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Alltagslebenim 19. Jahrhundert
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Zwischen 1803 und 1850 stieg die Zahl derAargauer Bevölkerung von 130000 um53 Prozent auf 200000 Personen an. DieseZuwach rate lag ein Drittel über demschweizeri chen Durchschnitt und wurdevon keinem anderen Kanton erreicht. Absolut ge ehen, hatte der Aargau die Waadtum die Jahrhundertmitte knapp überholtund befand sich bevölkerungsmässig hinter den Kantonen Bern und Zürich an dritter Stelle. Die Wachstumskurve begannallerdings schon vor 1850 abzuflachen.Der Aargau war zwar bereits stark industriali iert, aber die Erwerbsgrundlage vonLandwirtschaft und Industrie reichtenicht, um die tark wachsende Bevölkerung zu ernähren. Obwohl die Geburtenziffern zurückgingen, fanden viele Aargauer kein Auskommen in ihrem Kanton.
Der Wunsch, die Geburtenzahlen zusenken, bestand durchaus, liess sich aberschwer realisieren. Wirksame empfängni verhütende Mittel existierten nicht, undauf Abtreibung standen schwere Strafen.Als ein indirektes Mittel zur Geburtenregelung diente die Massnahme der Gemeinden, Eheschliessungen durch materielle und rechtliche Vorbedingungen zuerschweren. Ehefrau und Kinder einesaargauischen Ortsbürgers erhielten dasBürgerrecht des Gatten und Vaters undhatten somit Anspruch auf Unterstützungbei Verarmung und auf die utzniessungdes Gemeindevermögens. Deswegen bemühten sich die Gemeinden, alle Personen, die ihnen einmal zur Last fallenkonnten, möglichst vom Bürgerrecht fernzuhalten oder sie eine beträchtliche Einkaufssumme bezahlen zu lassen. ichtaargauische heiratswillige Frauen hatten um1830 etwa das dreifache Jahreseinkommeneiner erwach enen Fabrikarbeiterin in dieEhe mitzubringen. Aargauerinnen, dienicht aus dem gleichen Ort stammten wie
der Bräutigam, mussten zugunsten deSchul- und Armenfond ein «Weibereinzug geld» bezahlen, das die Höhe einesFabrikjahresverdiensts erreichen konnte.Auch der Bräutigam entrichtete für denSchulfonds ein Heiratsgeld. Erst die revidierte Bundesverfassung von 1874 hobdiese materiellen Ehehindernisse auf.
Als Folge der einschränkenden Heiratspolitik stieg das durch chnittliche Heiratsalter auf zeitweise über dreissig Jahrean. Der Anteil der Ledigen nahm stark zu.Um 1860 blieben jeder sechste Mann undjede fünfte Frau unverheiratet. Mit demhohen Heirat alter der Frau sank die Zahlvon über vier Kindern pro Familie in dercf:>lcl1 Jalll hUIH.1cllhalftc auf uun:h:>chl1iulich dreieinhalb gegen Ende de Jahrhunderts. Dafür stieg der Anteil unehelicherGeburten frappant. Zwischen 1850 und1870 kamen auf 100 eheliche über 7 uneheliche Geburten. Häufig heiratete ein Paarerst, wenn ein Kind «unterwegs» war. Um1850 dürfte über die Hälfte aller aargauischen Bräute bei ihrer Hochzeit schwanger gewe en sein.
Kleinräumigkeit undOhnmacht
Das Leben im Aargau des 19. Jahrhunderts spielte sich wie zuvor vorwiegendim lokalen Rahmen ab. Wer nicht auswanderte, kam selten aus der Region heraus. Heiraten ergaben sich meist zwischenAngehörigen derselben Gemeinde. VomTagesgeschehen wusste man lange Zeitnicht be onders viel und wenn, dann meistens aus dritter Hand. Selb t um dieJahrhundertmitte waren Zeitungen wenigverbreitet. Wollten Geistliche auf demLand verstanden werden, mussten sie in
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0-19 20-59Jahre Jahre
Abb. /3/Ein Beispiel müh amenFrauenalltag um etwa 1890:Wa chtag auf dem «Inseli» inRheinfelden.
Abb. /32Altersverteilung der Bevölkerung 1860 und 1988. Könntesich der Aargauer der Gegenwart um hundert oder mehrJahre in die Vergangenheitzurückver etzen lassen, würde ihm eine ehr junge Gesellschaft auffallen. Da hohe undweiterhin teigende Durchschnitt alter der AargauerBevölkerung unterscheidetda au gehende 20. wesentlichvom 19. Jahrhundert.
Mundart predigen. Nach 1850 bessertenich die Verhältnis e. Die Verbreitung
von Zeitungen nahm zu Bibliothekenwurden gegründet, und der Besuch höherer Schulen (Sekundar-, Bezirks-, Kanton schule) stieg. och in den achtzigerJahren erlangten allerdings jährlich blossetwa dreissig junge Männer einen MitteIschulabschluss. Frauen besassen durchschnittlich eine ebenso gute Volksschulbildung wie Männer. Dagegen blieb ihnender Zugang zu weiterer Ausbildung erschwert. Die Männergesellschaft empfandeinen höheren oder gar akademischen Abschluss für Frauen schlicht als unnötigund unweiblich.
Die Menschen waren den Jahreszeiten nach wie vor ausgeliefert. Im Winterver chieden mehr Menschen als im Sommer, im März fast 50 Prozent mehr als imOktober. Die Leute starben nicht wie heute an Kreislauferkrankungen, Altersschwäche und Unfällen, ondern in ersterLinie an akuten, damal unheilbarenKrankheiten, selbst wenn keine Seuchen
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60
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Prozent
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D 1860
über 60Jahre
1988
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Ourchschnillliche Einkommen in den 1850er Jahren in Franken:
im eigentlichen Sinn mehr vorkamen. Sehrhäufig und gefährlich waren insbesondereErkrankungen der Atemwege (Lungenentzündung, Bronchitis, Tuberkulose). Auch}(jnderkrankheiten wie Scharlach oderDiphtherie waren lebensbedrohend. Diebereits hohe Säuglingssterblichkeit stiegbis in die achtziger Jahre weiter an undgalt als naturgegeben. 1870 kam jede vierte aargaui che }(jnd tot zur Welt oderstarb in einem er ten Leben jahr. Die ersten Leben monate waren vor allem wegen der falschen Ernährung mit Kuh- undZiegenmilch die gefährlichsten. Bis gegendie Jahrhundertmitte machten die Leuteunter 20 Jahren die Hälfte aller Einwohner aus. Danach gewannen die 20-60jährigen eine knappe Mehrheit. Keine zehnProzent waren über 60 Jahre alt. Bedingtdurch die hohe Säuglings terblichkeit lagdie Lebenserwartung noch um 1860 unterfünfzig Jahren.
Höherer Bankangesleiller
Kilo-(Liler-IPreis für wichligeNahrungsmillel in Rappenum 1850:
gen bei Preisen und Löhnen erlauben, galtim 19. Jahrhundert fast uneingeschränktdas Prinzip von Angebot und Nachfrage.
Nach 1850 stiegen zwar die Löhne,bis 1885 je nach Beruf und Region um25-50 Prozent, doch die Kaufkraft nahmwegen der Teuerung wenig zu. Um 1873versteuerten 35 Prozent der Steuerpflichtigen weniger al 300 Franken jährlichesEinkommen, in gesamt 80 Prozent weniger als 800 Franken.
Selb t bei bescheidensten Ansprüchen mu sten Frauen und }(jnder in einerFamilie meisten mitverdienen, sei e inder Landwirt chaft, der Heimindustrieoder der Fabrik. Selbst dann war das Anlegen von Er parnissen kaum möglich.Kurzfristig stark teigende Preise, schlechte Ernten oder sinkende Löhne genügtenchon, um zahlreiche Menschen unterstüt
zungsbedürftig werden zu lassen.Gesamthaft nahm das Armenelend
zwischen 1820 und 1860 deutlich, nach1845 sogar explosiv zu. In den Notjahrenum 1850 waren Brot und Kartoffeln Mangelware. Rübenbrei mu ste die hungrigenMäuler stopfen. Um 1855 waren überzwölf Prozent der Gesamtbevölkerung unterstützung bedürftig, 1890 immer nochfünf Prozent. Um 1870 galt minde tenj t:<.1er runne mannli he E wC:\(;h eneals sehr arm. Mehr als die Hälfte allerSteuerpflichtigen be ass 1873 weniger als2000 Franken Vermögen.
Die Einkommens- und Vermögensunterschiede zwischen Armen und Reichenwaren ausserordentlich gross, wenn auchkleiner al im ausgehenden 20. Jahrhundert. Die Kluft vergrösserte sich innerhalbder vier indu triereichsten Bezirke Aarau,Zofingen, Lenzburg und Baden gegenüberLaufenburg, Zurzach und Muri. Auf demLand lebten weniger Reiche als in derStadt. Trotzdem verzeichnete der Aargauim 19. Jahrhundert gesamthaft wenigerWohlhabende als andere Kantone. Geldund Grundbesitz waren breiter gestreut alsheutzutage. Um 1850 besass immerhin jeder sechste Einwohner - }(jnder eingerechnet - ein Stück Land.
12.70
4.00 - 6.00
2.20 - 2.50
pro Jahr pro Tag
3800
650- 750
1200 -1800
Löhne und Besitz Armut und ReichtumSystematische Angaben über die Löhnever chiedener Berufsgruppen existierenfür da 19. Jahrhundert nicht. Zudem istder Dnrlohn hilufig ni ht 5chl'l:IU1>51:1gckJar
tig, da bis ins 20. Jahrhundert hinein vieleArbeitsleistungen nicht ausschliesslich mitGeld, sondern teilweise mit Naturalien,Dienstleistungen oder Nutzungsrechtenentschädigt wurden. Für einen Vergleicherschwerend wirken ferner rie ige, auchkurzzeitige und regionale Prei - undLohnunterschiede. Während heute Absprachen und taatliche Kontrollrnassnahmen keine beliebig grossen Schwankun-
3240
40-7080
140-160140 -160
4-610
Vorarbeiter
Landammann
BrmReisRindfleischZuckerBUllerKaffeeKanoffelnMilch
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Bauernfamilie (3 Hektarenl 550 - 600 1.80 - 2.00
Primarlehrer
Fabrikarbeiter
400 - 600
400 - 450
1.30 - 2.00
1.30 - 1.50 Täglich Kartoffeln
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Abwan link!. freie Wohnungl
Kind in Fabrik
Frauen verdienten rund ein Drillei weniger als Männer
300
100- 150
1.00
0.35 - 0.501875 verschlangen ahrungsmittel undKleidung drei Viertel des Haushaltsbudgets einer Arbeiterfamilie (1988 nur nochein Fünftel). Daher ist die Redensart «sa-
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Abb. /35Wochenmarkt in Lenzburgum 1900. Angesichts des oftbescheidenen Sortiments inden Lebensmittelläden hatteder Markt für Stadtbewohnereinen hohen Stellenwert.
Abb.136Das «Birischloss» in Villmergen mit seinen sämtlichen25 Bewohnern, Ende 19. Jahrhundert. Das Foto vermittelteinen Eindruck der damalssehr bescheidenen und engenWohnverhältnisse. Auffallendsind die wenigen und kleinenFensteröffnungen. Im erstenStockwerk - hier nicht sichtbar - gab es sogar nur winzigeSchiebefenster.
ge mir, was du isst, und ich sage dir, werdu bist» für das 19. Jahrhundert nicht vonder Hand zu weisen. Hauptbestandteilaller Mahlzeiten bei der Mehrzahl allerLeute waren Kartoffeln (gebraten, in einerWassersuppe gesotten oder als Brei) undZichorienkaffee mit gekaufter Kuhmilchoder Milch der eigenen Ziege. Brot warteuer und wurde sparsam genossen. Dörrobst oder Gemüse aus dem eigenen Garten brachten etwas Abwechslung in denmeist monotonen Speisezettel. Fleisch,Eier und Butter kamen bloss an seltenenFesttagen auf den Tisch.
Ernährung und körperliche Konstitution stehen zweifelsohne in einem engenZusammenhang. Um 1870 waren nur20 Prozent der Aargauer Rekruten grösserals 170 Zentimeter. Über 40 Prozent der
erstmals Einrückenden wurden aus gesundheitlichen Gründen ausgemustert. DieDurchschnittsgrösse der Männer in den1880er Jahren betrug 163, hundert Jahrespäter dagegen 175 Zentimeter. Die heuteals sehr niedrig empfundenen alten Bauernstuben und Eingänge zu Bauernhäusern waren ihrer Zeit durchaus angepasst.
Wenn in der zweiten Hälfte des19. Jahrhunderts auch viele schlecht ernährt waren, brauchte doch niemand mehrzu verhungern. Der Speisezettel erweitertesich langsam. Reis wurde nach 1850 zusehends zum alltäglichen Nahrungsmittel,eben 0 andere Importartikel wie Kaffeeund Zucker. Nach 1860 kamen Nahrungsmittelextrakte auf (Nestle, Maggi). Bieravancierte erst seit den 1870er Jahren, wesentlich bedingt durch die stark wachsende Brauerei-Industrie, zum Volksgetränk.1891 zählte man im Aargau nicht wenigerals 46 Bierbrauereien. Mit dem Aufschwung der aargauischen Tabakindustriestieg der Anteil der Raucher in der zweitenJahrhunderthälfte stark an.
Ähnlich bescheiden wie die Ernährung waren die Wohnverhältnisse. Die bisheute erhaltenen, hablichen Bauernhäusersind rare Einzelfälle und dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass um die Jahrhunderlwende dreimal weniger W hnraum pro Person zur Verfügung stand alsheute. Einfache kleine Häuser waren dieRegel. Sie wiesen in der Stadt nicht mehrals zwei oder drei Stockwerke und einenbescheidenen Grundriss von 6 mal 12-15Metern auf. Die Platzverhältnisse auf demLand waren noch knapper, die Häuserpräsentierten sich ärmlicher und müssenteilweise als Hütten bezeichnet werden.Nur ausnahmsweise besass jedes Familienmitglied ein eigenes Zimmer. Besonders die armen Leute wohnten auf sehrengem Raum. Bauernknechte und Taglöhner schJiefen nicht selten im Heu.
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Abb.IJBeerdigung in Wegenstettenaus dem Jahr 1900. achdamaliger Mode trugen dieMänner Bärte. Im Hintergrund sind zwei mittlerweilelängst verschwundene Strohdachhäu er zu sehen.
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Kleidung nach Regionen
Bis ins 19. Jahrhundert war die Herkunftsgegend vieler Aargauer aufgrund ihrerKleidung erschliessbar. Der Kantonsbibliothekar und Staatsarchivar Franz XaverBronner beschrieb dies 1844 wie folgt: «Ein kräftiger Menschenschlag bewohntdie alte Grafschaft Baden und die freien Aemter [ ...]. Die Volkstracht in diesenGegenden ist offenbar bunter als die in dem ehemaligen Berner-Gebiethe. Manschreibt diese Liebhaberei den Gemälden und Zierrathen der Kirchen zu. [ ...) Dermännliche Anzug, der ehemals grösstentheils aus Zwilch verfertigt ward, bestehtjetzt gewöhnlich aus gemeinen farbigen Wollentüchern und Halbtüchern. Dieeinst kurzen Hosen wurden seit der Revolution mit langen vertauscht; über dieseund das Hemd legt der junge Mann ein buntes Leibchen an, die Alten trugenlieber ein scharlachrothes. Das weibliche Geschlecht trägt Jüppen, die aus Rockund Leib tück bestehen. Die untere Hälfte des Rockes, der nur bis an die Wadenreicht, ist aus dichten senkrechten Falten, der obere Theil desselben aus nächernFalten von anderm Zeuge zusammen gefügt. [ ...) Hausfrauen bedecken dasHaupt mit Hauben und hüllen den Hals in Tücher, den Oberleib in Tschopen vonTuch ein. [ ...) Die Tracht [der Fricktaler), schlicht und einfach, nähert sich derKleidung der Schwarzwälder, denen das Frickthal mehrere hundert Jahre beigezählt wurde. Zwilch und gröberes Wollentuch macht den Stoff aus. Die ehrbarenMänner zeichnen sich durch lange Kamisöler, meistens von dunkelroter Farbe,die Weiber durch Bandmaschen auf ihren Hauben über der Stirn aus. Auf derBrust jedes Mädchens hängt ein Heiligthum in Silber gefasst. Buntfärbig sind ihreKleider.»
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Abb.138Bevölkerungsentwicklung1850-1900. Der vor allem auswanderung bedingte Bevölkerungsrückgang nach 1850 warbeträchtlich. Um 1888 wies derAargau als einziger SchweizerKanton weniger Einwohnerauf al um die Jahrhundertmitte. Um 1900 betrug eineBevölkerung~zahl206000 Personen und war damit lediglich3,3 Prozent höher als fünfzigJahre zuvor. Dabei fallen dieregionalen Unterschiede auf.Der Bevölkerungsschwundzeigt ich verstärkt in landwirtschaftlich geprägtenRegionen. Zum Vergleich: Inder ganzen Schweiz betrug derBevölkerungszuwachs in derzweiten Jahrhunderthälfte39 Prozent (Kanton Zürich 72,
euenburg 79, Genf 107, Basel-Stadt 278).
Flucht aus der ArmutDer Bevölkerung, die kein Auskommenmehr fand, blieb oft nur die Auswanderung. Im Gegensatz zur heutigen Situationwar der Kanton Aargau im 19. Jahrhundert ein ausgesprochenes Auswanderungsland. Dies traf zwar für die ganzeSchweiz zu, doch kehrten die aargauischen «Wirtschaftsflüchtlinge» ihrer Heimat in weit überdurchschnittlicher Zahlden Rücken. In der grossen AuswanderungsweIle der 1850er Jahre betrug derAnteil der Aargauer an allen SchweizerEmigranten 20 Prozent, in den achtzigerJahren 10 Prozent, womit die Auswanderungsquote immer noch um ein Drittel höher lag als in anderen Kantonen.
Wohin wandten sich nun jene, dieihre Heimat endgültig verliessen? Ein Teil
D 0,1-20%
D 21-40%
• mehr als 40 %
Bevö Ikerungsschwu nd
D 0-20%
D 21-40%
D
al 1870-1900b} 1880-1900cl 1888-1900
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siedelte sich in industriereichen Gebietender Schweiz an, in erster Linie in den Städten Zürich und Basel, die am ehesten Arbeit garantierten. 1888 wohnten in derStadt Zürich mehr Aargauer als in Aarau,der um diese Zeit grössten Stadt des Kantons. Bereits 1860 lebten mehr Aargauerausserhalb ihres Heimatkantons als Nichtaargauer im Aargau. Auch innerhalb desKantons äusserte sich diese Landflucht.Die Bevölkerungszahl der Städte nahmhier selbst in der Zeit des Bevölkerungsrückgangs zwischen 1850 und 1890 zu.Diese Tendenz verstärkte sich in den folgenden Jahren noch.
Zwischen 1850 und 1860 verliessenzwei von drei abwandernden Aargauernnicht nur ihren Kanton, sondern sogar deneuropäischen Kontinent. In Europa existierten weder fast unbewohnte Gebiete
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Aargauische AuswanderungsweIlen: 1816 kehrten rund3000 Personen dem AargauRichtung ordamerika denRücken, was etwa 2,5 Prozentder gesamten Kantonsbevälkerung entsprach, 1851-18558000 Per onen (4 Prozent) und1880-18854900 Personen(2,5 Prozent).
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noch verheissungsvolle grosse Industriezentren, die Arbeitskräfte benötigten. Inerster Linie lockte der Mittlere WestenNordamerikas, wo grosse Landreservenbestanden. Zudem unterschieden sich diedortigen politischen Verhältnisse nichtgrundlegend von den schweizerischen.Auch zwischen 1860 und 1870 und zwischen 1880 und 1890 zogen über 40 Prozent der Aargauer Auswanderer nachÜbersee. Wohl wanderten das ganze Jahrhundert Aargauer aus, die meisten allerdings in einer von drei grossen Wellen.
Die Ursachen waren jedesmal wirtschaftlicher Natur. Nachdem im Sommer1816 auf das geschnittene Emd Schnee gefallen war, die Kornernte erst im Augustbegann, die Kartoffeln wegen der na skalten Witterung verfaulten und das Futtergrau wurde, führte die Lebensmittelknappheit zu steigenden Preisen und damit zur letzten grossen Hungersnot imAargau. 1817 starb ein Viertel mehr Menschen als in normalen Jahren, vorwiegendAlte, Kranke und Kinder. Die Not führtezur ersten Massenauswanderung.
1845-1847 verursachte die grassierende Kartoffelkrankheit immense Ernteausfälle. Dazu wogen die Kosten des Sonderbundskriegs schwer, und die Industriestagnicl-tc. Wicdcrhollc Mis:>CllltClI :>lcigerten die Not. Nicht etwa Arbeitsunfähige oder Schmarotzer, sondern sesshafteund arbeitswillige Menschen verarmten inkurzer Zeit und benötigten öffentliche Unterstützung. Um 1854 galt jeder achte Aargauer als arm.
In die Zeit der dritten Welle von1880-1885 fiel ebenfalls eine Reihe vonMissernten. Tieferliegende Gründe warendie wirtschaftlichen Strukturveränderungen. Billige Getreideimporte aus dem Ausland machten den Ackerbau zusehendsunrentabel. Die kapitalintensive Umstellung auf die Milchwirtschaft war für vielearme Landwirte illusorisch. Auch derIndustriesektor wandelte sich. Die fortschreitende Mechanisierung und die Konzentration der Arbeiter in Fabriken führten zum Niedergang der Heimarbeit.
Der Exodus war in der zweiten Auswanderungswelle von 1851-1855 am grössten. Im Spitzenjahr 1854 zog jeder siebzigste Aargauer nach Amerika. Insgesamtverzeichnete die Hälfte aller aargauischenGemeinden Auswanderer. Die regionalenUnterschiede waren allerdings beträchtlich. Bewohner der Landwirtschaftsbe-
zirke (Rheinfeiden, 'Laufenburg, Zurzach,Muri) verliessen ihre Heimat in überdurchschnittlicher Zahl. Allein der BezirkLaufenburg verlor 1854 fünf Prozent seiner Bevölkerung. Die grösste Kollektivauswanderung betraf im selben Jahr Niederwil (heute Rothrist) mit 305 Personen.
Nicht etwa Kranke, Gebrechliche undHilflose reisten, sondern vor allem gesunde, arbeitsfähige Erwachsene in jüngerenund mittleren Jahren, darunter auffallendviele ledige Männer, seltener ganze Familien mit Kindern. Nach Berufsgattungenwaren Landwirte, Taglöhner und Handwerker überdurchschnittlich vertreten.Der Kanton förderte die Auswanderungnicht speziell, billigte und schützte sie jedoch. Etwa drei Viertel der Emigrantenerhielten von der öffentlichen Hand einReisegeld. In den l850er Jahren zahltendie Gemeinden im Schnitt 110, der Kanton19 Franken pro Auswanderer. Fast alle Betroffenen gingen in der Erkenntnis, dassihnen die Heimat kein Brot mehr bot. Allerdings schoben einzelne Gemeinden gelegentlich mit mehr oder minder sanftemDruck missliebige Bürger ab, zum Beispielübel Beleumundete, Vaganten, Bettler,Alkoholiker, Dirnen oder Kriminelle. Unverkennbar waren Gemeinden häufig ancincr AUSWl:1l1dCI ullg illl r Al I1lcl1 inttret>siert, weil es kostengünstiger war, eineneinmaligen Betrag für die Reise aufzuwenden als eine bedürftige Person dauernd zuunterhalten.
Der Weg ins Gelobte Land
Seit den 1830er Jahren bestanden Auswanderungsagenturen, private Organisationen, die als eine Art Reisebüro für einenPauschalpreis die Beförderung des Auswanderers von seinem Heimatort bis zueinem überseeischen Hafen organisierten.Im Aargau war nur für den Transportstaatlich unterstützter Auswanderer eineKonzession nötig. In verschiedenen Gemeinden existierten Unteragenturen, imAargau um 1883/84 nicht weniger als 50.Als Unteragenten fungierten häufig Lehrer oder Gemeindeschreiber. Der Agentverpflichtete sich vertraglich zur Durchführung des Transports nach einem derEinschiffungshäfen und von dort nachAmerika. Inbegriffen war meist die Verpflegung auf See, häufig auch Unterkunftund Kost auf der Landreise und in der
Abb.139Basel Ende Mai 1805.Schweizer Amerika-Auswanderer verlassen ihre Heimatauf der üblichen Reiserouteper Schiff. Einzelauswandereraus dem Aargau fanden sichzuerst an den Sammelplätzenin Tegerfelden oder Sisselnein, nach 1854 direkt in Basel.Grössere Gruppen holte derAuswanderungsagent anihrem Wohnort ab.
AG/'gauer in Amerika: Zu denwenigen Aargauern, welchein Amerika das grosse Glückmachten, gehört die FamilieGuggenheim aus Lengnau.Stammvater Simon MeyerGuggenheim (1792-1869)wanderte als Sohn eines bettelarmen jüdischen Schneiders1847 mit seiner Lebensgefährtin und zwölf Kindern in dieVereinigten Staaten aus. MitGlück und Geschick erwarb erdurch das Kupfergeschäft einRiesenvermögen, das seinesieben Söhne noch vermehrten. Seit den 1920er Jahrenzeichnete sich die Dynastiedurch ihre Förderung vonWissenschaft und Kultur aus.Bekannte Beispiele sind dasSolamon R. GuggenheimMuseum ew York und dasPeggy Guggenhcim MuseumVenedig.
Abb.140Endinger Übersee-Auswanderer vor der Abfahrt ausihrem Heimatdorf, Anfang20. Jahrhundert. Zeitgenössische Aufnahmen, welche dieAuswanderung dokumentieren, sind eine Rarität.
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Hafenstadt. Die gesamte Reise erforderteum 1850 etwa 120 bis 180 Franken. Diewichtigste Hafenstadt für Schweizer Auswanderer war Le Havre, das man auf demRhein via Rotterdam und danach per Küstenschiff oder auf dem Landweg überMülhausen und Paris erreichte. Zollkontrollen an den Grenzen entfielen, da derReisevertrag als Pass galt. Nur das Allernötigste an Gepäck wurde mitgenommen.Weil Dampfschiffe zu teuer waren, benutzten die Auswanderer Segelschiffe undreisten auf dem Zwischendeck. Die Überfahrt war gefährlich, da Krankheitendrohten, und dauerte sehr lange. Wer dieReise von Le Havre bis New York in dreiWochen schaffte, konnte von Glück reden. Je nach Wetter dauerte sie 50 Tage
oder länger. 1816/17 hatte sich die Fahrtnoch bis zu drei Monate hingezogen.
In New York angekommen, war derAuswanderer auf sich gestellt und musstedarauf bedacht sein, nicht sogleich voneinem dubiosen Vermittler ausgenommenund betrogen zu werden. Von der Küstengegend führte der Weg ins Landesinnere.Die spärlich vorhandenen Quellen verunmöglichen allerdings genaue Aussagenzum weiteren Schicksal der Auswanderer.Die Aargauer in Amerika arbeiteten zuBeginn wohl meistens als landwirtschaftliche Lohnarbeiter. Zum Gutsbesitzer reichte ihr Geld zumindest vorläufig nicht aus.
Fabrikarbeit im Zwielicht
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Ein Industrieproletariat englischen Ausmasses existierte im Aargau glücklicherweise nicht. Die Industrie war zwar regional unterschiedlich verteilt, ballte sichaber nicht in und um ein einziges Zentrum. Ferner ergab sich durch die Arbeitsweise eine Dezentralisierung der industriellen Tätigkeit. Die Statistik verzeichnet für das Jahr 1857 40300 Heim- und«nur» 10700 Fabrikarbeiter. IndustrielleTätigkeit fand also lange Zeit zur Hauptsache in Dörfern statt. Fabrikarbeiterohne Nebenerwerb bildeten bis ins20. Jahrhundert hinein eine Minderheit.Viele besassen nebenbei etwas Land undeine Kuh im Stall.
Heimarbeit hielt sich, bis sie durchMechanisierung unrationell wurde, was
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Abb. 141Die I 37 gegründete und1904 abgebrannte BadenerBaumwoll pinnerei WildSolivo (später Spoerry) aufeiner Aufnahme von 1881. DieFabrik ist das oberste, unmittelbar am Limmatkanal gelegene Gebäude. Zwei Ko thäu er, da oberste Gebäudelink und das unter te, halbverdeckte Gebäude an derLimmat, stehen noch heute.Die beiden gro en mittlerenKo thäu er wurden dagegen1925 und 1955 abgeris en. Anihrer teile befindet ich derBrückenkopf der BadenerHochbrücke.
Lohn: Der Verdienst wurdenicht nur in der Industrie bisweit in 20. Jahrhundert hineinnormalerweise zweiwöchentlich oder sogar wöchentlichin bar ausbezahlt, obwohl diePost bereits 1906 den Postcheck- und Girodienst ein-führte. 141
Spinnerei Kunz: HeinrichKunz (1793-1859) aus Oetwilam See ZH ist ein Beispiel fürdie verschiedenen ZürcherFabrikherren, die an den grösseren Flüs en im östlichenKantonstell fabnken emchteten, in seinem Fall 1828 eineBaumwollspinnerei und-zwirnerei an der Reuss beiWindi ch. Dieser Betrieb galtum 1885 mit 877 Beschäftigtenals grösste Fabrik im Aargau.Dank diverser weiterer, ausserkantonaler Spinnereienbe ader - durchaus im doppelten Wortsinn 0 genannte «grösste Spinner» Europasum die Jahrhundertmitte einImperium mit über 2000Ange teilten.
Kosthaus: In der ähe dergro en Fabriken wie umAarau, Baden, Rupper wil,Turgi, Windisch und Wettingen ent tanden Arbeitersiedlungen. Etliche Fabrikherren sahen sich gezwungen,in eigener Regie Wohnhäuserzu erstellen, um genügend Arbeiterzu erhalten. 1891 bestanden im Aargau hundert Fabrikarbeiter-Wohnhäuser mit420 Ein- bis Dreizimmerwohnungen. Die meisten Wohnungen verfügten mittlerweileüber einen eigenen Abort, unddie Küche diente nicht mehrals Schlafraum.
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in den verschiedenen Industriezweigenmit grossen zeitlichen Unterschieden eintrat. Ein Heimarbeiter verdiente ehermehr als ein Fabrikarbeiter. Seine Verri htungen w ren jedo h gen uso m noton. Da er im Akkord tätig war, unterschied sich auch die tägliche Arbeitsdauervon zwölf und mehr Stunden nicht vonjener in der Fabrik. Wegen der sperrigenWebstühle und der empfindlichen Textilien wurde in feuchten, dunklen Kel1erngearbeitet. Gesundheitsschäden am Rükken, in den Augen und Atemwegen warenin Fabrik- und Heimarbeit gleichermassen bekannt, ebenso Mangelkrankheitenwegen schlechter Ernährung. Bezeichnenderwei e stammten be onders vieledienstuntaugliche Männer aus industrialisierten Gegenden.
Die Industriel1en des 19. Jahrhundertsdurchweg al Ausbeuter zu kennzeichnen, wäre zweifel10s ungerechtfertigt. Esgab Arbeitgeber, die ihre Beschäftigtennicht nur korrekt behandelten, sondern zuihnen ein fast familiäres Verhältnis pflegten. Anderseits existierten keine ge etzlichen Schranken, welche die Arbeiter vorder skrupel10sen Habgier etlicher Fabrikherren schützten. Vor al1em im östlichenKanton teil waren noch in der zweitenHälfte de 19. Jahrhunderts teilweiseschwere Missstände zu beklagen. Umstrit-
ten waren insbesondere die Zustände inden Baumwol1spinnereien, zum Beispielbei iederu ter ( iederrohrdorf), Hünerwadel ( iederlenz), Spoerry (Baden) oderWild (Wettingen, Ncuenhof). I Iilufig klagte man über miserable Entlöhnung, brutale Auf eher und gefährliche Arbeit instaubge chwängerter Luft. Fabrikordnungen glichen häufig selbstherrlichen Polizeireglementen. Der Fabrikherr trichBus engelder für Absenzen vom Arbeitsplatz sofort und nicht selten in die eigeneTasche ein. Dagegen verspätete er sichgern bei der Lohnauszahlung. Fabrikkantinen erwie en sich für ihn oft als einträgliches Zusatzgeschäft, vor al1em wenn erselbst Wirt war und Alkohol au schenkte.
Für tägliche Arbeitszeiten von bis zu15 Stunden bei absoluten Hungerlöhnenwar die Baumwollspinnerei Kunz in Windi ch berüchtigt. Die 1826 in Turgi gegründete Spinnerei Bebie erregte durch diehoffnungslos überfül1ten Schlafsäle ihreKosthauses negatives Aufsehen. Zwei Erwach ene und ein Kind mu sten sich zeitwei e in ein Bett teilen. Die tägliche Arbeitszeit in der Firma der Brüder Bebiedauerte von echs Uhr morgens bis neunUhr abends. Um immer bei der ersten Tage hel1e beginnen und auf die e Wei e Ölfür die Beleuchtung sparen zu können,lie sen ie die Uhr zu jeder Jahreszeit bei
Tagesanbruch sechs Uhr anzeigen, gleichgültig ob die Sonne im Sommer schonbald nach vier Uhr oder wie im Januar umhalb acht aufging. 1850 setzte der KleineRat diesem Unwesen ein Ende.
Wohl erkannten die Zeitgenossenfrühzeitig die zahlreichen Probleme derFabrikarbeit. Entsprechende Massnahmen blieben jedoch aus. «Experten» führten die oft zu pauschal diagnostizierten,mit vielen Vorurteilen behafteten Übelstände wie Alkoholismus, Sittenlosigkeitund Verschwendungssucht meistens aufden schlechten Charakter der Arbeiterund nicht auf die strukturellen Mängel derFabrikarbeit zurück.
Kinder als Schwerarbeiter
Kinderarbeit war während fast des ganzen19. Jahrhunderts sehr verbreitet und wurdelange vorbehaltlos und beileibe nicht blossfür Fabriktätigkeit bejaht. Nur treten hierdie achteile am krassesten hervor. EinBericht von 1761 erwähnt lobend, dass imAargau Kinder, die für die Landwirtschaftzu schwach seien, in Tuchmanufakturenbeschäftigt würden. Selbst Pestalozzi vertral in seinen Frühschriflen die Meinung,man könne Kinder grundsätzlich vomsechsten Jahr an in der Industrie beschäftigen. Lange Zeit glaubte man, Armut seidurch sittliche Verdorbenheit bedingt. Alseinzige vorbeugende Massnahme komme
die frühe Gewöhnung zur Arbeit in Frage.Das Kind galt als kleiner Erwachsener.
Eltern hatten gegen die pädagogischabge tützte und finanziell einträgliche Fabrikarbeit ihrer Kinder begreiflicherweisenichts einzuwenden. Im Gegenteil: Nichtnur Fabrikherren, sondern auch Fabrikarbeiter stellten Kinder an, die ihnen «gegen Entlöhnung in die Hand schaffen»mu ten.
Die zunehmende Mechanisierung erhöhte im 19. Jahrhundert das Ausrnass derKinderarbeit zusätzlich, denn die oft leichtzu bedienenden Maschinen forderten billige Kinderarbeit geradezu heraus. EineZählung von 1824 verzeichnet in wenigenDutzend Fabriken des Kantons 433 arbeitende Kinder. Lange Zeit fiel nicht auf,wie ungesund und schlecht diese Arbeiterkinder aussahen. Es gibt - nicht nur imAargau - genügend Bei piele schrecklicher Ausnutzung. Jugendliche standentäglich im Dunkeln auf, um wie die Erwachsenen schon bei Tagesanbruch imunter Umständen kilometerweit entfernten Betrieb mit der Arbeit zu beginnen. Siegingen häufig den ganzen Tag barfuss, umein Ausgleiten auf den glitschigen, ölverschmierten Böden zu verhüten. Gearbeitetwurde bis zum Einbruch der Dunkelheit,je na h Jahre zeit bis zu 15 Stunden. Inaargauischen Strohflechtereien Anfangdes 19. Jahrhunderts erhielten die Kinder30 bis 40 Rappen für die tägliche Tortur,was dem Gegenwert von zwei Pfund Brotoder einem Pfund Rindfleisch entsprach.
Frühe Stimmen gegen die Kinderarbeit
«Nicht nur werden solche Kinder grässtenteils dem Fabrikschulunterricht entzogen, sondern sie müssen sich bei ihren Arbeiten in grässlich dunstenden Zimmernaufhalten, das Gift der Farben einatmen, oft in Feuchtigkeit und nassen Kleiderntagelang verweilen. Ohne tiefer den Wirkungen dieser Lebensart nachzuspüren,liest man ihre Folgen schon augenscheinlich auf den blassen Gesichtern dieserKinder.» (Melchior Lüscher 1810, Regierungsrat 1808-1828)
Die Folge der Fabrikarbeit für Kinder ist «ein an Leib und Geist verkrüppeltes Zwerggeschlecht, das aus den Spinnhählen hervorgeht; Knaben und Mädchen,die im Alter von 16-17 Jahren kaum die Grässe von Kindern von 9-10 Jahren erreichen, der Wachstumssäfte durch anhaltende Anstrengung beraubt, und schondurch die hektische Gesichtsfarbe von der Auszehrung gezeichnet.» (PfarrerJohann Rohr vom Staufberg 1824)
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Arbeiterschutz im VerzugDer Aargau erwarb sich in der Fabrikgesetzgebung kein Ruhmesblatt. Die Kantone Zürich und Thurgau, die bereits 1815wenigstens Kinderarbeit unter zehn Jahren verboten, den Arbeitstag auf 14 Stunden beschränkten und Nachtarbeit fürKinder untersagten, gingen weit voraus,auch wenn dieses Gesetz oft keine Beachtung fand. Ein gesetzlicher Schutz fehlteim Aargau bis zum Fabrik-Polizeigesetzvon 1862, das Fabrikarbeit für unter 13jährige verbot und die Arbeitszeit für unter16jährige auf höchstens zwölf Stundentäglich festsetzte.
Erst das neugeschaffene Eidgenössische Fabrikgesetz von 1877 brachte einendeutlichen Fortschritt. Es machte der dubiosen Institution der Fabrikschule ein
Ende, verbot Kinderarbeit unter 14 Jahren,untersagte die Nacht- und Sonntagsarbeit,schützte die Frauen besser und führte denIlstündigen Normalarbeitstag ein (65 Stunden pro Woche). Allerdings waren auf Gesuch des Fabrikherrn monatelang längereArbeitszeiten möglich. Die Bestimmungenwurden öfter missachtet oder umgangen,zum Beispiel durch die Rückkehr zurHeimarbeit, die das Fabrikgesetz nicht erfasste. Im Aargau rippten Frauen nochlange nach 1880 bis weit in die acht hinein Tabakblätter aus oder flochten für dieStrohindustrie. Nach 1890 lebten die Fabrikherren ihren Pflichten besser nach,doch blieben die gesetzlichen Bestimmungen lückenhaft. Erst das Bundesgesetzüber die Beschäftigung jugendlicher Personen in den Gewerben von 1922 regeltedie Kinderarbeit in der Heimindustrie.
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Fragwürdige Fabrikschulen
Nach 1810 entstanden die ersten Fabrikschulen. Das Schulgesetz von 1835 fordertezwei getrennt zu führende Jahrgangsklassen für Arbeiterkinder zwischen 13 und15 Jahren. Ganzjährig mussten wöchentJich mindestens sechs, nach 1865 mindestens zwölf Stunden Unterricht angeboten werden. Alle Unkosten für das Schullokal (Einrichtung, Dchcizung, U ntcl halt) oblagcn JClll Fablik.bt;~itl.cl, Jel kcillSchulgeld verlangen oder Lohnabzüge vornehmen durfte. Oft umging er jedochdie Bestimmungen. Die Fabrikschule in Schafisheim war zum Beispiel eineNachtschule, damit die Jugendlichen in der Stoffdruckerei während des Tages«ungestört» 10-12 Stunden arbeiten konnten. Die glücklicherweise njcht allzuzahlreichen Fabrikschulen verschwanden nach dem Inkrafttreten des Eidgenössischen Fabrikgesetzes von 1877.