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Die Zeit der Weltkriege 1914-1945 Abb. /53 Vereidigung de Infanterie- regiments 23 im Aarauer Scha- chen durch Militärdirektor Arnold Ringier. Die sechs Aargauer Bataillone 55 bis 60 bildeten elt der I ruppenord- nung von 1912 die Infanterie- regimenter 23 und 24 und waren in der Brigade 12 zu- sammengefas t. Sie hatten 1914-1918 in sech Etappen 21 Monate Militärdienst zu leisten. Die Periode zwischen 1914 und 1945 stellt für Europa, die Schweiz und den Kanton einen ereignisreichen, bewegten Zeitraum dar. Während gut 10 dieser 31 Jahre leiste- ten Aargauer Soldaten Aktivdienst. Mehr- mals drohte eine Verwicklung in qie beiden Weltkriege von 1914-1918 und 1939-1945. Im Innern stritten verschiede- ne Kräfte um die künftige Entwicklung, am auffälligsten 1918, als viele Anzeichen auf einen Bürgerkrieg hindeuteten. Aus heutiger Sicht war die Zeit bis 1945 für die Aargauer Bevölkerung ein Abschnitt fast unvorstellbarer Nöte und Sorgen. In An- betracht des namenlosen Leides mit Mil- lionen von Toten, welche zwei Weltkriege in weiten Teilen des übrigen Europus zur Folge hatten, war die Schweiz jedoch eine privilegierte Oase des Friedens, in der nur ganz wenige wegen Hunger oder aus poli- tischen Gründen starben. So ähnlich sich die bei den Weltkriege in mancherlei Beziehung auf die schweize- rische und aargauische Bevölkerung aus- wirkten, so sehr unterschieden sie sich. Die materielle Not war für die Aargauer im Ersten Weltkrieg viel grösser als im Zweiten. Der Zweite Weltkrieg tangierte dafür den Aargau in anderer Hinsicht di- rekter, zum Beispiel durch Kriegsschäden. Notleidende Bevölkerung im Ersten Weltkrieg 1914-1918 Nach dem überraschenden europäischen Kriegsausbruch ordnete der Bundesrat auf den 3. August 1914 die Kriegsmobilma- ehung uno Die Dundesversummlung wühl- te Ulrich Wille zum General. Er genoss in der stark auf Deutschland ausgerichteten Deutschschweiz und im Aargau grosse Sympathien. Akademiker hatten überwie- gend an deutschen Universitäten studiert, zum Beispiel drei von fünf 1914-1918 153 160

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Die Zeit der Weltkriege1914-1945

Abb. /53Vereidigung de Infanterie­regiments 23 im Aarauer Scha­chen durch MilitärdirektorArnold Ringier. Die sechsAargauer Bataillone 55 bis 60bildeten elt der I ruppenord­nung von 1912 die Infanterie­regimenter 23 und 24 undwaren in der Brigade 12 zu­sammengefas t. Sie hatten1914-1918 in sech Etappen21 Monate Militärdienst zuleisten.

Die Periode zwischen 1914 und 1945 stelltfür Europa, die Schweiz und den Kantoneinen ereignisreichen, bewegten Zeitraumdar. Während gut 10 dieser 31 Jahre leiste­ten Aargauer Soldaten Aktivdienst. Mehr­mals drohte eine Verwicklung in qiebeiden Weltkriege von 1914-1918 und1939-1945. Im Innern stritten verschiede­ne Kräfte um die künftige Entwicklung,am auffälligsten 1918, als viele Anzeichenauf einen Bürgerkrieg hindeuteten. Ausheutiger Sicht war die Zeit bis 1945 für dieAargauer Bevölkerung ein Abschnitt fastunvorstellbarer Nöte und Sorgen. In An­betracht des namenlosen Leides mit Mil­lionen von Toten, welche zwei Weltkriegein weiten Teilen des übrigen Europus zurFolge hatten, war die Schweiz jedoch eineprivilegierte Oase des Friedens, in der nurganz wenige wegen Hunger oder aus poli­tischen Gründen starben.

So ähnlich sich die beiden Weltkriegein mancherlei Beziehung auf die schweize-

rische und aargauische Bevölkerung aus­wirkten, so sehr unterschieden sie sich.Die materielle Not war für die Aargauerim Ersten Weltkrieg viel grösser als imZweiten. Der Zweite Weltkrieg tangiertedafür den Aargau in anderer Hinsicht di­rekter, zum Beispiel durch Kriegsschäden.

Notleidende Bevölkerungim Ersten Weltkrieg 1914-1918

Nach dem überraschenden europäischenKriegsausbruch ordnete der Bundesrat aufden 3. August 1914 die Kriegsmobilma­ehung uno Die Dundesversummlung wühl­te Ulrich Wille zum General. Er genoss inder stark auf Deutschland ausgerichtetenDeutschschweiz und im Aargau grosseSympathien. Akademiker hatten überwie­gend an deutschen Universitäten studiert,zum Beispiel drei von fünf 1914-1918

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Abb. /54KartofTelabgabe im AarauerSaalbau 1918. Erst vom drittenKriegsjahr an waren die wich­tigsten Lebensmittel rationiert.1918 unter tand aber prakti challes, wa e sbar war, der Kon­trolle. Lediglich Eier, Weich­kä e und Flei ch bildeten eineAusnahme. Hier be chränkteder übersetzte Prei die ach­frage, was viele als unsozialempfanden.

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Preis in Franken pro Kilo/liter/Stück

Abb. /55Detailhandelspreise1914-1918. Die Grafik veran­chaulicht die enorme Teue-

rung, die für die aufgeführtenahrungsmittel im Verlauf des

Ersten Weltkriegs im Durch­schnitt über 175 Prozent be­trug.

Graben zwischen Deutsch und Welsch tatsich auf.

Die auf den Krieg völlig unvorbereite­te Zivilbevölkerung zog panikartig ihreGuthaben von den Banken zurück undleerte mit Hamsterkäufen die Regale derLebensmjttelgeschäfte. Das Auseinander­klaffen von Angebot und Nachfrage imLebensmittelsektor führte zu drastischenPrei erhöhungen. Vor allem Arbeitnehmerund Rentner waren betroffen. Hingegenprofitierten die meisten Landwirte, da sieihre Produkte teuer verkaufen konnten.Die bescheidenen Massnahmen des Bun­desrats zur Preiskontrolle zeitigten keinebesondere Wirkung. Der schweizerischeBauernverband mit Sitz in Brugg verwahr­te sich energisch gegen die Preisbindungfür landwirtschaftliche Produkte, beson­ders gegen die Festsetzung des Milchprei­ses durch den Bund.

Das erste Kriegsjahr brachte einenstarken Rückgang der industriellen Pro­duktion, verbunden mit Lohnkürzungenund Massenentlassungen. Durch die teil­weise Umstellung der Produktion auf Rü­stungsgüter normalisierte sich der Ge­schäftsgang in vielen Bereichen. MancheBetriebe erlebten sogar eine Blütezeit. DieLohnaufbesserungen hielten allerdingsmit der Teuerung nicht Schritt. Besondersbetroffen waren die Arbeiter. Sie verdien­ten 1917 real über ein Viertel weniger als1914. Trotz vieler privater und öffentlicherHilfsprogramme verschärfte sich die mate­rielle Notlage stetig und mündete in Unzu­friedenheit und soziale Unrast.

+271 %

7 Schweineschmalz8 Erdnussöl9 Gelbe Erbsen

amtierenden Aargauer Regierungsräten.Hochdeutsch zu sprechen, gehörte nichtnur bei der Zürcher Oberschicht zum gu­ten Ton. Ferner wohnten viele Deutsche inder Deutschschweiz, im Aargau um 19109531 Personen oder vier Prozent der Ge­samtbevölkerung, eingebürgerte Deutschenicht eingerechnet. Die Welschen sympa­thisierten dagegen vorwiegend mit Frank­reich, dem Kriegsgegner Deutschlands,und standen dem mehrheitlich deutsch­freundlichen Bundesrat und der Armeelei­tung äusserst skeptisch gegenüber. Ein

1918

4 Tafelbuner5 Rindffeisch Imit Knochen}6 Frische Eier

D 1914

1 Vollmilch2 Brol3 Kaffee

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organisierte, wirkte sich auch im Aargauaus: 2000 Demonstranten in Aarau, 3500in Baden und 1000 in Brugg. Am 10. Juni1917 lehnte die SP, die 1914 mit dem Bür­gertum ein Stillhalteabkommen, den soge­nannten «Burgfrieden», abgeschlossenhatte, die Landesverteidigung an ihremausserordentlichen Parteitag ab. Im glei­chen Sinn äusserte sich der kantonale Par­teitag der aargauischen Sozialdemokraten.

Die Lage spitzte sich zu. Im Februar1918 wurden kurzfristig für drei Monatedie Aargauer Truppen der Infanteriebriga­de 12 aufgeboten und rings um Zürich sta­tioniert, um einen allfälligen Umsturz zubekämpfen. Die materielle Not zu Hauseund die Befürchtung, lange Zeit einen un­nötigen, drillmässigen Dienst leisten undeventuell sogar gegen Landsleute kämpfenzu müssen, lösten jedoch zahlreiche Ge­horsams- und Dienstverweigerungen aus.Auf Betreiben von General Wille erhieltendie Fehlbaren hohe Gefängnisstrafen vonbis zu 27 Monaten. Sie mussten jedochnur einen Teil ihrer Strafe verbüssen. Einenun einsetzende Grippeepidemie von ver­heerendem Ausrnass verschärfte die mate­rielle Not zusätzlich .

Am 4. Oktober 1918 bat das geschla­gene Deutschland die Alliierten um einenWarrcn~lilbli:lIIU, Utl' al11 11. No embcr1918 Tatsache wurde. Dadurch schwanddie äussere Bedrohung, welche dieSchweizer Bevölkerung bis anhin verbun­den hatte. Der soziale Aufruhr trat nunoffen zutage und gipfelte im Landesstreikvom 12.-14. November 1918. Die Streikpa­role fand im Aargau zu Beginn aus­schliesslich in den Bezirken Aarau, Baden,Brugg und Zurzach Beachtung. Eilendsaufgebotene Truppen in der Stärke von3000-4000 Mann schützten arbeitswilligeArbeiter und sollten allenfalls aufkeimen­de Gewalttätigkeiten unterdrücken. Nachden schlechten Erfahrungen vom Februargelangten die als unzuverlässig geltendenAargauer Truppen ausschliesslich im eige­nen Kanton zum Einsatz, nicht etwa inZürich, wo die Wogen am höchsten schlu­gen. Der im Aargau nicht überall befolgteStreik verlief insgesamt ruhig, selbst in derIndustriestadt Baden, in der man am ehe­sten Unruhen befürchtete. Am 16. Novem­ber entlie s die Kantonsregierung alle auf­gebotenen Truppen.

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Die TrauerlamlUen.

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Todes-Anzeige.

Fum~m Lm~ Bm~IDaus Thayngen

Danksagung.

Jakob KlstIeraeweL Sieaerprlsideal

POr dltlllO uhlrek.hen I(undfebullfen ...armer

Teilnahme beim Hll\IdIItde UMe.fel

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Unter dem Eindruck der Krieg greuel undder um sich greifenden Not rief die soziali­stische Jugendbewegung bereits auf den3. September 1916 zu Demonstrationen ge­gen Krieg und Militarismus auf. In derganzen Schweiz fanden an diesem Tag139 Demon trationen statt, wovon einDutzend im Aargau. Allein 700 Teilneh­mer besuchten die Kundgebung in Aarau.Ein gesamtschweizerischer, halbtägigerWarnstreik am 30. August 1917, den dieSozialdemokratische Partei der Schweizzusammen mit dem Gewerkschaftsbund

Radikalisierungund drohender Bürgerkrieg

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Abb. /56Eine Seite au dem «AargauerTagblatt» vom 30. Oktober1918. Die« pani che Grippe»forderte im Aargau zwischenMai 1918 und Mai 1919 etwa750 Tote. Der Regierungsratverbot rigoro Volks- undTanzfe le, Vereinszusammen­künfle, Kino- und Theater­vorführungen usw., um dieAn teckungsgefahr zu min­dern. Zum Teil war sogar derSchul betrieb eingestellt, Got­tesdien le fielen aus, und Totemu ten till beerdigt wer­den. Jeder zweite Schweizererkrankte an der Grippe.Zwanzig Millionen Men chensollen weltweit an dieser Epi­demie ge torben sein.

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Landes treik: Letzte bürger­krieg ähnliche Situation in derSchweiz mit Zürich al Kon­Oiktzentrum, wo Barrikaden­kämpfe zwischen Arbeiternund Armee drei Tote und vieleVerwundete forderten. Dasozialdemokratische OltenerKomitee hatte am 11. ovem­ber alle Werktätigen derSchweiz zu einem unbefri te­ten General treik aufgerufen,bi neun oziale und politischePo tulate erfüllt seien (unteranderem 48-Stunden-Woche,Alters- und Hinterlas enen­vorsorge, euwahl des Natio­nalrat nach dem Proporzsy­tem, Frauenstimmrecht). Das

Oltener Komitee kapituliertenach drei Tagen, ohne seineZiele sofort erreicht zu haben.

Faschismus: Im engeren hi to­rischen Sinn meint der Begriffdas von Benito Mus olini 1922in Italien hand treichartig be­gründete diktatorische Regie­rungssystem, das bis 1943bestand. Im weiteren Sinn istFaschismu die abwertendeBezeichnung für alle nationali­stischen, antidemokratischenund autoritären, nach demFührerprinzip organisiertenBewegungen und Herrschafts­formen.

Nationale Front: Studentender Universität Zürich grün­deten 1930 die« eue Front»,die vorwiegend in der Ober­schicht verankert war. Gleich­zeitig entstand im Zürcher Stu­dentenmilieu die« ationaleFront», welche sich bald aufeine breite Öffentlichkeitausrichtete. Beide Gruppenschlossen sich im März 1933zum «Kampfhund eue undNationale Front» zu ammen.Die bald nur noch « NationaleFront» genannte Bewegunglöste sich nach Anfang er­folgen im März 1940 elbstauf. Der Bundesrat schränkteihre Nachfolgeorgani ation,die «Eidgenössische Samm­lung», durch verschiedeneGesetzesbestimmungen einund verbot sie gänzlich am6. Juli 1943.

Nachwehendes Landesstreiks

Die auf den I. Januar 1920 landesweit ein­geführte 48-Stunden-Woche i t einer derwenigen sozialen Fortschritte, die sich di­rekt aus dem Landesstreik ergaben. DieseZeit war im allgemeinen von einer unver­söhnlichen und misstrauischen Stimmunggeprägt. Bezeichnend ist die Regierungs­ratswahl von 1919, als in der Person desdurchaus gemä sigten Badener Lehrersund künftigen Stadtammanns (1927-1948)Karl Killer erstmals ein Sozialdemokratfür den Regierungsrat kandidierte. Einvon bürgerlicher Seite demagogisch undgehässig geführter Wahlkampf, der vorpersönlicher Verunglimpfung Killers nichtzurückschreckte, endete mit der Wahl desfreisinnigen Bauernvertreters Albert Stud­ler. Jegliche Kritik am Staat galt in denAugen der Bürgerlichen als Versuch derUnterwanderung. Als sich zum BeispielAarauer Kantonsschüler für die Abschaf­fung des obligatorischen, bewaffneten Ka­dettenunterrichts aussprachen, war mansofort mit dem Vorwurf kommunistischerVerseuchung zur Hand.

Auch die Arbeiterschaft begann ichzunehmend auszugrenzen, indem ie bei­spielsweise eigene Turn-, Gesangs- undSchützenvereine gründete. Staatspolitischungleich bedenklicher als vereinzelte linkeTendenzen zur Radikalisierung warendie im Gefolge des Landesstreiks ohneRechtsgrundlage entstandenen, gemeinde­weise organisierten Bürgerwehren. IhreDachorganisation, die stramm rechtsbür­gerliche Aargauische Vaterländische Ver­einigung, schrieb den Kampf «gegen allesUnschweizerische» - gemeint ist der Bol­schewismus - auf ihr Banner. Sie erhieltihre Finanzen vor allem aus Wirtschafts­kreisen und zählte 1919 15000 Mitglieder.1919 entstand mit Sitz in Aarau die Lan­desorganisation Schweizerischer Vaterlän­discher Verband, die 1923 17 Kantonal­sektionen zählte. Massgeblich war undblieb jedoch der aargauische Verband,der 1936 noch knapp 1600 Mitglieder um­fasste. Die bis heute bestehende Vaterlän­dische Vereinigung verstand über zweiJahrzehnte lang unter Patriotismus in er­ster Linie das unerbittliche Ankämpfengegen alles Linke und verkannte verhäng­nisvollerweise die von rechts aufkommen­de Gefahr.

Rechtsextreme Tendenzenin den dreissiger Jahren

Die schlechte Wirtschaftslage der 1930erJahre und die Abwehr gegen den ver­meintlich drohenden Kommunismus liesszusehends Sympathien für faschistischeIdeen aufkommen. Insbesondere die am30. Januar 1933 erfolgte Ernennung AdolfHitlers zum deutschen Reichskanzler ver­fehlte ihre Wirkung aus erhalb des Deut­schen Reichs nicht und rief in Teilen derSchweiz viele Bewunderer der nationalso­zialistischen Diktatur auf den Plan. Ange­sprochen fühlten sich Angehörige aller so­zialer Schichten, altersmässig vor allemdie jüngere Generation der 20-40jährigen.Die in rascher Folge entstehenden Grup­pierungen waren völlig zersplittert. Wegender häufigen Verwendung von «Front»im Partei namen spricht man von den«Fronten», wegen der aufsehenerregendenWahlerfolge 1933 vom «Frontenfrühling».Diese Bewegungen setzten sich oft keineklaren Ziele und Programme. Gemeinsamwar ihnen die schroffe Ablehnung der par­lamentarischen Demokratie. «Wir sindder Meinung, dass unsere Volksvertretun­gen zu erbärmlichen Schwatzbuden herab­ge unken ind, die besser ge ch10 senwürden» (<<Die Nationale Front», 21. Au­gust 1933). Sie verlangten zugunsten einerausgebauten Exekutive den Abbau derVolksrechte (Initiative, Referendum), derindividuellen Freiheitsrechte (Glaubens-,Gewissens-, Presse- und Vereinsfreiheit)und träumten von einem autoritären Füh­rertum, dem sich alle bedingungslos zu un­terwerfen hatten. «Autorität statt Majori­tät» lautete ein gängiges Schlagwort. DasWirtschaftssystem sollte ständisch, ähn­lich wie in den Zünften vor 1798, organi­siert werden. Viele Fronten waren ausge­sprochen rassistisch. Obwohl lediglich0,44 Prozent der in der Schweiz wohnhaf­ten Bevölkerung jüdischen Glaubens war,beschworen die Fronten «die Verjudungder Heimat» herauf.

Seine unmittelbare Grenzlage zuDeutschland machte den Aargau fürrechtsextreme Einflüsse empfänglich. DerKanton gehörte mit Zürich, Schaffhausenund Genf zu jenen Gebieten der Schweiz,in denen nazistische Ideen überdurch­schnittlich starken Anklang fanden. DieNationale Front als bedeutendste rechts­radikale Gruppierung der Schweiz fasste

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im Aargau bemerkenswert früh Fuss. Be­reits 1932 bestand in Zurzach eine aktiveOrtsgruppe. Weitere Gruppen sind zu die­ser frühen Zeit lediglich in den grossenStädten Zürich, Basel, Bern und Lausannenachweisbar. Nicht zufällig erschien derseit 1931 bestehende «Eiserne Besen», dasoffizielle schweizerische Presseorgan derNationalen Front, von Oktober 1932 bisAugust 1933 in Zurzach, angeblich miteiner Auflage von bis zu 25000 Exempla­ren. Dieses Blatt machte aus seinem Ju­denhass und seiner Hitler-Bewunderungkeinen Hehl: «Wir bedauern ausseror­dentlich, dass wir in der Schweiz wedereinen Hitler noch einen Mussolini besit­zen, die einen solchen politischen Saustall[... ] innert kürzester Zeit ausräumen wür­den» (14. November 1931). Auf demAchenberg bei Zurzach veranstaltete dieNationale Front am Wochenende des

30.131. Juli 1932 eine gesamtschweizeri­sche Zusammenkunft. Die im Freienabgehaltene abendliche Bundesfeier aufdem «neuen Rütli», wie die sozialdemo­kratische Zeitung «Volksrecht» spottete,gipfelte in Hetzreden. Propagandaveran­staltungen in diesem Stil waren typisch:Treffen auf dem Land, wenn möglich anhistorischen Gedenkstätten, dazu Umzügeund Aufmärsche mit Fahnen und Unifor­men.

Höhepunkt und Niedergangder Nationalen Front

Die Nationale Front breitete sich raschaus und interessierte vor allem in den Be­zirken Aarau, Baden, Brugg und Zurzachviele Menschen. Der «Eiserne Besen»

Abb. /57Die Karte zeigt die Ende 1933aktiven Ortsgruppen der

ationalen Front, die in derfronti ti chen Pre se Erwäh­nung fanden. Um die Jahres­mitte 1933 zählte die NationaleFront laut eigenen Angabengesamt chweizerisch 100 Orts­gruppen, davon angeblichüber 40 im Aargau. In derLande leitung mit Sitz in Zü­rich pielten auch Aargauerwie Hans Oehler (Aarau),Eduard Rüegg egger (Brugg)oder Werner Ursprung (Zur­zach) zeitweilig eine massgeb­liche Rolle.

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Beiwerk» an, aber «leder klare Wein isteinmal Sauser gewesen» (30. Mai 1933).

Im Aargau stellten sich die Frontistenlediglich an einem einzigen grösserenWahlgang den Stimmbürgern, nämlich an­lässlich der Grossratswahlen von 1937.Der Erfolg war bescheiden. Sie kandidier­ten in den drei Bezirken Aarau, Brugg undBaden und erhielten im Schnitt 3,5 Pro­zent der Stimmen, in den Städten Badenund Brugg je 8 und in Aarau 2 Prozent.Nur in den Gemeinden Elfingen, Linn,Schinznach Bad und Remetschwil wurdedie IO-Prozent-Marke übertroffen. Immer­hin reichte die Stimmenzahl im Bezirk Ba­den für einen Grossratssitz.

Ende 1934 hatte der Frontismus ge­samtschweizerisch seinen Höhepunkt be­reits überschritten. Weniger schnell als inanderen Kantonen zeichnete sich im Aar­gau ebenfalls der iedergang ab. Nach1933 radikalisierte sich die NationaleFront; bürgerliche Parteien gingen zuneh­mend auf Distanz. Die Aargauer began­nen Hitlerdeutschland, das seine Machtstetig ausweitete, als immer grössere Be­drohung zu empfinden. Entsprechend ver­lor die deutschfreundliche NationaleFront an Boden. Sie umfasste im Sommer1939 im Aargau höchstens noch 150 einge­schriebene Mitglieder. Die Frontenbewe­gung war damit klar gescheitert und iso­lierte sich nach Kriegsausbruch immermehr. Im Mai 1940 schritt sie zur Selbst­auflösung.

Steigende Wehrbereitschaftund Kriegsausbruch

Nach 1918 waren weite Kreise einer Ar­mee überdrüssig. «Nie wieder Krieg» lau­tete die Parole, welche am entschiedenstendie Sozialdemokraten vertraten. Der Füh­rer der Aargauer Sozialdemokraten, Ar­thur Schmid sen. (1919-1958 Nationalrat,1921-1958 Grossrat), vertrat beispielsweise1930 in einem Streitgespräch in Gränichengegen Bundesrat Rudolf Minger, denneuen Chef des Eidgenössischen Militär­departements, einen pazifistischen und vor­behaltlos armeefeindlichen Standpunkt.Mit den immer klarer zutage tretendenGrossmachtambitionen Hitlers ändertensich die Verhältnisse allerdings rasch. Alserste sozialdemokratische Kantonalparteibefürwortete Anfang 1934 ausgerechnet

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konnte ferner im Juni 1933 mit Befriedi­gung vermelden: «Unsere Sache wächstim Fricktal erfreulich.» Als frontisti cheHochburgen erwiesen sich bald Badenund Brugg, wo allein 1933 mehrere Ver­sammlungen mit bis zu 4000 Teilnehmernstattfanden. Die Nationale Front verzeich­nete 1933 verschiedentlich Erfolge beiAargauer Kommunalwahlen.

Die aargauischen Sozialdemokratenwidersetzten sich den Fronten von Beginnan konsequent. Die bürgerlichen Parteienindessen verhielten sich den neuen Bewe­gungen gegenüber zwiespältig und brach­ten ihnen zumindest anfänglich einigesWohlwollen entgegen. Die Aargauer Bau­ern begeisterten sich zum Beispiel im Mai1933 in ihrem Organ «Schweizer FreiePresse» für den «vaterländischen Geist»der Nationalen Front: «Öffnen wir diesenwertvollen jungen Kräften die Tore unse­res Parteihauses so weit als möglich».Auch beim freisinnig-demokratischen«Badener Tagblatt» genossen die Frontenviele Sympathien. Der jungen Bewegunghafte zwar manches «unreine und unreife

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Abb.158Inserat der ationalen Frontim «Badener Tagblatt» vom8. März 1937 im Hinblick aufdie anstehenden Grossrats­wahlen. Öffentliche Versamm­lungen mit mehreren Rednernwaren übliche Aktivitäten,Diskussionen, wie in diesemInserat versprochen, jedochnicht. Kritische Äusserungenliess der sogenannte «Harst»,eine aus jungen Männerngebildete, der reichsdeutschenSA und SS nachempfundeneTruppe, gar nicht aufkommen.Als «Saalschutz» gewährlei­stete er den im frontistischenSinn reibungslosen Verlaufvon Versammlungen, indemdie Harst-Leute kritischeKundgebungsteilnehmer ein­schüchterten und notfalls ver­prügelten.

Mililärkanlon Aargau: Aar­gauer sind seit jeher auffallendstark an massgeblichen mili­tärischen Schaltstellen vertre­ten. Der Kanton stellte mitdem Oberbefehl haber von1870171, Hans Herzog, einenvon gesamthaft vier SchweizerGenerälen. In der Militärver­waltung de Bundes wirktenzeitweise so viele Aargauer,da von «Aargauerei im Eid­genössischen Militärdeparte­ment» die Rede war. Zwischen1890 und 1990 bekleidetenAargauer Offiziere während28 Jahren das Amt de Gene­ral tab cher , unter anderemJakob Huber in den Kriegs­jahren 1940-1945.

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die SP Aargau unter der Leitung Schmidsdie militärische Landesverteidigung.

Seit 1935 konnten Bundesrat und Par­lament im Wissen, von der Volksmeinunggetragen zu sein, die Rü tungsaufwendun­gen massiv erhöhen. Die Bewohner des«Mililärkantons» Aargau bekannten sichteilweise noch klarer zur Aufrüstung alsdie übrige Schweiz. Sinnfällig erschiendie Wehrbereitschaft an der Landesaus­stellung von 1939, diesem Symbol der gei­stigen Landesverteidigung. Der 25. Au­gust galt an der «Landi» als Aargauertag.Der sozialdemokratische RegierungsratRudolf Siegrist hielt eine patriotische Re­de, «wie es auch ein Vertreter einer bür­gerlichen Partei nicht hätte besser tunkönnen». Trotz der gespannten aussenpo­litischen Lage ahnten zu diesem Zeit­punkt die wenigsten, dass bereits eineWoche später der Zweite Weltkrieg aus­brechen würde.

Auf den 29. August 1939 rückte in derSchweiz der gesamte Grenzschutz ein. Fürdie Aargauer Grenze betraf dies dieGrenzbrigade 5. Die eingezogenen 4800Mann hatten den Aufmarsch der 5. Divi­sion zu decken. Tags darauf wählte dieBundesversammlung den WaadtländerKorp kommandanten Henri Guisan zumGeneral. Auf den 2. eptember erfolgtedie Mobilmachung der gesamten Armee.Am 4. September zählte die 5. Division,die unter anderem den aargauischenRaum abdeckte, 15200 Mann.

Herbst und Winter 1939/40 waren imZeitverhältnis von 2:1 mit Ausbildungund Stellungsbau ausgefüllt. Beides tatnot. Der Stabschef der 5. Division stelltenoch im Dezember 1939 in einem erstenBericht an die Armeeleitung fest, dass derAusbildungsstand der Soldaten «für dasGefecht nicht kriegsgenügend» sei. DieWehrbereitschaft war zwar bereits vorKriegsausbruch hoch, doch benötigte dieBeschaffung der Rüstungsgüter Zeit. AltRegierungsrat Paul Hausherr meinterückblickend, dass wir «keinen vorneh­men Staat gemacht hätten», wenn es inden ersten Septembertagen 1939 zumkriegsmässigen Einsatz gekommen wäre.Zum Beispiel liess die Einsatzbereitschaftmehrerer Bunker an der Grenze zu wün­schen übrig, und ein Viertel der für dieGrenzbrigade 5 requirierten Lastwagenwar in einem Zustand, «dass eine Ver­wendung im Dienst zum vornherein nichtin Frage kam». Das Divisionshauptquar-

tier befand sich anfänglich im bequemen«Aarauerhof» in Aarau. Erst ein verirrtesdeutsches Flugzeug, das die Kantons­hauptstadt in geringer Höhe überflog, rüt­telte den sorglosen Divisionsstab auf, dernicht im Traum mit Luftüberfällen ge­rechnet hatte. Schliesslich richtete derStab sein Hauptquartier am StadtrandAaraus im Kantonsschülerheim ein.

Unmittelbare Gefahrund Rückzug ins Reduit

Am 10. Mai 1940 begannen die Deutschenan den Rheinbrücken Grenzsperren zu er­richten und schlossen die Übergängegänzlich. Der deutsche Überfall auf Hol­land, Belgien und Luxemburg, der demAngriff auf Frankreich vorausging, lösteam 11. Mai die zweite Generalmobilma­chung der Schweizer Armee aus. Sämtli­che Urlauber mussten wieder zur Truppezurückkehren. Man befürchtete nun stünd­lich einen deutschen Einfall im Fricktaloder unteren Aaretal. Am 12. Mai 1940 er­folgte für die nicht dienstleistende Bevölke­rung ein Aufrufzur Bildung von Ortsweh­ren. Aus den Grenzgegenden und den Bal­lungszentren Zürich und tla el begannenTeile der Bevölkerung panikartig RichtungInnerschweiz, Graubünden und West­schweiz zu fliehen. Über den Mutschellenergoss sich eine kaum abreissende Auto­schlange, «obenauf die Matratze und zu­oberst der Kanarienvogel». Bei den Zuhau­segebliebenen waren die Rucksäcke ge­packt und das «Leiterwägeli» vorbereitet.

Der deutsche Einmarsch erfolgtenicht. Am 22. Juni zwang Hitler Frank­reich zu einem erniedrigenden Waffen­stillstand, worauf General Guisan seinVerteidigungskonzept änderte. Er befahlim Sommer 1940 einen Grossteil der Ar­mee in eine alpine Verteidigungsstellung,in das Reduit. Die 5. Division zog sich inder zweiten Maihälfte 1941 in den Raumdes Vierwaldstättersees zwischen PiJatusund Seelisberg zurück. Einzig die Grenz­brigade blieb im Aargau. Für die mitGewaltmärschen in die Innerschweiz ver­setzten «Flachlandsoldaten» ergaben sicheinige Probleme. Zu Beginn fehlte eineGebirgsausrüstung ebenso wie die Erfah­rung im alpinen Gelände. Im Zusammen­hang mit dem Bezug des Reduits liess dieArmee im Mittelland gegen 200 Fabriken

Abb. /59Eugen Bircher (/882-/956):Wie ein Vater Heinrich schlugder Küttiger Eugen Bircher diemedizinische Laufbahn einund galt bald als einer derbesten Chirurgen der Schweiz.Parallel verlief eine steilemilitärische Karriere. Er warein kompetenter Truppen­führer, der sich für seine Sol­daten einsetzte. 1934 entschiedsich der zum OberstdivisionärBeförderte ganz für den Mili­tärberuf und gab seinen Direk­torenposten am KantonsspitalAarau auf. Der ehrgeizige Bir­cher profilierte ich früh alMilitärwi en chaftler undbemühte sich um die militä­rische Landesverteidigung.Weitsichtig sah er bereits 1924innerhalb der folgenden zehnbis zwanzig Jahre einen Kriegzwischen Italien/Deutschlandund Frankreich voraus. Eineunverhüllte Abgrenzung gegenLinksparteien und ultrakon­servative An ichten machtenihn höchst umstritten. SeineLoyalität wurde angesichtsseiner bis in die Zeit des ErstenWeltkriegs zurückreichendenDeutschfreundlichkeit ver­schiedentlich angezweifelt.Nach dem militärischen Ab­schied rückte er 1942 als er terErsatzmann der Bauemlistefür den verstorbenen RomanAbt in den ationalrat nach.Zeitlebens war der oft hemds­ärmlig argumentierende Hau­degen Eugen Bircher sehrpopulär. 1955 zog er sich,gesundheitlich angeschlagen,au der Politik zurück undstarb 1956 in Aarau.

für die Zer törung vorbereiten, damit sienicht unversehrt in Feindeshand fallenkonnten. Neun Anlagen befanden sich imAargau, darunter die Kern und die Spre­cher + Schuh in Aarau, die BBe in Badenund die Schweizeri che Spreng toff-Fa­brik in Dottikon.

Der Wehrwille war und blieb bei derMehrheit de Aargauervolk tark. Unver­kennbar löste jedoch der überwältigendeSiege zug der deut chen Armee im erstenHalbjahr 1940 Pessimi mus au . Diverse

Frontenbewegungen bekamen wiederAuftrieb. Im nachhinein erschien die soge­nannte «Eingabe der Zweihundert» vom15. November 1940 als Höhepunkt dersich wieder verstärkenden Anpassungs­bereitschaft. Diese von 173 Personen, dar­unter echs Aargauern, unterschriebenePetition an den Bundesrat forderte unteranderem die staatliche Gleichschaltungder Pre se und bezweckte zwischen denZeilen eine Angleichung an das DeutscheReich. Der Bunde rat erfüllte die Forde­rungen zwar nicht, äusserte ich aber inmündlichen Besprechungen den Bittstel-

lern gegenüber durchaus wohlwollend. Eskennzeichnet die Stimmung der Jahre1940/41, dass niemand trafrechtlicheoder politi che Sanktionen gegen die«Zweihundert» verlangte.

Unzweifelhaft neutralität widrig wardie im Oktober 1941 ge tartete Ärztemis-ion an die Ostfront. Ma geblich vom

Aargauer Divi ionär Eugen 8ircher geför­dert, teilte ein schweizeri che Komiteefür Hilf aktionen unter Billigung de Bun­desrat und des Generals ein Kontingentfreiwilliger chweizeri cher Ärzte zur me­dizini chen Betreuung verwundeter Solda­ten an der deut ch-russischen Front. Ärz­te, Schwe tern und Hilfspersonal leistetendrei Monate lang gute Arbeit, doch unter­standen ie - was die wenig ten wussten ­der Kommandogewalt der deut chenWehrmacht. Missionschef Bircher fieldurch deutschfreundliche Äusserungenauf, indem er beispielsweise im Anschlussan einen deutschen Propagandavortragbegeistert verlautbart haben oll: «Wirdanken Ihrem Führer, dass wir, dieSchweizer Ärztemission, teilnehmen dür­fen am Kampf gegen den Bolschewis­mus.» Der er ten Ärztemis ion folgtendrei weitere von ebenfalls je drei MonatenDauer. Die prodeut che Haltung Birchersbela tete ein Verhältnis zu General Gui-an stark. Die Beziehung zu einem un­

mittelbaren Vorgesetzten, Oberstkorps­kommandant Fritz Prisi, war ebenfallsgestört. Der weitere militärische Aufstiegwar damit verunmöglicht, um so mehr, alsBundesrat Rudolf Minger, ein einflussrei­cher Vertrauter Bircher , Ende 1940 alsVorsteher des Militärdepartements zu­rückgetreten war. Bircher legte 1942 dasDivisionskommando nieder und wandtesich der Politik zu.

Truppenalltag

Auf einer Länge von siebzig Kilometerntrennte nur der Rhein den Kanton vomDeutschen Reich. Viele Aargauer empfan­den daher die Zeit des Zweiten Weltkriegsunmittelbarer und bedrohender als diemeisten Bewohner anderer Kantone. Überden Rhein blickten die Grenztruppen inmögliches Feindesland und bekamenzwangsläufig die auf deutscher Seite überLaut precher verstärkten Hitler-Redenmit. Die den Fluss entlang patrouillieren-

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Abb. /60Soldatischer Galgenhumorange ichts de beschränktenUrlaub, im Mai 1940 bei Lau­fenburg. Die vielzitierte undbeschworene gute Kamerad­schaft und die Bejahung derNotwendigkeit, das eigeneLand zu verteidigen, war die inder Truppe vorherrschende,jedoch keine fall die jederzeitund überall gültige Stimmung.Häufig empfanden Soldatenden Dien tal langweilig undstupid.

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Abb. /6/Beispiele von Soldatenbrief­marken. Der Verkauf erlöskam jeweil den Unterstüt­zungskassen der Einheiten zu­gute. Auf wenig Gegenliebebei höheren militäri chenStellen tie in diesemFall der unverblümte Text«D'Schnörre halte», derseinen Ur prung in dersaloppen Sprache von Divi-ionskommandant Eugen

Bircher hatte. Für die neueAunage der Marke mu tedas al an tö ig empfundeneWort abgeändert werden.

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den deutschen Soldaten hinterliessen einenstärkeren Eindruck als dürre Pre semel­dungen über die Deut che Wehrmacht, diesi 11 1:II1M:lIickle, die WeIL lu efObclll. Abg ­hörte deutsche Sender lösten durch ihre un­aufbörlichen Siegesmeldungen gleicher­massen Furcht wie Bewunderung aus. DieNervosität diesseits der Grenze war gross.Helm- statt wie üblicherweise mützentra­gende deutsche Soldaten gaben bereits zuschlimmsten Befürchtungen Anlass, undAuspuffexplo ionen deutscher Lastwagenversetzten die hiesigen Wachtposten inhelle Aufregung.

Der Zwangsaufenthalt in den engen,schlecht durchlüfteten Bunkern führte beietlichen Soldaten zum Koller. Die hygie­nischen Bedingungen waren misslich. ImJanuar 1940 lag infolge einer Grippeepide-

mie jeder zwanzigste Mann der 5. Divisionim Krankenzimmer. Chronische Übermü­dung war die Folge des verhassten Wache­sl.:hiebens und der langen Prasenzzeilen.Hoffnungen auf einen kurzen Krieg erfüll­ten sich nicht, wa zu ätzlich an den Ner­ven zerrte. Die lange Trennung von zuHause brachte vielen Wehrmännern per­sönliche und berufliche Schwierigkeiten.

Viele Kommandanten aller Stufen er­kannten durchaus die Probleme, die sichim Dienst stellten, und versuchten, dieSoldaten durch staatsbürgerliche Vorträ­ge, Filme, Theateraufführungen und Mu­sikvorträge zu motivieren und etwas Ab­wechslung in den Truppenalltag zu brin­gen. Während dreieinhalb Monaten er­schien täglich die beliebte «Grenzschutz­zeitung der 5. Divi ion», bis man sie hö­heren Ort im Hinblick auf die Schaffungder offiziellen Armeezeitung «SchweizerSoldat» untersagte.

Die auf den I. Januar 1940 eingeführteLohnausfallentschädigung, welche Staat,Arbeitgeber und -nehmer zu je einemDrittel bestritten, vermochte schwere fi­nanzielle Engpässe zu lindern und teiltegegenüber dem Er ten Weltkrieg einenbedeutenden Fort chritt dar, der sozialeKonflikte wie den Landes treik zu ver­meiden half.

Anbauschlacll/: Schlagwortfür die bedeutende Vergrö se­rung der Anbaufläche und dieinten ivierte Nutzung deBodens zwischen 1939 und1945 mit dem Ziel, die Land­wirtschaft erträge we entliehzu erhöhen und die Schweizvom Ausland unabhängig zumachen. Das Vorhaben deMehranbau bedeutete denWech el von der Markt- zurPlanwirtschaft. Jeder Land­wirt erhielt verpflichtende Vor­gaben, wa und wieviel eranzubauen habe und wievieler von einer Produktion fürich behalten könne. Der Plan

war von rfolg gekrönt, auchwenn nicht alle ehrgeizigenVorgaben eingehalten werdenkonnten.

Episoden und Erinnerungen

Die Kriegszeit prägte die Generation, die jahrelang im militärischen Einsatz stand,we entlieh. Bis heute erzählen viele Veteranen gerne aus ihrer Aktivdienstzeit.

eben nachdenklich stimmenden Episoden sind viele anekdotische und legen­denumwobene Erlebni e überliefert. In der Grenzregion spielten ich über dieRheinbrücken hinweg oft provokative Wortgefechte ab. Im Dezember 1939 warendie im Ausbau befindlichen Grenzbunker auf Schweizer Seite westlich von Lau­fenburg mit Sacktuchwänden gegen Sichtkontakt geschützt. Auf die PackJein­wand hatte ein Witzbold gekonnt einen rie igen E elskopf mit der typi ehen, in dieStirn fallenden Hitlerlocke gemalt. Deut ehe filmten diese für sie höchst anstössi­ge Dar teilung, die zu einem diplomatischen Nachspiel wegen «Führerbeleidi­gung» führte. Bern sah ich gezwungen, zu diesem Sachverhalt eine Untersuchunganzuordnen, die jedoch erwartungsgemäss keine Ergebnisse zeitigte.

An Weihnachten 1939 stellten Deutsche einen Eimer voll Kuhdreck «für dieKuh chweizer» auf die Mitte der Zurzacher Brücke. Diese antworteten mit einemKübel voll Butter mit der Widmung: «Un eren deutschen Freunden - jeder gibt,was er hat.» Aber auch ungezwungene und vertrauliche Kontakte ergaben sichüber den Rhein hinweg. Als ob kein Krieg herrschte, kam ein deutscher Grenz­wachtmeister fast täglich von Säckingen über die Rheinbrücke nach Stein, um hierKaffee einzukaufen oder ich einen Feierabendschoppen zu genehmigen.

Abb. /62Rodung arbeiten für die Ver­grö erung der Anbauflächeim Tägerhard zwischen Wü­renlo und Wellingen im Früh­jahr 1943. Links bcfindcl sichdie Bahnlinie Wellingen­Oerlikon, in der Bildmitte imHintergrund die KJus vonBaden. Die Bevölkerung decktsich mit Abfallholz ein. Diege amte Rodungsfläche für dieAnbau chlacht betrug im Aar­gau zwi ehen 1939 und 1945845 Hektaren.

Zwang zum MehranbauUm die Bevölkerung während der Kriegs­zeit ernähren zu können, entwickelte der

TH-Prore or und pätere Bunde ratFriedrich Traugott Wahlen den Plan zur«Anbauschlachl». An den Vorarbeiten,die bereits 1938 einsetzten, waren die bei­den Freiämter Agronomen Roman Abtund JosefKäppeli massgeblich beteiligt.

Die Anbauflächen konnten zwischen1939 und 1945 in sieben Etappen bedeu-

tend vergrö sert werden. Der Aargauübertraf sein Plansoll und lag mit einerFlächenzunahme von 113 Prozent deutlichüber dem chweizerischen Durchschnittvon 100 Prozent. Zum einen bra hten Ro­dungen und Meliorationen zusätzlichesKulturland. Ferner kamen viele Rasenflä­chen wie Sportplätze oder Parkanlagenunter den Pflug, so zum Beispiel derSchinznacher Golfplatz. 1939 machte dieAckerfläche im Aargau 23 Prozent desgesamten Kulturlandes aus, 1945 42 Pro­zent. Auch nichtlandwirtschaftliche Haus­halte trugen entscheidend zum Mehran­bau bei. Bereits 1941 deckte nahezu jedezweite Familie ihren Bedarf an Kartoffelnganz oder teilweise aus dem eigenen Gar­ten. Trotzdem wurden von September1939 bis Juni 1943 fortlaufend mehr Le­bensmittel rationiert, Brot und Milch zumBeispiel seit Oktober/ ovember 1942.Fisch, Wild, Obst, Kartoffeln und Gemüsewaren während der ganzen Kriegszeit kei­ner Beschränkung unterworfen. Aller­dings umgingen viele die bis ins letzte De­tail reglementierenden Vorschriften.Schwarzhandel sowie die Umgehung vonAbgabepflicht und Preisvor chriften wa·ren an der Tagesordnung. Jeder 23. Aar­gauer hatte sich zwischen 1939 und 1946wegen kriegswirtschaftlicher Vergehen zuverantworten.

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Fliichllinge: Die chweize­rische Flüchtling politik imZweiten Weltkrieg i t ein trau­rige Kapitel. Bi im Juli 1944galtendieau rassi chen Grün­den Verfolgten, etwa dieJuden, nicht al politi cheFlüchtlinge und wurden an derSchweizer Grenze in fünf tel­liger zahl zurückgewie en undausge chafft. Auch die aar-gaui che Regierung lie ichhäufig eher von finanziellenals von humanitären Erwä­gungen leiten und hielt mittel­10 e Flüchtlinge nach Mög­lichkeit vom Kanton gebietfern. Der Regierungsrat ver­merkte im Juli 1941 stolz:«Dadurch i te un gelungen,dem Kanton Au lagen zuersparen.»

Auch die Aussenwirtschaft verändertesich durch den Krieg zwangsläufig. DieSchweiz geriet wirtschaftlich immer stär­ker in Abhängigkeit von Deutschland undbezahlte materiell und ideell einen teurenPreis für die nationale Selbständigkeit.1941 musste die Eidgenossenschaft demDeut chen Reich zum Beispiel einen Kre­dit von 850 Millionen Franken gewähren.Es hiess, «die Schweizer arbeiten sechTage in der Woche für Hitler und betenam siebten für den Sieg der Alliierten».Man sah ich überdies gezwungen, in er­höhtem Ausrnass kriegswichtige Warennach Deutschland und Italien zu exportie­ren. Eine wichtige Rolle spielte in diesemZusammenhang das Potential des Ener­giekantons Aargau. Deut chland bezogaus diesem Raum bedeutende Mengen anele1ctri cher Energie für seine Kriegswirt­schaft. Nicht zufällig nahm das indeutsch-schweizerischer Gemei nschafts­produktion erstellte Rheinkraftwerk Re­kingen 1941, mitten im Krieg, seine Pro­duktion auf.

Kriegsendeund Säuberungswelle

Die Niederlage der Deutschen begannsich seit der alliierten Invasion vom 6. Juni1944 in der Normandie immer klarer abzu­zeichnen. Die schweizerische Armeefüh-

rung beorderte die Truppen aus dem Re­duit wieder in Vorland. Der Aargau warals Grenzland der Gefahr von unbeabsich­tigten alliierten Grenzverletzungen beson­ders ausgesetzt. Die schwersten Neutrali·tätsverletzungen ereigneten sich in denletzten Krieg monaten, als die alliierteLuftüberlegenheit dauernd zunahm. DieAarauer Bevölkerung erlebte beispiels­weise im ganzen Krieg 516 Fliegeralarme.Die alliierten Bombardierungen währendder letzten Krieg monate berührten unge­wollt chweizeri ches Gebiet. NamhafteSchäden beklagten etwa die DörferSchneisingen, Koblenz, Leuggern undFull-Reuenthal. Zu den spektakulär tenKriegszwi chenfällen gehörten ferner diebei Birmen torf, Würenlingen und Zuz­gen zwischen 1943 und 1945 abgestürztenalliierten Kampfflugzeuge.

Am 25. April 1945 erreichten dierheinaufwärts vorstossenden AlliiertenWaldshut. Knapp konnte verhindert wer­den, dass zurückweichende deutscheTruppen Brücken und Elektrizitätswerkeam Rhein sprengten. Unter Zusage desGrenzübertritt in die Schweiz liessen dieDeutschen von ihrem Vorhaben ab. Tau­sende von Men chen flohen in die en Ta­gen nochmals von orden her in den Aar­gau. Das in <Jen stillgelegten Gebau<Jender Saline Rheinfelden eingerichtete Auf­fanglager für geflohene Kriegsgefangeneund Fremdarbeiter beherbergte im April1945 zeitweise gegen 4000 Flüchtlinge aus

Abb.163Krater in Koblenz nach einerirnümlichen Bombardierungdurch amerikanische Kampf­nugzeuge am 16. Februar 1945.III be chädigte und ein kom­plett zerstörtes Gebäude wa­ren die Bilanz in der vomKrieg am stärksten betrof­fenen aargauischen Ortschaft.Legendär wurde SoldatOe chger, der auf der Latrineim Begriff war, sein Ge chäftzu verrichten, als in unmittel­barer ähe eine Bombe ein­schlug und das Latrinenhült­chen wegfegte. Unverletzt undin unveränderter Po ition soller sich plötzlich im Freienbefunden haben.

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20 Nationen. Ende Mai 1945 waren noch2602 Militärangehörige im Aargau inter­niert, vorwiegend Deutsche, Italiener,Russen und Österreicher.

Nach fast sechs Jahren schwiegen inEuropa die Waffen. Die offizielle Kapitu­lation der Wehrmacht des Dritten Reichstrat am 9. Mai 1945 in Kraft. Am Vorabendläuteten im ganzen Land um 20 Uhr eineViertel tunde lang die Kirchenglocken. DieAargauer Bevölkerung beging diesen Tag«würdig, voU Freude und doch wiederernst» (<<Aargauer Volksblatt»). «Immerwieder war zu vernehmen, dass e einemnicht so recht um 'Festen' ei - derKriegsdruck hat sich, was angesichts derungeheuren Not begreiflich ist, noch nichtvon den Seelen gelöst» (<<Aargauer Tag­blatt»). Im ganzen Kanton fanden Dank­gottesdienste statt. Anfang September1945, nach dem Abwurf der ersten beidenamerikanischen Atombomben über denjapanischen Städten Hiroshima und Na­gasaki, ging der Zweite Weltkrieg definitivzu Ende.

Nach dem Schwinden des aussenpoli­tischen Drucks wurde der Wun ch wach,mit nazifreundlichen Per onen und Orga­ni ationen in der Schweiz abzurechnen.

Bundesrat, Regierungsrat und kantonaleFremdenpolizei verfügten zwi chen Maiund Dezember 194561 Ausweisungen ausdem Aargau. Typisch für die Nachkriegs­stimmung und für die spät einsetzendeJagd nach Sündenböcken ist der Fall desAargauer Staatsarchivars und Kantons­bibliothekar Hektor Ammann, der unteranderem al Erstunterzeichner und Mitini­tiant der «Eingabe der Zweihundert» undal offiziö er Gesprächspartner von deut­schen, nationalsozialistischen Stellen imUrteil der Zeitgenossen eine unverhältnis­mässig deutschfreundliche Gesinnungbewiesen hatte. Der vom Parlament unter-tützte Regierungsrat entliess den Staats­

archivar auf den I. September 1946. Am­mann rief jedoch mit einer staatsrecht­lichen Beschwerde das Bundesgericht anund erzielte 1949 einen «Sieg nach Punk­ten». Der aargauische Staat musste ihn fürdie Zeit bis 1949 entlöhnen und ihm eineProzessentschädigung ausrichten. DasBundesgericht argumentierte, die HaltungAmmanns sei den aargauischen Behördenchon jahrelang bekannt gewesen, ohne

da ie de wegen etwa unternommenhätten.

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