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Deutschlandfunk
GESICHTER EUROPAS
Samstag, 09. November 2013, 11.05 – 12.00 Uhr
Geteilte Stadt, geteiltes Leben -
Mostar, 20 Jahre nach der Zerstörung der Alten Brüc ke
Eine Sendung von Dirk Auer und Simone Böcker Moderation und Redaktion: Gerwald Herter
Musikauswahl: Smonetta Dibbern
Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.
©
- unkorrigiertes Exemplar –
Trailer Gesichter-Europas
MUSIK-1
O-Ton-1, Humo,
Sie haben sie zwei, drei Tage lang bombardiert. Am 9. November ist sie dann einfach eingestürzt, sie „starb“ im Fluss. Es war, ich kann das kaum erklären, es war große Trauer unter den Menschen. Sie weinten, als hätten sie einen Verwandten verloren. Weil es das Symbol war, das uns verbunden hatte. Mostar war doch weltbekannt wegen der Alten Brücke!
2
Moderator:
Und Mostar hat den Krieg überlebt. Warum aber liegt hier noch so Vieles im Argen?
O-Ton-2 (O-Ton 6 aus Rep.5), ca. 19
Man lebt umgeben und gefangen von all‘ den Erinnerungen, vor denen man sich nicht verstecken kann, aber es gibt keine politische Kraft, die eine Lösung anbietet - eine wirkliche Heilung, eine Katharsis. Eine kollektive Katharsis.
Moderator:
„Geteilte Stadt, geteiltes Leben. Mostar - 20 Jahre nach der Zerstörung der Alten Brücke“
Gesichter Europas mit Reportagen von Dirk Auer und Simone Böcker und hier im Studio mit Gerwald Herter.
MUSIK-1
Moderator:
Weder die Altstadt von Dubrovnik konnte mithalten, noch der Belgrader Föderationspalast oder irgendeine der Residenzen von Tito: Die „Brücke von Mostar“ war in Jugoslawien das am häufigsten fotografierte Bauwerk. Inzwischen 450 Jahre alt - errichtet also, als Bosnien noch Teil des Osmanischen Reichs war, sollte sie in der jugoslawischen Föderation für das friedliche Zusammenleben verschiedener Ethnien und religiöser Gemeinschaften stehen. In Mostar war das tatsächlich keine Propaganda, kein bloßer Wunsch der Belgrader Politiker. Muslime, Kroaten und Serben waren stolz auf diese Brücke. Hoch über der Neretva verband sie Ufer, Stadtteile und Menschen.
Atmo, ca. `38
Selbst nach ihrer Zerstörung am 9. November 1993 war sie noch ein Symbol, aber jetzt ein anderes - für die Schrecken des Krieges. Dabei sollte es nicht bleiben. Christen und Muslime leben in Mostar selbst heute noch in unterschiedlichen Welten. Immerhin aber steht die Brücke wieder. Genaugenommen handelt es sich um eine Kopie, für die jedes der Bruchstücke aus dem Fluss geborgen wurde. Auch die Brückenspringer sind zurückgekehrt, und damit ein Schauspiel, das wohl zu Mostar gehört, seit es die Brücke gibt. Wer sie allerdings aus früheren Zeiten kennt, für den ist nichts mehr wie es war:
3
Reportage 1: Harter Aufprall - Die Brückenspringerl egende von Mostar
Atmo Stimmen (Brückenspringer, Touristen)
Autor
Blauer Himmel über der Altstadt von Mostar: Emir Balic steht auf dem höchsten Punkt der
anmutig geschwungenen „neuen Alten Brücke“. Von hier aus kann er die beiden Steintürme
sehen, die sie einfassen. Und auch die Handwerkergasse mit ihren traditionellen
Steinhäuschen, durch die sich schon am frühen Morgen die Touristengruppen schieben.
Spektakulär ist aber vor allem der Blick nach unten: 27 Meter tiefer bahnt sich die
smaragdgrüne Neretva ihren Weg durch die Felsen.
Atmo Rufen, Gespräch mit Touristen
Zwei junge Männer in Badehose klettern leichtfüßig auf die Steinbalustrade. Immer wieder
rufen sie den vorbeigehenden Touristen zu. Sie verhandeln, feilschen, scherzen - alles mit
dem Ziel, Geld für den nächsten Sprung zu sammeln.
O-Ton 1: Balic
Man fliegt 3,5 Sekunden. Es ist kein Sprung, ein Sprung ist vom 10 Meterbrett. Das hier ist ein Flug. Man fliegt!
Autor
Emir Balic weiß genau, wie sich das anfühlt. Über 1000 Mal ist er selbst von der Brücke
gesprungen, 13 Mal, so oft wie kein anderer, hat er den Titel im Wettbewerb gewonnen, der
jedes Jahr stattfindet. Berühmt geworden ist er für den Sprung mit dem Kopf voran, die Arme
ausgebreitet und den Körper gespannt wie ein Bogen: die Mostarer Schwalbe. Emir Balic:
die Springerlegende von Mostar.
O-Ton 2: Balic
4
Es war früher sehr schön hier. Mostar war ein kleiner Ort, die Neretva war warm und sauber, und die Strände unten entlang am Fluss waren voller Menschen. Hier haben wir als junge Menschen unsere Freizeit verbracht, Gitarre gespielt und Sport getrieben. An jedem Strand gab es kleine Sprungbretter zum Üben. Aber der Höhepunkt war nach jahrelangem Training, dann immer der Sprung von der Alten Brücke.
Autor
Die Steine auf der Fußgängerbrücke sind glatt, mit vorsichtigen Schritten geht der 80-Jährige
weiter und schlägt den Weg in die alte Handwerkergasse ein. Auf den Auslagen haben die
Händler ihre Souvenirs ausgebreitet, bunter Kitsch liegt neben Kupferstichen und
Partisanenorden. Früher verkauften hier Serben, Kroaten und Muslime, man schwatzte, war
befreundet und half sich aus. Mostar, sagt er, hatte einen besonderen Geist. Man war stolz
auf diese Stadt.
O-Ton 3: Balic
Und deshalb ist es so unverständlich, dass die Alte Brücke von Menschen beschossen wurde, die selbst in Mostar gelebt haben. Absolut unglaublich: Dass ein Offizier, der hier eine Wohnung gehabt und gut gelebt hat, mit allen Freundschaften gepflegt hat, eines Tages auf den Berg klettert, einen Panzer aufstellt und auf die Stadt feuert. Das kann kein Hirn fassen, das ist nicht normal, das kann man nicht verstehen.
Autor
Emir Balic steigt eine Treppe hinab, die zum Flussufer führt. Immer wieder zieht es ihn an
diese Stelle unten am Fluss, wo am 9. November 1993, die Brückenteile in den Fluss
gestürzt sind – dem Tag, der sich tief ins Gedächtnis der Menschen von Mostar eingegraben
hat.
O-Ton 4: Balic
Es war ein großer Schock. Ich konnte es erst nicht glauben. Denn für uns war die Brücke wie ein lebendes Wesen: der älteste Bürger Mostars. Sie hat Generationen überlebt. Schauen Sie nur, im Krieg sind so viele Menschen gestorben, und es wurde nie ein besonderer Trauertag ausgerufen. Aber als die Alte Brücke zerschossen wurde, da haben sie einen offiziellen Tag der Trauer proklamiert, mitten im Krieg. Dem kann man eigentlich nichts mehr hinzufügen, das sagt schon alles.
Autor
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Emir Balic setzt sich auf einen Fels und zieht seine Visitenkarte aus der Tasche. Auf der
Rückseite ist ein Foto gedruckt: Links und rechts der Nervetva zwei Steinstümpfe,
dazwischen klafft eine Lücke. Von einer Rampe springt ein Mann die Mostarer Schwalbe,
kurz nach Kriegsende. Es ist der letzte Sprung von Emir Balic. Schon bald darauf wurde mit
dem Wiederaufbau der Brücke begonnen, wohl auch in der Hoffnung, dass das neue
Bauwerk auch die Menschen der Stadt wieder zusammen bringen könnte. 2004 wurde sie
festlich eingeweiht.
O-Ton 5: Balic
Sie haben die neue Brücke fantastisch aufgebaut. Sie haben dafür die alten Steine aus dem Fluss geholt. Aber ich bin nie von der „neuen Alten Brücke“ gesprungen. Für mich befindet sich die Alte Brücke hier unten. Aber wer die alte Brücke geliebt hat, wird auch die neue lieben. Ob sie uns wieder vereinigen wird? Das ist eine Sache unserer Köpfe. Eine Brücke ist eine Brücke. Was kann ein Bauwerk ausrichten?
Autor
Emir Balic blickt nach oben. Dort hat einer der jungen Springer offenbar genug Geld
gesammelt. Er steht auf der Balustrade und gibt den Zuschauern ein Zeichen. Noch ein
kurzer Augenblick Konzentration, dann springt er, die Arme ausgebreitet, mit den Füßen
nach unten.
Atmo: Platsch
Autor
Alles hat sich geändert. Mühsam erhebt sich Emir Balic vom Felsen. Die Knie, die Hüfte, der
Rücken schmerzen. So wie die Brücke hat auch Emir Balics Körper gelitten. Vor kurzem erst
hat er sich gründlich untersuchen lassen. Auf seine Frage, wie es aussieht, hatte der Arzt nur
gelacht.
O-Ton 7: Balic
Er hat gesagt: Was denkst du, du hast doch nicht 40 Jahre lang Schach gespielt! Sei froh, dass du überhaupt noch ein gesundes Organ im Leib hast!
6
Autor
„Es ist eben ein harter Aufprall“, sagt Emir Balic. Und es bleibt ungewiss, ob er damit nur den
Sprung meint.
Musik-2
Musik-Literatur-Kennung
(Stadt) Das ist eine Stadt am Ende der Welt. Muschelschalen ohne Inhalt. Um zur Vernunft zu kommen, gehe ich oft an vergessene Orte. Dort treffe ich manchmal jemanden. Ich bin jedes Mal überrascht, wie wenige von uns Freaks übrig geblieben sind, von jenen, die das alte Ritual respektieren. Alles, was ich weiß, ist, dass ich versuche, mich selbst zu finden, indem ich zu den alten Orten gehe. Es ist alles noch da, aber seit langem ist es nur noch ein Mythos. Genau wie die Kinder, die wir waren, bevor wir erwachsen wurden. Ich will spazieren gehen, um mich zu retten. Um mich vor der Vergesslichkeit zu retten. Um die Stadt zu retten, die nicht länger existiert. Dies ist eine Geschichte über eine Stadt, die verschwunden ist. Über eine Stadt, in der es von Geistern wimmelt. Dies ist eine Geschichte über uns und die Stadt, die wir verbannten.
Moderator:
Marko Tomaš hat eine anhaltende Wirkung des Krieges in einer Reihe von Gedichten beschrieben: „Die vergessene Stadt“. Krieg bedeutet Verlust. Viele der Plätze, die so voller Leben waren, scheinen heute vergessen und verlassen.
Ausgerechnet in Mostar, wo angeblich die meisten der „gemischten“ Ehen in Jugoslawien geschlossen wurden! Wo Muslime, Kroaten und Serben zusammenlebten, aber auch Menschen, die nur noch Jugoslawen sein wollten. Eine der schönsten und weltoffensten Städte weit und breit!
Atmo
7
Anfang der 90er Jahre hatten die neuen nationalistischen Parteien aber auch hier Erfolg, die Spannungen nahmen zu und es kam zu zwei Kriegen: Als Bosnien-Herzegowina 1992 seine Unabhängigkeit von Jugoslawien erklärte, kämpften bosnische Kroaten und Muslime zunächst gemeinsam gegen die jugoslawische Volksarmee – bis die bosnischen Kroaten wenige Monate später die »Kroatische Republik Herceg-Bosna« ausriefen und Mostar zu ihrer Hauptstadt erklärten. Sie begannen, ihre früheren Verbündeten die Muslime aus dem Westen der Stadt zu vertreiben. Wer nicht ins Ausland floh, musste versuchten unter kaum vorstellbaren Bedingungen in Kellern zu überleben - ohne Wasser, ohne Strom oder Heizmaterial, mit einem Minimum an Lebensmitteln und ständig bedroht von Granatbeschuss und Scharfschützen. Wer blieb, wurde Zeuge von Plünderungen, Brandschatzungen und brutaler Vertreibung. Viele sind bis heute traumatisiert und versuchen doch den Weg in ein Leben zu finden:
Reportage 2: Vom Soldaten zum Lebensretter. Der Kri egsveteran Esad Humo
Autorin
Der Kajak- und Tauchklub liegt in einer ruhigen Seitenstraße der Altstadt. Hier herrscht am
frühen Samstagmorgen reger Betrieb. Einige Männer beladen einen Kleintransporter, unter
ihnen ist auch Esad Humo. Er ist Kriegsveteran und eine Art Urgestein des Vereins, der auch
Rettungs- und Sucheinsätze übernimmt. Vor 30 Jahren trat er bei, heute ist er 52 und immer
noch drahtig-muskulös. Sein Gesicht ist gebräunt und gegerbt. Und stets ist Vito an seiner
Seite, ein schwarz-weiß gefleckter Bullterrier, der gerade schnuppernd über den Hof läuft.
Atmo: „Ilija, Semir, Goran, Zoran“
heißen die anderen Taucher. Es fällt auf, dass auch serbische und kroatische Namen dabei
sind, obwohl sich der Klub im heute muslimisch geprägten Ostteil von Mostar befindet.
O-Ton 1: Humo
Für uns spielen die Nationalitäten überhaupt keine Rolle. Wenn Sie es jedoch unbedingt wissen wollen:
Zoran ist Kroate, Goran ist Serbe und ich bin Bosniake. Vedran ist gemischt. Ilija ist ein Waise. Seine Mutter war wahrscheinlich Bosniakin, sein Vater Mazedonier. Was also ist Ilija? Ein bosnischer Bürger. Und Tina trägt ein Kreuz, Zoran bekreuzigt sich jedes Mal vor dem Tauchen. Und niemanden stört das, es ist seine Entscheidung.
Autorin
8
Fertig gepackt. Der Klub hat heute einen Einsatz: Ein paar Kilometer den Fluss hinab wird
eine Frau vermisst, und die Taucher sollen nach ihr suchen. Esad Humo ruft seinen Hund
und hievt den schwerfälligen Terrier in den Transporter.
Atmo: Schiebetür, Motor an.
O-Ton 2: Humo
Wir heben gar nicht gerne hervor, dass wir unterschiedlicher Nationalität sind. Wir reden einfach nicht darüber. Denn wenn man dauernd betonen muss, wie multiethnisch etwas ist, dann ist schon etwas falsch. Wir sind Bürger dieser Stadt, dieses Landes. Wo ist der Unterschied?
Autorin
Das war einmal anders: Im Krieg standen sie auf unterschiedlichen Seiten. Doch das soll
keine Rolle mehr spielen. Der Krieg, aus und vorbei, Vergangenheit – wobei wirkliches
Vergessen in Mostar nur schwer gelingt. Zoran steuert den Bus durch die schmalen Straßen
der Altstadt, vorbei an hübsch renovierten Häusern. Doch dann fällt der Blick auch immer
wieder auf zerschossene Ruinen, viele Gebäudefassaden sind noch mit Einschusslöchern
übersät.
Atmo: This is from war.
Und so schwebt über allem diese Frage wie ein hartnäckiger Poltergeist: Wenn es keine
Unterschiede gab, wieso hat es dann so weit kommen können? Wie fast alle Mostarer hat
auch Esad Humo den Krieg nicht kommen sehen. Er hat die Veränderungen nicht bemerkt,
nicht wahrgenommen – wie die nationalistische Propaganda immer weiter den Alltag und
das Denken der Menschen durchdrang.
O-Ton 3: Humo
Man spürt die Veränderung nicht- das passiert schleichend, Tag für Tag. Die Leute bekommen Angst, man erzählt dir, dass dich die anderen angreifen wollen. Und den anderen erzählt man das auch. Und dann schaut man sich auf einmal anders an, wir hörten auf, einander zu vertrauen. Du erlebst das zum ersten mal, und du verstehst nicht, was da passiert. Wenn du es begriffen hast, ist es zu spät. Das Rad dreht sich schneller und schneller, und dann kann man es irgendwann nicht mehr stoppen.
Autorin
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Der Bus hält am Ende eines Feldweges. Gemeinsam laden die Taucher ihre Ausrüstung
aus und bringen alles runter zum Fluss.
Atmo
Lagebesprechung. Esad setzt sich auf einen Stein und tätschelt den Kopf seines Bullterriers.
Das Handwerk des Krieges hat er lernen müssen, auch er wurde dort hineingestoßen wie ein
Taucher in einen Fluss. Er war ein junger Architekt, hatte Frau und zwei Kinder, damals, am
3. April 1992, als die ersten Schüsse in Mostar fielen.
O-Ton 4: Humo
Wenn es anfängt, hast du nur zwei Möglichkeiten: entweder weglaufen oder kämpfen. Und ich bin nicht weggelaufen, ich bin hier geblieben. Ich wollte hier bleiben. Ich habe das Gewehr genommen, jemand von drüben hat auf mich geschossen und ich auf ihn.
Autorin
So einfach war es damals, ein normales Leben hinter sich zu lassen und zum Soldaten zu
werden. Erst ging es gemeinsam mit den Kroaten gegen die Serben. Dann, ein Jahr später,
kämpften Muslime und Kroaten gegeneinander.
O-Ton 5: Humo
Die Kroaten dachten, die ganze Stadt gehöre ihnen. Damit waren wir nicht einverstanden. Sie wollten uns hier vertreiben, aber wir wollten nicht weg. Im April 1993 haben sie einfach entschieden, uns fertig zu machen, mit ihrer Armee und aller Gewalt.
Autorin
Die neue Frontlinie verlief nun zwischen dem Ost- und dem Westteil der Stadt. Menschen,
die auf der falschen Seite lebten, wurden aus ihren Wohnungen vertrieben oder flohen. Auch
Esad Humo brachte seine Familie aus dem kroatischen Westen in den muslimischen Osten.
O-Ton 6: Humo
Wir waren zwei Monate komplett eingeschlossen. Ohne irgendeine Hilfe, ohne Essen, Strom, Munition und Medizin. Wir saßen in der Falle. Wir haben zwischen den Häusern gekämpft, von einem Fenster zum anderen, von einer Tür zur nächsten. Jeden Tag hatten wir
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mindestens zehn Tote zu beklagen. Von diesen zehn kennst du fünf, und ein bis zwei sind enge Verwandte. Es war schlimm.
Autorin
Esad hilft Zoran beim Anlegen des Taucheranzugs und befestigt die Schläuche. Dann lassen
sich Zoran und die anderen Taucher langsam ins Wasser gleiten.
O-Ton 7: Humo
Aber egal wen man fragt: die meisten sagen, wir wollten keinen Krieg, wir haben nicht angefangen. Wir hassen die anderen nicht. Und sie lügen nicht, sie empfinden das wirklich so. Aber sie wurden gestoßen. Wenn ich dich in einen reißenden Fluss werfe, dann musst du schwimmen. Oder du gehst unter.
Autor
Der Krieg war dumm und absurd, sagt Esad. Es gab keine Gewinner, nur Verlierer. Und
obwohl man wieder miteinander redet, ist da diese unsichtbare Grenze in den Köpfen der
meisten Menschen.
O-Ton 8: Humo
Es sind nun schon 20 Jahre vergangen. Und wir haben noch immer dieselben Probleme. Wir sind noch immer gefangen. Wir reden noch immer in diesen Kategorien: ihr Kroaten, wir Bosniaken. Es ging nur um den Krieg, immer, in den letzten 20 Jahren! Natürlich müssen die Verbrecher bestraft werden. Aber das darf nicht täglich unser Denken bestimmen, wir dürfen nicht ständig diskutieren, wer Schuld ist, wer angefangen hat. Lasst das die Geschichte entscheiden!
Autorin
Als letzter steigt nun Esad in seinen Taucheranzug. Er hat aufgehört, über die Vergangenheit
nachzudenken. Antworten zu finden auf Fragen, die keine einfachen Antworten zulassen.
Nur so konnte er weitermachen und wieder ein normales Leben führen. Manchmal
allerdings, da kommen die Bilder wieder, vor allem Nachts.
O-Ton 9: Humo
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Manchmal träume ich, dass ich renne, kämpfe, mich verstecke. Aber morgens ist ein neuer Tag, ich gehe in den Klub und treffe meine Freunde. Man versucht, die Verbindungen wieder zu etablieren zwischen uns und zu zeigen, dass man sich nicht bekämpfen muss. //Wir sind dieselben Menschen. Aber es kam eine seltsame Zeit und die hat uns getrennt. Und wir waren einverstanden, getrennt zu werden! Anscheinend haben wir das so gewollt. Warum?
Autorin
Noch ein freundschaftlicher Klaps für den Hund Vito, dann lässt sich auch Esad Humo
langsam ins Wasser gleiten.
Musik-3
Literatur-Musikthema (2)
(Gehen) Sind wir alle längst gestorben? Sind wir nur Geister, die so tun, als wären sie am Leben? Sind wir vergewaltigt, ermordet und in die Grube geworfen? Ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, was gerade passiert. Ich weiß nicht, wo ich lebe. Ich weiß nicht, was passieren wird. Ich habe keinen Plan für die Zukunft. Die Vergangenheit hat mich ausgelaugt. Die Gegenwart versklavt mich. Ich gehe und schreibe über das Gehen und dass ich existieren könnte. Ich liebe das Leben, aber weiß nicht, wie ich es gestalten soll. Wenn ich gehe, verschwindet alles. Nichts passiert mehr. In meinem Kopf ist ein weißes Rauschen, Leere, verzerrte Stille. Aus der Stadt ist ein psychotisches Konzentrationslager geworden. Scheinbar taugt sie mehr zur Parklücke als zum Lebensraum. Ihre romantische Vergangenheit ist ein
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Mörder, der uns erlaubt, uns wegzubewegen vom Zustand des Steckengebliebenseins im Nichts und Nirgendwo.
Moderator: Mostar ist immer noch geteilt - in einen kroatisch dominierten Westen und einen muslimisch geprägten Osten. Die Hauptverkehrsader bildet die Grenze, im Krieg war hier die heftig umkämpfte Frontlinie verlaufen. Noch einige Jahre danach war es mitunter gefährlich auf die falsche Seite zu geraten. Das immerhin hat sich geändert, Mostar ist eine friedliche Stadt; jeder, der das will, kann sich überall frei bewegen, doch nicht jeder will das.
Atmo: Fußballtraining
Im Sport zeigt sich die Teilung sehr deutlich. Die alten Mostarer bekommen sogar heute noch leuchtende Augen, wenn sie an die große Zeit des FK Velez zurückdenken. Denn der Verein spielte gegen Mannschaften wie Roter Stern Belgrad oder Hajduk Split in der ersten jugoslawischen Liga. Kader und Fangruppen waren so vielfältig wie die Bevölkerung von Mostar. Doch kurz nach Ausbruch des Krieges, erlebte der fast schon vergessene Lokalrivale Zrinjski Mostar eine Wiedergeburt. Der "Hrvatski Sportski Klub" führt das Kroatische im Namen und ist somit der Club von "West-Mostar", dem Teil der Stadt, in dem die bosnischen Kroaten leben. Der FK Velez gilt dagegen als Verein der bosnischen Muslime. Derbys zwischen beiden Clubs werden regelmäßig von Prügeleien zwischen ihren Anhängern begleitet:
Reportage 3: Fußballpatriotismus
Autor
„Zrinjski ist das Leben und mehr als das“, dieser Schriftzug prangt auf der Anzeigetafel des
Stadions in West-Mostar. Darunter ziehen ein Dutzend Spieler in rot-weißen Trikots ihre
Bahnen. Sie sind der Nachwuchs vom HSK Zrinjski Mostar, dem Kroatischen Sportklub. Vor
dem Krieg gehörte das Stadion dem Verein FK Velez, und - natürlich - war, wie alle älteren
Mostarer auch Trainer Nenad damals Velez-Fan.
O-Ton 1: Nenad
Von Zrinjski wusste ich bis 1992 überhaupt nichts. Es war für mich eine absolute Überraschung, als der Verein (Zrinsjski) plötzlich auftauchte. Die Kommunisten hatten ihn nach dem Zweiten Weltkrieg wegen des Namens und des Wappens verboten. Die kroatische Symbolik hat sie gestört. Aber der Krieg hat dann den Verein sozusagen wieder gegründet.
13
Autor
Aber warum dann dem geliebten Velez gleich den Rücken kehren, also dem Verein, der mit
seiner attraktiven Spielweise ganz Jugoslawien beeindruckte?
O-Ton 2: Nenad
Das ist schwer zu erklären. Wir waren ja früher in einem anderen Staat, den gibt es heute nicht mehr. Alles hat sich verändert, das ist eine Tatsache und davor kann man nicht weglaufen. Und so unterstütze ich eben jetzt den Klub, der dort ist, wo ich lebe.
Autor
Und weil Muslime in einem Teil der Stadt wohnen, die Kroaten im anderen, ist auch die Welt
des Fußballs in Mostar geteilt, wie alles in der Stadt. Und das Spiel Velez gegen Zrinjski ist
das wichtigste der Saison, dann herrscht Ausnahmezustand, es gelten höchste
Sicherheitsmaßnahmen. Und am Ende liegt die eine Hälfte der Stadt im Freudentaumel, die
andere trauert.
Atmo Kneipe
In einer Kneipe, ein paar hundert Meter entfernt, sitzt Marko. Er ist Mitglied der Zrinjski
Ultras. Seinen richtigen Namen will er nicht nennen, denn Ultras sprechen normalerweise
nicht mit Journalisten. Eine Art Ehrenkodex. Und Ultras, das will Marko gleich zu Beginn klar
machen, sind eigentlich gar nicht auf Gewalt aus, sie sind nicht nationalistisch, sondern sie
lieben einfach nur ihren Club. Velez und Zrinjski, ist das also für ihn eine ganz normale
Rivalität von zwei Vereinen in einer Stadt? Marko schüttelt den Kopf.
O-Ton 3: Marko
Es kann nicht wie in anderen Städten sein. Stellt euch einfach nur vor, wie es bei euch ist, die Rivalitäten, die es z.B. zwischen Schalke und Dortmund gibt. Aber dann kommt bei uns eben noch zusätzlich etwas dazu, nämlich das, was im Krieg passiert ist.
Autor
Also ist der Fußball dann doch - wie fast alles in Mostar - ein Politikum?
O-Ton 4: Marko
14
Schau‘ ! Politik ist hier sehr eng mit dem Leben verbunden. Aber Ultras sind keine politische Gruppierung, wir haben eigentlich keine Verbindung zur Politik. Wenn Politik aber bedeutet, „seins“ zu lieben – dann vielleicht schon.
Autor
Und mit „seins“, damit Marko vor allem seine Nationalität.
O-Ton 5: Marko
Ich bin Bürger von Bosnien-Herzegowina, aber ich bin weder Bosniake noch Bosnier, ich bin Kroate. Das ist das, was wichtig ist.
Autor
Besonders deutlich wird das bei Länderspielen der Nationalmannschaften. Spielt Kroatien
gegen Bosnien-Herzegowina, dann braucht Marko nicht lange zu überlegen, auf welcher
Seite er steht.
O-Ton 6: Marko
Kroatien natürlich. Ich wünsche Bosnien-Herzegowina alles Gute, aber für mich zählt nur Kroatien.
Autor
Und so ist es wenig überraschend, dass es auch mit seine Liebe für den Staat Bosnien-
Herzegowina nicht weit her ist - ein Staat, in dem Kroaten seiner Meinung nach vielfach
benachteiligt werden. Marko fordert mehr nationale Selbstbestimmung. Vielleicht, so sinniert
er weiter, sollte man Bosnien einfach in drei Kantone aufteilen, für jede Volksgruppe einen,
und Mostar wäre dann das Zentrum der Kroaten. Oder wegen ihm auch nur West-Mostar,
denn der muslimisch Ostteil der Stadt ist für Marko so weit weg wie das zwei Autostunden
entfernt liegende Sarajevo.
O-Ton 7: Marko
Berlin hatte die Mauer, Mostar hat den Fluss. Es ist vielleicht leichter über die Mauer zu springen als den Fluss zu durchschwimmen.
15
Autor
Aber immerhin gibt es hier wieder Brücken über den Fluss.
O-Ton 8: Marko
Klar gibt es Brücken, aber die Leute von dort fühlen sich hier nicht wohl und die Leute von hier fühlen sich dort nicht wohl. Was für eine Bedeutung haben hier also die Brücken?
Autor
Auch Marko fühlt sich nicht wohl, wenn er die Nervetva überquert. Schwer zu sagen, warum.
Es ist gar nicht so, dass er etwas gegen Muslime hat. Im Gegenteil: Er ist auch mit Muslimen
und Serben befreundet, wie er betont. Aber trotzdem ist da dieses unbestimmte Gefühl, auf
der anderen Seite eigentlich nichts verloren zu haben.
O-Ton 9: Marko
Ich mache niemanden dafür verantwortlich, dass ich mich dort nicht wohl fühle. Wir, die Kinder waren, als der Krieg angefangen hat, sind nicht schuldig für die Taten der Eltern. Wir sind auch nicht schuld daran, dass die Situation so ist, wie sie heute ist. Aber ich habe dort niemanden abzuholen, es gibt keinen Grund rüber zu gehen.
Autor
Und so ist es für ihn auch die Natürlichste Sache der Welt, ein Fan von Zrinjski zu sein.
Atmo: Ne postoje opcija.
Man hat keine Wahl, sagt Marko. Aber hat Velez nicht einmal diesen wunderbaren Fußball
gespielt? Kann er nicht auch ein bisschen die Sentimentalität der Älteren nachvollziehen, als
die ganze Stadt dem Klub die Daumen drückte – auch als es gegen den kroatischen Verein
Hajduk Split ging? Marko schüttelt resigniert den Kopf.
O-Ton 10: Marko
Vielleicht bringt unser Gespräch nichts, weil ihr euch einfach nicht vorstellen könnt, was hier passiert ist.
16
Autor
Deshalb, sagt Marko will er jetzt einmal den Spieß umdrehen. Er greift sich das Mikrofon und
stellt eine letzte Frage.
O-Ton 11: Marko
Würden in Deutschland drei Nationen wohnen, und dann käme der Krieg, und Deine Stadt ist geteilt und es gibt zwei Klubs, du lebst auf dieser Seite… was würdest du machen, für wen wärst du: für die, auf deren Seite du lebst oder wärst du tolerant und würdest abwägen und zu denen halten, die besser sind?
Autor
Eine Antwort bleibt aus. Und Marko nickt triumphierend.
O-Ton 12: Marko
Das ist die Frage, mit der ich das Interview gerne beschließen würde.
Musik-4
Literatur-Musikthema (2)
LITERATUR 3:
Hier floriert der Kannibalismus. Es ist eine vorpolitische Gesellschaft. Es gibt keine Struktur hier. Dies ist eine Maschine, die auseinanderfällt und unsere Haut schälen lässt. Das Desaster ist in uns injiziert mit der Spritze des Todes. Diese Stadt ist ein Grab.
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Moderator:
Für die Teilung Mostars ist die Politik maßgeblich verantwortlich und die Teilung setzt sich in der Politik fort. Wie in ganz Bosnien-Herzegowina werden in Mostar vor allem „ethnische“ Parteien gewählt. Sie vertreten die Interessen einzelner Gruppen, das gemeinsame Interesse bleibt hingegen auf der Strecke. Es herrscht Stillstand und - seit einem Jahr – schwelt eine handfeste politische Krise: Mostar ist die einzige Stadt in Bosnien-Herzegowina, wo im Oktober vergangenen Jahres keine Kommunalwahl stattfinden konnte. Bereits 2010 hatte das Verfassungsgericht entschieden, dass Teile des hier geltenden Wahlrechts gegen die Verfassung Bosnien-Herzegowinas verstoßen. Zwei Jahre vergingen, ohne dass sich die Parteien der Kroaten und Bosniaken auf die nötige Reform einigten. Und so gibt es seit einem Jahr keinen Stadtrat, keinen ordentlichen Haushalt – nur einen Bürgermeister, der mit Hilfe von Übergangsregelungen regiert.
Atmo
Die politische Unsicherheit lähmt die wirtschaftliche Entwicklung – viele Menschen sind arbeitslos, die Löhne sind gering und das Leben wird immer teurer. Wie lange Kindergärten, Schulen oder Altersheime noch unter diesen Bedingungen bestehen können, ist fraglich.
Reportage 4: Nationale Suppenküchen
Autorin
Am späten Vormittag dampft und zischt es in der Armenküche des Roten Kreuzes im Ostteil
von Mostar. Auf dem Speiseplan steht Kartoffeleintopf mit Fleischeinlage. Alen Kajtaz, Leiter
der Hilfsorganisation, schaut ein letztes Mal in einen der Kochtöpfe, nur noch wenige
Minuten, dann ist das Essen fertig.
O-Ton 1: Kajtaz
Wir kochen hier jeden Tag Mahlzeiten für 400 Menschen. Dann kommt das Essen in diese Thermoskannen und wir verteilen es in der Stadt. Leider können wir nur eine Mahlzeit am Tag zubereiten. Aus einem einfachen Grund: Wir haben nicht genug Geld.
Autorin
Und heute sind die Sorgenfalten auf seiner Stirn noch einmal tiefer als sonst. Denn einer der
Kocher ist kaputt – und das bedeutet wieder Extraausgaben.
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O-Ton 2: Kajtaz
Wir bekommen von der Stadt 1,5 Marka(?) für jeden Bedürftigen, das sind 75 Euro-Cent. Und für dieses Geld müssen wir Essen kaufen, die Gehälter bezahlen, laufende Kosten, wie neue Gerätschaften kaufen Benzin usw. Was kann man damit machen?
Autorin
Viel Improvisationskunst ist deshalb nötig, aber sie stößt immer wieder an Grenzen. Denn
eigentlich ist die Zahl der Bedürftigen noch viel höher. Nur, an eine Aufstockung ist zurzeit
überhaupt nicht zu denken, jetzt, wo es seit einem Jahr noch nicht einmal mehr einen
ordentlichen Haushalt der Stadt gibt.
O-Ton 3: Kajtaz
Die Krise dauert an. Das letzte Mal, das wir von der Stadt Geld erhielten, das war im Juni dieses Jahres. Das heißt, wir warten immer noch auf das Geld für Juli, August und September. Der Gemeindehaushalt müsste angepasst werden. Aber wer kann das? Soweit ich verstehe, hat der Bürgermeister nicht das Recht dazu. Und das Jahr ist jetzt fast zu Ende.
Autorin
Mit großen Kellen wird nun das Essen in Thermoskannen gefüllt, während Kajtaz, ein
Mittvierziger mit langsam ergrauenden Schläfen und randloser Brille, schon wieder sein
Handy am Ohr hat. Es geht um die Reparatur des Kochers. Jemand muss kommen, schnell,
am besten billig und am allerbesten umsonst.
O-Ton 4: Kajtaz
Mein Aufgabe besteht in den letzten zwei Jahren vor allem darin, überall um Geld zu betteln. Mit den Lieferanten haben wir eine Art Vereinbarung. Wir sagen, wir werden zahlen, aber bitte noch ein bisschen Geduld. Dabei denke ich eigentlich, dass wir Geld haben, hier im Land. Aber das Problem ist, dass es nicht richtig verteilt wird.
Autorin
Die Kannen werden auf der Ladefläche eines kleine Kombis verstaut. Kajtaz schaut noch
einmal auf die Uhr, dann setzt er sich ans Steuer. Die Fahrt führt zunächst über das
19
Universitätsgelände von Mostar, genauer gesagt: von Ost-Mostar. Hier studieren vor allem
Muslime, während eine weitere Uni im Westen der Stadt hauptsächlich von Kroaten besucht
wird.
Atmo: Two Universities in a city with 120000 people
Zwei Universitäten in einer Stadt mit 120000 Einwohnern, schimpft Kajtaz und greift sich an
den Kopf. Und der Irrsinn geht noch weiter:
Atmo: 2 medicine schools, 3 gymnasiums
Überall diese ineffizienten und teuren Doppelstrukturen – deshalb fehlt das Geld an anderer
Stelle. Auch die Schulen sind nach ethnischer Zugehörigkeit getrennt. Kinder gehen
entweder in bosniakische oder kroatische Klassen – obwohl es praktisch keine Unterschied
zwischen beiden Sprachen gibt.
O-Ton 5: Kajtaz
Jetzt haben wir etwa 40 Schulen in Mostar. Und vor dem Krieg gab es 10,15 Schulen weniger als heute. Weil wir ein gemeinsames Bildungssystem hatten. Jetzt haben sie im Westteil der Stadt dieselben Lehrpläne wie in Kroatien. Aber wir leben in Bosnien-Herzegowina, nicht in Kroatien. Was passiert, wenn jetzt auch noch Serben, Roma oder Juden ihre eigenen Schulen fordern? Das ist doch alles lächerlich. Wir müssen die Leute zu Toleranz erziehen, sie lehren zusammen zu leben. Aber so tun wir das nicht.
Atmo
Autorin
In einem großen kahlen Raum, mitten in der Altstadt warten bereits die Bedürftigen. Sie
haben Plastikbehälter mitgebracht, in denen sie den Eintopf mit nach Hause nehmen
können. Die meisten kommen aus diesem Viertel, also dem muslimischen Teil von Mostar.
Denn natürlich gibt es auch zwei Volksküchen in der Stadt.
O-Ton 6: Kajtaz
Wir setzen uns für die Vereinigung der beiden Volksküchen ein. Gut wäre es, wenn wir zwar weiterhin mehrere Verteilzentren in der Stadt hätten, aber nur eine Küche, um dort das Essen für Alle zuzubereiten. Denn das würde bedeuten: halbe Kosten für Strom, Wasser, laufende Ausgaben und auch weniger Angestellte.
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Autor
Was so rational klingt, ist für den Volksküchenchef tatsächlich eine Herkulesaufgabe.
Doppelte Institutionen bedeuten die doppelte Anzahl von Posten, und die brauchen die
Parteien zur Versorgung ihrer Klientel. Politisch herrscht deshalb seit Jahren Stillstand. Der
nötige Druck müsste von der Bevölkerung kommen, meint Kajtaz.
O-Ton 7: Kajtaz
Wir alle stimmen überein, dass etwas geändert werden muss. Aber in unserer Vorstellung ist es immer noch so, dass man als Bosniake einen Bosniaken wählen muss. Als Serbe einen Serben und als Kroate einen Kroaten. Und das ist das Problem. Wir leben immer noch in einer Art Ghetto: Bosniaken, Serben, Kroaten. Drei Ghettos, die immer noch nicht den anderen Nationalitäten vertrauen.
Autorin
Nach und nach leert sich der Raum wieder. Alen Kajtaz ist zufrieden. Wieder ein Tag, an
dem er sicherstellen konnte, dass 400 Bedürftige ihr Essen bekommen. Und vielleicht, mit
ein wenig Glück, wird ja bald eine neue Generation heranwachsen. Die Hoffnung stirbt
zuletzt, lacht Kajtaz, bevor er in sein Auto steigt.
O-Ton 8: Kajtaz
Generell bin ich ein sehr großer Optimist. Ich weiß, dass die jungen Leute sehr clever sind. Aber sie brauchen jemanden, der sie ermuntert - und dann können sie explodieren. Ich hoffe nur, dass das nicht in die falsche Richtung geht.
Musik-5
Literatur-Musikthema (2)
(Die Neretva) Ein eiskaltes Messer, gestochen in den Mutterleib der Stadt, wegen ihr verkrampfen sich die Straßen. Ihre einzigartige Unveränderlichkeit. Die Schönheit ist immer hartherzig.
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Sie zermalmt uns unter dem Stiefel, den wir bereit waren zu umarmen. Gib ihm deinen Körper, Er wird es dir wahrhaftig und eiskalt zurückzahlen. Der Fluss ist der unveränderliche Regen der Erde. Moderator: Manche fühlen sich zu alt, um alles noch einmal zu ändern, manche wollen einfach vergessen, viele finden sich mit der Teilung ab, einige aber nicht:
Das gilt nicht allein für Mostar, sondern für ganz Bosnien-Herzegowina. In diesem Sommer wurde das Land von einer Protestwelle erfasst, die ohne Beispiel war. Auslöser war die Unfähigkeit der regierenden Parteien, die so genannten „persönlichen Identifikationsnummern“ zu vereinheitlichen. Bei jedem Behördengang, jedem bürokratischen Akt in Bosnien ist diese Nummer unverzichtbar. Für tausende Neugeborene konnten deshalb keine Dokumente ausgestellt werden, was in einem Fall tragische Folgen hatte: Ein schwerkrankes Baby konnte nicht zur Behandlung ins Ausland geflogen werden. Weil es keinen Pass bekam, starb es. Wütende Demonstranten belagerten daraufhin das Parlamentsgebäude in Sarajevo, um die Politiker zu einer Einigung zu bewegen.
Atmo: Cafe Aleksa
Auch in Mostar kam es zu Protesten. Auch hier wollen sich Menschen einfach nicht damit abfinden, dass politische Institutionen nicht funktionieren, dass gemeinsame Interessen zu kurz kommen.
Reportage 5: Ein Aufbruch ist möglich
Autor
Der Klub Aleksa ist eine bekannte Adresse in Mostar. Er liegt direkt am Fluss
Neretva, hinter der Tito-Brücke, und wie oft an Wochenenden findet hier gerade eine
Lesung statt. Draußen, im idyllischen Garten, sitzen Aleksandra Savic und Marko
Tomas. Gemeinsam lassen sie die Proteste des vergangenen Sommers noch einmal
Revue passieren – und sie rauchen dabei eine Zigarette nach der anderen.
O-Ton 1: Aleksandra
Die Proteste sind das einzig Positive, das in den letzten 20 Jahren passiert ist. Sie haben dazu geführt, dass sich alle drei Ethnien – Serben, Kroaten und Bosniaken - solidarisiert haben.
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Autor
…sagt Aleksandra, die Besitzerin des Klubs Aleksa: eine Frau mit weiten schwarzen
Kleidern, auffälliger Halskette, das dunkle Haar mit blond gefärbten Strähnen durchsetzt. Sie
ist Anfang 40 und Serbin. Marko ist ein paar Jahre jünger, Kroate, er schüttelt mit dem Kopf.
O-Ton 2: Marko
Die Proteste waren von Anfang an sinnlos. Was war das Ziel - außer diese Identifikationsnummern zu bekommen? Man hat viel Energie für nichts verbraucht, für ein kurzfristiges Ziel. Und jetzt hat man enttäuschte Menschen, die kein zweites Mal auf die Straße gehen werden.
Autor
Tatsächlich haben die Proteste zunächst nur dazu geführt, dass wie so oft nur eine
Übergangsregelung verabschiedet wurde. Danach war wieder Ruhe. Und trotzdem,
widerspricht Aleksandra: Es gibt Anlass zur Hoffnung.
O-Ton 3: Aleksandra Es war keine Revolution. Aber wir haben erreicht, dass in Mostar 500 Menschen auf der Straße waren und ihre Stimme erhoben haben. Und das Interessante war: Fast alle Demonstranten waren gebürtige Mostarer. Ich kannte alle, ich konnte jeden begrüßen. Wenigstens für einen Tag waren wir Mostarer wieder eine Einheit.
Autor
„Mostarci“, „wir Mostarer“, „wir Menschen aus Mostar“ - oft fallen diese Ausdrücke, wenn
Aleksandra spricht. Und es klingt wie eine Beschwörung.
O-Ton 4: Aleksandra
Mostarer zu sein, das ist für mich eine Geisteshaltung, eine Lebensphilosophie. Mostarer sind sehr offene Leute, voller Toleranz, sie sind stolz auf ihrer Herkunft und stellen die Idee und den Geist in den Mittelpunkt. Alle großen Mostarer der neuere Geschichte - Icevo Ljevica, Vlado Puljic, Meha Sefic, um nur einige zu nennen. Sie alle sind bekannt für ihren Geist und ihren Sinn für Humor.
Autor
Dieser Geist - genau deshalb ist Aleksandra Savic als eine der wenigen Serbinnen nach
nach Mostar zurückgekehrt. Fünf Jahre nach dem Krieg, damals lagen große Teile der Stadt
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noch immer in Trümmern. Die meisten der früheren Bewohner blieben im Ausland, und an
ihrer Stelle war die Stadt nun mit Zehntausenden Flüchtlingen aus anderen Teilen Bosnien-
Herzegowinas bevölkert. Das alte Mostar, so wie Aleksandra es in Erinnerung hatte, gab es
nicht mehr.
Atmo
Drinnen ist die Lesung zu Ende. Aleksandra schaut durch die großen Fenster in das Café.
O-Ton 5: Aleksandra
Ich hatte Hunger, aber ich wollte nicht diese nationale Karte (aus)spielen. Ich habe zu viel Respekt vor mir, um so etwas zu machen. Und so habe ich schließlich auf diesen Steinen den Klub Aleksa aufgebaut, um die alte urbane Tradition von Mostar zu erhalten. Er ist entstanden aus dem Bedürfnis, dass Mostarer einen freien Ort haben müssen.
Autor
Das heißt, einen Ort, der ausdrücklich für alle ethnischen Gruppen offen ist. Aleksandra
veranstaltet Lesungen, Diskussionen und Konzerte. Der Club, sagt sie, ist ein Treffpunkt für
Menschen, die keine Barrieren in den Köpfen haben. Ein freier Raum für freie Geister.
Atmo
Im Cafe werden nun Bücher signiert, und Aleksandra verschwindet hinter der Theke. Auch
Marko Tomas hat hier schon häufiger seine Texte vorgetragen. Er ist froh, dass es Orte wie
diesen gibt, aber letztlich seien es leider nur Inseln, in einer absurden und idiotischen
Umgebung.
O-Ton 6: Marko
Man lebt umgeben und gefangen mit all den Erinnerungen, vor denen man sich nicht verstecken kann, aber es gibt keine politische Kraft, die eine Lösung anbietet. Es gibt keine Plattform, die die Möglichkeit eines wirklichen Dialogs anbieten könnte, eine wirkliche Heilung, eine Katharsis. Eine kollektive Katharsis.
Autor
Das hieße: Eingestehen, was war. Damit man endlich weiter gehen kann. Aber davon ist
man noch weit entfernt, sagt Marko.
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O-Ton 7: Marko
Die größte Frustration für mich persönlich ist, dass die Menschen diesen ganzen Müll immer noch schlucken. /Weil sie Angst haben, weil sie traurig sind, weil sie Opfer des Krieges sind und weil sie Opfer dieses Friedens sind. Sie können die innere Kraft zum Kämpfen nicht finden.
Atmo: Theaterstück
Autor
Ein paar Stunden später, am Abend, der kulturelle Höhepunkt des Jahres in Mostar: Unter
der Alten Brücke, am Flussufer, wird ein Theaterstück aufgeführt. Das Ensemble: Insgesamt
50 Künstler aus Nordirland und dem Balkan, der Regisseur ist der Bosnier Haris Pasovic.
Während des Krieges hatte er im belagerten Sarajevo ausgeharrt und dort mit der
amerikanischen Autorin Susan Sontag „Warten auf Godot“ aufgeführt. Jetzt heißt sein Stück
„The Conquest of Happiness“, das Musik, Tanz und Theater zu einem großen Spektakel
zusammenfügt.
Atmo
Inspiriert ist es von dem gleichnamigen Buch von Bertrand Russell. Dort wie hier wird die
Frage nach der Möglichkeit von Glück aufgeworfen – die große Frage natürlich auch für
Mostar, sagt Aleksandra. Und genauso wie für den Philosophen sind dafür auch für sie die
Beziehungen zwischen den Menschen entscheidend.
O-Ton 8: Aleksandra
Ich möchte mit den Menschen in Mostar zusammen sein, kommunizieren, statt nebeneinander her zu leben. Aber hier ist der Einzelne verschmolzen mit der Masse, alles ist politisiert, es wird eine systematische Zerstörung des Geistes betrieben.
Autor
Mit ihrem Klub hofft Aleksandra, dem etwas entgegensetzen zu können.
Atmo
Eine Wiederherstellung des Einzelnen, des Geistes, ja, des Geistes von Mostar. Dann hält
sie inne.
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O-Ton 11: …. (Orig.)
„Es sind wenige“, sagt sie nachdenklich. „Aber es gibt noch Mostarer.“
Schlussmusik
Moderator:
Das waren die Gesichter Europas an diesem Samstag „Geteilte Stadt, geteiltes Leben. Mostar - 20 Jahre nach der Zerstörung der Alten Brücke“.
Sie hörten Reportagen von Dirk Auer und Simone Böcker,
Simonetta Dibbern hat die Musik ausgewählt und führte Regie. Die Endproduktion übernahmen ….. und …. .
Bruno Winzen trug die Gedichte von Marko Tomas vor. Die deutsche Übersetzung finden Sie nur im Internet, der Link steht auf unserer Website dradio.de. Dort finden Sie auch diese Sendung. Schön, dass Sie dabei waren, am Mikrophon war Gerwald Herter.