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Streifzug: Das ThyssenKrupp Quartier Dauer: ca. 2 Stunden Länge:
3,6 km Ausgangspunkt: Limbecker Platz Haltestelle: Berliner
Platz
Einleitung: Was wäre Essen ohne Krupp? Diese Frage wird oft
gestellt. Auf jeden Fall wäre die Ge- schichte und Entwicklung der
Stadt deutlich anders verlaufen. Kein anderes Unternehmen hat in
vergleichbarer Weise die Stadt Essen geprägt. Lange Zeit waren
Krupp und Essen nahezu synonyme Begriffe. Von den bei- spiellosen
betrieblichen Sozialleistungen der Firma Krupp zeugen heute noch
viele sehens- und vor allem bewohnenswerte Siedlungen des
Werkswohnungsbaues in den Stadtteilen. Der Zusammenhang zwischen
Wohn- und Arbeitsstätte ist hingegen kaum noch nach- vollziehbar.
Nur noch wenig erinnert an die gewaltige Krupp-Stadt, die vom
Limbecker Platz und der Bergisch-Märkischen-Bahn bis an den
Rhein-Herne-Kanal reichte. Viele Jahrzehnte erstreckte sich
westlich der Esse- ner Innenstadt eine riesige Industriebrache, die
in weiten Teilen aus Angst vor Blindgän- gern nicht betreten werden
durfte. Die verbo- tene Stadt hat sich in den letzten Jahren als
„Krupp-Gürtel“ zu Essens neuer Seite ge- mausert, mit dem
Berthold-Beitz-Boulevard, dem Krupp-Park, dem ThyssenKrupp Quar-
tier und den restaurierten Baudenkmälern auf der Route der
Industriekultur. Mit 230 Hektar gilt das Areal als das größte
citynahe Stadt- entwicklungsprojekt in Nordrhein-Westfalen. Unser
Streifzug führt zu den historischen Zeugnissen des Krupp-Erbes und
bietet ein- drucksvolle Beispiele zeitgenössischer Archi- tektur
und Landschaftsgestaltung.
Am bzw. in direkter Nähe zum Limbecker Platz lagen das Kruppsche
Privathotel Esse- ner Hof, das ursprünglich für Besucher der
Krupp-Werke bestimmt war, die 1899 eröff- nete werkseigene Bücherei
und das Krupp- sche Beamtenkasino. 1907 wurde mitten auf dem Platz,
der heute vom Einkaufszentrum
überbaut ist, ein großes Denkmal für Fried- rich Alfred Krupp
errichtet, dessen Haupt- figur nun im Park der Villa Hügel zu
finden ist. Vom Limbecker Platz aus führt unser Weg quer durch das
Einkaufszentrum zum Berliner Platz, der erst nach dem Zweiten
Weltkrieg als Teil des erweiterten Innenstadtrings ange- legt
wurde. Die hier beginnende Altendorfer Straße, ein Teil des
Hellwegs, wurde Ende des 18. Jahrhunderts auf Betreiben Preußens
ausgebaut, finanziert aus privaten Geldmitteln der letzten Essener
Fürstäbtissin Maria Kuni- gunde. Der Berliner Platz wurde bis 2010
als Kreisverkehr neu gestaltet.
Das frühere „Tor zur Fabrik“ (42) am Ber- liner Platz ist durch
eine Eisenbahnbrücke der Werksbahn gekennzeichnet. Rundum hat sich
ein beeindruckendes Gesamten- semble Kruppscher Werkshallen
erhalten. Der ursprüngliche Charakter der „Krupp- Stadt“, das
dichte Geflecht der Ferti- gungshallen, Hammeranlagen, Schmieden,
Walzwerke, Werkstätten, Fabriken und Lagerplätze ist hier noch
spürbar. Längst ist neues Leben in die Industriedenkmäler
eingezogen: Die 8. Mechanische Werkstatt diente bis 2020 als
Musical-Theater, hinter der Backsteinfassade des ehem. Press- und
Schmiedewerks verbirgt sich ein modernes Parkhaus. Die Krupp-Fabrik
als Stadt in der Stadt, das zeitweilig größte Industrieunternehmen
Euro- pas, nahm eine Fläche von etwa 500 Hektar ein. Mehrere
öffentliche Straßen durchzogen das Gelände, von denen weitere,
kleine Fa- briktore (Portiers) zu den Arbeitsstätten führ- ten. Das
„Tor zur Fabrik“ mit den zu ihrem Arbeitsplatz eilenden Menschen
war ein
Limbecker Platz mit dem von Hugo Lederer geschaffenen
Friedrich-Alfred-Krupp-Denkmal und dem Hotel Essener Hof um
1915
Streifzug: Das ThyssenKrupp Quartier
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beliebtes Postkartenmotiv. Der „Kruppsche Esel“, die Werkssirene
zum Schichtwechsel, war bis weit in die Stadt hinein zu hören. Lin-
ker Hand stand ein Denkmal für Alfred Krupp von 1892, das von den
Werksangehörigen gestiftet worden war. Die Bronzeplastik, ge-
schaffen von den Bildhauern Alois Mayer und Josef Wilhelm Menges,
steht heute im Ruhr Museum auf Zollverein, eine Kopie im Park der
Villa Hügel. Im Unterschied zum Krupp- Denkmal auf dem Marktplatz
wurde hier das besondere Engagement des Industriemagna- ten für das
Gemeinwohl hervorgehoben. So gab es am Sockel neben einem Schmied
eine weibliche Allegorie der „Humanitas“. Das Denkmal nahm
Friedrich Alfred Krupp zum Anlass, in dankbarer Erwiderung den
Krupp- schen Altenhof in Rüttenscheid zu stiften (vgl. S. 155).
Hinter dem Denkmal befand sich der Kruppsche Bazar, das zentrale
Warenhaus der Kruppschen Konsumanstalt. Die ringförmige Werksbahn
wurde 1861 ein- gerichtet und war an die überregionalen Stre-
ckennetze angebunden. Die noch erhaltene Brücke (heute
Fußgängerüberweg) wurde 1872-74 gebaut. Eine moderne Treppenan-
lage dient als Entree für das 1996 eröffnete Colosseum Theater
(siehe Kulturadressen S. 192). Die 28 m hohe, denkmalgeschützte
Industriehalle besitzt 1.640 Zuschauerplätze. Für die Aufführung
von Musicals bietet sie einen stimmungsvollen Rahmen. Errichtet
wurde das Gebäude 1900-01 als 8. Mechani- sche Werkstatt, in der
Objekte für den Loko- motiv- und Schiffbau produziert wurden. Bis
zur Fertigstellung der 9. Mechanischen Werk- statt an der
Frohnhauser Straße 1905 war die dreischiffige Halle die größte auf
dem Krupp- Gelände. Die Stahlkonstruktion ist mit einer
Ziegelsteinhülle ummauert, deren Formge-
bung Einflüsse des Jugendstils erkennen lässt. Das auf der anderen
Seite der Altendorfer Straße stehende ehem. Press- und Schmie-
dewerk stammt von 1915-17. Hier arbeitete die damals größte
Schmiedepresse der Welt. Die vor dem Gebäude mündende Mittelstraße
markiert die Grenze des Fabrikgeländes zum Segerothviertel, in dem
viele Krupp-Arbeiter mit ihren Familien wohnten. Begleitet von den
hohen Backsteinmauern folgen wir der Altendorfer Straße. Auf der
lin- ken Straßenseite hat sich ein weiteres, denk- malgeschütztes
Fabrikgebäude, die ehem. Geschossdreherei, erhalten, die noch zu
Leb- zeiten Alfred Krupps ab 1873 errichtet wurde. Im Gebäude hat
das an die Universität Duis- burg-Essen angeschlossene Zentrum für
Tür- keistudien und Integrationsforschung seinen Sitz. 1985 wurde
es zur Intensivierung der deutsch-türkischen Beziehungen
gegründet.
Das Unternehmen Krupp Die Krupp-Geschichte ist oft beschrieben und
sogar verfilmt worden. Längst haben sich zahllose Legenden um das
Familienunterneh- men und seinen beispiellosen Aufstieg (und
Niedergang) gebildet. Krupp hat gezielt zur Entstehung dieser
Mythen beigetragen. Schon lange vor der Gründung der Gussstahl-
fabrik waren die Krupps ein bedeutender Fak- tor in Essens
Wirtschaftsleben. Helene Amalie Krupp erwarb 1799 die
Gutehoffnungshütte bei Sterkrade (heute Oberhausen). Ihr Enkel,
Friedrich Krupp, leitete vorübergehend die Eisenhütte, bevor sie
1808 weiter veräußert wurde. Nach dem Tode seiner Großmutter
investierte er das Familienvermögen in die Erzeugung von Gussstahl,
den man damals als „Tiegelstahl“ bezeichnete. Mit Hilfe eines
eigenen Schmelzverfahrens gelang ihm 1816
Tor zur Fabrik am Feierabend um 1905 ...
42
76
die Erzeugung des heiß begehrten Materials. Prägestempel für Münzen
waren eines der ersten Qualitätserzeugnisse, die dem jungen
Unternehmen Anerkennung verschafften. Vor dem Limbecker Tor, nahe
der heutigen Alten- dorfer Straße konnte Friedrich Krupp 1818/19
einen neuen Schmelzbau errichten. Der wirt- schaftliche Erfolg
blieb gleichwohl aus, das Familienvermögen war bald aufgebraucht.
Verarmt und entehrt starb Friedrich Krupp im Alter von nur 39
Jahren. Unternehmerisches Geschick verhalf seinem Sohn Alfred Krupp
zum Aufstieg. Neben den Prägestempeln produzierte er Walzen und
Bestecke, schließlich auch Gewehrläufe. Von 1853 stammt das Patent,
das Krupp für seine berühmten nahtlosen Eisenbahnreifen eintragen
lassen durfte. Die drei verschlun-
genen Radreifen wurden später zum Firmenlogo. Längst war Alfred
Krupp Stammgast auf den großen Gewerbe- und Weltausstellun- gen,
auf denen er u.a. stählerne Antriebs- wellen für Schiffe
präsentierte. Seine Gusss t ah lkanone
und ein über 2.000 kg schwerer Stahlblock, der mit höchstem Aufwand
in Essen gefertigt worden war, erregten 1851 Aufsehen. Zehn Jahre
später ging der Riesenhammer „Fritz“ zum Schmieden gewaltiger
Stahlblöcke in Betrieb und war weltweit der größte seiner Art.
Immer wieder verbesserte Alfred Krupp die Herstellungsverfahren und
meldete diver- se Patente an. 1871 baute er ein Martinwerk mit den
ersten in Deutschland eingesetz- ten Siemens-Martin-Öfen. Im Krieg
gegen Frankreich spielten Krupp-Geschütze eine entscheidende Rolle
und wurden auf Paris abgefeuert. Ab 1861 wohnte Alfred Krupp mit
seiner Fa- milie im so genannten „Gartenhaus“ mitten auf dem
Fabrikgelände, bevor er den Kloster- buschhof in Bredeney erwarb
und dort 1870 mit dem Bau der Villa Hügel beginnen ließ (vgl. S.
111). Die Villa sollte vor allem re- präsentativen Zwecken dienen
und war mit- tels eines Reitweges, den Alfred Krupp oft benutzte,
an die Fabrik angeschlossen. Nicht ohne Grund zeigt ihn das Denkmal
auf dem Markt demonstrativ im Reiteranzug. Als Al- fred Krupp 1887
starb, verfügte die Fabrik über 20.000 Arbeiter. Sein Sohn
Friedrich Alfred Krupp vergrößerte die Betriebsfläche,
modernisierte die Anlagen und expandierte. Übernommen wurden
u.a.
Gruß aus der Kanonenstadt
Alfred Krupp (1812- 1887)
Streifzug: Das ThyssenKrupp Quartier
77
Bergwerke in Lothringen, das Grusonwerk in Magdeburg und die
Germaniawerft in Kiel. 1890 begann Friedrich Alfred Krupp mit der
Produktion von Panzerplatten, die für Kriegs- schiffe benötigt
wurden. Sein plötzlicher Tod in den Tagen des Capri-Skandals bot
viel Anlass für Spekulationen. Am 26. November 1902 wurde die
Altendorfer Straße am Tor zur Fabrik zum Schauplatz des
gigantischen Trauerzuges, angeführt von Kaiser Wilhelm II., der den
Sozialdemokraten und ihrer Pres- sekampagne die Schuld am Tod des
Indus- triellen gab. Seine Witwe Margarethe Krupp wandelte das
Unternehmen in eine Aktienge- sellschaft um. Ihre Tochter Bertha
heiratete 1906 den Diplomaten Gustav von Bohlen und Halbach. Mit
königlicher Erlaubnis durfte der Name Krupp beibehalten werden. Aus
Anlass der Hochzeit stiftete Margarethe Krupp die Margarethenhöhe
(vgl. S. 127), die ab 1910 gebaut wurde. Gustav Krupp von Bohlen
und Halbach geleitete höchstpersön- lich Kaiser Wilhelm II. zum
Krupp-Jubiläum 1912 durch das vorbildliche Gemeinwesen. Doch die
Kleinstadtidylle täuschte: In Essen liefen längst die
Kriegsvorbereitungen auf Hochtouren. Krupps „Dicke Bertha“ ging als
beliebtes Postkartenmotiv um die Welt. Dabei mangelte es den
Kartenmachern oft am guten Geschmack, wenn sie den Gruß aus der Ka-
none zauberten oder die von Krupp-Munition getöteten französischen
Soldaten gleich mit aufs Bild bannten. „Die Kanonenstadt“ war stolz
auf die Produktion der Waffen. Während des Ersten Weltkrieges wurde
die Belegschaft der Fried. Krupp AG mehr als verdoppelt auf rund
167.000 Beschäftigte. Nach zwei verlorenen Weltkriegen lag die
Stadt, inzwischen „Waffenschmiede des Rei- ches“ genannt, 1945 in
Trümmern. Viele hat- ten ihr Leben verloren, gespenstisch muten die
Fotos der Nachkriegszeit mit ihren Häu- ser- und Fabrikruinen an.
Was nicht zerstört war, wurde demontiert. Bei den Nürnberger
Prozessen musste sich stellvertretend für Gus- tav sein Sohn
Alfried Krupp von Bohlen und Halbach zusammen mit den meisten
Krupp- Direktoren auf die Anklagebank setzen. Al- fried wurde zu
zwölf Jahren Haft verurteilt. Schon 1951 war er wieder frei und
setzte zwei Jahre später Berthold Beitz als General-
bevollmächtigten ein. Der in der Nachkriegs-
zeit entflochtene Konzern fusionierte 1992 mit Hoesch und 1999 zur
ThyssenKrupp AG, die noch immer Deutschlands größtes Stahl- und
Technologieunternehmen ist. Seit 2010 hat die Konzernzentrale
wieder ihren Sitz in Essen. Bei ihrer Errichtung und den sehr unter
Zeitdruck stehenden archäologischen Grabungen wurden zahlreiche
Zeugnisse der Fabrikgeschichte zu Tage gefördert.
Wir folgen der Altendorfer Straße und über- queren die erst nach
dem Zweiten Weltkrieg durch das weitgehend zerstörte bzw. demon-
tierte Fabrikgelände gezogene Hans-Böckler- Straße. An der Ecke zur
ThyssenKrupp Allee steht das im Halbbogen angeordnete, 22 m lan- ge
Tiegelgussdenkmal (43) und bildet den Auftakt zum neuen
ThyssenKrupp Quar- tier. Gustav Krupp von Bohlen und Hal- bach und
seine Frau Bertha gaben das Denkmal 1935 in Auftrag, um an die
frühe Form der Gussstahlproduktion zu erin- nern. Der Berliner
Bildhauer Artur Hoff- mann schuf ein breit angelegtes Panorama, das
uns als Zeuge an den einzelnen Arbeits- schritten teilnehmen lässt.
Sowohl die technische Herausforderung als auch die gewissenhafte
Tätigkeit des Krupp- Arbeiters zum Wohle des „Betriebsverban- des“
werden in der Darstellung verherrlicht. Aufgestellt wurde das
Tiegelgussdenkmal kriegsbedingt erst 1952 direkt neben dem
Turmhaus, dem alten Hauptverwaltungsge- bäude der Fried. Krupp AG.
Nach Plänen von Robert Schmohl errichtet, war das markante Gebäude
im Jubiläumsjahr 1912 eingeweiht worden. Das Turmhaus wurde 1976
abgeris- sen und selbst ein noch vorhandener Vorgän- gerbau von
1872 hat die Zeiten nicht überdau-
Tiegelgussdenkmal (Detail)
78
ert. Er musste noch in jüngster Zeit dem Bau des ThyssenKrupp
Quartiers weichen.
Der ThyssenKrupp Allee folgend, errei- chen wir das Krupp-Stammhaus
(44). Al- fred Krupp machte das bescheidene Fach- werkhaus, in dem
er als 14-jähriger nach dem Tode seines Vaters 1826 die Geschäfte
übernahm, zum Symbol seines Aufstiegs und Kernstück seiner
Firmenphilosophie. 1944 fiel das Stammhaus den Bomben zum Opfer.
Die originalgetreue Reproduktion ent- stand zum 150. Firmenjubiläum
1961. Auch das Innere mit der ursprünglichen Zimmer- aufteilung
einschließlich der Wohnküche und des Arbeitszimmers mit dem
(nachgebauten) Schreibtisch von Alfred Krupp ist wieder
hergestellt. Die historischen Möbel, darunter eine Sitzwaage,
stammen aus den Jahren 1820 bis 1890.
Das Stammhaus Am 20. November 1811 wurde die Gründung der
Gusstahlfabrik durch Friedrich Krupp vollzogen. Als erstes
Fabrikgebäude diente die Walkmühle im heutigen Stadtteil Vogel-
heim. 1818/19 verlegte Friedrich Krupp den Firmensitz auf ein der
Familie gehörendes Grundstück nahe der Altendorfer Straße.
Zusammen mit dem ersten Schmelzbau ent- stand ein Aufseherhaus, in
das der Fabrikherr als Folge des finanziellen Desasters seiner
Unternehmung schließlich selbst einziehen musste. Hier starb er
1826. Seine Witwe The- rese Krupp und der erst 14 Jahre alte Sohn
Al- fred übernahmen die Geschäfte. 1848 wurde Alfred Krupp
alleiniger Inhaber. Die Fabrik stieg unter seiner Leitung zum
größten Pri- vatunternehmen Europas auf. Noch bis 1861 wohnte
Alfred Krupp mit seiner Familie im alten Aufseherhaus. Hier bzw. in
einem An- bau empfing er die oft prominenten Schau- lustigen,
darunter Prinz Wilhelm von Preu- ßen und den späteren Erzherzog
Johann von Österreich. Nach dem Bau der Villa Hügel machte Alfred
Krupp das bescheidene Fachwerkhaus zum „Stammhaus“ und ließ es
instand setzen. Obgleich es dem Unternehmen während der so
genannten „Gründerkrise“ gar nicht mal so rosig ging, schrieb er
1873 den folgenden, sehr berühmten und viel zitierten Text unter
ein Foto des Gebäudes: „Vor fünfzig Jahren war diese ursprüngliche
Arbeiterwohnung die Zuflucht meiner Eltern. Möchte Jedem unserer
Arbeiter der Kummer fern bleiben, den die Gründung der Fabrik über
uns verhängte. 25 Jahre lang blieb der Erfolg zweifelhaft, der
seitdem allmählig die Entbehrungen, Anstrengungen, Zuversicht und
Beharrlichkeit der Vergangenheit, end- lich so wunderbar, belohnt
hat. Möge dieses Beispiel Andere in Bedrängniß ermuthigen, möge es
die Achtung vor kleinen Häusern und das Mitgefühl für die oft
großen Sorgen darin vermehren. ‚Der Zweck der Arbeit soll das
Gemeinwohl sein, dann bringt Arbeit Se- gen, dann ist Arbeit
Gebet.’ Möge in unserem Verbande Jeder vom Höchsten zum
Gerings-
1976 abgerissen: Krupp-Turmhaus
Infotafel am Stammhaus
79
ten mit gleicher Überzeugung sein häusliches Glück dankbar und
bescheiden zu begrün- den und zu befestigen streben, dann ist mein
höchster Wunsch erfüllt.“ Das Wunder des Aufstiegs sollte zur Nach-
ahmung, vor allem zur übersteigerten Identi- fikation des Arbeiters
mit Krupp anspornen. Gewünscht war die besondere - auch emotio-
nale - Bindung an das Unternehmen, das gute Fachkräfte benötigte.
Schon im Jahr zuvor hatte Alfred Krupp ein „General-Regulativ“ für
die Belegschaft erlassen. Im „Verband“ sollte nicht gestreikt und
politische Enthalt- samkeit geübt werden. Ihre unbedingte Treue zum
Unternehmen vorausgesetzt, kam die Stammbelegschaft (man sprach
auch von den „Kruppianern“) in den Genuss vieler Privilegien: Eine
Kranken- und Sterbe-Kasse (1858), der Werkswohnungsbau (1861), eine
Konsumanstalt (1868). Dem Gemeinwohl dienten bald Kruppsche
Krankenhäuser, Schulen, Bibliotheken, Schwimmbäder und zahlreiche
andere Stiftungen, darunter die berühmte Margarethenhöhe, die der
Woh- nungsfürsorge für die minderbemittelte Klas- se diente. Krupp
wurde als „alte Wohltäterin“ gefeiert und verehrt. Für den
Werkswohnungsbau favorisierte Alf- red Krupp in Anlehnung an das
„Stammhaus“ das Kleinhaus mit Garten. Der von Robert Schmohl als
Leiter des Baubüros ab 1891 geplante Alfredshof in Holsterhausen
und vor allem der Altenhof in Rüttenscheid, der von manchen
respektlos „Reklamehof“ ge- nannt wurde, setzten neue Maßstäbe für
den Bau von Arbeitersiedlungen schlechthin und dienten als
Werbefaktoren für das Unterneh- men (vgl. S. 155 ff.). Tatsächlich
kam nur ein Teil der Arbeiterschaft in den Genuss der heiß
begehrten Wohnungen, in denen man besser und meist preisgünstiger
als in den anderen Arbeiterquartieren lebte. Immerhin wohnte 1900
jeder achte Essener Bürger in einem Wohnhaus von Krupp. Das
Stammhaus wurde über die Jahre inmit- ten der Tag und Nacht
geschäftig lärmenden und stinkenden Fabrik gehegt und gepflegt. Es
wurde nach der totalen Zerstörung bis ins Detail rekonstruiert.
Jüngst wurde es aufwen- dig restauriert. Unwirklich in seiner Umge-
bung, so wirkte es schon 1873 und so wirkt das Stammhaus noch
heute. Erst seit der Er-
schließung des neuen ThyssenKrupp Quar- tiers ist es wieder frei
zugänglich. Wie kaum ein anderes Gebäude, manifestiert sich in ihm
der Kruppsche Geist, der die Stadt bis in die Gegenwart
prägt.
Das unmittelbar am Stammhaus begin- nende ThyssenKrupp Quartier
(45) bildet das Kern- und Glanzstück des „Krupp- Gürtels“. 2006
fiel die Entscheidung, den Firmensitz zurück nach Essen und mitten
auf das seit 1818 von Krupp genutzte Ge- lände zu verlegen. Schon
am 17. Juni 2010, mitten im Kulturhauptstadtjahr, konnte der erste
Bauabschnitt für 200 Beschäftigte eröffnet werden. Heute arbeiten
rund 3.200 Mitarbeiter in der Konzernzentrale, deren Gebäude sich
um eine zentrale Wasserach- se gruppieren. Verschränkte, scheinbar
schwebende Winkel bilden einen zentralen, 50 m hohen Gebäu-
dewürfel (das Q 1 Gebäude). An allen groß- zügig im Gelände
verteilten Bauten der Kon- zernzentrale bestimmen Glas und
bewegliche Edelstahllamellen sowie Lochbleche und farbig
beschichtete Stahltafeln den optischen Eindruck.
Rechter Hand des Q 1 Gebäudes kommen wir vor auf die neu angelegte
Straße Quartiersbo- gen und wenden uns nach links. Jenseits des
Berthold-Beitz-Boulevards erreichen wir den auf fünf künstlich ge-
schaffenen Hügeln angelegten Krupp-Park (46), der zukünftig eine
Fläche von 23 Hek- tar umfassen soll. Diverse Freizeitangebo- te
und der Krupp-See machen den Park schon jetzt zu einem
Anziehungspunkt für alle Generationen. Von den Hügeln aus bie- tet
sich eine gute Fernsicht über das Thys-
ThyssenKrupp Quartier
80
senKrupp Quartier und die anliegenden Stadtviertel. Im Norden sind
die Reste der Zeche Sälzer- Amalie (später Helene-Amalie) sichtbar,
die sich ab 1927 komplett im Eigentum der Firma Krupp befand.
Westlich breitet sich der Stadt- teil Altendorf aus, der schon
deutlich vor sei- ner Eingemeindung (1901) durch seine Nähe zur
Krupp-Fabrik großstädtische Züge ange- nommen hatte. Hieran
erinnert zum Beispiel der Altendorfer Dom St. Mariä Himmelfahrt,
ein 1891-92 vom Kölner Diözesanbaumeister Franz Schmitz in
Ziegelbauweise errichteter neuromanischer Kirchenbau, dessen impo-
sante, ca. 60 m hohe Turmfront weithin sicht- bar ist (vgl. S.
151). Bis zu 3.000 Gläubige fanden hier Platz. Nach Südwesten
schließt sich der Stadtteil Frohnhausen an, der vor- rangig als
Wohnstadtteil der Krupp-Arbeiter diente. Wir sehen die schwarzen
Kuppeln des Bürohauses West, früher ein Ledigenheim der Firma
Krupp, und den Turm des von Margare- the Krupp 1912 gestifteten
Friedrichsbades. Hier gab es neben einem schmiedeeisernen Bassin
vor allem Wannen- und Brausebäder, da viele Wohnungen in Essen-West
noch kein Badezimmer besaßen. Länger als 20 Minu- ten durfte man im
Friedrichsbad nicht in die Wanne. Grundstück und Baumaterial für
die benachbarte Lutherkirche von 1882 stiftete
Alfred Krupp. Das südlich der Altendorfer Straße gelegene Areal
wurde bis in die 1940er Jahre von der Siedlung Kronenberg
eingenommen. Alfred Krupp hatte diese Siedlung für über 8.000
Menschen in direkter Nachbarschaft zum Fa- brikgelände um 1872-74
erbauen lassen. Die Straßen der Kolonie waren nach Buchstaben und
Zahlen benannt. Wir verlassen den Park und folgen der Alten- dorfer
Straße, vorbei am neuen Finanzamt, wieder in Richtung Innenstadt.
Von hier aus ist das ThyssenKrupp Quartier mit dem zentral
angeordneten Q1-Gebäude und den vorgela- gerten Wasserbecken
besonders eindrucksvoll sichtbar. An der Ecke zur Westendstraße
steht die bis 1999 genutzte Konzernleitung der Fir- ma Krupp von
1938, die lange Zeit über eine Brücke mit dem Turmhaus verbunden
war. Das Gebäude besteht aus drei schlichten ku- bischen Baukörpern
unterschiedlicher Höhe, die sich gegenseitig in ihrer Wirkung
steigern. An einem auffällig bemalten Backsteinbau, früher ein
Speisesaal für die Krupparbeiter, überqueren wir die
Hans-Böckler-Straße und biegen dahinter rechts in die Kurt-Jooss-
Straße ein. Der Tänzer und Choreograph Kurt Jooss war bis zu seiner
Emigration 1933 Bal- lettdirektor am Essener Opernhaus und wurde
mit seiner Choreographie von „Der Grüne
Das Krupp-Verwaltungsgebäude von 1938 an der Altendorfer
Straße
Streifzug: Das ThyssenKrupp Quartier
81
Tisch“ berühmt. Bald erreichen wir den Platz an der
Thea-Leymann-Straße. Er bildet das Zentrum der Weststadt. Das
zuletzt von AEG- Kanis für die Turbinenherstellung genutzte Areal
wurde auf Grundlage eines städtebau- lichen Wettbewerbs von 1994
neu gestaltet.
Als städtebauliche Dominante dient heu- te die Weststadthalle (47)
an der Ostseite des Platzes, seit 2003 Zentrale der Folk- wang
Musikschule. Das Architekturbüro Kohl & Kohl verlieh dem
Gebäude seine heutige mehrschichtige Gestalt: Auf der äußeren
Glashülle sind Notenspuren aus Beethovens letzter Klaviersonate
(opus 111) zu sehen, die in der Gründungszeit der Krupp-Fabrik
komponiert wurde. Die da- hinterliegende, reich durchfensterte
Stahl- fachwerkkonstruktion bildete früher die 2.
Reparaturwerkstatt der Gussstahlfabrik. Die neue Gebäudehülle
ummantelt wie eine funktionale Membran schützend das histo- rische
Gebäude und sorgt zugleich für eine Wärme- und Schalldämmung. An
der Folk- wang Musikschule wird schon seit 1974 Mu- sik aus allen
Epochen und Stilen unterrichtet. Mit rund 240 Lehrkräften aus 20
Nationen und 11.800 Schülern ist sie eine der größten Musikschulen
Deutschlands. Ob im Einzel- unterricht oder im Ensemble:
Kreativität und Spielfreude unter professioneller und enga- gierter
Anleitung stehen im Vordergrund. Kinder, Jugendliche und Erwachsene
werden in fast allen Instrumentalfächern unterrichtet. Hinzu kommen
die Angebote Gesang, Tanz und Schauspiel sowie die Rock-Pop-Schule,
das rollende Bandstudio „jamtruck“, die „litt- le piano school“,
die Studienvorbereitende Ausbildung, diverse Schulkooperationspro-
jekte und das Grundschulprogramm „Jedem
Kind ein Instrument“ (siehe Kulturadressen S. 192).
Tipp: Die Weststadthalle ist auch der neue zentra- le Kulturort für
junge Essenerinnen, Essener und Gäste der Stadt Essen. Von
Konzerten über Partys bis hin zu Messen, Lesungen und Theater wird
mit Events in verschiedenen Größen (von zehn bis max. 1050
Personen) jedem Geschmack etwas Passendes geboten (siehe
Kulturadressen S. 195). An zentraler Stelle stehen in der
Weststadthal- le Experten zu unterschiedlichen Jugendthe- men
bereit. Wenn es um Jugendkulturthemen, internationale Treffen sowie
Jugendaustausch und Auslandspraktika oder um Mädchenför- derung
geht, gibt es hier Unterstützung und Hilfe. In einem eigenen
Jugendmedienzent- rum (Frankenstraße 185 in Essen-Stadtwald) können
Kinder und Jugendliche ihren Um- gang mit der „virtuellen Welt“
erlernen.
An der Hallenrückseite gelangen wir auf den Bahndamm der Werksbahn
und damit zurück zum Berliner Platz, der sich von hier aus weit-
räumig überblicken lässt. Der neue Kreisver- kehr mit einem
Durchmesser von rund 53 m ist fast so groß wie sein berühmtes
Berliner Vorbild, der Stern an der Siegessäule. Mit der an ein
Kleid erinnernden, breit geschwun- genen Fassade des
Einkaufszentrums und der sich allmählich aufbauenden Kulisse des
Universitätsviertels hat dieser Platz ein völlig neues
Erscheinungsbild erhalten. Die Erwei- terung der Städte erfolgt
heute nicht mehr an der Peripherie. Wie schon der Duisburger
Innenhafen, die Hafencitys in Düsseldorf und Hamburg oder der
Rheinauhafen Köln gezeigt haben, können in den Kernbereichen
unserer Städte Entwicklungspotenziale aus- geschöpft werden, können
sich Städte von innen heraus erweitern und erneuern. Dies geschieht
in Essen in vorbildlicher Weise. Selbst eingefleischte Essenerinnen
und Esse- ner müssen ihre Stadt laufend neu kennen und erleben
lernen.
Colosseum Theater und Weststadthalle
Wir sagen Danke: Alt-Katholische Gemeinde Essen, Evangeli- sche
Kirchengemeinde Essen-Frohnhausen, Domschatz Essen, Jüdische
Kultus-Gemein- de Essen, Ruhr Museum, Theater und Phil- harmonie
Essen GmbH, Stadtverwaltung Es- sen mit Amt für Geoinformation,
Vermessung und Kataster, Alte Synagoge/Haus jüdischer Kultur,
Folkwang Musikschule, Haus der Essener Geschichte/Stadtarchiv,
Jugendamt, Kulturzentrum Schloß Borbeck, Volkshoch- schule,
Stadtbibliothek
sowie bei Carlo Bordihn, Martin Faller, Dr. Johannes von Geymüller,
Anke Hansen, Dr. Detlef Hopp, Jutta Kaiser, Dr. Uri Kaufmann, Zehra
Kaya-Cakir, Dr. Frank Knospe, An- dreas Körner, Dr. Ernst Kurz,
Nicole Mause, Achim Mikuscheit, Sabine Ritzdorf, Andreas Ruff,
Martin Siebold, Elke Toubartz, Mar- tina Strehlen, Susanne Wilde
und Dr. Klaus Wisotzky.
Zum Autor Robert Welzel: Geboren 1969. Lebt und arbeitet in Essen.
Diverse Veröffentlichungen zur Essener Ar- chitekturgeschichte
(u.a. Essener Beiträge). Stadt- und architekturgeschichtliche Füh-
rungen in Essen (u.a. Kunstring Folkwang, Historischer Verein für
Stadt und Stift Essen, Tag des offenen Denkmals). Gemeinde- und
Stadtteilgeschichte in Essen-Frohnhausen.
Bildnachweis: (l. = link, r. = rechts, m. = mitte, o. = oben, u. =
unten)
Alt-Katholische Gemeinde Essen: S. 27 (u.)/174 (l.).
Amt für Geoinformation, Vermessung und Kataster der Stadt Essen: S.
8, 9, 23, 29. (r.), 30 (r.), 32 (l.u.), 35 (l.o.), 39, 40 (l.), 42,
45 (o. und m.r.), 50, 51, 54 (o.), 55 (l.), 60 (u.)/187 (r.), 70
(o.)/188 (u.), 72 (u.), 78 (o.), 82, 84 (l.), 86, 87 (o.r. und u.),
97 (o.), 132 (o.) sowie die Ausschnitte des Amtlichen Stadtplans
von Essen.
Bühne, Horst W.: S. 144 (r.o., Luftbild).
Domschatz Essen: S. 13 (Foto: Jens Nober), 15 (o., Foto: Peter
Happel, u., Foto: Jens No- ber), 16/183 (l.) (Foto: Anne Gold,
Aachen), 19 (o., Foto: Nicole Cronauge), 59 (u., Foto: Jens
Nober).
Evangelische Kirchengemeinde Essen- Frohnhausen: S. 195
Folkwang Musikschule/Kulturzentrum Schloß Borbeck: S. 106.
Fotoarchiv Ruhr Museum, Bestand Stadt- bildstelle: S. 9 (Schloß
Borbeck), 14, 22 (r.o.)/173 (o.), 22 (r.u.), 24 (u.), 29. (l.), 32
(l.o.)/174 (m), 38 (l.), 49 (r.), 56 (r.), 63 (o.), 75 (r.), 76
(u.), 79, 81, 84 (r.), 85 (l.u.)/171 (u.), 85 (r.u.)/180 (r.), 89
(u.), 94 (o.), 95, 102 (l.), 117 (l.), 118, 162 (o.), 170, 183
(o.).
Haus der Essener Geschichte/Stadtarchiv: S. 38 (r.).
Historischer Verein für Stadt und Stift Essen: S. 161, 162
(u.).
Jüdische Kultus-Gemeinde Essen: S. 153 (l.u.).
Lichtburg Essen: S. 21.
Museum Folkwang Essen: S. 89 (o., Foto: Jens Nober), 90 (o.)/190,
90 (u.).
Ruhr Museum Essen: 120 (u., Foto: Brigida Gonzáles).
Stadtarchäologie Essen: S. 12 (u.r.), 40 (r.).
Alle übrigen Bilder: Robert Welzel/Samm- lung Robert Welzel
Essen.