Auf der Hohen Maas entflohen die Arbeiterfamilien Anfang ... · Ideengut von Michail Bakunin. Im...

Post on 18-Sep-2019

1 views 0 download

Transcript of Auf der Hohen Maas entflohen die Arbeiterfamilien Anfang ... · Ideengut von Michail Bakunin. Im...

MEININGEN SEITE 11SAMSTAG, 10. OKTOBER 2009

Auf der Hohen Maas entflohen die Arbeiterfamilien Anfang der 20er Jahre ihrem schweren Alltag. An der Bakuninhütte konnten sie ihre Freiheit genießen, aber sich auchGedanken über ein besseres Leben in einer freiheitlich-sozialistischen Gesellschaft machen. REPROS (2): WANDERVEREIN BAKUNINHÜTTE E.V.

MEININGEN. „Freies Land undfreie Hütte / Freier Geist undfreies Wort / Freie Menschen,freie Sitte / zieht mich stetszu diesem Ort.“ DieserSpruch, der einst an derBakuninhütte auf der HohenMaas prangte, lässt die histo-rische Bedeutung dieses Ob-jektes erahnen. Der Wander-verein Bakuninhütte e.V. hatsich daher zur Aufgabe ge-stellt, nicht nur das Haus ansich, sondern auch dessenwechselvolle Geschichte fürdie Nachwelt zu erhalten.

Der Ort hat etwas Geheimnis-volles. Geschichten ranken sichum ihn. Von einem Geheim-bund wird erzählt, der sich dortfrüher getroffen hat und heutewieder aktiv sein soll. Statt vonder Bakuninhütte wird von somanchem aber auch von der Pa-ganinihütte gesprochen …

Enrico Knorr, Vorstandsmit-glied des 2006 gegründetenWandervereins Bakuninhütte,weiß darum und kann nurschmunzeln, wenn er mit sol-chen Gerüchten konfrontiertwird. „Unser Ziel ist es auch, dieGeschichte der Hütte zu erfor-schen. Es gibt schon eine ganzeReihe von Puzzleteilen, doch wirsuchen weitere, um diese einmalzusammenfügen und ein ge-schlossenes Bild erhalten zu kön-nen.“ Antrieb dafür ist die Tat-sache, dass die Bakuninhütteeben keine normale Schutzhütteist, von denen es andere imgroßen LandschaftsschutzgebietHohe Maas gibt. „Wir betrach-ten die Hütte als kulturhistori-sches Denkmal, das auch heuteüberregionale Bedeutung hat.“

Überregionale Bedeutung?Also doch ein Geheimbund?Natürlich nicht. Die Geschichte,die Enrico Knorr erzählen kann,ist interessant. „Anfang der 20erJahre wurde hier von hungern-den Arbeitern eine Selbstversor-gungsfläche geschaffen. Das warder Beginn.“ Die Arbeiter pach-teten beziehungsweise erwarbendas Land. Man traf sich dort zurFeldarbeit, aber auch zum freienGedankenaustausch, zum freienLeben, etwas entfernt vom har-ten Alltag im Meiningen, in denlängst nicht für alle „goldenen20er Jahren“.

Viele FAUD-MitgliederEs entstand ein „Siedlungs-

verein für gegenseitige Hilfe“,dessen Mitglieder zum Teil derFAUD (Freie Arbeiter UnionDeutschlands), der wichtigstenMassenorganisation des deut-

schen Anarchosyndikalismus,angehörten. Auf den Prinzipienvon Selbstbestimmung, Selbst-organisation und Solidarität ver-folgte man das große revolu-tionäre Ziel, den Staat und denKapitalismus durch die Über-nahme der Produktionsmittel ingewerkschaftlicher Selbstorgani-sation zu überwinden. So erklärtsich auch der Name der Hütte.Michail Bakunin war Mitbe-gründer und erster Organisatorder anarchosyndikalistischenMassenbewegung, also des frei-heitlichen Sozialismus.

Erst ein Steinwall„Ganze Familien fanden hier

auf dieser Basis zusammen“, er-klärt Enrico Knorr und verweistauf historische Bilder. Eines zeigtden Ursprung der Bakuninhütte– ein überdachter Steinwall, derbei schlechtem Wetter Schutzbot. Selbst im Winter wurde die-ser genutzt, wenn sich die Ver-einsmitglieder zum Skifahrenauf der Hohen Maas trafen. Ab1925 entstand aus diesem be-scheidenen Unterstand ein mas-sives Haus, das nach 1928 zu ei-nem wichtigen Treffpunkt deut-scher Anarchisten und Anar-chosyndikalisten wurde. Über-regionale Veranstaltungen, Se-minare, Feste und Zeltlager fan-den in und an der Bakuninhüttestatt. In diese Zeit fallen die Be-suche des Publizisten Erich Müh-sam in der Bakuninhütte, derAnfang der 30er Jahre Mitglied

der FAUD wurde und in dieserZeit zu den wichtigen Vorden-kern der Bewegung gehörte.„Wir haben zwei Ansichtskarten,die Erich Mühsam von hier ge-schrieben hat“, zeigt EnricoKnorr eine Kopie. Die Karte trägtdas Datum vom 9. Februar 1930.

Mit der gewachsenen Bedeu-tung wurde schnell klar, dass dieHütte erweitert werden muss.Der Verein startete daher etwa1930 eine Solidaritätskampagnefür den Um- und Ausbau. Einmodernes Gebäude sollte ent-stehen. „Mit einer sogenanntenBaufondskarte wurde für Spen-den geworben“, erklärt Knorr,der eine solche Postkarte als Re-plik präsentieren kann. Der heu-tige Wanderverein hat nach demhistorischen Vorbild eine neueKarte anfertigen lassen. Sie zei-gen neben Bakunin die alteHütte und die Vision der neuen.1932 begannen die Arbeiten, diejedoch nicht in vollem Umfangrealisiert werden konnten, da derSiedlungsverein nach der Mach-tergreifung der Nazionalsozialis-ten 1933 zwangsaufgelöst undenteignet wurde.

Wechselnde EigentümerDie Besitzer wechselten fortan

rasch. Da offenbar die „SS-Stan-darde 3/75 Meiningen“ und selt-samerweise auch die NSDAPMünchen mit dem Objekt we-nig anfangen konnten, wurde esan einen Ellingshäuser verkauft.Das lag nahe, da das Grundstück

damals wie heute zur Ellings-häuser Flur gehört. Der Mannbaute die Bakuninhütte zumWohnhaus um, hatte aber nichtlange Freude daran. 1945 ent-eignete ihn die sowjetische Mi-litäradministration.

Der Siedlungsverein hofftenach Kriegsende auf Rehabilitie-rung durch die neuen, sozialisti-schen Machthaber. „Das wurde1946 aber verweigert“, zitiertKnorr die Aktenlage. 1947 über-nahm die SED Meiningen dasZepter, wobei unbekannt ist, obund was die Sozialistische Ein-heitspartei damit anstellte, zu-mal sie sich keinesfalls in der Tra-dition Bakunins sah. Karl Marxbeschimpfte ihn ab 1868 nurnoch als „Intrigant“, „Vieh“ und„verdammten Moskoviter“. Mitso einem wollte man in der DDRnichts zu tun haben …

1953 fiel das Haus an die Ge-meinde Ellingshausen, zwischen1960 und 1970 gehörte es demEnergiekombinat Suhl, dem Ratdes Bezirkes (Abteilung Land-wirtschaft), zeitweise genutzt alsStation Junge Naturforscher, so-wie dem Rat der Stadt Meinin-gen (Abteilung Kultur). 1970kam das Ministerium des Innernder DDR in Verantwortung. Bis1989 blieb das Haus somit Be-standteil des Übungsgeländesder Meininger Bereitschaftspoli-zei.

Nach der Wende fiel das Ob-jekt in die Zuständigkeit desBundesvermögensamtes. Gleich-

zeitig nahm außerhalb von Mei-ningen das Interesse zu, Nach-forschungen zur Geschichte derBakuninhütte anzustellen. Einebesondere Rolle kommt dabeidem einstigen Hüttenwart FritzScherer zu. Er rettete unter an-derem das Hüttenbuch vor demZugriff der Nazis. So gelangte esnach Berlin, wo die Erinnerungan den Meininger Siedlungsver-ein in den letzten Jahren sozu-sagen „wachgeküsst“ wurde.

75 VereinsmitgliederZu denen, die sich dabei en-

gagierten, gehört auch der Berli-ner Enrico Knorr. 2005 kaufteder Verein Wander- und Natur-freunde Meiningen e.V. dieBakuninhütte mit mehrerenFlurstücken dem Bundesvermö-gensamt für nicht wenig Geldab. Im März 2006 kam es dannzur Gründung des Wanderver-eins Bakuninhütte e.V., dem in-zwischen 75 Mitglieder aller Al-tersgruppen angehören. „Mankann durchaus von einem über-regionalen Charakter des Vereinssprechen, da unsere Mitgliederaus gut 35 unterschiedlichenStädten oder Gemeinden stam-men.“ Viele haben den Bezug zuMeiningen oder aber Interessean der Geschichte und demIdeengut von Michail Bakunin.Im Verein praktiziere man dahergegenseitige Hilfe und Solida-rität. Diskriminierung ist einFremdwort und jeder engagiertsich nach seinen Fähigkeiten.Eine Ideologie wird aber nichtverfolgt, versichert Knorr.

„Neben dem Umweltschutzund dem Wandern ist es unserZiel, die Bakuninhütte gemäßihrem ursprünglichen Zweckwieder zu einem vitalen Treff-punkt für Wanderfreunde ausnah und fern zu machen. UnsereVision ist es, die Hütte mittelfri-stig zu bestimmten Terminen fürWanderer und Skifahrer zu öff-nen. Doch dafür braucht es Zeit,Geld und viel Kraft.“

Außerdem eigne sich dieBakuninhütte als lebendiges Ob-jekt der Wissensvermittlung. Im-merhin spiegelten die bisherigenForschungen die wechselvolleGeschichte des 20. Jahrhundertswider. „Wir haben natürlichgroßes Interesse, noch mehr zuerfahren“, so Knorr, der für hi-storische Informationen einespezielle E-Mail-Adresse einge-richtet hat:recherche@bakuninhuette.de

Verfall aufgehaltenDas Vorhaben des Vereins, die

Hütte wieder mit Leben zu er-

füllen, ist nicht nur theoretischerNatur. In den letzten Jahren istschon einiges getan worden, umden Verfall des historisch be-deutsamen Gebäudes aufzuhal-ten. Das Dach ist geflickt, dieDachentwässerung verbessert,marode Holzbalken teils schongewechselt. Erst im Sommer gabes wieder einen mehrtägigen Ar-beitseinsatz. „Wir sind auf einemguten Weg.“ Wer dabei helfenwill, ob mit Material, seinemFachwissen, Technik oder Spen-den, ist natürlich „herzlich will-kommen“.

Von der positiven Entwick-lung überzeugen konnten sichalle, die zum Tag des offenenDenkmals den Weg auf die HoheMaas nicht gescheut haben. Dortinformierten Vereinsmitgliederüber ihre Pläne, ließen sich über

die Schulter schauen und ge-währten Einblicke in ihre For-schungen. Auf dem Geländerund um die Hütte waren soauch bisher wenig bekannte Spu-ren des einstigen Siedlungsver-eins und seiner vielfältigen Ak-tivitäten zu entdecken. Darun-ter Reste zahlreicher Gedenkta-feln und Sitzgruppen, aber auchdas Fundament eines Karussells,dass ein Siedlungsvereins-Mit-glied in den 20er Jahren mit Ma-terialien aus dem Meininger Rawgefertigt hatte.

Nationale und lokale Ge-schichte zum Anfassen, mittenin einem wunderschönen StückNatur vor den Toren der Stadt –das sind gute Gründe, sich fürden Erhalt der Bakuninhütte zuengagieren.

RALPH W. MEYER

Freies Land und freie Hütte …Wanderverein Bakuninhütte sichert den Erhalt des einmaligen historischen Kleinods

Enrico Knorr zeigt auf die Pläne zur Sanierung der Bakuninhütte,die mittelfristig von den Vereinsmitgliedern in die Realität umge-setzt werden sollen. FOTOS: RALPH W. MEYER

Freizeitgestaltung an der Bakuninhütte: Das Kettenkarussell ent-stand im Raw. Noch heute ist das Fundament zu sehen.

Die Bakuninhütte heute. Der drohende Verfall wurde durch den Verein bereits gestoppt, doch bleibtnoch viel zu tun in der Zukunft. Jede Hilfe ist willkommen.

Michail Aleksandroviè

Bakunin

geboren am 30. Mai 1814,Premuchino (GouvernementTver), nordwestlich vonMoskaugestorben am 1. Juli 1876,Bern

Bakunin gehört zu den zen-tralen Figuren des libertärenSozialismus und kann als des-sen Mitbegründer und ersterOrganisator gelten. Mit Baku-nin entwickelt sich der Anar-chismus erstmals zur revolu-tionären Massenbewegung, inSpanien und Italien hält derSozialismus sogar insgesamtzuerst in Gestalt von BakuninsAnarchismus Einzug. In Russ-land wirkt Bakunin auf die ge-samte Generation der 70erJahre: Selbst G. Plechanowwar zu Beginn seiner Karriere„Bakunist“. Als Stammvaterdes Anarcho-Syndikalismus er-streckt sich sein Einfluss fernerauf Länder wie Frankreich(Syndikalismus vor dem ErstenWeltkrieg) und Deutschland(Anarcho-Syndikalismus in derWeimarer Republik).…Zum Teil erklärt sich dieseBreitenwirkung durch die Pio-nierrolle, die Bakunin vor demHintergrund der Auffäche-rung des Sozialismus in Sozial-demokratie, Kommunismusund Anarchismus in der zwei-ten Hälfte des 19. Jahrhun-derts zugefallen ist. Währendsich Kommunismus und Sozi-aldemokratie von Marx undEngels herleiten und in ihnenbeide staatssozialistischen An-sätze tatsächlich lautstarkeBegründer fanden, wäre dieantiautoritäre Spielart des So-zialismus ohne Bakunin viel-leicht von vornherein massen-

mäßig überrollt worden.Durch seine Ideen und seinemitreißende Tätigkeit hataber Bakunin der libertärenBewegung einen Platz gesi-chert und ihr den Weg geeb-net.…In diesem Sinne gehörenBakunins Ideen strömungsü-bergreifend dem gesamtenherrschaftslosen Sozialismusan, sie bilden sozusagen dasUrgestein antiautoritären Ge-dankengutes.…Überhaupt sind BakuninsBeiträge zur anarchistischenTheorieentwicklung langeZeit unterschätzt worden –vielleicht auch aufgrund desunsystematischen Stils seinerSchriften, die zwar gespicktsind mit außergewöhnlichenIdeen und Einsichten, aberzum Teil die richtigen Propor-tionen vermissen lassen.…Bakunins Anarchismus könn-te, auf einen Begriff gebracht,als radikaler, emanzipatori-scher Humanismus bezeichnetwerden.

Quelle: „Wolfgang EckhardtMichail Aleksandroviè Bakun-in. Ein biographischerÜberblick“http://www.bakunin.de

WER WAR BAKUNIN?

Im Innern der Bakuninhütte hat sich schon eine Menge getan. Das linke Bild zeigt den unteren Raum, der Wanderern auch in Zukunft Schutz bieten soll. Rechts ein Blick indas Obergeschoss. Dort wurden bereits viele verfaulte Balken ausgetauscht.