21.05.2015 1
Burnout und depressive Verstimmung – zwischen Lebenskrise und Krankheit
Prof. em. Dr. med. Daniel Hell
Forum Gesundheit und Medizin Tagung Resilienz statt Burnout 8.5.2015 Zürich
21.05.2015 2
Agenda
• Geschichtlicher Rückblick: Was ist neu an Burnout und Depression?
• Gegenüberstellung von Burnout und Depression (klinisch und konzeptionell)
• Burnout- und Depressionsentwicklung
(an pragmatischem Modell)
. Umgang mit Burnout und Therapie „depressiver Müdigkeit“
21.05.2015 3
Begriffe verschiedener Epochen
Antike Melancholie
Mittelalter Akedia
Renaissance Dunkle Nacht
Neuzeit Depression
19./20.Jh. Neurasthenie
Ende 20. Jh. Burnout
Ungleichgewicht der Körpersäfte
Sünde
Spirituelles Entwicklungsstadium
Funktions- und Verhaltensstörung
Spannungsabfall im Nervensystem
Berufliche Ueberlastung/Erschöpfung
21.05.2015 4
„Ruhelose Trägheit“ (Akedia)
- zuerst: Mönchskrankheit in religiösem Kontext
- im Hochmittelalter: eine der 7 Hauptsünden
-in Neuzeit:
säkulare Analogien: Spleen/Ennuie
Neurasthenie
Burnout
21.05.2015 5
Burnout
Neurasthenie
1870 2010 1970
Mechanisierung
Industrialisierung
Digitalisierung
Globalisierung
Ablösung der Neurasthenie durch Burnout
21.05.2015 6
Neurasthenie
Energiemangel wird mit Abfall der elektrischen Spannung im Nervensystem gleichgesetzt (u.a. Elektrotherapie, Diät)
Zivilisatorische Überreizung spielt Hauptrolle (äusserer Feind)
Beard, Neurologe (1869)
Burnout
Erschöpfung ist Folge eines Ungleichgewichts von Einsatz und Belohnung
Überforderung im Beruf spielt Hauptrolle (äusserer und innerer Antreiber) Freudenberger, Psychoanalytiker (1974)
Konzeptuelle Unterschiede zwischen Neurasthenie und Burnout
21.05.2015 7
Sozioökonomische Trends I
Von der Industriegesellschaft (19./20. Jhdt.) zur Dienstleistungsgesellschaft (Ende 20./Anfang 21. Jhdt.)
21.05.2015 8 ............
Die sich verändernde Arbeitswelt in der globalisierten Leistungsgesellschaft:
Ständige Effizienzsteigerung
Rationalisierungsdruck
Ständige Erreichbarkeit
Multitasking
Computerisierung
Verlust an Sicherheiten in Krisenzeiten
Bio-psycho-soziales Entstehungsmodell
21.05.2015 9
Gegenbewegungen (in der Geschichte)
Negativierung Positivierung
Melancholie als Störung
(antike Ärzteschule)
Todsünde „Akedia“ des
Mittelalters
(Dämonisierung)
Gehirnkrankheit
„Depression“ der
Spätmoderne
(Pathologisierung)
Melancholie als Begabung
(antike Philosophen)
Dunkle Nacht der
Mystiker
(Entdämonisierung)
Burnout,
(Entpathologisierung)
Neurotische Depression (Sinn machende Störung)
21.05.2015 10
Namensgebung abhängig vom kulturellen Ideal
Melancholie Schwarzgalligkeit Verlust des
Masses
Akedia nervöse Trägheit Verlust der
Seelenruhe
Dunkle Nacht Orientierungs- Verlust des
losigkeit göttlichen Lichts
Depression Niedergeschlagen- Verlust der Autonomie
heit
Burnout Erschöpfung Verlust der Effizienz
21.05.2015 11
„Depression“ leitet sich von lateinisch „deprimere“ (niederschlagen, niederdrücken) ab
21.05.2015 12
21.05.2015 13
21.05.2015 14
Charakteristika der Spätmoderne
• Technisch-wissenschaftliches Weltbild
Betonung der Aussensicht
• Individualisierung
Betonung der Selbstwirksamkeit
• Ökonomisierung
Betonung des (sichtbaren, messbaren) Erfolgs
• Globalisierung
Betonung der Flexibilität und Mobilität
21.05.2015 15
Sozioökonomische Trends II
Vom Wir zum Ich (von der hierarchisch strukturierten Sozialgemeinschaft zur individualisierten Gesellschaft)
21.05.2015 16
Vom Leiden an den Umständen zum Leiden an sich selbst
Vom „Du sollst“ zum „Ich kann“
(yes, we can) oder:
Vom Scheitern am Über-Ich zum
Scheitern am Ich-Ideal
21.05.2015 17
21.05.2015 18
Agenda
• Geschichtlicher Rückblick: Was ist neu an Burnout und Depression?
• Gegenüberstellung von Burnout und Depression (klinisch und konzeptionell)
• Burnout- und Depressionsentwicklung
(an pragmatischem Modell)
. Umgang mit Burnout und Therapie „depressiver Müdigkeit“
21.05.2015 19
Depressive Leitsymptome (ICD 10)
Depressive Stimmung
(Bedrücktheit)
Antriebsverlust und
gesteigerte Ermüdbarkeit
Interesseverlust
Burnout-Leitsymptome (Maslach und Leiter)
Emotionale Erschöpfung Reduzierte persönliche
Leistungsfähigkeit Depersonalisation/Zynismus
Depressionsskalen und Maslach Burnout-Inventar weisen hohe Korrelationen auf.
Gegenüberstellung der Depressions- und Burnout-Symptomatik
21.05.2015 20
1. ARBEITSÜBERFORDERUNG
Vegetative Stresssymptome Erschöpfung
Andauernde Überforderung
Regeneration
2. BURNOUT (Z73.0)
(Risiko-Zustand) Erschöpfung, Zynismus Leistungsminderung
Chronifizierter Stress
3. Folgekrankheiten z.B. Depression, Angst-
erkrankungen, Tinitus, Hypertonie + Burnout (Z73.0)
4. Grunderkrankungen z.B. Multipe Sklerose, Krebs, beginnende
Demenz, Psychose
Arbeit und gesundheitliche Beeinträchtigung
Individuelle Faktoren Individuelle Faktoren
Leistungs einbusse
21.05.2015 21
Kriterien der depressiven Episode (nach ICD-10)
Leitsymptome • Depressive Stimmung
(Bedrücktheit während mind. 14 Tagen)
• Verlust von Interesse und Freude
• Verminderter Antrieb oder gesteigerte Ermüdbarkeit
Zusatzsymptome • Verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit
• Vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
• Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit (Selbstvorwürfe)
• Negative und pessimistische Zukunftsperspektiven
• Wiederkehrende Suizidgedanken oder –handlungen
• Schlafstörungen
• Verminderter Appetit
Mindestens 2 Leit- und 2 Zusatzsymptome während mindestens 2 Wochen vorhanden
21.05.2015 22
Agenda
• Geschichtlicher Rückblick: Was ist neu an Burnout und Depression?
• Gegenüberstellung von Burnout und Depression (klinisch und konzeptionell)
• Burnout- und Depressionsentwicklung
(an pragmatischem Modell)
. Umgang mit Burnout und Therapie „depressiver Müdigkeit“
21.05.2015 23
21.05.2015 24
Persönlicher Pol
Umwelt- Pol
„Selbstverbrenner“ (überhöhte Leistungs- Ideale)
„wear out“ (Verschleiss durch äusseren Druck)
Zwei Pole der Burnout-Dynamik
(nach Burisch 2006)
21.05.2015 25
Berufliche Stressoren
• Allgemeine Merkmale Arbeitsüberlastung, Mangel an Kontrolle, unzureichende Belohnung, auseinanderfallendes Team, Mangel an Fairness, widersprüchliche Werte, unsicherer Arbeitsplatz
• Anforderungs- / Entscheidungs-Diskrepanz „Hohe Anforderungen bei geringem Entscheidungs- und Kontrollspielraum“
• Gratifikationskrise „Hohe Vorausgabe bei geringer Anerkennung“
21.05.2015 26
Persönliche Risikofaktoren (Auswahl)
• Hohes Leistungsideal
• Perfektionismus, zwanghafte Züge
• Verletzbarkeit (bei Misserfolg)
• wenig ausserberufliche Kontakte und Hobbys
• hohe Erwartungen an berufliches Umfeld
21.05.2015 27
Erhöhung des Depressionsrisikos durch belastende Lebensereignisse (Kendler et al. 1998)
Trauma (Überfall) *
Schwerwiegende Eheprobleme*
Grosse soziale (berufliche) Schwierigkeiten*
Todesfall von Angehörigen
Schwierigkeiten mit Bezugspersonen*
Verlust der Arbeitsstelle (Statusverlust)*
Odds Ratio (Faktor, um den das
Risiko erhöht ist, im Monat nach dem
Ereignis an einer Depression zu
erkranken)
25,4
8,4
7,2
6,3
5,0
4,0
* oft mit demütigender Komponente
Wenn sich Belastungen kumulieren, erhöht sich auch das Depressionsrisiko
21.05.2015 28 21.05.2015 28
Depressionsrate bei 130 Frauen (mit geringem Selbstwertgefühl und geringer sozialer Unterstützung) in Abhängigkeit von Belastungsart / Brown 2004
0%
5%
10%
15%
20%
25%
30%
35%
40%
45%
50%
Belastung mit Demütigung oder
Blosstellung
Belastung ohne Demütigung (z.B.
Todesfall)
Depressionsrate nach Belastung
21.05.2015 29
Dysfunktionelle Entwicklung: von deprimiert zu depressiv
Belastung,
Distress
Psychologische
Einstellung und Reaktion evtl. ungünstiges Coping (Grübeln)
Wahrnehmung der
Handlungserschwerung
Biologische Reaktion Deprimierung (motorische und
mentale Aktionshemmung)
Verlustereignisse (privat , beruflich),
Konfliktsituationen, chron.
Belastung, Isolation, Armut
abhängig von:
•Genetik (z.B. Serotonin-
Transporter-Gen)
•Biographie, Neuroplastizität
(z.B. Reagibilität der
hormonellen Stressachse
HHN)
•Neuropathologie
(z.B. Stirnhirninsulte,
degenerative Veränderungen)
abhängig von:
• Persönlichkeits- störungen
• Selbstbild
• Interpersonellen Ein-
flüssen (Biographie,
Kultur)
abhängig von:
Sensibilität früherer (depressiver) Erfahrungen
21.05.2015 30
Prävalenz depressiver Störungen in Beziehung zu Burnout
(Ahola et al., 2005: Querschnittsuntersuchung in der arbeitenden Bevölkerung von Finnland im Alter von 18-65 Jahren)
Anteil Depressiver Störungen
52.9
20.37.4
0%
20%
40%
60%
80%
100%
120%
kein Burnout
(N=2370)
leichtes Burnout
(N=822)
schweres Burnout
(N=78)
21.05.2015 31
Depression Burnout
Schweregrad der Symptomatik
Überschneidung von Burnout und Depression
21.05.2015 32
Agenda
• Geschichtlicher Rückblick: Was ist neu an Burnout und Depression?
• Gegenüberstellung von Burnout und Depression (klinisch und konzeptionell)
• Burnout- und Depressionsentwicklung
(an pragmatischem Modell)
. Umgang mit Burnout und Therapie „depressiver Müdigkeit“
21.05.2015 33
Persönliche Stress-Warnsignale
• Körperliche Warnsignale
Herzklopfen, Kopfschmerzen, Schlafstörungen
Verdauungsbeschwerden, Muskelverspannungen u.a.
• Emotionale Warnsignale
Nervosität, Gereiztheit, Unzufriedenheit u.a.
• Kognitive Warnsignale
Konzentrations-/Gedächtnisstörungen, häufige Fehler, Leere
im Kopf, Tagträume u.a.
• Verhaltens-Warnsignale
aggressives Verhalten, Fingertrommeln, nicht
Zuhören, mehr Alkohol und Rauchen u.a.
21.05.2015 33
21.05.2015 34
Individuelle Vorbeugung von Burnout und Depressivität
- Rhythmisierung im Alltag (Pausen und angenehme Tätigkeiten fördern)
- achtsamer Umgang mit sich selbst und andern („Entschleunigen“, ev. Meditation)
- bei Enttäuschung und Deprimierung sich nicht mit negativen Gedanken identifizieren
21.05.2015 35
Vermeiden überhöhter Sollwerte
• Perfektionismus Sei perfekt
• Überverantwortlichkeit Sei für alles zuständig
• Übertriebenes Harmoniebedürfnis Sei immer lieb
• Übertriebenes Bewunderungsbedürfnis Sei immer der Beste
• Übertriebenes Kontrollbedürfnis Habe alles im Griff
• Übertriebenes Autonomiebedürfnis Sei immer unabhängig
21.05.2015 36
Risikofaktoren für Burnout Schutzfaktoren gegen Burnout
Arbeitsüberlastung Adäquates Mass an Belastung
Mangel an Einfluss auf Arbeitsgestaltung (Kontrollverlust)
Einflussmöglichkeiten auf Arbeit
Mangel an Belohnung (Anerkennung oder Lohn)
Anerkennung und Belohnung
Mangel an Gemeinschaft Gemeinschaftssinn
Mangel an Fairness Respekt, Gerechtigkeit
Wertverlust der Tätigkeit sinngebende Arbeit
Soziale Burnout-Prophylaxe
Risiko- und Schutzfaktoren im Betrieb
21.05.2015 37
Therapeutische Möglichkeiten bei Depressionen
Belastung,
Distress
Psychologische Einstellung und Reaktion
evtl. ungünstiges Coping (Grübeln)
Wahrnehmung der Handlungserschwernis
Biologische Reaktion Deprimierung (motorische und
mentale Aktionshemmung)
Soziotherapie
Psychopharmaka und andere biolog. Th.
Psychotherapie
Selbsthilfe
Therapie der „depressiven Müdigkeit“
• Psychotherapeutische und biologische Behandlungsmethoden wie sonst bei depressiver Episode oder Anpassungsstörung
• Psychotherapie wirkt nachhaltiger als Pharmakotherapie
• Bei schweren depressiven Episoden ist meist Kombination von Psycho- und Pharmakotherapie am besten wirksam
• Achtung: Antidepressiva können auch müde machen. In der Regel werden anregende Antidepressiva vom Typus SSRI oder SNRI empfohlen (als Alternative Buboprion oder als Trigger ein Psychostimulans)
21.05.2015 38
21.05.2015 39
21.05.2015 40
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit
Daniel Hell
daniel-hell.com
Top Related