Begutachtung bei sozialrechtlichen Fragen; Expert opinion in social law;

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Originalarbeit

Forens Psychiatr Psychol Kriminol (2014) 8:17–25DOI 10.1007/s11757-013-0246-z

Zusammenfassung Sozialrechtliche Begutachtungen sind außerordentlich häufig. Dabei dient das psychiatrische Gut-achten dem Auftraggeber häufig als maßgebliche Grund-lage der Entscheidung über die beantragte Sozialleistung. Die Bedeutung der sozialrechtlichen Begutachtung für die Betroffenen und für die Gesellschaft ist erheblich, und der psychiatrische Sachverständige trägt eine hohe Verantwor-tung. Um dieser Verantwortung gerecht werden zu können, muss der psychiatrische Sachverständige über Experten-wissen sowohl bezüglich der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion seines Faches als auch die einzelnen Sozial-rechtsbereiche und ihre unterschiedlichen Probleme betref-fend verfügen. Im vorliegenden Beitrag werden Ablauf und Gestaltung der Begutachtung dargestellt. Das Problem der „zumutbaren Willensanspannung“ wird ebenso erörtert wie die Problematik vorgetäuschter Beschwerden. Die wich-tigsten sozialrechtlichen Bereiche werden skizziert.

Schlüsselwörter Sozialrechtliche Begutachtung · Untersuchungssituation · „Zumutbare Willensanspannung“ · Sozialrechtsbereiche

Expert opinion in social law

Abstract Expert opinions in social law are extraordinarily frequent. The expert opinion is the decisive basis for a de-cision whether a social benefit has to be granted. The im-portance of social legal assessment for those affected and for society in general is substantial and psychiatric experts carry a high responsibility for the expert opinions in social law. In order to be able to justify this responsibility, psychi-atric experts must possess expert knowledge with respect to the current scientific debate in the respective field as well as the individual fields of social law and the various problems associated with them. This article describes the examination and structure of expert opinions. The problem of the so-called critical examination of the will and the problem of malingering are discussed. The important fields in social law are described.

Keywords Assessment in social law · Investigation situation · Critical examination of the will · Social law fields

Einleitung

Sozialrechtliche Begutachtungen in der Bundesrepub-lik Deutschland sind außerordentlich häufig, da sich bei zahlreichen Ansprüchen der einzelnen sozialrechtlichen Bereiche medizinische, insbesondere psychiatrische Fra-gen ergeben. Daher benötigen die Auftraggeber in vielen Fällen die Unterstützung durch den psychiatrischen Sach-verständigen. Das psychiatrisch-sozialrechtliche Gutachten dient dem Auftraggeber oft als maßgebliche Grundlage für die Entscheidung über die beantragte Sozialleistung. Dies kommt in der Formulierung zum Ausdruck, Psychiater

Begutachtung bei sozialrechtlichen Fragen

Klaus Foerster · Harald Dressing

Prof. Dr. med. K. Foerster () Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Calwerstraße 14, 72076 Tübingen, DeutschlandE-Mail: klaus.foerster@med.uni-tuebingen.de

Prof. Dr. med. H. Dressing Zentralinstitute für Seelischen Gesundheit J 5, 68159 Mannheim, Deutschland

Eingegangen: 10. Oktober 2013 / Angenommen: 8. November 2013 / Online publiziert: 13. Dezember 2013© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

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seien „Türsteher vor den Töpfen des Sozialstaats“ [15]. Die erhebliche Bedeutung der sozialrechtlichen Begutachtung für die Betroffenen und für die Gesellschaft wird damit offenkundig, sodass der psychiatrische Sachverständige bei der sozialrechtlichen Begutachtung stets eine hohe Verant-wortung trägt. Um dieser gerecht werden zu können, muss vom ihm verlangt werden, dass er sowohl auf der Höhe der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion seines Faches ist als auch dass er über die einzelnen Sozialrechtsbereiche mit ihren unterschiedlichen Fragestellungen, ihrer unterschied-lichen Terminologie und ihren entsprechenden Begrifflich-keiten Bescheid weiß. Der psychiatrische Sachverständige sollte in der Lage sein, die einzelnen Sozialrechtsbereiche und ihre spezifischen Probleme auseinanderzuhalten, d. h., er muss stets wissen, in welchem sozialrechtlichen Gebiet er sich bei der jeweils konkreten Begutachtung „bewegt“. Dabei können sich für ihn Fragen in den folgenden Sozial-rechtsbereichen ergeben (ausführlich: [11]):

● Grundsicherung für Arbeitssuchende [Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II)],

● Arbeitsförderung (SGB III), ● gesetzliche Krankenversicherung (SGB IV), ● gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI), ● gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII), ● gesetzliche Pflegeversicherung (SGB XI), ● Rehabilitation und Teilhabe von behinderten Menschen

(SGB IX, Teil 1), ● Schwerbehindertenrecht (SGB IX, Teil 2), ● soziales Entschädigungsrecht [Bundesversorgungsge-

setz (BVG), Soldatenversorgungsgesetz (SVG), Opfer-entschädigungsgesetz (OEG), SGB XII].

Aufgrund der Vielzahl der Rechtsgebiete können die ebenso unterschiedlichen Fragestellungen problematisch sein. Gleiches gilt für die unterschiedliche Terminologie und teil-weise unterschiedliche Definitionen (ausführlich hierzu: [16]).

Vorbereitung der Begutachtung

Nach Auftragseingang sollte der Sachverständige klären, ob er für die gutachtliche Fragestellung fachlich kompetent ist. Ebenfalls sollte er sich vorab darüber im Klaren werden, ob die gutachtliche Fragestellung klar formuliert ist. Ist dies nicht der Fall, sollte er sich nicht scheuen, mit dem Auftrag-geber Rücksprache zu nehmen. Vor der Begutachtung ist zu entscheiden, ob ein Dolmetscher benötigt wird und ob mög-licherweise Zusatzuntersuchungen oder Zusatzgutachten erforderlich werden könnten. Schließlich sollte der Sach-verständige den Aufwand in etwa abschätzen, um für sich festlegen zu können, ob er in der Lage ist, die Begutachtung in einem adäquaten zeitlichen Rahmen durchzuführen.

Zur Vorbereitung des Gutachtens zählt auch die Anferti-gung eines Aktenauszugs. Gelegentlich weisen Gerichte im Auftrag darauf hin, dass auf eine Wiedergabe der Aktenlage verzichtet werden solle. Dies erscheint jedoch nicht sach-gerecht. Der Sachverständige muss selbstverständlich wis-sen, um was es im Detail geht; er muss darüber informiert sein, welche Vorgutachten ggf. vorliegen und wie der Stand des Verfahrens ist. Diese Kenntnis kann in einem knap-pen Aktenauszug dargestellt werden, sodass der Leser des Gutachtens weiß, von welchen Anknüpfungstatsachen der Sachverständige ausgeht.

Gar nicht so selten kommt es vor, dass eine sozialme-dizinische Aktenlage unübersichtlich ist und zunächst auf-gearbeitet werden muss. Ob der Sachverständige bereits vor dem ersten Gespräch die Akten detailliert liest oder sich zunächst einen orientierenden Überblick verschafft, ist eine Frage des persönlichen Stils. Vor Abschluss der Exploration muss der Sachverständige die Akten allerdings vollständig durchgearbeitet haben [8].

Durchführung der Untersuchung

Wie bei allen Begutachtungen ist auch bei der sozialrecht-lichen Gutachterstattung das psychiatrische Gespräch Kern der Untersuchung. Eine orientierende körperliche und neuro-logische Untersuchung ist in der Regel Bestandteil auch der gutachtlichen psychiatrischen Untersuchung. Apparative Verfahren werden nur eingesetzt, wenn ihr Ergebnis für die gutachtliche Fragestellung relevant ist.

Vor Durchführung der Untersuchung muss der Sach-verständige sicherstellen, dass er hierfür genügend Zeit in einem ungestörten Raum hat. Es ist ein Unding, wenn der psychiatrische Sachverständige den Untersuchungsraum ständig verlässt, um zwischenzeitlich andere Aufgaben zu erfüllen.

Bezüglich des Zeitablaufs empfiehlt es sich, diesen zu dokumentieren, weil gelegentlich geltend gemacht wird, der Sachverständige habe sich lediglich „ein paar Minuten“ mit dem Probanden unterhalten. Ein hinzugezogener Dolmet-scher sollte vor Beginn der Untersuchung auf das Untersu-chungsgespräch vorbereitet werden. Trotz der Anwesenheit des Dolmetschers ist der Probanden direkt anzusprechen. Genügend Zeit und Geduld des Untersuchers sind selbst-verständlich. Zweckmäßig ist ggf. eine Nachbesprechung mit dem Dolmetscher.

Vor Beginn des gutachtlichen Gesprächs sollte sich der Sachverständige über die Identität des Probanden Gewiss-heit verschaffen, am besten durch Vorlage des Personalaus-weises oder des Passes.

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zu öffnen, wie dies im Rahmen einer gutachtlichen Situa-tion wünschenswert und zweckmäßig ist.

Kern der anamnestischen Exploration ist die Schilderung der psychischen und körperlich-funktionellen Beschwerden. Diese Schilderung sollte der psychiatrische Sachverstän-dige zunächst ohne Kommentar entgegennehmen. Völlig verfehlt wäre es, wenn der Sachverständige dem Probanden rückmelden würde, dass er seinen Angaben keinen Glauben schenkt, oder ihn verbal angreift.

Neben der Beschwerdeschilderung sollte immer die bis-herige Therapie im Detail erfragt werden. Dabei genügt es nicht zu wissen, ob der Proband irgendwann einmal bei einem Psychiater oder Psychotherapeuten in Behandlung war, sondern die ggf. stattfindende Behandlung ist im Detail zu explorieren.

In diesem Zusammenhang stellt sich zunehmend häufiger die Frage, ob eine Serumspiegelbestimmung von Medika-menten erforderlich ist, wenn der Proband angibt, regelmä-ßig psychotrope Medikamente einzunehmen.

Die Bestimmung von Serumspiegeln wird immer häufi-ger von den Auftraggebern verlangt. Falls ein Serumspie-gel gefunden wird, der nicht im therapeutischen Bereich liegt oder der sogar nicht nachweisbar ist, hat die gutacht-liche Bewertung dieses Befundes kritisch zu erfolgen [7]. Zum einen ist zu bedenken, ob ein Proband den „ultrarapid metabolizers“ zugehört. Deshalb empfiehlt Fabra (2012) genau nachzufragen, ob der Proband die psychotrope Subs-tanz regelmäßig und v. a. ob er sie am Morgen des Unter-suchungstags eingenommen habe. Wird dies verneint, ist der negative Serumspiegel nicht aussagefähig. Aus einer solchen Angabe eines Probanden ist jedoch die Schluss-folgerung zu ziehen, dass die erforderliche Medikamenten-einnahme offenbar nicht mit der nötigen Konsequenz und Regelmäßigkeit durchgeführt wird.

Wird vom Probanden jedoch angegeben, dass er das Medikament regelmäßig und auch noch in den letzten 18–24 h vor der Bestimmung eingenommen hat, und ist das Ergebnis dennoch ein nichtvorhandener Serumspiegel, kann nur gefolgert werden, dass die Angabe des Probanden unzutreffend ist. Damit wird ebenfalls die Beweiskraft der übrigen anamnestischen Angaben deutlich reduziert. Mög-licherweise darf auch der Schluss gezogen werden, dass der Proband einen geringeren Leidensdruck hat, als dies verbal geltend gemacht wird [7].

Bei den sozialrechtlichen Begutachtungen geht es häufig um die Einschätzung der Leistungsfähigkeit eines Proban-den mit der Frage, inwieweit sich Gesundheits- und Funk-tionsstörungen mit entsprechenden Folgerungen entwickelt haben. Dabei ist es ein prinzipieller Fehler, die ggf. zu stel-lende psychiatrische Diagnose und psychopathologische Symptomatik mit möglichen Funktionsstörungen gleichzu-setzen. Die Leistungsfähigkeit erschließt sich viel stärker aus der Alltagsschilderung des Probanden als aus einer evtl.

Anwesenheit dritter Personen

Gelegentlich wird von Probanden, Familienangehörigen, Betreuern oder Rechtsvertretern der Wunsch nach deren Anwesenheit geäußert. In solchen Fällen hat es sich bewährt, vorab zu klären, aus welchen Gründen dies gewünscht wird. Sollte hinter diesem Wunsch ein prinzipielles Misstrauen gegenüber dem Sachverständigen stehen, das auch durch Informationen und Belehrung nicht abgebaut werden kann, ist zu bedenken, ob eine sozialrechtliche Begutachtung überhaupt sinnvoll ist.

Grundsätzlich ist die Anwesenheit dritter Personen kon-traproduktiv. Gerade bei der sozialmedizinischen Begut-achtung, wenn es um die Alltagsgestaltung geht, können die Mitteilungen des Probanden durch die Anwesenheit drit-ter Personen erheblich verfälscht werden. Selbstverständ-lich kann vor oder nach der Exploration mit Angehörigen, Prozessvertretern oder juristischen Beiständen gesprochen werden; hierbei ist das Angebot eines Dreiergesprächs gemeinsam mit dem Probanden häufig hilfreich.

Falls auf der Anwesenheit dritter Personen beharrt wird, ohne dass hierin ein prinzipielles Misstrauen gegenüber dem Sachverständigen zum Ausdruck kommt, ist es eine Frage des persönlichen Stils des Sachverständigen, ob er damit einverstanden ist. Ist er damit einverstanden, ist jedoch vorab eindeutig sicherzustellen, dass die dritten Personen sich nicht in der unmittelbaren Gesprächssituation befinden und keinesfalls in das Gespräch eingreifen werden [10].

Gestaltung der Untersuchungssituation

Im Rahmen eines Vorgesprächs sollte der Proband zunächst über die Untersuchungssituation, die Fragestellung, den Ablauf der Untersuchung sowie die Position und die Stel-lung des Gutachters informiert werden. Hierzu gehört auch die Information über die Rechte des Probanden. In diesem Vorgespräch muss deutlich werden, dass der Sachverstän-dige sein Gutachten unparteiisch, nach bestem Wissen und Gewissen erstattet, d. h., der Sachverständige ist weder behandelnder Arzt des Probanden noch zusätzlicher Rechts-vertreter noch Beauftragter der Sozialleistungsträger oder des Gerichts.

Ist der Proband unsicher, ob er überhaupt an der Begut-achtung mitwirken sollte, kann die Untersuchung nach dem Vorgespräch unterbrochen werden, damit der Proband über-legen kann bzw. Zeit hat, um mit seinem Rechtsvertreter Rücksprache zu halten.

Der Sachverständige sollte stets bestrebt sein, in der Untersuchungssituation eine Atmosphäre zu schaffen, die es dem Probanden erlaubt, sich gegenüber dem ihm unbe-kannten Untersucher ohne Ängste und Misstrauen so weit

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● Liegt eine psychische Störung vor, ist die konkrete psy-chopathologische Symptomatik detailliert zu beschrei-ben und zu quantifizieren. Dabei genügt es keinesfalls, die vom Probanden geäußerten Beschwerden lediglich in psychiatrische Fachtermini zu übersetzen, sondern der Sachverständige muss einen präzisen, aussagekräftigen psychopathologischen Befund schildern. Fehlt in einem sozialrechtlichen Gutachten der psychopathologische Befund, ist dieses Gutachten wertlos. Der psychopatho-logische Befund darf keinesfalls mit anamnestischen Schilderungen vermischt werden – ein immer noch anzu-treffender Fehler.

● Liegt eine psychopathologische Symptomatik vor, ist zu prüfen, ob deswegen konkrete Beeinträchtigungen der Leistungsfähigkeit zu benennen sind. Hilfreich dabei ist die Berücksichtigung des Leitfadens „Begutachtung der beruflichen Leistungsfähigkeit bei psychischen und psy-chosomatischen Erkrankungen“ [14].

● Im letzten Schritt ist unter Berücksichtigung der Aus-prägung der psychopathologischen Symptomatik, des Krankheitsverlaufs und der Prognose darzustellen, wel-che konkreten Möglichkeiten dem Probanden gegeben sind, mit der Symptomatik umzugehen.

● Dabei stellt sich häufig die Frage, ob der Proband sogleich oder innerhalb eines gewissen Zeitraums allein oder mit ärztlicher Hilfe bei „zumutbarer Willensanspannung“ die bei ihm bestehenden Störungen überwinden kann.

Zum Problem der „zumutbaren Willensanspannung“

Diese Formulierung stammt aus einem Urteil des Bundesso-zialgerichts vom 01.07.1964 (BSG E21, 189), dessen Leit-satz lautet:

„Seelische Störungen – neurotische Hemmungen – die der Versicherte – auch bei zumutbarer Willensanspannung – aus eigener Kraft nicht überwinden kann, sind eine Krank-heit i. S. der gesetzlichen Rentenversicherung.“ Dabei wurde der Rentenanspruch außer von der Schwere der Störung von der Unüberwindbarkeit der Störung bei „zumutbarer Wil-lensanspannung“ aus eigener Kraft – zu ergänzen ist: oder mit ärztlicher Hilfe – abhängig gemacht. Nach Meinung des BSG ist eine Willensanspannung dann zumutbar, wenn diese ohne das gesundheitliche Risiko einer Verschlimme-rung möglich ist. Bei Berücksichtigung der genannten For-mulierungen dürften sich eigentlich keine Fälle ergeben, bei denen eine so verstandene Willensanspannung nicht zumut-bar ist, zumal sich das damalige Urteil auf die Einschätzung von „Neurosen“ bezog. Ganz im Gegenteil ist davon auszu-gehen, dass eine Willensanspannung immer erforderlich und insofern auch zumutbar ist, um entsprechende psychische Störungen zu bessern. Selbstverständlich sind weder „Wil-

vorliegenden psychopathologischen Symptomatik. Bezüg-lich der Schilderung der Alltagsaktivitäten bzw. des Alltags-ablaufs ist der psychiatrische Sachverständige weitgehend auf die Schilderungen des Probanden angewiesen. Gele-gentlich kann hier eine Fremdanamnese hilfreich sein. Die Plausibilität ggf. eingeholter fremdanamnestischer Angaben ist genauso zu überprüfen wie die Plausibilität der Anga-ben des Probanden [13]. Der Sachverständige muss unbe-dingt beachten, dass er nicht befugt ist, ohne Rücksprache mit dem Auftraggeber eine Fremdanamnese durchzuführen, d. h., er sollte zuvor die Zustimmung des Auftraggebers und ggf. der Parteien einholen.

Prinzipiell ist festzuhalten, dass nach wie vor keine aus-reichend fundierten und evaluierten Methoden zu einer ein-deutigen Beurteilung der zeitlichen Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben zur Verfügung stehen. Noch immer ist unklar, ob hier die Anwendung der Internationalen Klassifika-tion der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (International Classification of Functioning, Disability and Health, ICF) der Weltgesundheitsorganisation eine Besse-rung der Einschätzung ermöglichen wird. Möglicherweise kann bei der Begutachtung das „Mini-ICF“ Anwendung fin-den [12].

Die anamnestische Exploration mit Erstellung des darauf fußenden psychopathologischen Befunds ist selbstverständ-lich Kernaufgabe des psychiatrischen Sachverständigen. Keinesfalls kann sie von diesem delegiert werden, etwa in dem Sinne, dass die Untersuchung, Erhebung der Anamnese und Befunderhebung durch einen Psychologen durchgeführt wird und sich der psychiatrische Sachverständige lediglich auf einen rudimentären körperlichen Befund konzentriert. Ein solches Vorgehen würde der Pflicht zur persönlichen Gutachtenerstattung diametral widersprechen.

Ablauf der Begutachtung

Für das konkrete Vorgehen des psychiatrischen Sachver-ständigen wird ein mehrschrittiger Ablauf vorgeschlagen [8]:

● Im ersten Schritt ist zu klären, ob überhaupt eine psycho-pathologische Symptomatik vorliegt, d. h., ob eine psy-chiatrische Diagnose gemäß den Klassifikationssystemen gestellt werden kann. Dabei ist vom Sachverständigen zu verlangen, dass er eine ggf. zu stellende Diagnose unter Berücksichtigung der International Statistical Classifica-tion of Diseases and Related Health Problems-10 (ICD-10) und des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-IV-TR) stellt.

● Kann eine Diagnose nicht gestellt werden, erübrigen sich weitere Ausführungen.

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● deutliche Diskrepanz zwischen der von der Person berichteten Belastung oder Behinderung und den objek-tiven Befunden;

● Mangel an Kooperation bei den diagnostischen Untersu-chungen und den verordneten Behandlungsmaßnahmen;

● Vorhandensein einer antisozialen Persönlichkeitsstörung.

Eine eindeutige Abgrenzung und präzise Definition der genannten Phänomene ist bislang nicht gelungen. Die bewusste Simulation stellt im Gegensatz zu einer Aggra-vation/Verdeutlichungstendenz ein qualitativ anderes Verhalten dar, während zwischen Aggravation und Ver-deutlichungstendenz ein quantitativer Unterschied besteht. Sowohl Verdeutlichung wie auch Aggravation kommen bei sozialmedizinischen Begutachtungen häufig vor. Sie sind als Phänomen zu beschreiben, ohne dass allein hieraus wei-tergehende Schlüsse gezogen werden dürfen. Simulation im Sinne bewusster vorgetäuschter Beschwerden kann in allen gutachtlichen Situationen auftreten. Phänomenologisch können die unterschiedlichsten Formen, Merkmale und Methoden zu beobachten sein. Alle psychischen Symptome und funktionellen körperlichen Beeinträchtigungen können vorgetäuscht werden [10].

Findet sich eine sehr krasse und plumpe Vortäuschung von Beschwerden, ist differenzialdiagnostisch auch an eine bislang nichterkannte gravierende psychopathologische Störung zu denken, etwa eine beginnende demenzielle Sym-ptomatik oder eine noch nicht erkannte ausgeprägte intel-lektuelle Minderbegabung.

Besteht der Verdacht auf die Vortäuschung von Beschwer-den, ist eine Kombination aus differenzierter, geduldiger Explorationstechnik an verschiedenen Untersuchungster-minen, ergänzt durch eine neuropsychologische Untersu-chung zur Beschwerdenvalidierung (s. unten) erforderlich. Grundsätzlich gilt dabei, dass es keinen „Test“, kein ein-zelnes eindeutiges diagnostisches Merkmal gibt (auch nicht geben kann), aufgrund dessen die Feststellung simulativen Verhaltens gänzlich und zweifelsfrei möglich wäre. Hier-bei handelt es sich keineswegs um eine neue Erkenntnis, sondern diese Problematik ist alt bekannt und wird in der professionellen psychiatrischen Begutachtung stets zentral berücksichtigt [5].

Aufgrund der Verhaltensbeobachtung und der Explora-tion lassen die folgenden Hinweise an Simulation denken [20]:

● Zwischen der Beschwerdeschilderung und dem Verhal-ten des Probanden in der Untersuchungssituation besteht eine auffällige Diskrepanz.

● Die subjektiv geschilderte Intensität der Beschwerden steht in einem Missverhältnis zur Vagheit der Angabe der einzelnen Symptome.

lensanspannung“ noch „Zumutbarkeit“ psychiatrische Dia-gnosen, sondern ausfüllungsbedürftige normative Begriffe.

Aus psychiatrischer Sicht geht es weniger um die Zumut-barkeit als um die Einschätzung der Motivation zu einer „Willensanspannung“ (Foerster 2009) [8]. Damit lässt sich die juristische Frage nach der „Willensanspannung“ im Sinne einer Motivationsprüfung für den psychiatrischen Sachverständigen in die ihm mögliche Beurteilung folgen-der Bereiche auflösen:

● Diagnose und Erfassung der konkreten psychopathologi-schen Symptomatik,

● Quantifizierung der Symptomatik, ● Erfassung konkreter Beeinträchtigungen aufgrund

der Störung, wobei diese Beeinträchtigungen für die Erwerbsfähigkeit relevant sein müssen,

● Beurteilung des Verlaufs mit Einschätzung der Prognose.

Der psychiatrische Sachverständige kann Angaben dazu machen, ob aufgrund einer psychopathologischen Sympto-matik die grundsätzliche Befähigung zu einer „Willensan-spannung“ beeinträchtigt oder möglicherweise aufgehoben ist [3].

Problem der vorgetäuschten Beschwerden

In der sozialrechtlichen Begutachtungssituation muss sich der Sachverständige stets mit dem Problem auseinander-setzen, ob die vorgetragenen körperlichen und/oder psychi-schen Symptome vorgetäuscht werden oder ob es sich um authentische Beschwerden handelt. Hierin liegt ein wesent-licher Unterschied zur klinischen Praxis, da üblicherweise davon ausgegangen wird, dass ein Mensch, der dem Arzt über Beschwerden berichtet, derartige Beschwerden auch hat.

Da auch die Sozialgerichte stets die Frage stellen, ob es sich um vorgetäuschte Beschwerden handelt, muss sich der Sachverständige mit dieser Frage immer auseinandersetzen. In diesem Zusammenhang muss detailliert geprüft werden, ob Simulation oder Aggravation vorliegt.

Aggravation bedeutet die bewusste verschlimmernde Darstellung einer tatsächlich vorhandenen Störung. Hierzu zählen auch Verdeutlichungstendenzen als der mehr oder weniger bewusste Versuch des Probanden, den Gutachter vom Vorliegen seiner Symptomatik zu überzeugen.

Simulation ist als bewusstes Vortäuschen einer krankhaf-ten Störung zu bestimmten klar erkennbaren Zwecken defi-niert. Gemäß DSM-IV-TR ist Simulation besonders dann zu vermuten, wenn eine Kombination der folgenden Merkmale auftritt:

● Die Symptomdarbietung steht in forensischem Kontext;

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die Feststellung einer Simulation oder auch nur ein Simu-lationsverdacht keineswegs allein mit dem Ergebnis eines Beschwerdenvalidierungstests begründet werden kann.

Prinzipiell ist Folgendes festzuhalten: Liegt das Ergebnis eines Beschwerdenvalidierungstests unterhalb der erwar-teten Norm, ist zunächst festzustellen, dass das „Anstren-gungsverhalten“ des Untersuchten nicht den Erwartungen entspricht. Die Zuordnung eines solchen Befunds ist dann in einem zweiten Schritt vom Gutachter im klinischen Gesamtkontext zu bewerten. Diese letztlich entscheidende Frage kann ein Beschwerdenvalidierungstest prinzipiell nicht beantworten [5, 6]. Somit ergeben sich für den Einsatz der Beschwerdenvalidierungstests im Wesentlichen 2 Indi-kationen [17]:

● Begutachtung kognitiver Störungen nach geltend gemachten Hirnschädigungen,

● Begutachtung anderer Beschwerdebilder, wenn zusätz-lich kognitive Beeinträchtigungen geltend gemacht werden.

Ausgewählte Sozialrechtsbereiche

Häufige Fragen an den psychiatrischen Sachverständigen ergeben sich in der gesetzlichen Rentenversicherung, der gesetzlichen Unfallversicherung, im Schwerbehinderten-recht und im sozialen Entschädigungsrecht. Daher werden die Hauptaspekte dieser Sozialrechtsbereiche nachfolgend diskutiert; für eine ausführliche Erörterung wird auf die ent-sprechenden Lehr- und Handbücher verwiesen.

Gesetzliche Rentenversicherung

Grundsätzlich ist der Versicherte für seine Einschränkun-gen beweispflichtig. Kann der Beweis zur Überzeugung des Sachverständigen bzw. des Rentenversicherungsträ-gers oder der Sozialgerichte nicht geführt werden, geht dies zulasten des Versicherten. So wurde durch das BSG vor wenigen Jahren nochmals ausführlich festgehalten, dass „für das tatsächliche Vorliegen von seelisch bedingten Stö-rungen, ihre Unüberwindbarkeit aus eigener Kraft und ihre Auswirkungen auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit … den Rentenbewerber die (objektive) Beweislast“ trifft (Az. B 5 RJ 48/03 R, Urteil vom 20.10.2004).

In der gesetzlichen Rentenversicherung ist zu beurtei-len, ob ein Proband aus gesundheitlichen Gründen noch mindestens 6 h täglich erwerbstätig sein kann. Ist dies nicht der Fall, erhält er Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung. Ursachen von verminderter Erwerbsfä-higkeit sind ausschließlich Krankheiten oder Behinderun-gen. Andere Ursachen, etwa fortgeschrittenes Lebensalter, fehlende Wettbewerbsfähigkeit, persönliche Gründe, feh-

● Angaben zum Krankheitsverlauf sind wenig oder gar nicht präzisierbar.

● Das Ausmaß der geschilderten Beschwerden steht nicht in Übereinstimmung mit einer entsprechenden Inan-spruchnahme therapeutischer Hilfe.

● Ungeachtet der Angabe schwerer subjektiver Beein-trächtigungen erweist sich das psychosoziale Funktions-niveau des Betroffenen bei der Alltagsbewältigung als intakt.

● Das Vorbringen der Klagen wirkt appellativ, demonstra-tiv oder theatralisch.

● Die Angaben des Probanden weichen von fremdanam-nestischen Informationen und der Aktenlage ab.

● In der Gegenübertragung kann die Empfindung des Unechten oder des Falschen stehen, gelegentlich auch das Gefühl des Gekränktseins oder des Zorns.

Wie sich aus den genannten Hinweisen ergibt, handelt es sich nicht um „harte“ Kriterien. Der Verdacht oder die Fest-stellung einer Simulation sollte stets auf eine möglichst breite und detaillierte Beurteilungsgrundlage gestützt wer-den. Eine einmalige Untersuchung reicht hierfür prinzipiell nicht aus.

Zur Verbreiterung der Beurteilungsgrundlage wurden in den letzten Jahren Beschwerdenvalidierungstests entwi-ckelt, um bei der Einschätzung von Simulation und Aggra-vation zu besseren Ergebnissen zu kommen.

Möglichkeiten und Grenzen von Beschwerdenvalidierungstests

Nahezu alle Beschwerdenvalidierungstests untersuchen kognitive Störungen, da diese Tests ursprünglich entwickelt wurden, um die Authentizität kognitiver Störungen nach Schädel-Hirn-Verletzungen zu überprüfen. Alle Tests beru-hen im Wesentlichen auf 3 Grundprinzipien:

● scheinbar schwere Aufgabe, ● leichte vs. schwere Aufgabe, ● Alternativwahlverfahren.

In der Regel werden diese Grundprinzipien in den unter-schiedlichen Tests, von denen eine große Zahl existiert, kombiniert [5].

Ein Grundproblem dieser Tests liegt in der Zielrichtung: Werden bei der psychiatrischen Begutachtung von den Probanden keine kognitiven Störungen geltend gemacht, können die Beschwerdenvalidierungstests keine ausrei-chende Aussage treffen. Nichthilfreich sind diese Tests bei Angabe von Schmerzen oder depressiven Symptomen. Dennoch ist es sinnvoll, auch in diesen Fällen ergänzend zur klinischen Untersuchung Beschwerdenvalidierungstests durchzuführen. Kritisch ist jedoch stets zu bedenken, dass

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Begutachtung bei sozialrechtlichen Fragen

● unbefriedigende Behandlungsergebnisse trotz konse-quent und lege artis durchgeführter Therapiemaßnah-men in unterschiedlichen ambulanten und stationären Settings,

● iatrogene Verstärkung/Schädigung.

Bei dieser Aufzählung handelt es sich ausdrücklich nicht um eine „Checkliste“, die lediglich abgehakt werden muss. Hiergegen sprechen sowohl die Komplexität jedes einzelnen Punkts als auch die vielfältigen Möglichkeiten des Einzel-falls. Die erwähnten Aspekte sollen als Raster dazu dienen, die häufig zahlreichen Variablen besser zu strukturieren.

Gesetzliche Unfallversicherung

Gutachtliche Fragestellen im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung beziehen sich meist auf das Vorliegen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) im Rahmen einer Verletztenrente. Die MdE ist abstrakter Natur, d. h., es wird nicht berücksichtigt, welchen Beruf oder welches Einkommen der Betroffene vor dem Unfall gehabt hat. Für die Einschätzung der MdE-Höhe ist allein das Ausmaß aus-schlaggebend, in dem die individuelle Erwerbsfähigkeit durch das Unfallereignis gemindert worden ist.

Bei seiner Beurteilung hat der psychiatrische Sachver-ständige grundsätzlich die sozialrechtliche Kausalitätslehre zugrunde zu legen. Kernbegriff der sozialrechtlichen Kau-salitätslehre ist die wesentliche Bedingung. Als Ursache im Rechtssinn werden solche Bedingungen angesehen, die am Eintritt des Gesundheitsschadens wesentlich mitgewirkt haben, d.h., es kommt nicht darauf an, ob der Unfall oder die Berufskrankheit generell geeignet ist, den Gesundheits-schaden zu bewirken. Es kommt darauf an, ob der Unfall eine „conditio sine qua non“ für den Eintritt des Gesund-heitsschadens gewesen ist [9].

Dabei müssen die Tatsachen, die der Beurteilung zugrunde liegen, im Rahmen des Vollbeweises nachgewie-sen werden. Unter einem Vollbeweis wird ein für das prak-tische Leben brauchbarer Grad an Gewissheit verstanden, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne diese gänzlich aus-zuschließen (§ 286 der Zivilprozessordnung, ZPO).

Bei im Vollbeweis nachgewiesenen Tatsachen bezüglich des Unfalls und des Gesundheitsschadens genügt für die Annahme eines Zusammenhangs sodann die Wahrschein-lichkeit. Wahrscheinlich ist ein Zusammenhang dann, wenn nach Abwägung aller Gesichtspunkte mehr für als gegen einen solchen Zusammenhang spricht. Eine solche Wahr-scheinlichkeit darf nur bejaht werden, wenn gesicherte Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft über die Ursächlichkeit bestimmter Einwirkungen für die Entste-hung des Gesundheitsschadens bestehen. Dabei genügt es, dass der Unfall eine wesentliche Teilursache für die Entste-hung des Gesundheitsschadens gebildet hat.

lende Arbeitsmöglichkeiten oder Schwierigkeiten bei der Arbeitsvermittlung können verminderte Erwerbsfähigkeit grundsätzlich nicht begründen. Die Entscheidung, ob ein Versicherter erwerbsgemindert ist, ist keine ärztliche Frage, sondern wird vom Rentenversicherungsträger bzw. im Streitfall von den Sozialgerichten getroffen. Der psychiatri-sche Sachverständige hat bei seiner Begutachtung ein posi-tives und negatives Leitbild zu erstellen.

Das positive Leistungsvermögen beschreibt die Fähig-keiten, über die der Betroffene unter Berücksichtigung ggf. festgestellter Funktionseinbußen noch verfügt. Das negative Leistungsvermögen umfasst die qualitativen Einschränkun-gen. Sowohl das positive als auch das negative Leistungs-bild müssen sich aus dem festgestellten Krankheitsbild und den konkret zu dokumentierenden Funktionsbeeinträchti-gungen herleiten lassen [1]. Dabei ergeben sich folgende konkrete Fragen an den Sachverständigen [1]:

● Welches Leistungsvermögen liegt in qualitativer Hin-sicht vor?

● Ist bei dem Probanden die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben quantitativ gemindert?

● Ist eine Besserung des Leistungsvermögens un wahr- schein lich?

● Kann eine Besserung innerhalb eines Dreijahreszeit-raums möglich scheinen: Sind genaue Angaben über die zu erwartende Dauer der Einschränkungen der Leis-tungsfähigkeit möglich?

● Kann die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben voraus-sichtlich durch Leistungen zur Teilhabe wesentlich gebessert oder eine Verschlechterung verhindert werden?

Die Hauptprobleme für den psychiatrischen Sachverständi-gen ergeben sich bei den somatoformen Störungen und den Angststörungen. Auch für diese Störungen gilt prinzipiell, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Dia-gnose, ggf. auch der psychopathologischen Symptomatik und der beruflichen Leistungsfähigkeit nicht besteht. Der Zusammenhang besteht vielmehr zwischen krankheitsbe-dingten Einschränkungen und dem beruflichen Leistungs-vermögen. Für die konkrete Einschätzung kann es hilfreich sein, folgende Aspekte zu beachten [8]:

● subjektive Einschätzung des Probanden, ● Alter des Probanden, ● Vorhandensein akzentuierter Persönlichkeitszüge, ● psychiatrische Komorbidität (Missbrauch psychotroper

Substanzen, Persönlichkeitsstörung, beginnende organi-sche psychische Störung),

● Verlust der sozialen Integration im Laufe der Erkrankung, ● hoher primärer oder sekundärer Krankheitsgewinn, ● chronifizierender Erkrankungsverlauf, ● progredienter Krankheitsverlauf,

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traumatischen Belastungsstörung [2, 4] zugeordnet werden. Diesbezüglich wird auf den Beitrag Dreßing und Foerster im vorliegenden Heft der Zeitschrift Forensische Psychiat-rie, Psychologie, Kriminologie verwiesen.

Schwerbehindertenrecht

Zentraler Begriff des Schwerbehindertenrechts ist der Grad der Behinderung (GdB). Dieser Begriff ist im Schwerbe-hindertenrecht eigenständig und strikt von der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) der gesetzlichen Unfallversi-cherung und des Grads der Schädigung (GdS) im sozialen Entschädigungsrecht zu unterscheiden [11]. Die GdB-Werte werden stets ohne den Zusatz „Prozent“ oder „v. H.“ ange-geben, d. h., es wird von einem „GdB von 50“ gesprochen. Es ist vom Sachverständigen zu verlangen, dass er diese for-malen Gegebenheiten korrekt anwendet.

Bei der Feststellung des GdB geht es um eine reine Zustandsbeurteilung, bei der Kausalitätsfragen keine Rolle spielen. Der GdB wird abstrakt gemäß den versorgungsme-dizinischen Grundsätzen im Rahmen der Versorgungsmedi-zin-Verordnung (VersMedV) gebildet, auf die bezüglich der Einzelheiten verwiesen wird.

Soziales Entschädigungsrecht

Zum sozialen Entschädigungsrecht zählen im Wesentlichen die folgenden Gesetze [11]:

● Das Bundesversorgungsgesetz (BVG) regelt die Ent-schädigung der Kriegsopfer.

● Das Soldatenversorgungsgesetz (SVG) regelt die Wehr-dienstbeschädigung von Wehrpflichtigen und Soldaten auf Zeit der Bundeswehr.

● Das Opferentschädigungsgesetz (OEG) regelt die Ent-schädigung der Opfer von Gewalttaten.

Als Schädigungsfolge anzuerkennen und zu entschädigen sind Gesundheitsschädigungen dann, wenn die schädigen-den Einwirkungen mit einer versorgungsrechtlich geschütz-ten Tätigkeit in einem inneren Zusammenhang stehen und zumindest eine wesentliche Teilursache für die Schädigung bilden. In Anwendung der sozialrechtlichen Kausalitäts-lehre gelten hier im Wesentlichen dieselben Grundsätze wie im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung (s. Abschn. „Gesetzliche Unfallversicherung“). Für die Bejahung eines rechtlich wesentlichen ursächlichen Zusammenhangs reicht es aus, dass die schädigenden Einwirkungen mit hinreichen-der Wahrscheinlichkeit eine wesentliche Teilursache für die Entstehung des Gesundheitsschadens bilden [11].

Die Bewertung erfolgt ebenfalls nach den in der Vers-MedV vorgegebenen Grundsätzen. Bezüglich der Einzel-heiten wird auf Foerster [8] verwiesen. Der Sachverständige schlägt abschließend für die einzelnen Störungen einen

Erst wenn im Rahmen der Kausalitätsbeurteilung ein Zusammenhang in diesem Sinne nachgewiesen oder zumin-dest wahrscheinlich gemacht ist, kann der Sachverständige zur Höhe der MdE Stellung nehmen.

Die größten Probleme werfen die psychoreaktiven Stö-rungen auf. Hier taucht immer wieder die Frage auf, ob möglicherweise unfallunabhängige Ursachen im Sinne einer Schadensanlage den Gesundheitsschaden überwiegend und damit rechtlich allein wesentlich verursacht haben, d. h., der Arbeitsunfall sei nur eine sog. Gelegenheitsursache gewe-sen [11].

Wird das Vorliegen einer unfallunabhängigen Ursa-che diskutiert, muss diese unfallunabhängige Ursache in einem ersten Schritt als Tatsache im Rahmen des Vollbe-weises nachgewiesen werden. Gerade bei psychoreaktiven Störungen dürfte es außerordentlich schwierig sein, einen solchen Nachweis im Sinne des Vollbeweises konkret und korrekt zu führen. Ist dies nicht möglich, kann sich nach der Rechtsprechung des BSG bezüglich des Gutachtens „erst gar nicht die Frage stellen“, ob die – möglicherweise ärztli-cherseits – angenommene unfallunabhängige Ursache über-haupt Ursache im Rechtssinn sein könnte [11].

Damit ergeben sich für den Sachverständigen folgende prinzipielle Schritte bei der Kausalitätsbeurteilung [8, 9, 19]:

● Lag überhaupt ein Arbeitsunfall bzw. eine Berufskrank-heit vor? Diese Frage ist vorab vom Auftraggeber zu klä-ren und dem Sachverständigen vorzugeben.

● Liegen psychopathologische Symptome vor, aufgrund derer eine psychiatrische Diagnose gemäß den interna-tionalen Klassifikationssystemen gestellt werden kann, wobei dies inzwischen auch von den Sozialgerichten verlangt wird. Kann keine Diagnose gestellt werden, erübrigt sich eine weitere Diskussion.

● Es ist zu klären, ob das äußere Ereignis aufgrund der medizinisch-wissenschaftlichen Erfahrungen überhaupt geeignet war, eine entsprechende psychische Störung zu bewirken. Existiert kein aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand zu der konkreten Fragestellung, kann in Abwägung verschiedener Auffassungen einer nicht nur vereinzelt vertretenen Anschauung gefolgt werden. Hieraus folgt, dass der Sachverständige grundsätzlich an die „herrschende Meinung“ gebunden ist, wovon er lediglich im Einzelfall und mit besonderer Begründung abweichen kann [11].

● Es ist zu klären, ob das äußere Ereignis mindestes mit Wahrscheinlichkeit eine wesentliche Teilursache für die Entstehung des Gesundheitsschadens war. Hierbei müs-sen die vorstehend geschilderten Voraussetzungen der sozialrechtlichen Kausalitätslehre unbedingt berücksich-tigt werden.

Im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung geht es häufig um die Einschätzung von Symptomen, die der post-

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Begutachtung bei sozialrechtlichen Fragen

4. Dreßing H, Meyer-Lindenberg H (2008) Simulation bei posttrau-matischer Belastungsstörung. Versicherungsmedizin 60:8–13

5. Dreßing H, Widder B, Foerster K (2010) Kritische Bestandsauf-nahme zum Einsatz von Beschwerdenvalidierungstests in der psy-chiatrischen Begutachtung. Versicherungsmedizin 62:163–168

6. Dreßing H, Foerster K, Widder B, Schneider F, Falkei P (2011) Zur Anwendung von Beschwerdenvalidierungstests in der psychiatri-schen Begutachtung. Nervenarzt 82:388–390

7. Fabra M (2012) Die Erhebung von Zusatzbefunden: körperliche Untersuchung, Serumspiegelbestimmungen von Medikamenten und apparative Zusatzuntersuchungen. In: Schneider W, Henning-sen P, Dohrenbusch R, Freyberger HJ, Irle H, Köllner V, Widder B (Hrsg) Begutachtung bei psychischen und psychosomatischen Er-krankungen. Huber, Bern

8. Foerster K (2009) Begutachtung bei sozialrechtlichen Fragen. In: Foerster K, Dreßing H (Hrsg) Venzlaff/Foerster: psychiatrische Begutachtung, 5. Aufl. Elsevier, München

9. Foerster K, Widder B (2011) Begutachtung psychischer Unfall-folgen. Nervenarzt 82:1557–1565

10. Foerster K, Winckler P (2009) Forensisch-psychiatrische Unter-suchung. In: Foerster K, Dreßing H (Hrsg) Venzlaff/Foerster: psy-chiatrische Begutachtung, 5. Aufl. Elsevier, München

11. Grüner B (2009) Rechtliche Grundlagen. In: Foerster K, Dreßing H (Hrsg) Venzlaff/Foerster: psychiatrische Begutachtung, 5. Aufl. Elsevier, München

12. Linden M, Baron S (2005) Das „Mini-ICE-Rating für psychische Störungen (Mini-ICF-P)“. Rehabilitation 44:144–151

13. Schneider W, Fabra M, Dohrenbusch R (2012) Diagnostische Me-thoden der Begutachtung. In: Schneider W, Henningsen P, Doh-renbusch R, Freyberger HJ, Irle H, Köllner V, Widder B (Hrsg) Begutachtung bei psychischen und psychosomatischen Erkran-kungen. Huber, Bern

14. Schneider W, Dohrenbusch R, Freyberger HJ, Gündel H, Hen-nigsen P, Köllner V, Barth J, Becker D, Kowalewsky S, Chickel S (2012) Manual zum Leitfaden „Begutachtung der beruflichen Leistungsfähigkeit bei psychischen und psychosomatischen Er-krankungen. In: Schneider W, Henningsen P, Dohrenbusch R, Freyberger HJ, Irle H, Köllner V, Widder B (Hrsg) Begutachtung bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen. Huber, Bern

15. Schomerus G, Spindler P, Bröker F (2005) Psychiater als Türsteher vor den Töpfen des Sozialstaats? Psychiatr Prax 32:161–162

16. Widder B (2011) Aufbau neurologischer Gutachten. In: Widder B, Gaidzik PW (Hrsg) Begutachtung in der Neurologie, 2. Aufl. Thie-me, Stuttgart

17. Widder B (2011) Beurteilung der Beschwerdenvalidität. In: Widder B, Gaidzik PW (Hrsg) Begutachtung in der Neurologie, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart

18. Widder B, Gaidzik PW (Hrsg) (2011) Begutachtung in der Neuro-logie, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart

19. Widder B, Berchthold J, Foerster K, Gaidzik PW, Henningsen P (2012) Standards der Begutachtung bei der Beurteilung der Kausa-litätsfragen: In Schneider W, Henningsen P, Dohrenbusch R, Frey-berger HJ, Irle H, Köllner V, Widder B (Hrsg) Begutachtung bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen. Huber, Bern

20. Winckler P, Foerster K (1996) Zum Problem der zumutbaren Wil-lensanspannung in der sozialrechtlichen Begutachtung. Med Sach-verstand 92:120–124

Grad der Schädigungsfolge (GdS) vor. Die endgültige Ent-scheidung hierüber obliegt wie stets dem Auftraggeber.

Zusammenfassung

Bei der abschließenden Wertung sind die folgenden Fragen zu beantworten [16]:

● Welche Gesundheitsstörungen liegen zur Überzeugung des Sachverständigen vor?

● Welche Funktionsstörungen bestehen zur Überzeugung des Sachverständigen?

● Bei Kausalitätsgutachten: Stehen die nachweisbaren Gesundheits- und Funktionsstörungen mit Wahrschein-lichkeit im Zusammenhang mit einem versicherten Ereignis?

● Können die nachweisbaren Gesundheits- und Funktions-störungen mit Wahrscheinlichkeit ganz oder z. T. willent-lich oder durch geeignete Therapie überwunden werden?

Die genannten Fragen müssen in transparenter, kriterien-orientierter und nachvollziehbarer Weise beantwortet werden.

Hierbei sollte der psychiatrische Sachverständige jedoch auch die Grenzen der Begutachtung bedenken: Nicht alle gutachtlichen Fragen und Probleme sind lösbar, und nicht alle Fragen, die von den Auftraggebern in häufig außer-ordentlich differenzierter Weise gestellt werden, sind vom psychiatrischen Sachverständigen mit der gewünschten Klarheit zu beantworten. Dies liegt allerdings nicht an der mangelnden Kompetenz der psychiatrischen Sachverständi-gen, sondern an der häufig hohen Komplexität und Schwie-rigkeit der zu bearbeitenden Probleme.

Interessenkonflikt K. Förster und H. Dreßing geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Literatur

1. Cibis W (2011) Begutachtungsanlass und Fragestellungen: In: Deutsche Rentenversicherung Bund (Hrsg) Sozialmedizinische Begutachtung für die Gesetzliche Rentenversicherung, 7. Aufl. Springer, Berlin

2. Dreßing H, Foerster K (2010) Begutachtung der posttraumati-schen Belastungsstörung. Fortschr Neurol Psychiatr 78:475–478

3. Dreßing H, Foerster K (2012) Das Problem der zumutbaren Wil-lensanspannung – aus medizinischer Sicht. Med Sachverstand 108:165–168