Post on 05-Sep-2019
„Was bedeutet Evidenzbasierung
in der Therapie- und
Versorgungsforschung“
Dr. med. Anne Berghöfer Ärztliches Qualitätsmanagement
Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie
und Gesundheitsökonomie
http://epidemiologie.charite.de
Agenda
• Was ist Evidenzbasierung?
• Warum wird EbM / werden Leitlinien von Versorgern
wenig im klinischen Alltag verwendet?
• Was sind die Limitationen von EbM?
• Welche Auswege gibt es?
Agenda
• Was ist Evidenzbasierung?
• Warum wird EbM / werden Leitlinien von Versorgern
wenig im klinischen Alltag verwendet?
• Was sind die Limitationen von EbM?
• Welche Auswege gibt es?
Evidenzhierarchie
Grad Evidenz aufgrund:
1a Meta-Analyse von randomisierten, kontrollierten Studien
1b Mindestens eine gutangelegte randomisierte, kontrollierte Studie
2a Meta-Analyse von Kohortenstudien
2b Mindestens eine gut angelegte, nicht-randomisierte kontrollierte Studie, oder ein weniger guter RCT
2c Mindestens eine gutangelegte, nicht-randomisierte und nicht-kontrollierte Studie (z.B. Kohortenstudie)
3 Mindestens eine gut angelegte, deskriptive Studien, wie Fall-Kontroll-Studie
4 Fallserien, schlechte Kohorten und Fall-Kontrollstudien
5 Expertenmeinungen
Oxford Centre for Evidence-based Medicine Levels of Evidence (May 2001)
Evidenzhierarchie
1 ++ Randomisierte kontrollierte Studie (RCT) oder Meta-Analyse / systematische
Übersichtsarbeit von RCTs
- von hoher methodischer Qualität, mit einem geringen Risiko für Bias
1 + RCT oder Meta-Analyse / systematische Übersichtsarbeit von RCTs
mit einem geringen Risiko für Bias
1 - RCT oder Meta-Analyse / systematische Übersichtsarbeit von RCTs
mit einem erheblichen Risiko für Bias
2 ++ Fall-Kontroll-Studien oder Kohortenstudien:
- hochwertig,
- sehr geringes Risiko für Confounding oder Bias,
- große Wahrscheinlichkeit für Kausalität.
2 + Fall-Kontroll-Studien oder Kohortenstudien:
- gut durchgeführt,
- kleines Risiko für Confounding oder Bias,
- mittlere Wahrscheinlichkeit für Kausalität.
2 - Fall-Kontroll-Studien oder Kohortenstudien:
- hohes Risiko für Confounding oder Bias,
- hohes Risiko, dass die gefundenen Relationen nicht kausal bedingt sind.
3 Nicht analytische Studien, z.B. ohne Vergleichsgruppe wie Fallberichte / Fallserien
4 Expertenmeinung, Leitartikel, narratives Review im Prosastil
Scottish Intercollegiate Guidelines Network
Qualität von Evidenz
Interne Validität
„wird das gemessen, was gemessen werden soll?“
Externe Validität
„sind die Ergebnisse auf die Realität übertragbar?“
Was ist Bias?
zufällige Fehler systematische Fehler / Bias
Verzerrung des Studienergebnisses durch einen
systematischen Fehler
Was ist Confounding?
Beeinflussung des Studienergebnisses durch eine Störgröße
Therapie:
Qualifizierte
Entzugsbehandl.
Confounder
Ergebnis:
Alkoholabstinenz-
zeit
eigentliche
Frage
“begnadet
charismatische
Therapeuten”
Der “Gold Standard”
Randomisiert-kontrollierte Studie
(Randomized Controlled Trial, RCT)
Zeit
Selektion der
Teilnehmer
Randomisierung
Verblindung?
Placebo oder
Vergleichssubstanz
Studienabbrecher
(drop out)
Population
Gruppe 1
Gruppe 2
Therapieergebnis
Therapieergebnis
Intervention
Kontrolle
zufällig
zugeteilt
Bekannte und überraschende RCTs
• RCT zur OP bei Kniegelenksarthrose
Moseley JB, O’Malley K, Petersen NJ, et al. A controlled trial of arthroscopic
surgery for osteoarthritis of the knee. N Engl J Med. 2002;347:81-88.
Kirkley et al (2008)A Randomized Trial of Arthroscopic Surgery for Osteoarthritis
of the Knee N Engl J Med; 359:1097-1107
• RCT zu Hormonen bei postmenopausalen Frauen (WHI)
Writing Group for the Women's Health Initiative Investigators (2002). "Risks and
Benefits of Estrogen Plus Progestin in Healthy Postmenopausal Women: Principal
Results From the Women's Health Initiative Randomized Controlled Trial". JAMA
288 (3): 321–333.
9
RCT zur OP bei Kniegelenksarthrose
10
Moseley JB, O’Malley K, Petersen NJ, et al. A controlled trial of arthroscopic
surgery for osteoarthritis of the knee. N Engl J Med. 2002;347:81-88.
Agenda
• Was ist Evidenzbasierung?
• Warum wird EbM / werden Leitlinien von Versorgern
wenig im klinischen Alltag verwendet?
• Was sind die Limitationen von EbM?
• Welche Auswege gibt es?
Der Weg von der Leitlinie zum Patienten
Glasziou & Haynes. ACP 2005
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Häufige Kritik an Evidenzbasierter Medizin
• Zeitraubender „Kochbuch-Ansatz“, der Werte und
Wünsche von Patienten ignoriert
• Theoretisch-akademischer Ansatz, der sich nicht in
die klinische Anwendung übersetzen lässt
• Forschung an selektionierten Patientengruppen
• Ignorieren und Diskreditieren von klinischer
Erfahrung
Barrieren der Leitlinienanwendung
Cabana et al.JAMA 1999; 282:1458-1465
• Nicht informiert über Existenz der Leitlinie
• Keine Kenntnis der Leitlinie im Detail
• Nicht einverstanden mit Interpretation der Evidenz
und Generierung von Empfehlungen durch die
Entwickler
• Ablehnung, weil eigene Autonomie eingeschränkt
• Misstrauen, ob Leitlinie Behandlungsergebnis
verbessert
• Fehlende Motivation, langjährige Schemata zu
ändern
• Unvereinbarkeit mit Patientenpräferenzen
• Unvereinbarkeit mit gesundheitssystembedingten
finanziellen, zeitlichen, organisatorischen
Vorgaben
Information
Einstellung
Externe
Barrieren
Agenda
• Was ist Evidenzbasierung?
• Warum wird EbM / werden Leitlinien von Versorgern
wenig im klinischen Alltag verwendet?
• Was sind die Limitationen von EbM?
• Welche Auswege gibt es?
Unterschiede bei Selektion und Teilnahme
Nach: McKee M et al. BMJ 1999;319:312-315
Benefit
Potential
Nicht geeignet
Teilnehmer
Nichtteilnahme des
Zentrums/Doktors
Patient nicht zur
Teilnahme eingeladen
Patient lehnt
Teilnahme ab
Intervention A Intervention B
Adaptiert aus Kaptchuk, J Clin Epidemiol (2001)
Studienteilnahme als Placebo
Einschränkungen von RCTs
Einschränkungen von randomisierten kontrollierten
Arzneimittelstudien (RCTs) vor Marktzulassung:
Rogers‘ five „toos“
too few ca. 2000 Patienten in Phase III
too simple keine Komorbidität / Ko-Medikation
too median-aged keine Kinder, keine sehr Alten
too narrow exakt definierte Indikation
too brief zu kurze Behandlungsdauer
Rogers AS, In: Pharmacoepidemiology: An Introduction. Cincinnati, 1991.
Nachteile von RCTs in der Versorgung
• Externe Validität (= Übertragbarkeit auf den
Behandlungsalltag) häufig durch strenge Ein- und
Ausschlusskriterien sehr eingeschränkt!
• Randomisierung ist nicht immer möglich.
• Verblindung ist nicht immer möglich.
• Ethische Hindernisse.
• RCTs sind i.d.R. aufwändig und teuer.
Evidenzmenge unüberschaubar
Anzahl der in MEDLINE publizierter RCTs pro Jahr
Centre for Evidence-Based Medicine in Oxford, UK (CEBM)
1965
39
RCTs
2008: 26.017
RCTs
Krankenhausalltag:
Akute Aufnahmen in 24 Stunden:
18 Pat. mit 44 Diagnosen
3.679 Seiten nationale Leitlinien identifiziert
Lesedauer 122 Stunden Quelle: Allen D, Harkins K. Too much guidance? Lancet 2005
Jahr Publik. Med.
Journale
1954 17.000/Jahr 300
1979 2 Mio./Jahr 10.000
2001 6.000/Tag 24.000
EbM – ein Qualitätssiegel?
• Finanzierung der Studien durch Hersteller
• Definition von „krank“ / „behandlungsbedürftig“
• Entscheidung über Forschungsfragen
• Entscheidung über Endpunkte (Surrogatendpunkte)
• Über-Powern von Studien (Signifikanz kleiner
Unterschiede)
• Patientenselektion durch Ein-und
Ausschlusskriterien (Enrichment)
• Festlegung der Dosierungen von Studien-und
Kontrollmedikation
• Entscheidung über Publikation (Publikations-Bias)
Greenhalghet al. BMJ 2014
Publikationsbias
Stern BMJ 1997
Nachverfolgung von Studien über 10 Jahre, nachdem sie von der
Ethikkommission ein positives Votum bekamen:
Studien mit stat. sign.
Ergebnis (dicke
schwarze Linie):
15% nicht
veröffentlicht n. 10 J.
Studien ohne Effekt
(„Null“; dicke graue
Linie):
42% nicht
veröffentlicht
Beziehung zwischen Industriesponsoring und
Studienergebnis (8 Reviews über 1140 Originalartikel)
Bekelman et al. Scope and impact of financial conflicts of interest in biomedical research. JAMA 2003; 289(4):454-465
Quelle Studientyp Pro-Industrie-Ergebnis
Kein Pro-Industrie-
Ergebnis
Bias…
recall bias
reporting bias
measurement bias
interviewer bias
observer bias
detection bias
missing data bias sampling bias
non-respondent bias
giving consent bias
withdrawal bias lost to follow up bias
self referral bias
… usw. …
… usw. …
… usw. …
… usw. …
Outcome reporting bias: nur das
signifikante Teilergebnis wird berichtet
Language bias: englische
Publikationen werden bevorzugt,
haben höhere Reichweite in
Literaturdatenbanken
Time lag bias: Signifikant
positive Ergebnisse werden
am schnellsten publiziert
Karrierebias: Publikationen wichtig
für Drittmitteleinwerbung, Grundlage
für finanzielle Ausstattung (LOM)
Selektionsbias
Informationsbias
Externe Validität
Studien-
population
Grundgesamtheit
Gruppe A Gruppe B
Ergebnis
?
• Wie repräsentativ ist die
Stichprobe?
• Wie repräsentativ ist die
Untersuchungssituation?
• Kann ich die Studienergebnisse auf
den Versorgungsalltag übertragen?
• Frauen
• alte Patienten
• Multimorbide Patienten
• Therapieverfahren in
komplexen Therapiesettings
Agenda
• Was ist Evidenzbasierung?
• Warum wird EbM / werden Leitlinien von Versorgern
wenig im klinischen Alltag verwendet?
• Was sind die Limitationen von EbM?
• Welche Auswege gibt es?
Studientypen in der Medizin
Studientypen in der medizinischen Forschung. Röhrig et al. Dtsch Arztebl Int 2009; 106(15): 262–8
Längsschnitt-Beobachtungsstudien
Fall-Kontroll-
Studie
Kohorten-Studie
Nicht exponiert
Kontrollen
(nicht krank)
Studien- beginn
Beobachtungszeitraum
retrospektiv prospektiv
Nicht exponiert
Response
Non-response
Non-response
Therapie-verfahren
Kontrolle
Response
Fälle
(krank)
Exponiert (Risikofaktor)
Exponiert (Risikofaktor)
Randomisierte
kontrollierte Studie
Versorgungsstudie
Ziel Experimentell Naturalistisch
Design Wirksamkeit Wirkung
Patientenselektion Hoch Niedrig
Ärzteselektion Hoch Niedrig
Standardisierung Hoch Niedrig
Endpunkte Hart Weich
Primäre Relevanz Therapieprinzip Versorgung
Grundcharakteristika
RCT versus Versorgungsforschung
Willich SN, Dt. Ärztebl 2006;103(39):2006
Ergebnisse von
Beobachtungs-
studien und RCTs
Benson K, Hartz AJ.
N Engl J Med 2000;342:
1878-1886
Therapie 1 besser Therapie 2 besser
Der Weg zur „Medizin-basierten Evidenz“
Konzept der „comparative effectiveness research“
hierarchische vertikale Anordnung
von Studientypen der klassischen
Evidenzhierarchie
wertfreie Einordnung von Studien auf einem
horizontalen Kontinuum zwischen
• Experiment und Beobachtung
• engem und weit gefasstem
Patientenklientel
• hoher interner und hoher externer Validität
http://library.downstate.edu/EBM2/2100.htm Witt et al. Dt Ärzteblatt 2011
Strategien zur Überwindung der Limitationen
• Nutzer-konzentrierte Forschung
• unabhängige Forschungsfinanzierung
• Einbindung von Patientengruppen (z.B.
Selbsthilfegruppen, Beratungsgruppen,
Interessenvertretungen)
• „Übersetzen“ von Evidenz für Nutzer (Research
explained)
• breitere Forschungsagenda
Forschungsagenda verbreitern
• RCTs
• Pragmatische kontrollierte Studien
• große Kohortenstudien
• Qualitative Studien
• Sekundäranalysen von Routineleistungsdaten
• Untersuchung komplexer Versorgungskonzepte
Es geht auch umgekehrt –
Evidenzgenerierung alternativer Heilverfahren
Komplementärmedizin
Biologische Plausibilität/
Menschenbild
Randomisierte Studien
Versorgungsforschung
Klinische Praxis
Konventionelle
Medizin
Biologische Plausibilität/
Menschenbild
Randomisierte Studien
Versorgungsforschung
Klinische Praxis
Wie sollte EbM verstanden werden?
EbM
Forschung (beste aktuell
verfügbare externe
Evidenz)
Patient (Präferenz des
Patienten)
Klinik
(individuelle klinische
Expertise)
Zusammenfassung
• Randomisierte, kontrollierte Studien keine allein
ausreichende Basis für Versorgungsentscheidungen
• Studien in naturalistischem Setting, mit patientenzentrierten
Endpunkten erforderlich
• Evidenzgrad methodisch anspruchsvoller
Versorgungsforschung den RCTs vergleichbar
• Modernes Studienkonzepte:
– Pragmatische kontrollierte Studien (comparative effectiveness
research)
– Kombination unterschiedlicher Datenquellen (mixed method Ansatz)
• Methodisch hochwertige Studien auch für komplexe
Versorgungsmodelle