Vorlesung BGB I
Die Rechtsanwendung
Auslegung der Normen
• Wortlaut kann nur Ausgangspunkt sein– Lesen Sie mal 919 I– Beispiel für ein sog. Redaktionsversehen
• Teilweise enthält Gesetz selbst Definitionen • ZB:
– Fahrlässigkeit in § 276,– Kennen-müssen in § 122 II– Unverzüglich in § 121 I 1– Sache in § 90 f.
Der Wortlaut ist nicht alles:
• Reine Buchstabeninterpretation führt nicht weiter– Schild: „Betreten des Rasens verboten“ verbietet (erst
recht) das Radfahren dort– Das Abteil „Nichtraucher“ in der Bahn darf auch von
Rauchern benutzt werden, die während der Fahrt nicht rauchen.
• Maßgeblich hier: Sinn und Zweck der Regelung• Gras soll vor Beschädigung, Fahrgast vor
Belästigung durch Rauch geschützt werden.
Auslegung nach Sinn und Zweck
• Das Gesetz ist kein Selbstzweck• Will einen bestimmten Konflikt in bestimmter
Weise lösen• Dieser Zweck soll möglichst optimal erreicht
werden• Sog. Interessenjurisprudenz als Gegenbild zur
Begriffsjurisprudenz• Normen sind Ausdruck einer Wertentscheidung
und Interessenabwägung• An dieser richtet sich die Normanwendung aus.
Weiter herangezogen werden:
• Wille des historischen Gesetzgebers – Bei sehr alten Gesetzen allerdings häufig nur
von untergeordneter Aussagekraft
• Systematische Stellung der Norm im Gesetz – zB Anwendung von § 842 in Ergänzung zu §
823, da beide Normen im Abschnitt „unerlaubte Handlung“ stehen.
Bezogen auf den Beispielsfall:
• Sachmangel für Tiere:• Eigentlich (-) wegen § 90a
– Aber Zweck der Norm ist die Verbesserung der Stellung des Tiers, nicht die Entlastung des Verkäufers von Ansprüchen
– Zudem idR überlegene Sachkenntnis des Verkäufers
• Sinn und Zweck spricht für Anwendung der §§ 434 ff.
• Überlegen Sie mal: Wann ist ein Tier „Gebraucht“ iSd § 475 II?
Grenzen der Auslegung:
• Bei Strom und Software ist die Grenze des Wortlauts erreicht– Kaum als körperliche Sache zu begreifen. – Offenbare Gesetzeslücke, von der Verfassern
nicht bedacht– Lösung ist trotzdem nötig
• Möglichkeit der Analogie
Analogie
• Entsprechende Anwendung des Gesetzes auf den nicht geregelten, aber ähnlichen Fall– Regelungslücke muss planwidrig sein– Ergänzend herangezogene Regel muss nach Sinn zum Zweck
das Problem angemessen regeln
• Hier: – Es kann nicht angenommen werden, dass der Gesetzgeber den
Käufer mangelhafter Software bewusst rechtlos stellen wollte.– Kaufrecht passt zur Interessenlage bei Standardsoftware– Individualsoftware hingegen besser nach Werkvertragsrecht
(wie Maßanzug oder Architektenhaus)
Umgekehrter Fall:
• Das Gesetz greift vom Wortlaut her zu weit• Anwendung ist vom Wortlaut her möglich, aber
nach Sinn und Zweck sachwidrig– Beispiel: § 181 im Verhältnis Eltern- Kinder– Nach dem Wortlaut Schenkung nicht möglich– Ergänzungspfleger unterm Weihnachtsbaum– Daher Beschränkung der Anwendung auf rechtlich
nachteilige Schenkungen
• Sog. teleologische Reduktion
Entscheidung gegen das Gesetz:
• Grundsätzlich nicht zulässig– Ausnahme: Höherrangiges Recht
• Bundesrecht ggü. Landesrecht• Verfassungsrecht oder Europarecht ggü. Bundesrecht
• Ferner Ausnahmsweise bei Gesetzen, die mit fundamentalen Geboten der Gerechtigkeit unvereinbar sind– Insbes. mit Art. 1 und 2 GG – Bejaht zB für Schießbefehl an der innerdeutschen
Grenze
Entscheidung gegen das Gesetz
• Weitere Ausnahme: • Derogation durch Wertewandel• zB Ehrverletzung als Gegenstand finanzieller
Ausgleichsansprüche• Insbes. Schmerzensgeld (§ 253): Ehre dort nicht
erwähnt• Ausschluss beruhte auf dem Willen des
historischen Gesetzgebers, so das keine analogiefähige Lücke vorliegt.
• Und jetzt?
Die Ehrverletzungs- Fälle
• BGH hat Schmerzensgeld zugesprochen: – BGHZ 35, 363 –Ginsengwurzel- und BGHZ 39, 124 –
Fernsehansagerin-.– Bitte nachlesen!!
• Tragender Grund war jeweils die durch das Inkrafttreten von Art. 1, 2 GG gewandelte Rechtsüberzeugung– Inzwischen gefestigte Rechtsprechung, zB BGHZ 128, 1 ff. –
Caroline von Monaco- • Laut BVerfG (BverfGE 34, 269) verfassungsgemäß • Unabwendbares Bedürfnis und Vereinbarkeit der
Wertung mit der Verfassung legitimieren auch Rechtsfortbildung
Einfluss der Verfassung
• Verfassung dort relevant, wo grundrechtlich geschützte Positionen berührt:
• ZB Ehe + Familie, Meinungsfreiheit, Religion. • ZB Klage auf SE gegen Presseverlag wegen
Outing als SS-Mitglied (Lüth-Fall) • Müssen Private, zB Presseverlag oder
Arbeitgeber, Grundrechte anderer berücksichtigen?
Einfluss der Verfassung
• Grundrechte unmittelbar nur staatsgerichtet• Aber mittelbare Einwirkung: • GG enthält allgemeine Wertordnung• Keine gesetzliche Regelung darf dazu im
Widerspruch stehen oder im Widerspruch dazu ausgelegt und angewendet werden
• Mittelbare Drittwirkung• Berücksichtigung durch die Generalklauseln, zB
„widerrechtlich“ in § 823 I
Europarecht:
• Zunehmender Einfluss der EU auf das Zivilrecht• Richtlinien zB zum Verbraucherschutz und
Wirtschaftsrecht• Auch neues Kaufrecht europäisch beeinflusst• Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung• Letztentscheidung des EuGH über Auslegung • Vorlageverfahren
Vorherrschende Auslegungsmethoden :
• Wortlaut als Ausgangspunkt
• Sinn und Zweck als Kriterium in Zweifelsfällen
• Ergänzt durch historische und systematische Auslegung
• Zusätzlich verfassungskonforme und richtlinienkonforme Auslegung.
Alternative Ansätze:
• Critical Legal Studies: • Herkömmliche Auslegungskriterien täuschen
Objektivität nur vor• In Wahrheit entscheidet Richter nach
persönlichen Vorurteilen, Neigungen und Abneigungen (sog. Vorverständnis)
• Gesetz dient nur zum Verdecken der zuvor getroffenen Wertung
• Entscheidung sollte durch offenen Diskurs statt durch gesetzliche Regeln getroffen werden.
Ökonomische Analyse des Rechts
• Ziel des Rechts ist nicht (primär) Gerechtigkeit– Sondern ökonomische Nutzenmaximierung – Größtmögliches Glück der größtmöglichen Zahl
• Kann bei rein vermögensrechtlichen Fragen hilfreich sein – zB Frage nach erforderlichen Vorsorgeaufwendungen zur
Schadensvermeidung– Diese sollte man nur fordern, wenn die Kosten der vermiedenen
Schäden höher sind als die Kosten der Vorsorge.
• In Fällen mit personenrechtlichem Einschlag aber Gefahr der Vernachlässigung individueller Interessen.
Rolle der Dogmatik
• Wir sind nicht die ersten, die sich Gedanken über bestimmte Auslegungsfragen machen– zB Sachmangel beim Tier– Es gibt möglicherweise Urteile dazu oder Veröffentlichungen in
der Literatur– Sog. Dogmatik– Festschreibung eines gewissen, als gesichert angesehenen
Standpunkts
• Erspart Begründung: ZB Vertragsschluss durch schlüssiges Verhalten bei § 145 BGB. – Im Gesetz nicht geregelt, aber allgemein anerkannt– Längere Begründung dazu in Klausur unnötig– In Hausarbeit mit kurzer Fußnote belegbar
Dogmatik ist nicht Dogma
• Dogmatik gibt nur den gegenwärtigen Stand der Erkenntnis wieder– Kann durch neue, bessere Argumente widerlegt werden– Aufgabe und Sinn der Rechtswissenschaft
• Daraus entsteht der Meinungsstreit: – Zwei oder mehr Ansichten kämpfen um die Vorherrschaft– Wissenschaftliche Arbeiten müssen sich damit
auseinandersetzen
• Ganz schlecht ist es, die Auslegungsbedürftigkeit vom Merkmalen einfach zu übersehen.
Zwingendes und abdingbares Recht
• Das Gesetz geht von Privatnützigkeit und Gestaltungsfreiheit aus
• Gestaltungsmittel ist insoweit vor allem der Vertrag (§ 145 ff.)– Daher ist im Vertragsrecht abdingbares (dispositives)
Recht die Regel– Zwingendes Recht ist hingegen die Ausnahme– Gesetz gibt zu erkennen, wenn eine Regelung
zwingend sein soll– Beispiel: § 276 III
Zwingendes und abdingbares Recht
• Zunehmende Einschränkung der Gestaltungsfreiheit aus sozialen Gründen
• Moderne Gesetzgebung, vor allem EU, geht von Verbraucher als unterlegener, schutzbedürftiger Partei aus
• Daher im Verbraucherrecht häufige Einschränkungen der Gestaltungsfreiheit: – zB Allg. Geschäftsbedingungen: – Vgl. §§ 308, 309
• Bei sonstigen Normen mit sozialem Einschlag (zB auch Mietrecht, Arbeitsrecht halbzwingende Normen: – Abweichung zum Nachteil des Verbrauchers/Mieters ist
unwirksam, zB in § 475 I. – Eine günstigere Regelung bleibt möglich
Zwingendes und abdingbares Recht
• Anders bei den absoluten Rechten: – Numerus Clausus der Sachenrechte – Grund: Übersichtlichkeit, Verkehrsschutz – Im 3. Buch (Sachenrecht) daher nur eingeschränkte
Dispositionsfreiheit der Parteien.
• Erhebliche Einschränkungen auch im Familien- und Erbrecht – Hier häufig nur Wahlmöglichkeit zwischen
verschiedenen vom Gesetz zur Verfügung gestellten Formen
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