekannt geworden. Es drängt sich
der Verdacht auf, dass die Selbst-
verwaltung der Ärzteschaft versagt
hat. Die Transplantationsmedizin
erscheint als eng verflochtene
Gemeinschaft, in der einer den
anderen schützt.
Sie schätzen die Szene völlig
falsch ein. Es schaut jeder genau,
was der andere macht. Wir haben
erlebt, dass über das eine oder
andere Zentrum die wildesten
Gerüchte kursieren, und wenn
wir dann genau hingeguckt haben,
hat sich das nicht bewahrheitet.
Da muss man sehr vorsichtig
sein. Glauben Sie mir: Nichts ist
so transparent wie ein Opera-
tionssaal.
Sollten nach den Skandalen nicht
staatliche Stellen mehr Verant-
wortung übernehmen?
Was hilft der Staat? Die staat-
lichen Stellen, die jetzt beteiligt
sind, haben nicht die Kompe-
tenz, das Personal und die Aus-
stattung wie die Organe der
Selbstverwaltung. Vor allem
haben sie nicht so kurze Reak-
tionszeiten. Keine staatliche
Institution hätte die Richtlinien
so schnell ändern und das
System stabilisieren können.
Was passiert mit denen, die
aufgeflogen sind? Reichen da die
juristischen Sanktionsmöglich-
keiten aus?
Ich liebe den Satz, den ich von
Kriminologen gelernt habe:
Viel Strafrecht hilft nicht viel.
Das sieht man in der Alltags-
kriminalität. Wir haben bereits
hochwirksame Präventionsmittel,
nur werden diese nicht konse-
quent genug angewandt.
Welche meinen Sie?
Ich erlebe es als Strafverteidiger
sehr oft, dass Ärzten die Appro-
bation rasch entzogen wird.
In der Transplantationsmedizin
aber trauen sich die staatlichen
Einrichtungen noch nicht ein-
mal, die Zulassung ruhen zu
lassen. Das beklage ich laut und
nachhaltig. Mit nichts treffen
Sie den Arzt härter. Hier sind
staatliche Stellen zuständig.
Sie beschäftigen sich intensiv
mit ethischen Fragen. Ist eine
Regelverletzung eher gerechtfer-
tigt, wenn es um Leben und
Tod geht? Oder ist sie dann erst
recht verwerflich?
Das ist eine ganz schwierige Fra-
ge. Wenn Sie über einen längeren
Zeitraum einen Patienten auf der
Intensivstation haben und sehen,
dass sich seine Lebenschancen
von Tag zu Tag verschlechtern,
dann ist der Wunsch sehr stark,
diesem Menschen zu helfen.
Deshalb kann ich teilweise verste-
hen, dass Regeln verletzt wurden.
Nur billigen kann ich es nicht.
Interview: Stefan Schmitz, Nicole Simon
2
Der 63-jährige Juraprofessor leitet das Zentrum Medizin-Ethik-Recht an der Universität Halle-Wittenberg. Als Vorsitzender der Organspende- Kommission der Bundesärztekam-mer wirbt er für Ver trauen in die Transplantations-medizin
„Nichts ist so transparent wie ein Operationssaal“Ärztefunktionär HANS LILIE preist die Selbstverwaltung der Mediziner und verspricht: Neue Manipulationen bei der Organvergabe wird es nicht geben
100 stern 3 / 2 0 1 3
2 Medizin
Beruf: GattinIn besseren Kreisen gehört es bis heute zum guten Ton, dass die Frauen zu Hause bei den Kindern bleiben. So qualifiziert sie auch sind. Der stern hat im Hamburger Elbvorort Blankenese Familien besucht, die dieses Modell ganz selbstverständlich leben. Eine FRIEDLICH WIRKENDE WELT, die allerdings brüchig ist
102 stern 3/2013
2 Deutschland
Die beurlaubte Diplomatin Denise
von Quistorp hält seit 18 Jahren ihrem
Mann und den Kindern den Rücken
frei. Inzwischen fühlt sie sich davon nicht
mehr ausgefüllt
Manchmal steckt viel
Wahrheit in einer spon-
tanen Gefühlsäußerung.
Friedrich, das vierte
Kind der Familie Commichau, ein
zarter Junge mit hellem Haar und
braunen Augen, war vier Jahre
alt, als er an der Schwelle seines
Kindergartens ausstieß: „Huch!“
„Was ist denn?“, fragte seine Mut-
ter. „Guck mal, Mama“, sagte
Friedrich, „da ist ein Mann.“
Friedrichs Welt, das wohlha-
bende Hamburg-Blankenese am
Ufer der Elbe, ist während der
Woche normalerweise männer-
frei. Eine Welt, wie sie in dieser
Reinkultur vor allem in den Wohn-
gebieten der deutlich besser Ver-
dienenden existiert. In einer Zeit,
in der im ganzen Land um Kita-
plätze gestritten, das Betreuungs-
geld gegeißelt, eine Frauenquote
und neue Väter gefordert werden,
gehört es in Vierteln wie diesem
noch zum guten Ton, dass Mütter
zu Hause bleiben. Auch wenn sie
noch so gut ausgebildet sind.
Ein Grund ist die Abwesenheit
der Männer. Sie arbeiten 60 bis
80 Stunden pro Woche. Über das
Familienleben solcher Karriere-
männer gibt es nur wenige Stu-
dien. Eine untersucht den Alltag
von Managern, eine von Professo-
ren, eine von Berufspolitikern:
Sie kommen zum gleichen Ergeb-
nis. Väter, die Karriere machen,
stützen sich in der Regel noch im-
mer auf eine Ehefrau, die sich um
Haus und Kinder kümmert und
dafür den eigenen Beruf aufgibt.
Hamburg-Blankenese, die Welt
um das Kind Friedrich und seine
vier Geschwister, ist einer der
Orte im Land, wo fast alle Män-
ner ganz oben mitspielen – und
wo sich in den meisten der groß-
bürgerlichen Häuser die Frauen
um den ganzen Rest kümmern.
Friedrichs Vater ist Partner in
einem großen Notariat. Von acht
Uhr morgens bis acht Uhr abends
ist er außer Haus, zweimal pro
Woche kommt er erst kurz vor
Mitternacht. „Er ist“, wie Friede-
rike Commichau, die Mutter von
Friedrich, 13, Catharina, 11, Jose-
phine, 15, Antonia, 17, und Henri-
ette, 21, das höflich ausdrückt,
„während der Woche im Alltag
der Familie kaum präsent.“
Stefanie Hempel, 51, die Mutter
der 13-jährigen Martha und der
Jungen Moritz, 17, Friedrich, 19,
und Johann, 21, sagt es ein biss-
chen drastischer: „Mein Mann ist
kein Vater, der hier Teile der Auf-
zuchtzeit übernommen hat.“ Auch
Friederike Commichau genießt die Spaziergänge mit ihrem Hund an der Elbe. Besonders vormittags, wenn die Haushaltshilfe da ist, hat sie ausgiebig Zeit für sich selbst
Von JULIA FRIEDRICHS (Text)
und SEBASTIAN HÄNEL (Fotos)
104 stern 3 / 2 0 1 3
➔
sie ist perplex, wenn sie doch mal
einen Mann an der Pforte der
Schule sieht. „Dummerweise fühlt
man sich dann auch noch bemü-
ßigt, das zu kommentieren“, sagt
sie. „Ich frag dann so Sachen wie:
Was machen Sie denn in freier
Wildbahn?“ Manche würden diese
Männer „Tortenheber“ nennen,
erzählt sie dann noch. Aufreißer,
könnte man auch sagen.
Deutschland finanziert diese Le-
bensform mit sehr viel Geld: 18
Milliarden Euro pro Jahr kostet das
Ehegattensplitting, fast zehn Mil-
liarden die beitragsfreie Kranken-
versicherung für nicht erwerbs-
tätige Ehepartner, als Zückerchen
für die Mütter kleiner Kinder, die
zu Hause bleiben, kommt ab Au-
gust noch mal etwa eine Milliarde
Betreuungsgeld dazu. Die Gesell-
schaft unterstützt Ehen, in denen
einer Karriere macht und der ande-
re daheim bleibt. Trotzdem hat die
Vollzeitmutter kein gutes Image
mehr. Und der Gesetzgeber hat das
Unterhaltsrecht so geändert, dass
im Fall einer Scheidung die Per-
spektive der Frauen ernüchternd
ist: ein Weiterleben auf hohem
Niveau, finanziert vom Exmann
bis zum Tode, ist längst nicht mehr
garantiert.
So wird auch hier die meist aus
vollem Herzen getroffene Ent-
scheidung der Frauen, zu Hause zu
bleiben, mit den Jahren oft brü-
chig. Je älter die Kinder werden,
desto mehr Zweifel stellen sich
ein. Als Vorbild für ihre Töchter
und Schwiegertöchter sehen sich
viele der Frauen nicht mehr.
Es ist kurz nach zehn Uhr an
einem Freitagvormittag. Wer
das Tor im Zaun vor dem
Backsteinhaus der Familie Com-
michau öffnet, den begrüßt der
Geruch von frisch gebackenem
Apfelkuchen und das Bellen von
Labrador Pontus. Wem da nicht
warm ums Herz wird, der hat
wohl keines. Friederike Commi-
chau, 49, lädt in die verglaste Log-
gia. Die Haushaltshilfe ist schon
da. Sie kommt jeden Tag für vier
Stunden, putzt, wäscht und
kocht. Friederike Commichau
sagt entschuldigend, sie wisse,
dass sie privilegiert sei.
Auf dem Tresen in der Küche
liegt der Familienplaner. Jeder
Tag hat sechs Spalten – fast alle
sind voll. Saxofon, Cello, Klavier,
Hockey, Hockey, Tennis steht da.
Elternabende, Urlaubswochen-
enden, Empfänge. Friederike
Commichau koordiniert das Le-
ben von zwei Erwachsenen und
vier Teenagern, ihre älteste Toch-
ter ist schon aus dem Haus.
Wie bezeichnet eine Frau wie
Friederike Commichau ihren Be-
ruf? Ihre Berufung?
„Sind Sie Familienmanage-
rin?“ – „Das ist kein passender
Begriff. Das Wort ist mit einer
Ökonomisierung verknüpft, die
ich, was eine Familie angeht, für
nicht angebracht halte.“
„Aber wie stellen Sie sich dann
vor?“ „Gar nicht. Ich sage: Wir
haben fünf Kinder, und ich bin zu
Hause. Ich habe keine Bezeich-
nung für mich.“
Stefanie Hempel, groß und
schlank, dunkles lockiges Haar,
eine Woche zuvor befragt, beant-
wortet die Frage ähnlich spitz.
„Sind Sie Hausfrau?“ – „Den Be-
griff finde ich unmöglich, da bin
ich geradezu sprachlos, dass eine
Bildungsgesellschaft wie die uns-
rige noch solche Begriffe kulti-
viert.“ Und auch sie sagt: „Ich
weiß, dass ich nicht kategorisier-
bar bin. Mich ärgert, dass die
Menschen den Zwang haben,
mich einzusortieren.“
In Formularen lässt Stefanie
Hempel die Spalte „Beruf“ frei. So
hat sie es bei dem Jagdschein ge-
handhabt, den sie gerade gemacht
hat. So wollte sie es auch bei der
Kandidatur für den Kirchenvor-
stand des Bezirks Nordelbe tun.
Aber die Kirchenleute waren damit
nicht zufrieden. „Welchen Beruf ha-
ben Sie denn jetzt?“, beharrten die.
„Zum Beispiel bewerbe ich mich
jetzt gerade für den Kirchenvor-
stand“, antwortete Stefanie Hem-
pel. „Ich mache ehrenamtliche
Sterbebegleitung und ein Musik-
projekt.“ Aber auch das passte
nicht ins Formular. Die Kategorien
der anderen könne sie an guten
Tagen als albern abtun, doch wenn
die, die sie liebt, an dieselbe emp-
findliche Stelle fassten, schmerze
es. „Gestern saß ich mit meinem
Sohn Johann da“, erzählt sie. „Da
sagte der plötzlich: Ach, Mami, du
arbeitest ja gar nicht. Das rutschte
ihm so raus. Im Grunde genom-
men wissen alle meine Kinder,
dass ich viel mache. Aber er sagte:
Du arbeitest gar nicht, und fragte
dann noch: Was warst du eigent-
lich mal?“ Das saß. Sofort begann
Stefanie Hempel das eigene Leben
zu verteidigen: „Das weißt du
doch“, sagte sie. „Ich war in der
Schifffahrt.“ Und: „Als ich Papi
kennengelernt habe, hab ich mehr
verdient als er.“ „Ja, ja, Mami, reg
dich nicht auf“, sagte Johann nur.
Kurz nach elf Uhr an einem
anderen Tag. Die Autos stau-
en sich in Blankenese. Frie-
derike Commichau steuert ihren
roten BMW Mini in den letzten
freien Parkplatz hinter dem
Supermarkt. Daneben ein Gelän-
dewagen, ein Porsche, ein Audi.
Es ist der Stau der einkaufenden
Damen. „Um diese Zeit machen
alle ihre Besorgungen“, sagt Frie-
derike Commichau. „Ich bin auch
jeden Vormittag hier.“ Sie greift
nach Hackfleisch, Sahne, Brot
und an der Kasse nach einer Re-
zeptzeitschrift mit Tipps für
Schweinemedaillons und Gebäck.
Die Frauen von Blankenese leben
in einem ähnlichen Rhythmus.
Friederike Commichaus Vormit-
tagstakt geht so: sieben Uhr auf-
stehen. Frühstück. Familie in den
Tag verabschieden. Ankunft der
Haushaltshilfe. Dann ein paar
Mails am Schreibtisch. „Rumtü-
deln“ nennt sie das. Mal geht es
um die Elternvertretung. Mal um
den Literaturzirkel der Kirchen-
gemeinde, den sie organisiert.
Danach einkaufen. Mit der Haus-
haltshilfe das Mittagessen bespre-
chen. Und dann kommen nach
und nach die Kinder. Und es be-
ginnt das, was sie ihre eigentliche
Aufgabe nennt. „Ich versuche,
den Kindern ein Lebenszentrum
zu schaffen. Vor allem als die
klein waren, hat mich das wahn-
sinnig erfüllt.“
Um zwei sind alle da. Außer
dem Vater natürlich. Friedrich
hat mit Kuli eine Sonne auf die
Nase gemalt und einen Freund
dabei, der gleich auch mit zum
Wir haben fünf Kinder, und ich bin zu Hause. Ich habe keine Bezeichnung für mich“Friederike Commichau
Deutschland 2
3 / 2 0 1 3 stern 105
cher Frauen“ ergeben, sagt Hem-
pel. „Ständig meckern welche
an den Lehrern herum, an den
Sport vereinen und Musikschu-
len.“ Und dann ahmt sie den
lamentierenden Singsang nach,
von dem sie spricht: „Nathalie
war als Fünfte beim Klaviervor-
spiel dran und hatte damit eine
deutlich schlechtere Ausgangs-
position. Und Phillips Hockey-
mannschaft hat nur gegen die
Sportvereinigung Uhlenhorst ver-
loren, weil die Kinder dort mit
der S-Bahn hinmussten und es
geregnet hat, und dann hatten
die eine schlechtere Startposi-
tion.“ Sie stoppt und sagt: „Es ist
Menschen nicht vorzuwerfen,
dass sich mit dem Ändern des
Lebens auch Probleme ändern.
Aber man muss doch immer
noch so viel Würde und Abstand
wahren, um zu wissen, wo Leid
in der Welt ist und wo nicht.“
Stefanie Hempel und Friede-
rike Commichau haben wie
fast alle Frauen hier eine
Vergangenheit vor der Familien-
gründung, eine Ausbildung, die
in den meisten Fällen der ihrer
Männer in nichts nachsteht. Ste-
fanie Hempel hat Geschichte
studiert, dann als Schifffahrts-
kauffrau in Mombasa gearbeitet.
Friederike Commichau hat eine
Banklehre absolviert und ist exa-
minierte Juristin. Während des
Studiums in Würzburg lernte sie
ihren Mann kennen.
Ein paar Häuser weiter, in
einem alten Reederhaus im
Zentrum von Blankenese, lebt
Denise von Quistorp, 50, Mutter
dreier Kinder und eine enge
Freundin der anderen beiden
Frauen. Sie reicht Nussstollen,
auch in einer Loggia, diesmal mit
Blick über die Elbe. Ihr Mann ist
Unternehmensberater, zwischen-
durch arbeitete er als Fonds-
manager. Denise von Quistorp
will erzählen, wie eine Frau von
einem Leben ins andere gleitet.
Ihr Weg war besonders weit. Von
Quistorp, in grünem Wollpulli,
um den Hals ein Tuch, die Haare
zurückgebunden, den Rücken
gerade, wirkt streng. Auch sie
hat Jura studiert, dann ein Jahr
Tennis soll. Josephine und Anto-
nia reden vom Hockey. Catharina,
die Jüngste, lächelt still. Sie wolle
den Kindern einen Ort der Sicher-
heit und Ruhe bieten, hatte Frie-
derike Commichau gesagt. In Mo-
menten wie diesen genießen ihre
Kinder es sichtlich, dass hier im
Haus nicht alle immerzu arbeiten.
„Wie fändet ihr das eigentlich,
wenn ich auch berufstätig wäre?“,
fragt Friederike Commichau ihre
großen Töchter. „Bekloppt“, sa-
gen die. „Dann wäre hier alles
unorganisiert, und wir würden
bestimmt nur fernsehen.“ „Und
habt ihr eigentlich Freunde, de-
ren Väter nachmittags da sind?“,
fragt Commichau. Die Mädchen
grübeln lange. „Ja, eine Freun-
din“, sagen sie dann. „Aber deren
Mutter ist tot.“
Auf dem Tisch steht ein Kartof-
felauflauf mit Kürbis und Pilzen.
„Hmm“, sagt eines der Kinder
enttäuscht. Ein anderes mag kei-
ne Pilze, ein drittes keinen Kür-
bis. „Ich weiß, es gibt Mütter, die
je nach Geschmack der Kinder
mehrere Gerichte kochen“, sagt
Commichau, „so eine perfekte
Mutter bin ich nicht.“ Sätze wie
diese fallen häufig in den Gesprä-
chen mit den Frauen von Blanke-
nese. „Ich dekoriere selten.“ „Ich
koche ungern.“ „Ich bleibe mor-
gens auch mal länger liegen.“
Oder, das schlimmste Eingeständ-
nis: „Mein Kind ist in der Schule
kein Überflieger.“
„Ich habe zehn Punkte in der
Bio-Arbeit“, erzählt eine der Töch-
ter. Friederike Commichau atmet
auf. Am Morgen hatte eine Freun-
din sie gefragt: „Wie war denn Bio
für deine Tochter?“ Beide Mäd-
chen gehen zusammen in eine
Stufe. Commichau wusste nichts
von der Bio-Arbeit. „Ach, hat sie
dir das nicht erzählt?“, fragte
die andere Mutter spitz. Touché.
Erwischt. „Ich hab vier schul-
pflich tige Kinder mit jeweils acht
Fächern“, sagt Friederike Commi-
chau später, als müsse sie sich
erklären. „Ich habe einen Plan,
wo ich mir notiere, wer wann was
schreibt. Aber es belastet mich,
dass ich so viele Arbeiten und
Tests dann doch wieder vergesse.“
Eine Vier gelte bei den meisten
Müttern als nicht mehr akzepta-
bel. Sie kenne keine Mutter, die
ihre Kinder nicht pushen würde,
sagt Commichau. „Das wird von
der Schule auch so erwartet.“ Es
ist, als müssten herausragende
Leistungen der Kinder als Leis-
tungsnachweis für die Mütter
herhalten. Sie selbst finde diese
Notenfixierung grauenhaft, sagt
Friederike Commichau. „Ich bin
mit diesem Gefühl hier nicht der
Standard.“ Und inzwischen erzäh-
le sie es Freundinnen gar nicht
mehr, wenn ein Kind mal eine
schlechtere Note habe.
„Ich weiß genau, was Friede-
rike meint“, sagt Stefanie Hem-
pel. „Wir sind hier umgeben von
Black-Hawk-Müttern.“ Frauen, die
über ihrer Brut kreisen wie die
Helikopter der US-Army, bereit,
jedes Hindernis aus dem Weg
zu räumen. Man sei hier mit
Pseudo-Problemen konfrontiert,
die sich aus dem „Nichtstun man-
Man muss immer noch so viel Abstand und Würde wahren, um zu wissen, wo Leid in der Welt ist und wo nicht“ Stefanie Hempel
Stefanie Hempel tauscht sich mit ihrem Sohn Moritz aus. Sie liebt es, am Leben ihrer Kinder teilzunehmen (o.).Die 51-Jährige hat früher in der Schiff-fahrt gearbeitet. Jetzt engagiert sie sich karitativ (u.)
106 stern 3 / 2 0 1 3
ein Forschungsstipendium in der
Schweiz absolviert, Europarecht
an einer Elite-Universität in Brüg-
ge gelernt. „Von da hat mich das
Außenministerium in Wien re-
krutiert“, sagt sie. Sie wird Diplo-
matin. „Ich wollte diesen Beruf,
und da hört man als Frau natür-
lich immer die Frage, wie man
sich das denn vorstellt.“ Sie lä-
chelt, als sie die junge Frau zi-
tiert, die sie einmal war: „Ich
habe immer gesagt: I will cross
the bridge when I reach it.“
Meint: Sie werde die Probleme
schon lösen, wenn sie dann da
seien. „Ich habe mir vorgestellt,
dass beides geht. Familie und die
Arbeit.“ Aber es ging nicht. Als
Kulturattachée in Washington
brachte sie das erste Kind zur
Welt. Sie beantragte beim öster-
reichischen Außenministerium,
sich die Stelle mit einer Kollegin
teilen zu dürfen. Diese Anfrage
wurde nicht einmal beantwortet.
Seit 18 Jahren ist Denise von
Quistorp vom diplomatischen
Dienst beurlaubt. Sie arbeitet eh-
renamtlich bei der Kirche, wo sie
das Akademieprogramm organi-
siert. „Ich habe nie darauf achten
müssen, dass ich damit auch
Geld verdiene. Und ich hatte
lange das Gefühl, das, was ich so
mache, zu Hause, mit den Kin-
dern, mit Freunden, mit Gästen,
mit der Arbeit in der Akademie,
im Haushalt, das ist mein Beitrag,
den ich leiste, und mein Mann
verdient das Geld, und zusam-
men ergibt das unser Leben.“
Und jetzt? „Ich wachse aus die-
sem Leben heraus“, sagt Denise
von Quistorp. Ihr Sohn ist gerade
volljährig geworden, Charlotte ist
16 und Henriette, die Jüngste, mit
ihren 13 Jahren auch schon ziem-
lich selbstständig. Die Fahrdiens-
te, die über Jahre Denise von
Quistorps Nachmittage blockier-
ten, sind seltener geworden. Sie
hat Zeit für sich.
Denise von Quistorp, die Diplo-
matin außer Dienst, sitzt nun
über Bewerbungen. Sie spricht,
noch etwas zaghaft, von einem
Jahr des Aufbruchs. Das Ziel hat
sie fest im Blick: „Ich sehe mich
die nächsten 15 Jahre arbeiten“,
sagt sie. „Mehr für mich und
gegen Geld.“ Und plötzlich seien
da ganz neue Fragen in ihrem
Kopf: „Wer kocht? Wer putzt? Wer
kommt zuerst? Und warum muss
bei einem Paar eigentlich über-
haupt einer zuerst kommen?“
„Bei uns war das klar“, sagt Ste-
fanie Hempel. „Das war ein Auto-
matismus, dass ich mich um die
Kinder kümmere. Er kann seine
Leistung im Unternehmen nur
darstellen, wenn er den Großteil
seines Lebens investiert.“
„Von dem Zeitpunkt an, an dem
ich wusste, dass wir zusammen-
leben würden, habe ich gleich ge-
dacht, dass ich meine Karriere der
meines Mannes unterordnen wür-
de“, sagt auch Friederike Commi-
chau. „Gab es Diskussionen, ob
man die Kinder gemeinsam be-
treut?“ „Gab es“, sagt Commi-
chau. „Aber das wollte mein Mann
nicht, und das wäre in seinem
Beruf kaum möglich gewesen.“
Er lenkt, sie folgt. Er macht die
Karriere, sie organisiert die Kin-
der. Über Jahrzehnte war das im
ganzen Land ein Lebensmodell,
das kaum jemand anzweifelte.
Und auch wenn Frauen wie die in
Blankenese selten zu Wort kom-
men: Sie sind noch immer zahl-
reich. Sechs Millionen Frauen im
erwerbsfähigen Alter sind nicht
berufstätig. Jede dritte Mutter
bleibt auf Dauer daheim.
In der Loggia von Friederike
Commichau tagt an diesem Mor-
gen ein Kreis, den sie im Spaß
„Tussenrunde“ nennt. Freundin-
nen, mit denen sie vor mehr als
17 Jahren eine Krabbelgruppe
gegründet hat. Die Kinder sind
fast erwachsen, aber die Mütter
treffen sich noch immer einmal
in der Woche zum Kaffee, um zu
reden. Die beiden Freundinnen,
auch Juristinnen, zwei Söhne die
eine, sieben Kinder die andere,
sind härter im Ton als die stets
verbindliche Friederike Commi-
chau. Sie empören sich über die
Frauen, die versuchen, trotz
Kindern zu arbeiten. „Die Nach-
mittagsbetreuung in der Grund-
schule ist nur Aufbewahrung“,
sagt eine. „Nicht das Niveau, das
man möchte“, sagt die andere.
„Die Hilfe, die ich zum Putzen
hatte, supersüß, Lehrerin aus
Polen, aber die macht jetzt die
Betreuung in der Grundschule.
Hat sie das jemals gelernt?“
Aber dann, als die Freundinnen
gegangen sind, ist da wieder die
ruhige, überlegte Friederike Com-
michau. Und sie sagt, sie fände es
nicht schlecht, wenn es eine gute
Ganztagsschule gäbe, eine hoch-
wertige Betreuung auch für die
kleinen Kinder. Auch weil sie an
ihre Töchter denkt, die nun lang-
sam erwachsen werden. Ihnen
wünscht sie eine andere Zukunft.
„Sie sollen sich nicht entscheiden
müssen. Ich hoffe, dass sie einen
Beruf erlernen und ausüben, der
sie befriedigt.“
Es ist ein Schwebezustand, der
in diesen schönen Häusern
zu erkennen ist. Da sind
Frauen, die ein Leben führen, von
dem sie nicht erwarten, dass es
in der nächsten Generation noch
möglich sein wird. Gleichzeitig
denken sie, dass ihre Arbeit zu
Hause unverzichtbar sei, weil
Kinder Zeit brauchen und weil,
wenn der Vater mal 60, mal 80
Stunden abwesend ist, eben der
andere diese Zeit haben muss.
Wie aber sollen die Töchter die-
sen Widerspruch auflösen? Wer-
den die Unternehmen und Kanz-
leien, in denen ihre Männer
arbeiten, begreifen, dass keiner,
der sich um Kinder sorgt, zwölf
Stunden am Tag außer Haus sein
kann?
Die Frauen von Blankenese er-
zählen: Wenn ein junger Anwalt
Erziehungsurlaub nehme, könne
der nicht Partner werden, weil es
dann heiße: „Die Kanzlei steht ja
bei Ihnen nicht an erster Stelle,
sondern Sie müssen ja auch noch
Ihr Privatleben organisieren.“
Und wenn in den großen Unter-
nehmen ein Vater auf Dauer Zeit
für seine Kinder frei halte, werde
auch der von der Karriereliste
gestrichen. Wie also mag die Zu-
kunft aussehen?
„Ich glaube, dass in der nächs-
ten Generation die Frauen ein-
fach auch so viel arbeiten werden
wie die Männer“, sagt Friederike
Commichau. Und fügt hinzu:
„Aber die Kinder, die fallen dann
vielleicht hinten runter.“ 2
Ich wachse aus diesem Leben heraus“Denise von Quistorp
Deutschland 2
3 / 2 0 1 3 stern 107
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Bei Tempo 140 ist es vorbei
mit dem Vorwärtsdrang.
Trotz seiner 125 PS wird
der Ford Fiesta nicht mehr
schneller. Die Elektronik hat den
Drehzahlbegrenzer aktiviert; der
Gasfuß der 18-jährigen Roxane
Oswald tritt ins Leere – ausge-
rechnet als sie auf die Überhol-
spur wechselt. Die Stuttgarterin
verzieht leicht das Lenkrad und
flucht: „Ich glaube, es hackt.“
Gleichzeitig in den Rückspiegel
schauen, rausziehen und realisie-
ren, dass der Fiesta nicht mehr
beschleunigt – das ist zu viel für
sie. „Ich war total überrumpelt“,
sagt die Studentin nach dem
Schreck. Dabei hatte sie beim
Start auf dem Display des Audio-
systems gelesen, dass die Ge-
schwindigkeit elektronisch auf 140
Stundenkilometer begrenzt ist.
Das Sicherheitssystem Mykey
macht es möglich. Damit lässt
sich ein Zweitschlüssel des Ford
Fiesta speziell für Fahranfänger
programmieren. Ohne Aufpreis
gibt es Mykey seit Jahresanfang
ab der Ausstattungslinie Trend
(ab 12 170 Euro). Demnächst soll
das System auch in weiteren Mo-
dellen verfügbar sein.
Besorgten Eltern eröffnet der
programmierbare Schlüssel eini-
ge Möglichkeiten, dem automobi-
len Sturm und Drang ihrer Kinder
Einhalt zu gebieten: Sie kön-
nen die Geschwindigkeit bei 140
oder 160 Stundenkilometern ab-
riegeln. Oder einen Warnton ein-
stellen, der jedes Mal kurz ertönt,
wenn der Sprössling eine frei zwi-
schen 70 und 140 wählbare Ge-
schwindigkeitsgrenze überschrei-
tet. Auch die Musikanlage lässt
sich drosseln – um maximal 55
Prozent. Ist der Fahrer nicht
angeschnallt, bleibt das Gerät
sogar ganz stumm. Stattdessen
piepst der Gurtwarner unent-
wegt. Zudem sorgt der Schlüssel
dafür, dass die Assistenzsysteme
immer aktiv sind: ESP, Park Pilot
oder City-Bremsassistent lassen
sich nicht abschalten. Auch die
Warnlampe des Tanks leuchtet
früher.
Ford bietet damit elektronische
Hilfe für einen alten Generatio-
nenkonflikt. Bisher müssen Eltern
ihren Kindern schlicht vertrau-
en, wenn die mit dem frisch
erwor benen Führerschein das
Familienauto zur Disco fahren.
Die seit Jahren steigende Motor-
leistung selbst biederer Modelle
überfordert dabei immer wieder
junge Fahrer. Der programmier-
bare Autoschlüssel soll zumin-
dest gröbsten Unfug unterbin-
den. Peter Patzelt, in Europa
für Mykey verantwortlich, sagt:
„Teenager sind Experten darin,
sich im Auto in Schwierigkeiten
zu bringen.“
Die Verkehrsstatistik gibt ihm
recht. Laut TÜV Rheinland sind
sieben Jahre Erfahrung nötig, um
ein Auto souverän zu steuern.
Fahranfänger zwischen 18 und 24
sind überdurchschnittlich oft an
Unfällen beteiligt. Im Jahr 2011
starb alle zwölf Stunden ein jun-
ger Fahrer bei einem Pkw-Unfall,
und auffallend häufig sind die An-
fänger selbst am Crash schuld.
Der ADAC macht dafür eine Mi-
schung aus Unerfahrenheit und
Selbstüberschätzung verantwort-
lich. Alkoholkonsum, zu geringer
Abstand und Raserei sind häufige
Unfallursachen.
Eltern an BordMit einem speziellen Schlüssel können Ford-Kunden künftig ihre Kinder aus- bremsen. MYKEY soll Imponiergehabe und Raserei verhindern. Ein Test
Schlüsselerlebnis: Ein programmier-
barer Türöffner setzt jungen Ford-
Fahrern Grenzen
Diskussionsbedarf: Albert Ruff findet den
strengen Schlüssel gut, Stieftochter Roxane
Oswald äußerst ärgerlich
108 stern 3 / 2 0 1 3
2 Auto
Diese Daten kennt auch Albert
Ruff, der Stiefvater von Testerin
Roxane. Ihm gefällt Mykey aus-
nehmend gut. „Ich würde Roxane
alles sofort einstellen“, sagt der
68-Jährige. Klar vertraue er ihr,
ein wenig Kontrolle schade je-
doch nicht. Denn Albert Ruff
weiß, wie sie fährt: Zwar durch-
aus souverän, Roxane schaltet
aber spät hoch und reizt starke
Motoren aus. Autos seien eben
ihre Leidenschaft. Sie selbst be-
zeichnet sich als „blechgeil“.
Folgerichtig ist die 18-Jährige von
dem Kontrollsystem wenig be-
geistert. Mykey könnte den Haus-
segen in Schieflage bringen: „Ich
würde meine Eltern erst mal aus-
lachen. Wäre solch ein Sperr-
schlüssel ihr Ernst, würde alles
eskalieren“, droht sie.
Für Le Duc-Viet ist die neue
Technik hingegen kein Grund,
sich aufzuregen. Der Stuttgarter
mit den vietname sischen Wur-
zeln findet den Zweitschlüssel
2
hilfreich – aber nur für die ersten
Monate nach der Fahrprüfung,
und die hat er schon hinter sich.
Le machte den Führerschein mit
17 und durfte zunächst nur in Be-
gleitung seiner Eltern fahren.
Zwei Jahre später ist er noch im-
mer unfallfrei. Den Familien-
BMW vertrauen seine Eltern ihm
deshalb unbesorgt an. Kein Wun-
der, bei seinem Fahrstil. Le Duc-
Viet fährt, wie er ist: ruhig und
entspannt und dazu noch sehr
vorausschauend. Mit dem Mykey
hat er trotzdem Probleme: Jedes
Mal wenn der 19-Jährige die
70-km/h-Marke überschreitet,
piepst der Fiesta kurz. Selbst nach
dem achten Mal tritt Le Duc-Viet
instinktiv auf die Bremse. „Ich
frage mich immer, ob etwas ka-
putt ist“, sagt er.
Das klingt wenig hilfreich.
Ohnehin hat das System Lücken.
Ampelrennen unterbindet es
nicht – bis Tempo 140 lässt sich
der Motor nach Herzenslust hoch-
jubeln. Zudem ist diese Ober-
grenze nicht an Tempolimits ge-
koppelt: Ob der Fahranfänger mit
140 km/h auf der Autobahn unter-
wegs ist oder über die Land-
straße brettert, registriert Mykey
nicht. Eine Verkehrsschilderken-
nung oder die Verbindung zu
einem Navigationsgerät fehlt.
Unterm Strich dürfte das Sys-
tem dennoch viele Eltern anspre-
chen – und Protest der Kinder
provozieren. Doch auch die könn-
ten einen Vorteil von dem limi-
tierenden Schlüssel haben. Der
Psychologe Cris Burgess, der das
System im Auftrag von Ford be-
urteilt hat, sagt: „Junge Fahrer
möchten vielleicht sicher fahren,
aber der Druck von Freunden
oder anderen Passagieren führt
mitunter zum Gegenteil.“ Macht
sich künftig jemand über den
zaghaften Fahrstil lustig, gibt es
endlich eine Ausrede: Der Schlüs-
sel ist schuld.
Florian Flaig
In den gehobenen Varianten des
neuen Ford Fiesta gehört Mykey zur
Serienausstattung
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„Mein Vater hat sich einfach genommen, was er wollte“Über Jahre hinweg hat der 1991 verstorbene Schauspieler Klaus Kinski seine TochterPOLA KINSKI missbraucht. Es dauerte lange, bis sie die Geschehnisse verarbeiten konnte. Erst jetzt, Jahrzehnte später, kann sie über ihren tyrannischen Vater, die Vergewaltigungenund seelischen Verletzungen sprechen. Zeugnis einer zerstörten Kindheit
Pola Kinski, 60, beim stern-Foto-Termin im Barockschloss Mannheim
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Kultur 2
112 stern 3 / 2 0 1 3
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Pola Kinski (Mitte) mit ihrem Vater,
ihrer Stiefmutter Ruth Brigitte Tocki
und ihrer Halb-schwester Nastassja
im Garten von Kinskis Schloss in
der Via Appia Antica in Rom, 1968
Klaus Kinski, Venedig, 1986
114 stern 3/2013
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Pola Kinski als junge Frau,
undatiertes Privatfoto
Pola Kinski als Kind, undatiertes
Privatfoto
Pola Kinski mit ihrer Tochter
Janina in den 70er Jahren
Klaus Kinski und die 15-jährige Pola
in Rom, 1967
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Frau Kinski, was empfinden
Sie, wenn man Ihnen
sagt, dass Sie die Augen
Ihres Vaters haben?
Ich möchte nicht seine Augen
haben. Er schoss mit seinen
Augen Pfeile in die Welt. Aber
egal, wie er mich ansah, zärt-
lich, zornig, flehend, befehlend,
weinerlich oder kalt – ich
mochte seinen Blick nicht.
Ihr Vater Klaus Kinski hat Sie
14 Jahre lang sexuell miss-
braucht. Er begann damit, Sie
unziemlich zu berühren, als
Sie fünf waren, und vergewaltigte
Sie zum letzten Mal, als Sie 19
waren. Nun veröffentlichen Sie ein
Buch darüber. Wie war es, dieses
Buch zu schreiben?
Hart. Erst habe ich lange ge-
schwiegen. Weil er mir verboten
hatte, darüber zu sprechen. Das
Infame war, dass er einerseits
sagte, das sei ganz natürlich.
Überall auf der Welt würden
Väter das mit ihren Töchtern
machen. Nur in diesem spießigen
Deutschland sei das nicht nor-
mal. Da ich seine Zuwendung so
nötig gebraucht habe wie die Luft
zum Atmen, habe ich das in Kauf
genommen. Gleichzeitig hat er
aber gesagt, du darfst niemals mit
irgendjemandem darüber reden.
Und er hat es so eindringlich ge-
sagt, sonst komme er ins Gefäng-
nis, und mich dabei so ange-
starrt, mich so an den Schultern
gepackt. Ich wäre niemals auf die
Idee gekommen, mit jemandem
zu sprechen. Außerdem: Ich habe
es jedes Mal schnell wieder ver-
gessen. Verdrängt.
Sie konnten den Missbrauch
vergessen?
Wenn ich wegfuhr von ihm, war
es nicht mehr existent.
Wie konnten Sie das ausblenden?
Das habe ich nicht bewusst
gemacht. Das war einfach nicht
da. Es war zwar immer so ein
Gefühl, wenn ich zu ihm nach
Rom fuhr oder nach Madrid.
Oder wenn er mich abholte. Ein
Gefühl von Angst. Aber mir war
nicht bewusst, was das genau ist.
Ich habe mir nicht überlegt: Oh,
jetzt musst du wieder mit dem
ein Gefühl von Angst: Was
passiert gleich? Brüllt er jetzt
den Taxifahrer an? Schleudert er
jetzt im Restaurant wieder das
Besteck in den nächsten Teller?
Immer wieder hieß es: Kinski
provoziert all diese Skandale nur,
um PR für sich zu machen.
So habe ich es nicht empfunden.
Er war ja zu Hause auch so. Ich
kenne ihn gar nicht anders. Er
hatte manchmal auch kurze,
fröhliche Momente. Man konnte
mit ihm auch mal durchs Meer
tollen. Aber dann brauchte nur
wieder jemand zu lange zu uns
hinzugucken, oder wir warfen
die Haare falsch: Dann wurde
man sofort angebrüllt. Zu meiner
Mutter hat er einmal gesagt:
„Ich bin keine Sekunde in mei-
nem Leben glücklich.“
Warum haben Sie dieses Buch
geschrieben?
Ich musste so lange schweigen.
Aber als ich das letzte Mal bei
meinem Vater in Rom war, konn-
te ich es nicht mehr aushalten.
Sie waren damals 19. Er schickte
Sie los, um Kondome zu kaufen, für
Ihre eigene Vergewaltigung.
Danach bin ich Hals über Kopf
weggefahren, bin bei meiner
Mutter im Chiemgau zusammen-
gebrochen, habe ihr alles erzählt.
Ich kann Ihnen gar nicht be-
schreiben, wie der Zustand war,
als ich bei meiner Mutter ankam.
Direkt vor mir tat sich ein Ab-
grund auf. Ich hatte das Gefühl,
ich sterbe jede Sekunde. Ein Ge-
fühl, dass statt Blut eine giftige
Flüssigkeit durch meine Adern
fließt, jede Zelle meines Körpers
davon betroffen ist. Ich habe
alles meiner Mutter und meinem
Stiefvater erzählt. Später habe
ich es mithilfe anderer verarbei-
tet. Habe die Zusammenhänge
gelernt. Dass meine Ängste von
der Vergewaltigung kamen. Aber
ich hatte immer das Bedürfnis,
es aufzuschreiben. Schreiben ist
etwas Sinnliches. Anders als
rein intellektuelles Begreifen. Ich
wollte es genau beschreiben.
Warum haben Sie dieses Buch
gerade jetzt geschrieben?
Jetzt war der richtige Zeitpunkt.
Das hat sich mir aufgedrängt, das
zu schreiben. Nicht nur für
ins Bett. Darüber habe ich nicht
nachgedacht.
Warum brauchten Sie seine
Zuwendung so sehr?
Weil ich mich von meiner Mutter
nicht geliebt fühlte. Nach der
Trennung von meinem Vater
hatte meine Mutter wieder gehei-
ratet. Ich fühlte mich störend.
Liest man Ihr Buch, hat man den
Eindruck, dass die Zeit, bevor Ihre
Mutter ihren zweiten Mann traf,
so etwas wie das verlorene Paradies
Ihrer Kindheit war.
Ich habe meine Mutter ganz
viele Jahre gesucht. Ich habe sie
wahnsinnig geliebt. Wir hatten
Momente, in denen wir uns nahe
waren. Arm in Arm im Herbst
durch den Englischen Garten ge-
hen. Oder wenn ich ihr die Blät-
ter vom Mantel wegmachen durf-
te, wenn wir uns haben hinfallen
lassen. Es gab ganz wenige nahe
Momente. Aber ich kann mich
nicht an Zärtlichkeit erinnern.
Dann kam der neue Mann in das Le-
ben Ihrer Mutter. Sie waren zu viel.
Er hat mir meine Mutter
weggenommen. Wir mussten
umziehen. Ich musste von
meiner geliebten Freundin weg.
Neue Schule. Unfreundliche
Lehrerin. Neue Kinder. Ich durfte
nicht mehr zu ihr ins Bett. Muss-
te alleine im Zimmer schlafen.
Das war für mich hart. Als mein
Vater dann immer wieder kam,
dann auch so massiv in mein
Leben trat, hatte ich das Gefühl:
Jetzt habe ich selbst jemanden.
Jemanden für mich. Mein Papa
interessiert sich für mich. Jetzt
brauche ich all die anderen nicht
mehr.
Erinnern Sie sich an eine Zeit, wo
das Verhältnis zu Ihrem Vater
noch nicht durch Missbrauch und
Vergewaltigung geprägt war? Wo
es einfach nur schön war mit ihm?
Nein. Ich weiß nicht, ob es von
Anfang an durch Missbrauch
geprägt war. Jedenfalls nicht
durch sexuellen Missbrauch.
Missbraucht hat er eigentlich
alle Menschen. Er hat ja andere
Menschen nie respektiert.
Weder ihre Meinungen noch
ihre Ideen. Entspannt war es nie
mit meinem Vater. Auch nicht
die ersten Jahre. Es war immer ➔
„Er sagte, das sei ganz natürlich. Überall auf der Welt würden Väter das mit ihren Töchtern machen“
Pola Kinskis Mutter Gislinde Kühbeck in den 50er Jahren
Interview STEPHAN MAUS
3 / 2 0 1 3 stern 117
Kultur 2
Aber wenn er seine Anfälle be-
kam, all dieses Exzentrische, das
empfand ich nicht als Schauspiel-
kunst. Ich kann mich noch an
einen Rezitationsabend erinnern,
als er einen Kerzenleuchter in
die Vorhänge geworfen und
herumgebrüllt hat, dass all diese
Kretins nach Hause gehen sollen.
All diese Kretins, die da husten.
Musste er zwanghaft andere
Menschen erniedrigen?
Ja. Er war voller Komplexe. Ein
unsicheres Würstchen. Er war
auch nicht sehr gebildet. Er hatte
bloß so ein ganz bestimmtes
Geschick, Leute für sich einzu-
nehmen. Im Small Talk den
Leuten das Gefühl zu geben, er
wüsste viel. Bei Interviews fuhr
er den Journalisten von Anfang
an über den Mund, um ihnen
die Möglichkeit zu nehmen,
unbequeme Fragen zu stellen. Er
konnte unglaublich gut bluffen.
Er war nicht besonders klug. Er
war einfach wahnsinnig intole-
rant und spießig. Wenn ich daran
denke, wie er vor uns kniete
und uns jeden Fussel vom Mantel
machte. Wie engstirnig er war
und keine anderen Menschen le-
ben ließ, niemanden akzeptierte.
Vor allem keine Männer.
Männer waren Kretins. Generell.
Was sind Ihre ersten Erinnerungen
an Ihren Vater?
Dass er mich immer abgeholt
hat. Vom Kindergarten. Da durfte
ich dann nicht mehr hingehen.
Der hat ihm nicht gefallen.
Da war ich drei, vier Jahre alt.
Da hat er mir immer Spielsachen
geschenkt.
Zu der Zeit war Ihr Vater noch der
große Zauberer, der Ihnen die Welt
zu Füßen legte.
Er war ein Magier. Aber kein
guter. Er war so übermächtig. Er
konnte alles. Er brachte mir Pup-
pen aus Afrika mit. Alle machten,
was er wollte. Er sagte immer:
„Ich kaufe dir alle Kleider der
Welt.“ Das hat mir gut gefallen.
Aber das gefällt wohl jedem Kind.
Komischerweise wollte ich die Sa-
chen dann nicht behalten. Wenn
ich von ihm wegfuhr, habe ich sie
verschenkt. Es war Hurenlohn.
Erinnern Sie sich an den Moment,
als er zum ersten Mal übergriffig
wurde? Wo Ihnen zum ersten Mal
irgendetwas komisch vorkam?
Das kam mir nicht nur komisch
vor, das war sofort massiv. Ich
glaube, dass er schon vorher
übergriffig war, weil er mich
immer mit offenem Mund
geküsst hat. Das war mir wider-
lich. Er hat mich auch immer
so umarmt. An sich gedrückt. Auf
eine Art, die mir unangenehm
war. Richtig greifbar wurde es
dann im Münchner Hotel „Vier
Jahreszeiten“. Er holte mich
aus dem Schwimmbad. Das war
dann massiv.
Das war das erste Mal, dass
er Sie vergewaltigte. Sie waren
damals neun und trugen Ihr
Kommunionkleid.
Die Idee mit dem Kommunion-
kleid kam nicht von ihm. Das
war einfach mein schönstes
Kleid. Deshalb hatte ich das an.
Nur war es für mich schon ent-
scheidend, was meine Schuldge-
fühle betrifft. Weil ich katholisch
erzogen worden bin. Deshalb
habe ich das Kleid dann später
auch zerstört.
Groteske Inszenierungen scheinen
Ihren Vater stimuliert zu haben.
So grotesk war Kinski gar nicht.
Er wird immer so dargestellt.
Es hieß ja auch, er habe in
einem Sarg geschlafen. Quatsch!
Er war bieder. Alles immer
ganz ordentlich und pieksauber.
Perfekt eingerichtet. Jeder Nagel
vergoldet. Als ich ihn durch-
schaut habe, später, empfand ich
ihn als spießig, intolerant und
menschenverachtend. Musste er
ja sein.
Hat er überhaupt je irgend-
jemanden respektiert?
Nein. Ich habe zwar manchmal
erlebt, dass er selbst Angst hatte.
Aber nur vor Menschen, die
ihn belangen konnten. Privat-
menschen zum Beispiel, von
denen er sich Geld geliehen
hatte, wie meine Tante oder
meine Nachhilfelehrerin, die ein
behindertes Kind hatte – die hat
er nie bezahlt. Die Menschen,
die ihn nicht belangen konnten,
haben ihn nicht interessiert. Er
war schon ein Schwein.
Nach der Vergewaltigung im Hotel
„Vier Jahreszeiten“ wollten Sie
mich, sondern auch für andere,
die Ähnliches erlebt haben. Wir
haben alle auf eine Weise lebens-
länglich. Auch wenn ich das sehr
gut verarbeitet habe und damit
leben kann, habe ich trotzdem
lebenslänglich. Jeder hat das.
Und ich konnte es auch nicht
mehr hören: „Dein Vater! Toll!
Genie! Ich habe ihn immer
gern gemocht!“ Ich habe immer
gesagt: „Ja, ja.“ Seit er tot ist,
wird diese Vergötterung immer
schlimmer.
Mussten Sie warten, bis Ihr Vater
gestorben war, um es überhaupt in
Worte fassen zu können?
Ja. Ich glaube, ich hätte immer
noch Angst vor ihm gehabt.
Nachdem ich mich nach meinem
Zusammenbruch meiner Mutter
und meinem Stiefvater anvertraut
hatte, hatte ich große Angst vor
ihm.
Hat Ihr Vater Sie geschlagen?
Der hat uns nicht geschlagen.
Obwohl ich als Kind davor auch
Angst hatte. Gegen die Wand
gehauen hat er mich schon. Er
hat auch immer gedroht: „Man
müsste euch alle gegen die Wand
werfen.“ Es war ein Gefängnis
ohne Gitter. Ich wäre nie auf die
Idee gekommen, ihn zu verraten.
Auf der Leinwand war Kinski oft
furchterregend. Konnte er Sie so
einschüchtern, weil er ein so guter
Schauspieler war?
Schauspieler? Als Schauspieler
hat er mich nie interessiert. Ich
habe mir kaum Filme von ihm
angeguckt. Und wenn ich ihn in
Filmen gesehen habe, fand ich
immer, dass er genau so ist wie
zu Hause. Ich empfand ihn wirk-
lich nicht als großen Schauspie-
ler. Er hatte eine Ausstrahlung,
eine Präsenz. Aber ich fand
nicht, dass er gespielt hat. Der
einzige Film, in dem ich ihn
gut finde, ist „Woyzeck“ von
Werner Herzog. Da spielt er die-
sen Soldaten unendlich zurück-
genommen. Fast schüchtern.
Das hat mir gefallen. Obwohl
er am Schluss auch ausrastet
und Marie umbringt. Vielleicht
steckte ja ein toller Schauspieler
in ihm. Vielleicht hätte er es
ausbauen können, wenn man
ihm andere Rollen gegeben hätte.
„Wenn ich ihn in Filmen gesehen habe, fand ich immer, dass er genau so ist wie zu Hause “
Ab 1953 zog Kinski mit Versen von François Villon und Arthur Rimbaud als „Ein-Mann-Wanderbühne“ durchs Land
2 Kultur
118 stern 3 / 2 0 1 3
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einem Priester alles beichten. Aber
es ging nicht.
Ich bin hingelaufen. Wollte
es ihm erzählen. Das war der
einzige Mensch, dem ich es
erzählen wollte. Als er mir
dann gegenübersaß, hat sich
eine Tür verschlossen. Ich
konnte es nicht sagen.
Da haben Sie es begraben.
Ja. Ich hätte auch nicht gewusst,
wem ich mich hätte anvertrauen
sollen.
Nach der ersten Vergewaltigung
haben Sie Ihren Vater immer
wieder besuchen müssen. Und
jedes Mal war es die Hölle.
Einmal stand er vor meinem
Schreibtisch zu Hause in Mün-
chen. Als ich Hausaufgaben
machte.
Er holte Sie damals von München
nach Berlin, in seine Villa im Grune-
wald. Sie wussten, was Sie dort
erwartete. Diese Villa war wie das
Reich eines bösen Königs.
So sah sie auch aus. Wie ein
kleines Schlösschen. Ich war wie
ferngesteuert. Er stand plötzlich
in München vor meinem Schreib-
tisch. Er ging durch die Küchen-
tür wie eine Erscheinung, presste
meine Mutter und meinen Stief-
vater durch seine Präsenz und
seine Macht rechts und links an
den Türrahmen, ging auf mich
zu und sagte: „Du fährst mit nach
Berlin.“ Die protestierten über-
haupt nicht. Ich habe immer zu
meiner Mutter geguckt und
gedacht: „Mach doch etwas.“ Sie
tat nichts. Er hatte diese Macht,
mich einfach immer mitzuneh-
men. Im Flugzeug fiel mir dann
auf, dass ich gar nichts dabei-
hatte. Keine Jacke, keine Zahn-
bürste, nichts.
Ihr Vater war der allmächtige, böse
Zauberer.
Das war unheimlich. Als würde
ich gezogen. Es fragte mich kei-
ner, ob ich mit möchte. Er hat
mich auch nicht gefragt. Er hat
gesagt: „Du kommst jetzt mit.“
Wenn man das als Kind erlebt,
hat man das Gefühl: Der Vater ist
Gott. Er hat sich auch benom-
men wie ein Gott. Hat sich alles
genommen, was er wollte. Ist
über alles hinweggegangen. Hat
mich nicht mehr in die Schule
gelassen. Er hat sich über alles
hinweggesetzt. Auch darüber,
dass ich mich oft gewehrt habe
und gesagt habe: „Ich will nicht.“
Das war ihm egal. Er hat sich ein-
fach genommen, was er wollte.
Und hat Sie anschließend mit
Luxus überhäuft.
Das war diese Diskrepanz. Auf
der einen Seite mich zu miss-
brauchen. Zu vergewaltigen. Und
auf der anderen Seite wollte er
mich in die teuersten Internate
oder Mädchenpensionate schi-
cken. Er bat mich immer wieder,
ganz zu ihm zu ziehen. Ihm Tag
und Nacht ausgeliefert zu sein,
das wäre undenkbar für mich
gewesen. Bei meiner Mutter
konnte ich auch nicht mehr
leben. Da war auch kein Platz,
kein Zimmer, nichts für mich.
Dann bin ich lieber ins Internat.
Bestmögliche Ausbildung. Größ-
ter Luxus. Er leistete sich ein
kleines Sexualobjekt, das er auf
Seidenkissen bettete.
Wollte er sich mit all den Geschen-
ken von seiner Schuld freikaufen?
Nein, nein. Es hat ihm einfach
Spaß gemacht, einem schöne
Kleider zu kaufen. Er wollte ja
auch immer bestimmen,
was man anhat. Er hat immer
bestimmt, was ich trage.
Vom Schlüpfer bis zum Hut.
Zeigte Kinski Reue oder ein
schlechtes Gewissen wegen all der
Vergewaltigungen?
Nein. Aber ich habe mich damit
auch nicht beschäftigt. Weil ich
es so schnell wie möglich wieder
versenken wollte. Ich habe das
so in Kauf genommen wie eine
Notwendigkeit. Mein Leben fing
erst wieder an, wenn ich von
ihm weg war. Es war paradox:
Einerseits wollte ich da nicht
mehr hin. Andererseits wollte ich
zu ihm, weil er sich für mich
interessierte. Er hat mir zu ver-
stehen gegeben, dass es ganz
wunderbar ist, dass es mich gibt.
Er hat bei meiner Mutter fast
wie um meine Hand angehalten.
Die fehlende Geborgenheit in
München war der Nährboden für
die Gewalt, die Ihr Vater Ihnen
antun konnte.
Er erkannte diese Lücke sofort.
Er hat gemerkt, dass ich bedürftig
war nach Liebe. Das hat er
ausgenutzt. Er hat auch schnell
gemerkt, dass ich ihn nicht
verrate. Vielleicht wäre ich zu
meiner Mutter gegangen. Wenn
ich mich wirklich geliebt gefühlt
hätte, wäre ich zu ihr gegangen.
Ich habe ja Ansätze gemacht.
Habe ja gesagt: „Da fahre ich nie
mehr hin.“ Ich verstehe nicht,
wie sie später sagen konnte: „Ich
hab’s mir immer schon gedacht.“
Wenn ich bei einem meiner
Kinder nur den Schatten eines
Verdachts hätte, ich hätte rausge-
funden, was da ist. Das können
Sie mir glauben.
Auch die zweite Frau Ihres Vaters,
Ruth Brigitte Tocki, hätte Sie
schützen müssen. Ihr Vater hat Sie
jedes Mal missbraucht, wenn
Sie zu Besuch bei ihm, Tocki und
der kleinen Nastassja waren.
Brigitte hat davon nichts
gewusst. Der hat das so geheim
gemacht. Wenn sie in der Bade-
wanne war oder wenn sie
Nastassja ins Bett gebracht hat.
Aber sein ganzes Verhalten
war doch krank. In Paris ist er
mit Ihnen und Ihrer Stief-
mutter durch das Rotlichtviertel
Pigalle gegangen und hat Ihnen
Reizwäsche gekauft.
Ja. Uns allen.
Sie waren damals 13 Jahre alt.
Da hätte Ihre Stiefmutter doch
intervenieren müssen.
Ich glaube, die hat sich gesagt:
„Der ist halt einfach so.“ Ich glau-
be nicht, dass sie gedacht hat,
dass er mich missbraucht. Ich
glaube auch nicht, dass meine
Mutter das wirklich gedacht hat.
Sonst hätte sie ja einschreiten
müssen.
Sie zögern noch immer, Ihrer
Mutter Schuld zu geben.
Ich glaube, man war mich ein-
fach gerne los. Es war meiner
Mutter auch recht, dass mein Va-
ter sich so um mich gekümmert
hat. Er hat ja alles für mich über-
nommen. Für mich musste man
keinen Pfennig mehr bezahlen.
Vielleicht hat man deshalb nicht
so genau hingeschaut.
Wie haben Sie sich den fortwähren-
den Missbrauch als Kind erklärt?
Glaubten Sie, er sei besessen von
Ihnen? Oder einfach nur irre? ➔
„Er leistete sich ein kleines Sexualobjekt, das er auf Seidenkissen bettete“
Klaus Kinski mit zweiter Ehefrau Ruth Brigitte Tocki und Nastassja Kinski Mitte der 60er Jahre in Rom
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Ich weiß es nicht. Er war einfach
ein Kinderschänder. Er hat auch
meine 15-jährige Freundin ins
Hotel ziehen wollen. Das habe
ich dann ja noch verhindert. Ich
weiß nicht, ob ich das als krank
bezeichnen soll. Auf jeden Fall
ist es ungeheuerlich.
Wie erklärt man sich das Ungeheu-
erliche als Kind? Haben Sie sich
gesagt: Papa ist in mich verliebt?
Ein Papa war das für mich nicht.
Er hatte nichts Liebes. Einmal
hatte ich Angst im Flugzeug, weil
es so lange über Paris kreiste. Da
habe ich bei ihm Hilfe gesucht.
Da hat er mich angeschrien: „Ich
habe selber Angst!“ Er war kein
liebevoller Mensch, der einem
Geborgenheit geben wollte.
Alles hatte immer nur mit ihm
zu tun.
Einmal versuchte auch Ihr
Großvater, sich Ihnen zu nähern.
Ein anderes Mal hat ein Tennis-
lehrer Sie vergewaltigt.
Da war ich schon 14. „Schon“ ist
gut. Der Tennislehrer war min-
destens Ende 20.
Auf einer Italienreise wurden Sie
auch beinahe vergewaltigt. Haben
Sie ein Verhalten ausgeprägt, das
Sie leichter zum Opfer machte?
Das habe ich später auch geglaubt.
Ich war auch schon so früh
sexualisiert. Man stellt sich nicht
in Italien zum Trampen an die
Autobahn, in Shorts, Bluse hoch-
geknotet. Aber solche Sachen
habe ich gemacht. Da war mir
nicht bewusst: Ich mache das
jetzt, um Männer anzumachen.
Ihr Vater hatte Sie erfolgreich
zum Sexualobjekt erzogen. Er hat
Sie immer so verführerisch wie
möglich eingekleidet.
Immer. Er hat mir all diese Klei-
der gekauft, immer kürzer, immer
kürzer, immer kürzer. Ich weiß
noch, ich kam da im Internat an
und hatte Kleider an, die waren
so kurz, dass ich mich nicht
rühren konnte. Mich wundert es,
dass er mich überhaupt so weg-
fahren ließ. Weil er auch noch so
wahnsinnig eifersüchtig war.
Mit 18 begannen Sie dann eine
Schauspielausbildung. Eigentlich
der denkbar schlechteste Beruf
für Sie. Sie mussten immer gegen
Ihren Vater anspielen.
Ich musste nicht gegen meinen
Vater anspielen. Allerdings war
das erste Stück, das ich gespielt
habe, ein hartes Stück.
Damals übernahmen Sie am
Hamburger Schauspielhaus die
Rolle der Gina in Lodewijk de
Boers Inzestdrama „The Family“.
Sie spielten ein Mädchen, das
verstummte, weil es von seinem
Vater vergewaltigt wurde.
Wie haben Sie das ausgehalten?
Jeden Tag wenn ich auf die
Bühne ging, habe ich gedacht,
ich sterbe. Und war dann wie
neu geboren, wenn das Stück
vorbei war. Dann bin ich zu
meiner Freundin gefahren,
die auch ein großes Schicksal
hatte, weil der Mann, den sie
geliebt hatte, gestorben war.
Erst da fing für mich das Leben
an: in dieser kleinen Wohnung
in Hamburg-Eppendorf. Gemüt-
lich ins Sofa kuscheln oder ins
Bett und Fernsehen gucken. Das
war für mich Leben. Schlimm
war es am nächsten Morgen,
wenn die Ängste wiederkamen.
Morgens, wenn ich aufwachte.
Dann war es immer am
schlimmsten.
Warum haben Sie dieses Stück
trotzdem weitergespielt?
Weiß nicht. Mein Lebenswille
hat mich am Laufen gehalten. Ich
lebe unheimlich gern. Trotz
allem, was ich erlebt habe. Ich
dachte immer: Da kommt noch
was anderes. Ist ja auch passiert.
Wenn es ganz schlimm wurde,
hatte ich immer das Gefühl: Ich
habe ja auch noch die Freiheit,
mich umzubringen.
Haben Sie versucht, sich
umzubringen?
Nein. Nie. Zerstören schon.
Inwiefern?
Ich habe geraucht wie ein
Schlot. 30 Zigaretten am Tag. Ich
bin kein Mensch, der sich was
Gutes tut. Dass ich mir überhaupt
einen Teller machen kann, in
dem was Schönes zu essen ist,
für mich ganz alleine, das kann
ich erst seit vielleicht 15 Jahren.
Haben Sie mit Ihrer Schwester
Nastassja Kinski über den Miss-
brauch gesprochen?
Nein. Nie. Auch nicht mit mei-
nem Bruder.
In seinen Memoiren hat Kinski
von Inzest geschrieben, hat auch
sonst immer den Gesetzlosen
gespielt. Hätte man ihn ernster
nehmen müssen? Trägt die Gesell-
schaft Mitschuld an dem, was er
Ihnen angetan hat?
Man hat ihn immer als irres
Genie bezeichnet. Ich glaube, er
konnte sich das erlauben, weil
er diesen Status hatte. So etwas
können sich ja überhaupt nur
Prominente erlauben. Jeder
Arbeiter würde viel schneller in
den Knast gehen. Damit hat er
mich immer bedroht. Hat gesagt,
wenn ich was sage, komme er in
den Knast. Und ich wollte nicht,
dass er in den Knast geht. Ich
weiß nicht: Auch Sie dämonisie-
ren Kinski. Sie sagen: „Hätte man
ihn ernster nehmen sollen?“ Der
war ein ganz banaler, normaler
Typ. Bis auf diese Geschichte
und einige andere, die auch nicht
normal sind.
Man sieht ihn eben immer
gleich ein ganzes Schiff durch
den Dschungel ziehen.
Alle sehen ihn wie einen Gott.
Aber er war ziemlich klein.
Wenn ich nicht selbst damals
noch kleiner gewesen wäre,
hätte ich das damals schon
erkannt. Aber als Kind erkennt
man das erst später.
Er hat alle tyrannisiert. Warum
fühlten sich so viele Frauen zu ihm
hingezogen?
Er hat Frauen immer auf den
Thron gehoben. Solange er sie
begehrt hat. Aber er konnte sie
genauso gut von einer Sekunde
zur anderen fallen lassen.
Zum Schluss war er dann mit einer
echten Kindfrau zusammen, dem
Model Minhoï Geneviève Loanic. Als
hätte er seine heimliche Obsession
endlich legitimieren wollen.
Der war immer mit solchen Frau-
en zusammen. Geneviève war ja
nicht die Einzige. Der hatte später
sogar noch 17-Jährige. Meine Mut-
ter war 19. Meine Stiefmutter Big-
gie war 19. Die dritte war 19. Die
waren alle 19 oder 20, als er sie
kennengelernt hat. Vielleicht hat-
te er Angst vor wirklichen Frauen.
Es waren immer Kindfrauen.
Denen konnte er was erzählen.
Die konnte er noch formen.
„Vielleicht hatte er Angst vor wirklichen Frauen. Er war immer mit Kindfrauen zusammen. Die konnte er formen“
Pola Kinski als Gina in Lodewijk de Boers Inzestdrama „The Family“, Deutsches Schauspiel-haus Hamburg, 1974
2 Kultur
120 stern 3 / 2 0 1 3
Sie bekamen schon früh wichtige
Rollen bei guten Regisseuren.
Trotzdem haben Sie Ihre Karriere
abgebrochen. Warum?
Ich habe in diesem Beruf alles
abgesagt, weil ich die Geborgen-
heit mit meinem Mann und
meinen Kindern haben wollte.
Das war mein Leben. Nicht
große Erfolge.
Sie haben Ihre Karriere Ihrer
Familie geopfert.
Ich wollte mit dem ganzen
Beruf nichts mehr zu tun haben.
Immer diese Trennungen.
Ich wollte das nicht. Ich hatte
einfach Angst.
Ihr Vater hat Sie als Kind unterwor-
fen. Konnten Sie als erwachsene
Frau dann nicht mehr anders, als
sich Ihrem Mann zu unterwerfen?
Ich habe mich ihm nie unter-
worfen. Mein Mann ist jede
Woche zu mir nach Hamburg
gekommen, wo ich Theater
gespielt habe. Er wollte halt nur
nicht nach Hamburg ziehen.
Bald war für mich klar: Ich gehe
zu ihm nach Berlin. Ich wollte
auch mit dem Beruf gar nicht
mehr so viel zu tun haben. Das
hatte immer so viel mit meinem
Vater zu tun. Immer: der Vater
Kinski, der Vater Kinski. Aber
unterworfen? Nein. Ich habe
mich nie unterworfen. Im
Gegenteil: Ich kann schon ein
ziemlicher Tyrann sein.
Wann haben Sie Ihren Vater das
letzte Mal gesehen?
Telefoniert habe ich ja noch
oft mit ihm. Er wollte mich ja
abholen lassen mit dem Chauf-
feur. Alles, nachdem ich ihm
geschrieben habe, ich werde nie
wieder mit ihm auf diese Weise
verkehren. Dann hat er mich
noch einmal in die Wohnung
einer Freundin gelockt. Da hat
er gesagt: „T-Shirt hoch!“ Und
ich habe das gemacht. Wie fern-
gesteuert. Dann habe ich aber
gemerkt: „Oh, nein.“ Und habe
ein Taxi bestellt. Da war ich 20.
Dann habe ich ihn noch ein
letztes Mal in Paris gesehen. Mit
25. Da hat er dann zum ersten
Mal einen Mann gesehen, mit
dem ich zusammen war. Meinen
jetzigen Mann. Ich habe meinen
Vater beobachtet. Er war un-
sicher. Hat immer so zu meinem
Freund herübergeschielt. Ich
musste ihm ja immer verheim-
lichen, wenn ich einen Freund
hatte. Er hat mir immer gesagt,
ich dürfe nie mit irgendeinem
anderen Mann das machen, was
er mit mir mache.
Welches Gefühl dominiert, wenn
Sie heute an Ihren Vater denken?
Gar kein Gefühl. Eigentlich
nur Abscheu und Leere. Und ich
möchte jetzt noch etwas zu
meinen Augen sagen: Ich habe
nicht genau seine Augen. Ich
habe vielleicht etwas von seinen
Augen. Aber ich schaue nicht
wie er. Ich habe etwas Melan-
cholisches im Blick. Seine Augen
erinnern mich an Metall. 2
Pola Kinski: „Kindermund“, Suhrkamp, 267 Seiten, 19,95 Euro
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PERSÖNLICH
Hip-Hop und Jazz-Zeitalter –
passt nicht so wirklich
zusammen. Dennoch wird
Jay-Z am Soundtrack zu Baz
Luhrmanns Neuverfilmung
von Fitz geralds Roman
„Der große Gatsby“, Titel-
rolle Leonardo DiCaprio,
mitarbeiten. Ob’s gut klingt,
hören wir ab 16. Mai, dann
startet der Film.
KINO
Seelen-massage Eine hörgeschädigte Sekretärin
und ein Ex-Knacki in romantisch
angehauchter Zweckgemeinschaft,
ein Schlägertyp, der Pianist
werden will, ein Kleinganove,
der im Gefängnis zum Drogen-
boss aufsteigt: Der französische
Regisseur und Autor Jacques
Audiard ist ein Genre-Jongleur,
der völlig konträre Figuren und
Settings zu großen menschlichen
Dramen zusammenfügt. In „Der
Geschmack von Rost und Knochen“
erzählt er nun die überwältigende
Liebesgeschichte zwischen einer
Wal-Trainerin, die durch einen
Unfall beide Beine verloren
hat (oscarverdächtig: Marion
Cotillard) und einem emotional
abgestumpften Boxer, der als
Vater eines kleinen Jungen völlig
überfordert ist. Ein brutales,
zärtliches und unsentimentales
Märchen um zwei zerschundene
Seelen, die sich gegenseitig
erlösen. Virtuos. 2 2 2 2 2
DVD
Es düstertEin Serienkiller metzelt sich
anno 1849 durch Baltimore.
Der wird inspiriert von den
gruseligen Geschichten Edgar
Allan Poes (John Cusack, links),
der seinerseits bei der Jagd
nach dem Täter hilft. Historisch
gesehen ist das natürlich Un-
sinn, doch als blutig finsterer
Kostüm-Thriller hat „The Raven“
durchaus seinen Reiz. Sollte
draußen aber dunkel sein. 2 2 2
KINO
Viel RauchEins kann man der Regisseurin
Margarethe von Trotta nicht
absprechen: ihr Bewusstsein für
Frauenschicksale und gewich-
tige Themen. Leider kommt das
im Fall von „Hannah Arendt“ so
schwerfällig und bieder daher
wie Schulfernsehen. Daran kann
auch ihre Lieblingsschauspie-
lerin Barbara Sukowa in der
Titelrolle der kettenrauchenden
Philosophin wenig ändern. 2 2
DVD
Frisch, ganz frischEine vorwitzige, blonde
Studentin (klasse: Greta Gerwig)
kämpft an ihrer Uni für mehr
Stil, bessere Körperpflege und
weniger Selbstmorde. Die smarte
Campus-Komödie „Algebra
in Love“ fühlt sich an wie ein
Film von Woody Allen nach
einer Frischzellenkur. Dabei ist
der Regisseur, der Amerikaner
Whit Stillman, auch schon
60 Jahre alt. 2 2 2 2 2
startet der Film.
Zwei Verlorene finden sich: Stephanie (Marion Cotillard) und Ali (Matthias Schoenaerts)
122 stern 3 / 2 0 1 3
S Kulturmagazin Film
2 2 2 2 2 Super 2 2 2 2 Gut 2 2 2 Solide 2 2 Schwach 2 Miserabel
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BESTSELLER DER WOCHE
Film
1. (1) Der Hobbit –Eine unerwartete ReiseDarsteller: Martin Freeman, Ian McKellen; Regie: Peter Jackson; Besucher: 677 024; gesamt: 5 421 383
2. (2) Life of Pi:Schiffbruch mit TigerDarsteller: Suraj Sharma, Irrfan Khan; Regie: Ang Lee; Besucher: 374 017; gesamt: 1 114 890
3. (–) Jack ReacherDarsteller: Tom Cruise, Rosamund Pike; Regie: Christopher McQuarrie; Besucher: 231 865
4. (3) Pitch PerfectBesucher: 171 960; gesamt: 823 487
Da soll noch mal einer sagen, die
Studienzeit sei die schönste Zeit im
Leben. Von wegen. Gerade auf dem
Campus hat man’s nicht leicht. Das
muss auch die unangepasste Neu-
studentin Beca lernen. Mit ihrem
Gesangstalent will sie eine musika-
lisch angestaubte A-cappella-Truppe
aufmischen. Das Ziel: ein Sieg im
nationalen Wettbewerb. Doch ihr
ungewöhnlich rebellischer Ton
kommt nicht gut an. Noch schwerer
als der aufmüpfige Freigeist hat es
allerdings der Zuschauer dieser
zuckrigen, pseudo-biestigen Teenie-
Komödie. Klischees reihen sich
hier ebenso aneinander wie die
geremixten Popstückchen, die
konkurrierende Barden mit „High-
school Musical“-Eifer vortragen.
Auch der verschwenderisch einge-
setzte politisch unkorrekte Humor
kann da nicht mehr helfen. Einziger
Silberstreif: Rebel Wilson als stimm-
gewaltige Fat Amy. Setzen, Fünf.
5. (4) Die VampirschwesternDarsteller: Marta Martin, Laura Antonia Roge; Regie: Wolfgang Groos; Besucher: 163 581; gesamt: 443 520
6. (6) SkyfallDarsteller: Daniel Craig, Javier Bardem; Regie: Sam Mendes; Bes.: 107 607; gesamt: 7 604 127
7. (7) Sammys Abenteuer 2Animation; Regie: Ben Stassen, Vincent Kesteloot; Besucher: 110 924; gesamt: 437 489
8. (9) Ralph reicht’sAnimation; Regie: Rich Moore; Besucher: 103 066; gesamt: 832 628
9. (5) Jesus liebt michDarsteller: Florian David Fitz, Jessica Schwarz; Regie: Florian David Fitz; Besucher: 96 365; gesamt: 516 036
10. (–) Silver LiningsDarsteller: Jennifer Lawrence, Bradley Cooper; Regie: David O. Russell; Besucher: 83 801
BESTSELLER DER WOCHE
DVD
1. (3) TedDarsteller: Mark Wahlberg, Mila Kunis; Regie: Seth MacFarlane
2. (2) Ziemlich beste FreundeDarsteller: François Cluzet, Omar Sy; Regie: Eric Toledano, Olivier Nakache
3. (1) Ice Age 4 – Voll verschobenAnimation; Regie: Steve Martino, Michael Thurmeier
4. (4) The Dark Knight RisesDarsteller: Christian Bale, Gary Oldman; Regie: Christopher Nolan
5. (6) PrometheusDarsteller: Noomi Rapace, Michael Fassbender; Regie: Ridley Scott
6. (8) Merida –Legende der HighlandsAnimation; Regie: Mark Andrews, Brenda Chapman, Steve Purcell
7. (9) Total RecallDarsteller: Colin Farrell, Kate Beckinsale; Regie: Len Wiseman
8. (7) The Big Bang Theory –5. StaffelTV-Serie mit Johnny Galecki, Jim Parsons
9. (15) Die Tribute von Panem –The Hunger Games
Die Weihnachts-
ferien sind rum, und
da sich in unseren
Charts wenig tut,
starten wir das neue
Jahr kurz entschlos-
sen mit einer kleinen
Medien-Diät. Will heißen: erst
einmal keine Serien mehr mit mehr
als drei Staffeln, keine Spielfilme
mit mehr als zwei Stunden Laufzeit.
„How I Met Your Mother“ (derzeit
sieben Staffeln), „Snow White & The
Huntsman“ (122 Minuten) und „The
Dark Knight Rises“ (158 Minuten)
fallen damit als zu schwer verdau-
lich unter den Tisch. Und auch die
sogenannten Hungerspiele dauern
rund 140 Minuten. Künstlerisch
notwendig? Kann sein. Kann aber
auch sein, dass diese Filmlängen für
schön viele Werbeblöcke in der spä-
teren TV-Ausstrahlung sorgen sollen.
10. (10) The Vampire Diaries –3. StaffelTV-Serie mit Nina Dobrev, Paul Wesley
11. (12) Safe – TodsicherD: Jason Statham, Catherine Chan; R: Boaz Yakin
12. (WE) Men in Black 3D: Will Smith, Josh Brolin; R: Barry Sonnenfeld
13. (WE) How I Met Your Mother –7. StaffelTV-Serie mit Josh Radnor, Jason Segel
14. (WE) Snow White &The HuntsmanDarsteller: Kristen Stewart, Charlize Theron; Regie: Rupert Sanders
15. (–) The WatchDarsteller: Ben Stiller, Vince Vaughn; Regie: Akiva Schaffer
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PERSÖNLICH
Die US-Soul-Legende
Bobby Womack, 68, der
mit Songs wie „Across
110th Street“ in den
70er Jahren weltberühmt
wurde, leidet an Alzheimer.
Er habe bereits Schwierig-
keiten, sich an manche
Songs zu erinnern, sagte
er jetzt in einem BBC-
Radiointerview. Er wolle
aber, solange es geht,
weiter Musik machen.
POP
Schön andersVielleicht wäre Rachel
Zeffira ohne dieses Missge-
schick ein großer Opern-
star geworden: Bevor sie
mit 17 in London ihr erstes
großes Konzert als Sopra-
nistin geben konnte, wurde
sie abgeschoben, weil
etwas mit ihren Papieren
nicht stimmte. „Ich wusste,
dadurch ändert sich alles“,
sagt die heute 29-jährige
Kanadierin. Nun hat sie ihr
Debütalbum „The Deser-
ters“ veröffentlicht und fast
alle Instrumente darauf –
Geige, Horn, Oboe, Klavier
– selbst eingespielt. Ein
wehmütiges, breit orches-
triertes Patchwork aus
Barockmusik und Pop, das
man in dieser Perfektion
selten gehört hat. 2 2 2 2
POP
Guter FreundWenn überhaupt,
kennen ihn die Leute
nur als „den jungen
Freund von Ina Mül-
ler“. Dabei ist der
31-jährige Johannes
Oerding ein bemer-
kenswerter Sänger
und Songwriter, wie
der geborene Müns-
teraner auf seinem
bereits dritten Album
„Für immer ab jetzt“
belegt. Beschwingter
Gitarren-Pop, der
viel von Liebe und
kleinen Fluchten
aus dem Alltagstrott
erzählt. 2 2 2 2
POP
RausgekitzeltHinter den jüngeren
Erfolgen des Salon-
Sängers Max Raabe
steht eine Frau.
Ex-Ideal-Frontfrau
Annette Humpe hat
Raabes neues Album
„Für Frauen ist
das kein Problem“
produziert und
kitzelt aus dem ge-
lernten Opernsänger
den Popstar heraus,
der sehr amüsant
Loriots alte Weisheit
besingt – Männer
und Frauen passen
einfach nicht
zusammen. 2 2 2
POP
Alles wie immerSeit 28 Jahren gilt die
amerikanische Band
Yo La Tengo als zuver-
lässiger Lieferant
eingängiger Gute-
Laune-Popsongs zwi-
schen Funk, Folk und
Streicherballaden.
Auch auf dem neuen
Album „Fade“ bleibt
das inzwischen
schon in die Jahre
gekommene Trio aus
New Jersey seinem
Erfolgsrezept treu
und klingt dabei so
frisch wie bei seinem
Debütwerk im Jahr
1986. 2 2 2 2
BESTSELLER DER WOCHE
CD
1. (2) Für einen Tag – LiveHelene Fischer2. (1) Mrs. GreenbirdMrs. Greenbird3. (4) Celebration DayLed Zeppelin 4. (8) Lichter der StadtUnheilig5. (7) Ballast der RepublikDie Toten Hosen6. (9) The Truth About LovePink7. (5) MusicDavid Garrett8. (12) UnapologeticRihanna9. (10) SeeedSeeed10. (14) RaopCro11. (WE) Born To DieLana Del Rey12. (WE) Bis ans Ende der WeltSantiano
„Wir brauchen
Rum, Rum,
Rum, sonst ver-
dursten wir.
Wir brauchen
Rum, Rum,
Rum, sonst ver-
dursten wir. Wir brauchen Rum,
Rum, Rum, sonst verdursten wir.“
Ja, ja, ist ja gut, wir haben es
verstanden, aber wer grölt uns da
eigentlich die Ohrmuscheln wund
und mürbe? Eine Hooligan-Boy-
group? Haben die Hells Angels jetzt
auf mehrstimmigen Männerchor
umgeschult? Oder ist das ein Exor-
zismus-Bootleg der Anonymen
Alkoholiker? Nein, Santiano, das
sind fünf Männer aus der Gegend
um Flensburg, die gerade sehr
erfolgreich dabei sind, ein uraltes
Musikgenre wiederzubeleben:
Seemannslieder zum Mitgrölen.
Damit begeisterten Santiano bereits
schunkelnde Volksmusikanhänger
in der Carmen-Nebel-Show genauso
wie Dosenbier saufende Fans auf
dem Heavy-Metal-Festival in Wacken
im vergangenen Jahr. Diese Hörer-
schaften hatten bisher wenig ge-
meinsam, eine solche Fan-Fusion
muss der Band erst einmal einer
nachmachen. Uns graut bloß davor,
was dieser Trend als Nächstes her-
vorbringen könnte: Tiroler Zither-
musik mit Death-Metal-Glasur?
13. (–) Our Version Of EventsEmeli Sande14. (–) The Hobbit: An UnexpectedJourneySoundtrack15. (6) Take The CrownRobbie Williams
124 stern 3 / 2 0 1 3
2 Kulturmagazin Musik
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PERSÖNLICH
Martin Eder, 44, malt gern
flauschig-langhaarige
Katzen in Rosa und Weiß.
Allerdings sehen sie bei ihm
nicht niedlich und schmusig
aus, sondern starren hin-
terhältig und böse in die
Welt. Wer solche Bilder mag,
muss sehr tierlieb sein –
oder zynisch. Eder gehört
zur zweiten Kategorie: „Ich
hasse Katzen.“
AMSTERDAM
Ab in dieAbgründeVor einem Jahr schockier-
te Mike Kelley die Kunst-
welt mit seinem Freitod.
57 Jahre war er alt und
auf der Höhe seines Ruh-
mes. Die Ausstellung in
Amsterdam war da schon
geplant, nun ist sie seine
letzte. Wie kein anderer
blickte Kelley (links als
„Banana Man“, 1981)
ins Unterbewusstsein
der Amerikaner, in ihre
Träume und Albträume.
Schmuddelige Stofftiere,
fiese Parodien auf TV-
Sendungen, ordinäre
Western-Pornos – bei
Kelley fühlt man sich
immer wie ertappt. Ganz
große Kunst. Stedelijk
Museum Amsterdam,
bis 1. April 2013, danach
in Paris.
DÜSSELDORF
Mit großem FormatWenn Kraftwerk ein paar Konzer-
te ankündigt, wie gerade wieder
in Düsseldorf und London, dann
dauert es nur wenige Stunden,
bis sämtliche Karten ausverkauft
sind. Die Auftritte der 1970 ge-
gründeten Band sind nach wie
vor ein audiovisuelles Gesamt-
kunstwerk. Dass nur noch einer
der vier Musiker, Ralf Hütter, aus
der Originalbesetzung stammt,
stört kaum jemanden. Der Foto-
graf Peter Boettcher begleitet
die Band schon seit 20 Jahren.
Er zeigt nun 30 großformatige
Bilder der „Kraftwerk-Roboter“
und der Musiker backstage.
NRW-Forum, 12. bis 30. Januar.
BERLIN
Mahlzeit!Fünf Jahre lang fuhr Michael
Schmidt durch Europa und be-
obachtete, wie Lebensmittel
produziert werden. Er fotogra-
fierte in norwegischen Fischfar-
men, deutschen Großbäckereien,
spanischen Schlachtbetrieben
und italienischen Apfelsaftfirmen.
Wunderschön und ästhetisch
sehen seine Bilder aus. Aber wer
genau hinsieht, dem vergeht die
Lust am Essen, denn da gibt es
auch geschundene Erntearbeiter,
tote Tieraugen und ziemlich viele
Fliegen. Selbst die schöne Papri-
ka ist nur so makellos, weil sie
eine Giftdusche bekam. Martin-
Gropius-Bau, 12. Januar bis 1. April.
HAMBURG
Hübsch, oder?Was ist eigentlich Kitsch? So ge-
nau kann das keiner sagen; was
früher Wohnzimmer schmückte,
gilt heute als süßliche Zumutung.
„Als Kitsch noch Kunst war“ heißt
die Schau über den Farbdruck im
19. Jahrhundert. Da tummeln sich
Engelchen und niedliche Kinder.
Mal ehrlich: ist doch alles sehr
dekorativ. Museum für Kunst und
Gewerbe, 11. Januar bis 17. März.
3 / 2 0 1 3 stern 125
Kulturmagazin Kunst 2
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PERSÖNLICH
Thomas Pynchon, der un-
sichtbare König der
amerikanischen Gegen-
wartsliteratur (hier ein
Bild aus den „Simpsons“),
schreibt einen neuen
Roman: „The Bleeding Edge“
soll er heißen, was im
übertragenen Sinn so viel
wie „An vorderster Front“
bedeutet. Konsequent
verweigert Pynchon seit
Jahrzehnten Fotos und Inter-
views – mit dem Ergebnis,
dass die Leute tatsächlich
über seine Bücher reden.
COMIC
Bahn- brechendSie leben an einem der
schönsten Strände Frank-
reichs, doch ihr Alltag ist
die reinste Qual: Quadrat-
krabben können nicht
die Richtung ändern und
sind verdammt, stets der
gleichen Bahn zu folgen.
Bis sie sich an einer (R)evo-
lution versuchen und
damit gleich ein ganzes
Umweltsystem durcheinan-
derwirbeln. Mit seiner
hinreißend komischen
Graphic Novel „Marsch der
Krabben“ wagt der Bretone
Arthur de Pins eine mo-
derne Fabel, die gekonnt
zwischen sommerlich
heiter und ökologisch ernst
balanciert (Splitter-Verlag,
19,80 Euro). 2 2 2 2
THRILLER
Glorios verwobenMike ist stumm, jung
und nützlich. Denn
er kann, dank Talent
und manischem Büf-
feln, jedes Schloss öff-
nen. Steve Hamilton
erzählt in „Der Mann
aus dem Safe“ eine
Krimi-, eine Liebes-
und eine Coming-of-
Age-Geschichte,
glorios ineinander
verwoben, mal hart,
stets spannend,
oft komisch und auch
mal kurz romantisch,
jedoch nie über-
frachtet (Droemer,
16,99 Euro). 2 2 2 2
BRIEFWECHSEL
Fußnoten-ThrillerFußnoten, spannend
wie ein Roman,
überraschende Schlag-
lichter auf gleich
drei deutsche Mythen:
Suhrkamp, Verleger
Siegfried Unseld und
Peter Handke:
Der Briefwechsel zwi-
schen Patriarch
und Dichter ist ein
packendes Stück
Kulturgeschichte.
Nachrichten aus einer
Zeit, als sich Avant-
garde-Prosa noch zu
100 000 Exemplaren
verkaufte. (Suhrkamp,
39,95 Euro). 2 2 2 2 2
ROMAN
Bruce Willis nichtEin panischer Autor
ist wie ein angeschla-
gener Boxer: extrem
gefährlich. Tilman
Rammstedt versucht
hartnäckig, Bruce
Willis für eine Rolle in
seinem Roman „Die
Abenteuer meines ehe-
maligen Bankberaters“
zu gewinnen. Willis
mag nicht, aber
Rammstedt schreibt
ihn trotzdem rein ins
lustige Spiel mit
Realität, Irrsinn, Wider-
stand und absurder
Philosophie (Dumont,
18,99 Euro). 2 2 2 2
BESTSELLER DER WOCHE
Belletristik
1. (1) Der Hundertjährige, der ausdem Fenster stieg und verschwandJonas Jonasson (Carl’s Books)
2. (2) Er ist wieder daTimur Vermes (Eichborn)
3. (3) Gregs Tagebuch –Dumm gelaufen!Jeff Kinney (Baumhaus)
4. (WE) 80 Days – Die Farbeder LustVina Jackson (Carl’s Books)
5. (5) Böser WolfNele Neuhaus (Ullstein)
6. (10) Wir sind doch SchwesternAnne Gesthuysen (Kiepenheuer & Witsch)
7. (13) Der HobbitJ. R. R. Tolkien (Klett-Cotta)
8. (4) Winter der WeltKen Follett (Bastei Lübbe)
9. (–) Helden des Olymp –Der Sohn des NeptunRick Riordan (Carlsen)
Die römischen
Halbgötter Hazel
und Frank müs-
sen in die Eiswüs-
te von Alaska, um
Totengott Tha-
natos zu befreien.
Nur so kann die
Grenze zwischen
Tod und Leben wieder stabilisiert
werden. Wer nun meint, dieser Plot
sei an den Haaren herbeigezogen,
weiß nicht, wie’s unter Göttern zu-
geht, und sollte einfach mal die
Augen öffnen: Das Jahr ist erst ein
paar Tage alt, und im Olymp ist
schon wieder die Hölle los: Fußball-
gott van der Vaart watscht sein
Gespons ab, Boulevard-Göttin Wulff
legt Reihenhaus-Christian ab,
und Filmgott Depardieu wird Putins
Judo-Partner. Als Gegenleistung
sollte Putin jetzt aber Frankreich
mindestens Pussy Riot und Cho-
dorkowskij schenken. Nur so kann
das Gleichgewicht zwischen
Unfug und höherer Gerechtigkeit
wieder stabilisiert werden.
10. (11) Das Schicksal ist einmieser VerräterJohn Green (Hanser)
11. (6) Im Tal des FuchsesCharlotte Link (Blanvalet)
12. (WE) Gregs Tagebuch –Ich war’s nicht!Jeff Kinney (Baumhaus)
13. (WE) Gregs Tagebuch –Geht’s noch?Jeff Kinney (Baumhaus)
14. (–) 80 Days – Die Farbeder BegierdeVina Jackson (Carl’s Books)
15. (9) ÜbermanTommy Jaud (Scherz)
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2 Kulturmagazin Buch
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BESTSELLER DER WOCHE
Sachbücher
1. (1) 1913Florian Illies (Fischer)
2. (–) Fit ohne Geräte für FrauenJoshua Clark (Riva)
Jeder moderne
Mensch hat
es: das Helfer-
lein-Syndrom.
Wir leben in
einer Geräte-
welt. Greifen
gierig nach
jeder Mög-
lichkeit, unseren Alltag technisch
auf zumotzen, ohne auch nur den
kleinsten Zweifel am Sinn unseres
Tuns. Wie sonst wäre der Absatz von
elektrischen Zitruspressen, Nudel-
portionierern, Tomatenstrunkent-
fernern oder zeituhrgesteuerten
Teebeutelkränen zu erklären? Und
jetzt? Jetzt soll es plötzlich ganz
ohne gehen. Ohne Hantel, Laufband
oder Stepper zu straffen Armen,
schlanken Schenkeln, flachem
Bauch. Fit durch Fitnessübungen.
Einfach so. Aber nun kommt’s: Die
Methode nutzt das eigene Körper-
gewicht als Widerstand. Wenn man
so will, ist unser Body ja auch eine
Maschine. Und die erzeugt nach
dem Verzehr von Gänsekeulen und
Kipferln reichlich Widerstand.
3. (–) Weight Watchers fürBerufstätige(Weight Watchers Deutschland)
4. (7) Die Kunst des klarenDenkensRolf Dobelli (Hanser)
5. (WE) Fit ohne GeräteMark Lauren (Riva)
6. (2) Guinness WorldRecords 2013(Bibliographisches Institut)
7. (WE) myboshi –Mützen und mehrThomas Jaenisch, Felix Rohland (Frech)
8. (3) Bluff!Manfred Lütz (Droemer)
9. (10) Die Kunst des klugenHandelnsRolf Dobelli (Hanser)
10. (6) GreenboxTim Mälzer (Mosaik)
11. (–) Das Dukan Diät KochbuchPierre Dukan (Gräfe und Unzer)
12. (–) myboshi – MützenmacherThomas Jaenisch, Felix Rohland (Frech)
13. (13) Als Helmut Schmidteinmal …Jost Kaiser (Heyne)
14. (WE) Vegan for Fit. Die AttilaHildmann 30-Tage-ChallengeAttila Hildmann (Becker Joest Volk)
15. (8) Die Welt aus den FugenPeter Scholl-Latour (Propyläen)
BESTSELLER DER WOCHE
Taschenbücher
1. (1) Shades of Grey:Geheimes VerlangenE. L. James (Goldmann)
2. (3) Shades of Grey:Gefährliche LiebeE. L. James (Goldmann)
3. (2) Shades of Grey:Befreite LustE. L. James (Goldmann)
4. (5) MarinaCarlos Ruiz Zafón (Fischer)
5. (4) Wohin geht die Liebe, wennsie durch den Magen durch ist?Eckart von Hirschhausen (Rowohlt)
6. (14) Der MenschenmacherCody McFadyen (Bastei Lübbe)
7. (6) Die hellen TageZsuzsa Bánk (Fischer)
8. (9) Das Lächeln der FrauenNicolas Barreau (Piper)
9. (8) Eifel-BullenJacques Berndorf (KBV)
10. (10) TschickWolfgang Herrndorf (Rowohlt)
11. (–) Töchter der SündeIny Lorentz (Droemer/Knaur)
12. (7) Die LarveJo Nesbø (Ullstein)
13. (13) Der Mann, der keinMörder warMichael Hjorth, Hans Rosenfeldt (Rowohlt)
14. (–) Der kleine HobbitJohn R. R. Tolkien (DTV)
Es wundert uns,
dass Peter Jack-
son sich gezwun-
gen sah, aus
diesem kleinen
Büchlein gleich
drei abendfüllen-
de Filme zu ma-
chen. Den ersten
haben wir uns jetzt mal angesehen.
Wie mittlerweile auch fünf Mil-
lionen andere Zuschauer allein in
Deutschland. Es heißt, der erste
Hobbit-Film wird in Kürze weltweit
eine Milliarde Dollar eingespielt
haben. Und genau darum geht es
hier. Um Geld. Um viel Geld. Jetzt
sind wir nicht so naiv zu glauben,
dass es bei der Produktion von
Kinofilmen nicht immer auch um
Geld geht. Das ist auch okay. Aber
wie man hier eine kleine, feine
Geschichte mühsam streckt und
dehnt, um gleich dreimal abzusah-
nen, das ist dann doch etwas dreist.
Auch wenn man sich freut, Gandalf
und Co. wiederzusehen: Puh,
dieser Film hat echt Längen. Und
zwei kommen ja noch. Weniger
wäre hier eindeutig mehr gewesen.
15. (11) Nein! Ich geh nicht zumSeniorentreff!Virginia Ironside (Goldmann)
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Die sanfte Gefahr
Er verstört, er verführt – und das alles aufreizend lässig. RYAN GOSLING ist schön, cool und ein wenig abgründig. Kein
Schauspieler ist in Hollywood derzeit so begehrt wie er
Ryan Gosling, 32. „Mama steht voll hinter meiner Arbeit“, sagt er
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Schattenseiten: In Goslings Bubengesicht schlummert der Ausdruck eines Serienkillers gleich neben der friedlichen Miene des Frauenverstehers
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Es ist ziemlich leicht, Ryan
Gosling zum Weinen zu
bringen. Wenn man das
denn will. Schließlich hat
der Mann ein entzückendes Lä-
cheln und helle Augen von so
delikater blaugrüner Farbe, da
sollte besser nichts verwässert
werden. Und wenn er einen
anguckt aus diesen blaugrünen –
also genau genommen eher meer-
wassergrünen … wie Wellen an
einem sonnenwarmen Strand ...
seine Haare übrigens sandfar-
ben … mit Gold darin, und sie
stehen wie von allein ziemlich
frech über der Stirn … natürlich,
lässig oder das Werk eines Profi-
coiffeurs … ist er eitel? Ist er ko-
kett? Weiß er, dass er auf erwach-
sene Frauen eine ähnliche Wir-
kung hat wie die Lammköpfe der
britischen Boygroup One Direc-
tion auf Zehnjährige? Ist er der
routinierteste Frauenumleger,
den Hollywood in Dekaden her-
vorgebracht hat, oder legen die
sich nur hin, weil kaum ein ande-
rer Mann so gefühlig über die
Grausamkeit des Hühnerschlach-
tens und die Vorzüge von ge-
dämpftem Couscous reden kann?
„Hören Sie auf“, sagt also Ryan
Gosling mit erstickter Stimme.
„Mir kommen die Tränen.“
Dabei haben wir nur über sei-
nen Hund gesprochen. Mischling
George ist, wie Gosling scherzt,
von der Rasse Muppet, schlamm-
farben und knickohrig, und stolze
13 Jahre alt. Er hat seinen Besitzer
an Dutzende Drehorte begleitet
und manchmal sogar in Talk-
shows, wo das Herrchen über
aktuelle Filme plauderte und
nebenbei Apfelschnitze ans Tier
verfütterte.
Manche „Lebensgefährtin“ sah
der Hund schon ein- und wieder
ausziehen: Denn während Schau-
spielerinnen von Sandra Bullock
über Rachel McAdams bis hin zu
„Gossip Girl“ Blake Lively und
„House“-Ärztin Olivia Wilde oft
nur wenige Monate an Goslings
Seite weilten, schnarcht George
zuverlässig jede Nacht am Fuß-
ende. George ist Goslings bes- ➔
Von CHRISTINE KRUTTSCHNITT
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ter Freund, und der Gedanke,
dass sein Körbchen eines nicht zu
fernen Tages kalt bleibt, lässt den
32-Jährigen hart schlucken.
Mit Tieren kriegt man ihn so-
wieso. Eifrig unterstützt er die
Tierrechtsorganisation Peta und
ermahnt in Briefen schon mal
Massenküchen wie McDonald’s,
sie möchten doch bitte über
die Herstellung ihrer McNuggets
nachdenken, für die das Federvieh
auf unnötig barbarische Weise ge-
tötet werde („Was sagen Sie zu
Ihrer Entschuldigung?“). Und es
sei letztlich eine erfrorene Katze
gewesen, sagt der in Ontario ge-
borene Kanadier, die ihm Kalifor-
nien als Zukunft schmackhaft ge-
macht habe. Das arme Tier habe
er morgens auf dem Weg zum
Unterricht gesichtet, und weil
ihm die Kälte fast so zuwider war
wie die Schule, schmiss er mit 17
hin, ging nach Los Angeles und
konzentrierte sich ganz auf die
Schauspielerei.
Gelernt hat er diesen Job nie.
Aber eigentlich kam nichts an-
deres infrage für ihn. Schon als
kleiner Junge sang er mit seiner
älteren Schwester auf Hochzeiten
und trat in der Elvis-Presley-Büh-
nenshow seines Onkels auf. Mit
zwölf wurde er bei einem Talent-
wettbewerb in Montreal entdeckt
und tanzte und trällerte für zwei
Jahre im „Mickey Mouse Club“,
jener legendären US-Unterhal-
tungssendung, die Showstars wie
Britney Spears, Christina Aguile-
ra und Justin Timberlake geboren
hat.
Aber bis zum Durchbruch dau-
erte es noch. Gosling lernte in Los
Angeles einen kanadischen Agen-
ten kennen, der ihm verschie-
dene TV-Rollen besorgte. Schließ-
lich fiel der hochgewachsene
Blonde Filmschaffenden und Kri-
tikern auf und wurde für erste
Leinwandauftritte gebucht.
Als seine Mutter, eine Lehre-
rin, die den als schwierig
und zappelig geltenden
Sohn zeitweise zu Hause unter-
richtet hatte, ihren Ryan 2001 in
dem Kino-Drama „The Believer –
Inside a Skinhead“ als Neonazi
sah, war sie so schockiert von der
Intensität seiner Darstellung, dass
sie sich erschüttert auf der Toi-
lette einschloss. Er musste eine
Stunde lang auf sie einreden und
beteuern, dass er den Fiesling ja
nur spiele, ehe sie wieder raus-
kam. Später, erzählt er vergnügt,
zuckte sie mit keiner Wimper, als
er eine aufblasbare Sexpuppe mit
nach Hause brachte – Vorberei-
tung auf seine Tragikomödie „Lars
und die Frauen“. „Mama steht
voll hinter meiner Arbeit“, sagt er
heute zufrieden.
Immerhin war Gosling, der
Schulaussteiger, schon für den
Oscar nominiert (in „Half Nel-
son“ spielte er einen drogensüch-
tigen Lehrer) und avancierte zum
„Sexsymbol der klugen Frauen“;
es gibt Schlimmeres. Seine Kuss-
szene mit Rachel McAdams in
der Schnulze „Wie ein einziger
Tag“ gilt bereits als „Klassiker“,
jedenfalls für die Youtube-Gene-
ration, und seit der Komödie
„Crazy, Stupid, Love“ weiß die
Welt, dass Gosling nicht nur
einen Eins-a-Körper hat, sondern
den auch schön anziehen kann.
Schlappte er früher in Jeans und
Sweatshirts durch die Gegend, so
trägt er neuerdings messerscharf
geschnittene Anzüge. Und galt er
bislang als Meister des verstörten
Antiheldentums, so scheint er
sich jetzt mit dem Image zu ver-
söhnen, das Hollywood für gut
aussehende junge Männer mit
Killercharme bereithält: positiv.
Siegreich. Und am Schluss gibt’s
das Girl.
Dabei ist Gosling kein aalglat-
ter Beau; in seinem Bubengesicht
schlummert der Ausdruck eines
Serienkillers gleich neben der
friedlichen Miene des Frauen-
verstehers – er bringt den Ladys
Frühstück ans Bett, aber viel-
leicht erstickt er sie danach mit
dem Plumeau. Im wahren Leben
verströmt er selbstsichere Lässig-
keit und offeriert ein schnelles,
offenes Lächeln, das nur zu-
schnappt, wenn man in seinem
Privatleben herumstöbert.
Seit mehr als einem Jahr ist
er mit der Latina-Beauty Eva
Mendes zusammen, seine Film-
partnerin im Krimi-Drama „The
Place beyond the Pines“, das am
20. Juni bei uns startet. Hand in
Hand sieht man das Paar durch
Manhattan schlendern, neulich
besuchten sie ein Broadway-Stück,
Henry James. Zieht es ihn auch
auf die Bühne? „Nein, das ist nur
was für richtige Schauspieler“,
sagt er und lacht.
Im Actiondrama „Gangster
Squad“ – vom 24. Januar an in
den deutschen Kinos – bekämpft
er als schnittiger 40er-Jahre-Cop
den von Sean Penn gespielten
Mob-Boss Mickey Cohen in Los
Angeles; der Film ist eher eine
Hommage an die Westküstenme-
tropole von Raymond Chandler
und Humphrey Bogart als ein
eigenständiges Historiendrama.
Und statt Interesse am Schicksal
der „Squad“ zu wecken, erweist
sich das Ganze als Vitrine für Ry-
an-Gosling-Fans: Ihr Held wird
liebevoll ausgestellt, hat die bes-
ten Großaufnahmen, die coolsten
Sprüche, und das schönste Mäd-
chen kriegt er auch.
Er sei gern in Los Angeles, sagt
Gosling, der seit drei Jahren
eine Wohnung in New York
hat. Die Unwirklichkeit des Da-
seins dort fasziniere ihn: Man sei
den ganzen Tag im Auto, ein be-
ständiger Sog der Bewegung, und
doch komme man niemals richtig
an. So hat er sich im Stadtteil
Beverly Hills einen gemütlichen
kleinen Landeplatz eingerichtet:
ein marokkanisches Restaurant,
in dem auf den Tisch kommt,
„was ich jeden Tag essen könnte“.
Hummus, Lammkeulen, rote Bete
– die der Financier zur Enttäu-
schung seiner weiblichen Gäste
allerdings nur selten in ihrer Mit-
te einnimmt.
Keine Zeit: Er ist wie die Stadt,
immer in Bewegung. In diesem
Frühjahr will der Schauspieler,
der 2013 gleich drei neue Filme
in die Kinos bringt, zum ersten
Mal selbst Regie führen. Kaum
jemand ist derzeit so begehrt in
Hollywood: Gosling spricht Män-
ner wie Frauen an, kann tough
sein wie ein Actionheld („Drive“)
und verletzlich wie James Dean.
Eigentlich kann er machen, was
er will, kein Grund zu heulen.
Vielleicht bekommt sogar
George auf seine alten Tage ein
dauerhaftes Frauchen. Als Gos-
ling neulich in Übersee arbeite-
te, wurde sein Kumpel jeden-
falls zu Hause in Los Angeles von
Eva Mendes ausgeführt. Einen
größeren Liebesbeweis kann ein
Hunde besitzer einer Frau eigent-
lich nicht machen. 2
Perfekt geschnitten: Gosling als smarter Sergeant Jerry
Wooters in „Gangster Squad“
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ZUR PERSON
Martina Ertl, 1973 geboren,
wuchs auf dem Hof der
Eltern in Lenggries auf. Mit
sechs Jahren nahm sie
an ersten Kinderskirennen
teil. Nach der Schule
absolvierte sie beim Grenz-
schutz eine Ausbildung
zur Polizistin. Von 1991 bis
2006 zählte Ertl zu den
besten Skirennläuferinnen
der Welt. Sie gewann unter
anderem drei olympische
Medaillen, wurde zweimal
Weltmeisterin und war
14-mal Deutsche Meisterin.
Seit 2005 ist sie mit dem
Innenarchitekten und frühe-
ren Bundesligatriathleten
Sven Renz, 37, verheiratet.
Mit ihren beiden Kindern
leben sie in Lenggries.
V iele Profisportler klagen
über wachsenden Leis-
tungsdruck. Sind Sie froh
darüber, keine Rennen mehr
fahren zu müssen?
Ja, das ist schon sehr angenehm.
Ich hatte eine unglaublich tolle
Zeit. Trotzdem war ich früher vor
jedem Rennen nervös, ange-
spannt und hatte ein Kribbeln im
Bauch. Das ist im Laufe der
Jahre auch nicht besser geworden.
So gar nicht wehmütig?
Nein. Nach 15 Jahren Skiwelt-
cup habe ich mich auf den neuen
Lebensabschnitt gefreut. Ich
wollte endlich eine Familie haben,
mehr Zeit mit meinem Mann
verbringen, ein Haus bauen.
Was machen Sie heute beruflich?
Mehrmals im Jahr bin ich als TV-
Kommentatorin unterwegs. An
zwei Tagen in der Woche arbeite
ich in unserem Sportgeschäft in
München; wir fertigen unter ande-
rem Skischuhe individuell an.
Stehen die Kunden Schlange, um
von Ihnen bedient zu werden?
Nein. Viele sind ein bisschen
schüchtern und dann erstaunt,
wenn sie merken, dass
ich ganz bodenständig bin.
Gehen Sie noch oft Ski fahren?
Letztes Jahr war ich fast nur mit
den Kindern unterwegs, aber die-
sen Winter will ich mindestens
ein-, zweimal in der Woche los.
Zum Glück ist der nächste Lift
nur zwei Minuten von unserem
Haus entfernt. Wenn die Kleinen
im Kindergarten sind, kann man
schnell ein paar Fahrten machen.
Können Sie überhaupt eine blaue
Piste gemütlich herunterkurven?
Natürlich fahre ich mit den
Kindern gemütlich. Wenn ich
alleine unterwegs bin, dann
aber lieber sportlich und schnell.
Romy und Luis sind fünf und drei.
Da werden Sie im Kindergarten
doch bestimmt gebeten, beim Ski-
kurs mitzuhelfen.
Ja, mache ich auch gerne.
Meistens soll ich den Kleinen
aber nur beim Aussteigen aus
dem Lift helfen oder mit ihnen
aufs Klo gehen.
Haben Sie Ihren Kindern das
Skifahren beigebracht?
Ja. Luis wollte es schon mit
eineinhalb Jahren lernen, als er
seine große Schwester beim
Skifahren gesehen hat. Eigentlich
viel zu früh. Aber er hat so
lange gebrüllt, bis wir ihm auch
Ski gekauft haben. Mittler-
weile fahren beide schon recht
gut, Romy ist auch im Skiklub.
Ihr Tipp an ehrgeizige Eltern, deren
Kinder das Talent zum Profi haben?
Machen Sie zu Hause keinen
Druck! Kritisieren Sie Ihre Kin-
der nach einem schlechten
Rennen nicht, sondern bauen Sie
sie auf. So hat das meine Mutter
bei mir gemacht. Das hat mir viel
Kraft und Energie gegeben.
Viele ehemalige Leistungssportler
haben später das Gefühl, in ihrer
Jugend etwas versäumt zu haben.
Sie auch?
Nein. Ich bin im Sommer auch
ab und zu ganz gern weg -
ge gangen, habe mit Freunden
Partys gefeiert.
Trotzdem hat man Sie nie groß in
der Klatschpresse gesehen. Hätten
Sie denn nicht gern manchmal so
im Rampenlicht gestanden wie Ihre
Kollegin Maria Höfl-Riesch?
Nein, das wäre nichts für mich.
Wenn ich während meiner
aktiven Zeit freihatte, habe ich
mich lieber mit Freunden
getroffen. Auf glamouröse Events
zu gehen – das wäre mir viel
zu stressig gewesen.
Interview: Sabine Hoffmann2
Was macht eigentlich Martina Ertl?Die gelernte Polizistin aus dem bayerischen Lenggries zählte 15 Jahre lang zu den besten SKIRENNLÄUFERINNEN der Welt
Martina Ertl-Renz, 39, mit ihrem Mann Sven, Sohn Luis, 3, und der fünfjährigen Romy am „Draxlhang“ in Wegscheid
Dynamisch: Martina Ertl im Dezember 2000 beim Weltcup-Riesen- slalom im italienischen Sestriere
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