Post on 18-Oct-2020
Chaplin, der Philosoph | 55
Eingeweihte warteten also mit wachsender Span-
nung auf Chaplins außerhalb Deutschlands
hoch gelobte Filme. Chaplins nach wie vor noch
zeitlich ungewisser Auftritt in den deutschen Licht-
spielhäusern wurde aber kontinuierlich vorbereitet
auch durch die Wertschätzung von Künstlern, die ihm
1920 ihre Bewunderung öffentlich ausdrückten. Das
war freilich keine deutsche Besonderheit, sondern
ein Mosaikstein in der internationalen Bewunderung
Chaplins, die ihn im Laufe seiner Karriere wiederum
mit einer illustren Schar berühmter Künstler quer
durch die Literatur- und Geistesgeschichte verglichen
hatte: mit Aristophanes, Honoré de Balzac, Miguel des
Cervantes, Honoré Daumier, Charles Dickens, Fedor M.
Dostojewski, Michel Eyquem de Montaigne, Anatole
France, Maxim Gorki, Thomas Hardy, Homer, Rudyard
Kipling, Molière, François Rabelais, Marquis de Sade,
William Shakespeare, Jonathan Swift, Anton Tsche-
chow, François Villon, Voltaire und Antoine Watteau.
Oder war Chaplins Tramp auch der direkte Nachfahre
der Bühnenfigur Pierrot des französischen Pantomi-
men Jean-Gaspard Deburau?1 Die meisten Vergleiche
mögen bemüht wirken, aber an Molière, Shakespeare
und Dickens lässt sich schon denken. Das näher hier
zu untersuchen, würde allerdings den Rahmen der
deutschen Chaplin-Rezeption überschreiten.
Den literarischen Anfang der Chaplin-Bewunderung
in Deutschland dürfte der deutsch-französische
Dichter Iwan Goll [Isaac Lang] (Abb. 19) im Februar
1920 mit seinem Aufsatz «Apologie des Charlot» in
der Zeitschrift Die neue Schaubühne gemacht ha-
ben.2 Für Goll war Chaplin nichts weniger als ein Phi-
losoph, und er konnte seine Einschätzung im Gegen-
satz zu vielen anderen auf eine solide Basis stellen:
Er kannte Chaplin-Filme aus Paris. Um die Zeit, in der
Goll seine «Apologie des Charlot» verfasst hatte, lie-
fen Chaplin-Filme in nicht weniger als 35 Kinos der
französischen Hauptstadt.
Goll rief den Men-
schen der Nachkriegs-
zeit zu, es nütze ihnen
nichts, den Krieg zu
verdammen, um wieder
ein Gleichgewicht zu er-
langen; denn der Krieg
verdiene nicht mehr als
ignoriert zu werden. Für
das, was den Menschen
helfen könne, hatte Goll
ein Rezept:
«[…W]as der ganzen Ge-
ne ration unseres Zer-
falls fehlt, was sie allein retten könnte – ist […] ein
Narr, der euch lachen macht. Einer der es fertig bräch-
te, über Europa ein schallendes Meer von Lachen zu
wälzen.»
Den Narren hatte Goll ebenfalls parat:
«[…] Charlot, der dir von allen Kinowänden, von allen
Giebeln, Säulen und Neubaulatten entgegengrinst, in
der dümmsten Pose der Welt. Die Füße so platt und
stumpf wie zwei Bügeleisen, der Schnurrbart friseur-
haft-lechzend-himmelrein und eine so grundgütige
geistreiche Nase wie man sie dem Papst wünschen
möchte […] Er lächelt und grinst. […]
Um Gotteswillen, was soll man denn sonst tun als grin-
sen! Er ist der größte Philosoph um 1920, zweifellos.
Seine Weltanschauung baut nicht auf den Kartonku-
lissen auf, die uns heute noch tragen – Banken, Paläs-
te, Dancings – morgen in Schutt zerstieben, sondern
sie baut auf dem Nichts auf , das morgen sein wird.
Das ist in der Tat reeller. […]
Charlot ist der beste Mensch unserer Zeit. Er grinst
überhaupt nicht. Er stirbt vor lachender Verzweif-
lung.»
Die «Apologie des Charlot» kam nicht von ungefähr.
Goll hatte Chaplin nämlich bereits 1919 in Paris Le
Chapliniade ou Charlot poète [«Die Chapliniade oder
Charlot als Dichter»] gewidmet, die 1920 auch in
Deutsch erschien, im Dresdner Verlag Rudolf Kaem-
1 Siehe dazu: Lyons, a.a.O., S. 7, 93 [Nr. 201], 101 [Nr. 286], 106
[Nr. 334], 109 [Nr. 373].
2 Die Neue Schaubühne Nr. 2, Februar 1920, S. 31–33: Apolo-
gie des Charlot, von Iwan Goll [Isaac Lang].
56 | 4 1920 – Künstler und Intellektuelle rufen nach Chaplin
merer. Schon der Titel dieses ersten Chaplin-Buches
in Deutschland ließ erahnen, dass ein besonderes
künstlerisches Erlebnis auf den Leser wartete: Klei-
nes Kino der Menschlichkeit. Die Chapliniade. Film-
dichtung von Iwan Goll (Abb. 20),3 mit vier kubisti-
schen Zeichnungen des Tramps vom französischen
Maler Fernand Léger (Abb. 21). Tatsächlich hatte Goll
so etwas wie ein Drehbuch verfasst, in dessen Zent-
rum Charlie steht, von Goll, wie in Frankreich üblich,
Charlot genannt. Obwohl Charlot zunächst nur das
lächelnde Bild auf einem von vielen Plakaten ist, mit
dem für seine Filme geworben wird, erwacht das Pa-
pier sehr bald zum Leben. Er steigt aus dem Plakat he-
raus und bekommt erst einmal eine kräftige Ohrfeige
von dem Plakatkleber, weil er dessen Arbeit zunichte
gemacht hat. Charlots Rechtfertigung, er könne die
Menschen nicht immer nur als ein Stück Plakatpa-
pier trösten, nützt dem Plakatkleber herzlich wenig.
Von guten Worten allein kann er seine elf Kinder nicht
ernähren, also muss er seine Arbeit schon ordentlich
erledigen. Und er hält Charlot vor, gut reden zu haben:
«Wer fünf Millionen im Jahr verdient, kann leicht wei-
se sein! Im Übrigen bin ich Buddhist: Nu, was soll ein
richtiger Europäer heut sonst sein!» Das hindert den
von seiner Plakat-Verklebung befreiten Charlot aber
nicht, ein reges, buntes Eigenleben zu entfalten. Er
reist durch die Welt als Dichter, Gelegenheitsdieb –
und als Revolutionär, den die Menschen anflehen:
«Bring den Kommunismus der Seele». Ganz an Erfolg
gewöhnt, der sich auch in klingender Münze auszahlt,
fragt Charlot die Hoffnungsfrohen: «Und die Millio-
neneinnahme?» Sein Streifzug durch die Welt trägt
ihm aber auch den Tod seiner Gefährtin ein, die ihn in
der Gestalt eines Rehs begleitet hatte und von einem
Jäger erlegt wird. Charlots poetischer Ausflug endet
schließlich im Kreise vieler Charlot-Plakate wieder an
der Litfasssäule, an die ihn der Plakatkleber kleistert.
In seiner Besprechung von Golls Buch schrieb
der angesehene Schriftsteller und Journalist Kurt
Pinthus in der linksdemokratischen Wochenschrift
Tage-Buch im Juni 1921:4
«[…] Das Buch ist ein Witz, eine Satire, eine eminent
ernste Angelegenheit. […] Das Grinsen, mit dem [Chap-
lin] Millionen entzückt, ist hinter der Maske eine na-
menlose Trauer. Die ganze Welt lacht, feixt, boxt sich
in die Rippen: ‹Doch, ich bin traurig wie jeder Pro-
phet›. (sagt Chaplin).
Die furchtbare Tragik des Grinsenmüssens taumelt auf
der weißen Wand. Dichtung? Aus den Flimmerbildern
3 Iwan Goll, Kleines Kino der Menschlichkeit. Die Chaplinia-
de, Verlag Rudolf Kaemmerer, Dresden 1920. – Der Titel
auf dem Vorsatz lautet hingegen: Die Chapliniade. Eine Ki-
nodichtung.
4 Das Tage-Buch Nr. 22 vom 4. Juni 1921, S. 701: Iwan Goll:
Die Chapliniade, von P. [Kurt Pinthus].
Dada und zwei Porträts | 57
heult das Elend der Ekel vor dem eigenen Gesicht. Goll
kam dem Kurbelkasten mit Ethik. […]»
Und über Chaplin führte Pinthus aus:
«Was von Chaplin über das große Wasser gekommen
ist, verläuft im Sandkasten der Politik und den Salz-
seen der kommunistisch-reaktionären Kindereien.
Das ist ewig schade. Chaplin ist der bestbezahlte
Filmkomiker, die enormste Größe Amerikas, Chaplin
massiert das Bauchfell hunderttausend dekadenter
Milliardärssöhne und ebensolcher Töchter, alter Jung-
fern, abgearbeiteter Männer, stiernackiger Negerboxer
und trübsinniger Selbstmordkandidaten durch Figur,
Geste, Gesicht, Ehegeschichten. Er bringt alle zu einem
erschütternden Lachen. Amerika versinkt, wenn Chap-
lin an der Flimmerwand hüpft, für einige Stunden von
Frisko bis New York in brüllende Vergessenheit.
Chaplin grinst – Amerika grinst.
Dada hat ihn als geistigsten Clown reklamiert.»
Dada ist die radikale Kunstrichtung, die 1916 in Zü-
rich ins Leben gerufen wurde und sich die Ablehnung
jeglicher Autorität, der herkömmlichen Kunst und der
bürgerlichen Vorstellungen auf die Fahnen schrieb.
Konsequent weigerten sich die Dadaisten festzulegen,
was stilistisch unter Dada zu verstehen sei. Aktionen
auf allen Gebieten der Kunst sollten mit beliebigen
künstlerischen Ausdrucksmitteln dem Zufall überlas-
sen bleiben und ausschließlich individualistisch sein.
Als Pinthus Chaplin und Dada miteinander ver-
knüpfte, war die Nähe des Dadaismus zu Chaplin
bereits offenbar. 1919 legte der Dadaist Johannes
Baader als Gutenberggedenkblatt seine Collage Eh-
renporträt von Charlie Chaplin aus Zeitungsaus-
schnitten, Wortfetzen, einzelnen Buchstaben und
Zahlen mit einem Foto von Baader selbst und dem
Begriff Oberdada vor. Gegenständliches über Chap-
lin ist darauf nach herkömmlichen Maßstäben nicht
zu erkennen.5 Ebenfalls 1919 widmete George Grosz
Chaplin die Zeichnung Selbstporträt, die in kleiner
Auflage 1921 veröffentlicht wurde, ein Metropolen-
Getümmel jenseits der nach außen getragenen bür-
gerlichen Moralvorstellungen, mit einem düster
dreinblickenden Grosz beim Zeichnen.6
Im April 1920 reagierte die Berliner Dada-Company
in der kurzlebigen Zeitschrift Der Dada auf das Aus-
bleiben von Chaplin-Filmen in Deutschland (Abb. 22):7
«Die internationale Dada-Company, Berlin sendet
Charlie Chaplin,
dem größten Künstler der Welt und großen Dada-
isten, Sympathiegrüße. Wir protestieren gegen die
Ausschließung der Chaplin-Films in Deutschland.»
Unterzeichner waren unter anderem der Maler Geor-
ge Grosz, der Fotomonteur John Heartfield, dessen
Bruder Wieland Herzfelde (Inhaber des Malik-Verla-
ges), der Schriftsteller Richard Huelsenbeck und der
Theatermann Erwin Piscator.
Da Chaplin-Filme in der Weimarer Republik nicht
speziell ausgeschlossen waren, hatte die Dada-Com-
pany sehr wahrscheinlich die juristische Lage des
Imports ausländischer Filme nicht gekannt und war
deswegen zu einer unzutreffenden Schlussfolgerung
gelangt. Wie auch immer: Im Mai 1920 schrieb der
niederländische Zeichner Paul Citroen aus Amster-
dam an Huelsenbeck, den Herausgeber des Dada
Almanachs, dass er «eifrig alle Chaplin-Filme» besu-
che – aber eben in den Niederlanden. Das war aber
nicht alles. Denn Citroen steuerte eine der vielen
eigentümlichen Versionen über Chaplins Herkunft
bei, die ihm zufolge 1920 in einer niederländischen
Zeitung gestanden haben soll, und die auch absolut
nichts mit Tatsachen gemein hatte. Nun sollte Chap-
5 Größe: 35 cm x 46.5 cm. Die Collage datiert vom 14. April
1919.
6 Erschienen 1921 im Verlag der Galerie Hans Goltz, Mün-
chen, in einer einzigen Auflage von 60 Exemplaren. Größe:
49,5 cm x 33,5 cm.
7 Der Dada Nr. 3 vom 3. April 1920, S. 4.
58 | 4 1920 – Künstler und Intellektuelle rufen nach Chaplin
lin eigentlich gar nicht Chaplin geheißen haben, in
der Chicagoer Easystreet geboren und als Kleinkind
entführt worden sein – ein Gerüchte-Schlenker, um
eine Verbindung mit Chaplins EASY STREET herzu-
stellen? Citroen zitierte außerdem eine ganz neue Ge-
schichte, wie Chaplin zum Film gekommen sein soll:8
«Sie wissen doch, dass Charlie Chaplins Vater Adolf
Zeppelin hieß und aus Mannheim gebürtig ist, wenn
auch nicht verwandt mit dem Grafen von Zeppelin,
dem bekannten Luftschiff, wie neulich der Nieuwe
Rotterdamsche Courant schrieb: In der Gründerzeit
wanderte Adolf nach Amerika aus, wo ihm in Chicago
in der berüchtigten Easystreet – er hatte dort eine klei-
ne Bar – ein Knäblein geboren wurde, das er Charlie
nannte. Charlie wurde als Dreijähriger von einem wan-
dernden Zirkus gestohlen, als Akrobat ausgebildet,
kam später nach England, wurde dort von L. Weinber-
gen für seine Filmgesellschaft U.S. engagiert und kam
so wieder nach Amerika, wo er heute der bestbezahlte
Filmkünstler ist. So wurde aus dem kleinen einfachen
Karlchen Zeppelin in konsequentem Dadaismus Char-
lie Chaplin the greatets artist of the world.»
Mit der Dada-Company warteten auch ande re Kul-
turschaffende sehnsüchtig auf die Chaplin- Filme.
Kurz vor dem Da da-Protest hatte der Schriftsteller
Hans Siemsen (Abb. 23; siehe auch S. 19) in der ra-
dikaldemokratischen Wochenschrift Die Weltbühne
beklagt: «Ich habe schon viel von [Chaplin] gehört,
aber ich habe ihn noch nie gesehen.» In seinem
Artikel «Zwei Postkarten und ein Buch» beschrieb
er, wie er sich die Zeit einer unbequemen Fahrt im
Personenzug, auch Bummelzug genannt, von Os-
nabrück nach Bremen unter anderem mit zwei
Chaplin-Postkarten aus Paris vertrieb, die er intensiv
studierte. Die eine zeigte das Portrait des lachenden
Tramps mit «Pierrot-Gesicht», die andere Charlie mit
seinem Hund Scraps aus
A DOG’S LIFE. Beide Post-
karten empfand Siem-
sen als «viel schöner
und viel sonderbarer als
alles, was man über ei-
nen Menschen erfinden
kann». Erfüllt von der
Faszination, die die Kar-
te mit der Filmszene auf
ihn ausübte, schrieb der
glühende Chaplin-Ver-
ehrer in der empathisch-
feinsinnigen Weise, die
seine künftigen Arbeiten
über den Filmkünstler
auszeichnen sollte:9
«[… Der Hund] lehnt sich
an ihn. Er sieht ganz
aus wie sein Herr. Aber
sein Herr ist noch sanf-
ter und sieht mit seinen
großen Augen noch hilf-
loser in die Welt. Möge
Gott ihnen helfen!
Es ist eine Szene aus ei-
nem komischen Film.
Alle Welt lacht darüber.
Ich auch. Aber ich lache
vor Rührung. Ich könnte
auch weinen. So süß, so
zart, so sentimental ist
die Photographie. Ein
ausgestoßener Mensch,
der mit seinem Hund vor einer Tür sitzt. Die ist ver-
schlossen. Ein Vagabund und sein Hund. Weiter nichts.
Ich kenne kein Bild von Picasso und kein Gedicht von
[Francis] Jammes und keine Geschichte von Charles Lou-
is Philippe, die zarter und schöner und zärtlicher wäre.
Ich habe diese Karten schon drei Tage. Ich kenne sie
ganz genau. Ich brauche sie gar nicht mehr anzusehen.
Aber ich nehme sie aus meiner Tasche und sehe sie doch
noch einmal an. Erst die eine. Und dann die andere. […]»
Siemsens Erinnerungen an diese Zugfahrt waren der
erste Chaplin-Beitrag überhaupt in der Weltbühne
und erschienen noch im selben Jahr als Bestandteil
des Bandes Wo hast du dich denn herumgetrieben?
(Abb. 24).10 Damit konnte man 1920 immerhin schon
zwei deutsche Bücher kaufen, in denen über Chaplin
etwas nachzulesen war.
Iwan Golls Ehefrau Claire Goll war im deutschspra-
chigen Raum wohl die erste Schriftstellerin, die
Chaplin zum Genie erklärte, und überhaupt eine der
ersten, die Chaplin mit Molière verglich (siehe S. 39).
Im Juni 1920 druckte Die Neue Schaubühne ihren
Aufsatz «Amerikanisches Kino» ab, in dem sie sich
mit den «drei weltberühmtesten und gefeiertsten
Mimen Amerikas» auseinandersetzte, mit Douglas
8 Brief abgedruckt in: Richard Huelsenbeck (Herausgeber), Da-
da-Almanach. Im Auftrag des Zentralamts der deutschen Dada-
Bewegung, Reiß Verlag, Berlin 1920, S. 102–104: Eine Stimme
aus Holland. Amsterdam, Mai 1920, von Paul Citroen.
9 Die Weltbühne Nr. 11 vom 11. März 1920, S. 336–339: Zwei
Postkarten und ein Buch, von Hans Siemsen.
10 Hans Siemsen, Wo hast du dich denn herumgetrieben?, Kurt
Wolff Verlag, München 1920, S. 82–87.
Kurt Tucholsky und Hans Valentin | 59
Fairbanks, Chaplin (Charlot) und Sessue Hayakawa.
Über Chaplin führte sie aus:11
«Das Genie unter ihnen ist Charlot, der Molière dieses
Jahrhunderts. In der Maske des Clowns, unter vollstän-
digem Verzicht auf eigene Schönheit (welcher unsrer
Schauspieler würde allein auf seine gute Bügelfalte
verzichten!) hat er im Laufe von 5 Jahren fast jede
menschliche Schwäche geprägt. Seine exzentrischen,
mathematisch konstruierten Bewegungen, die see-
lischen und die körperlichen, enthalten immer eine
tragische Komik. Denn das tiefe, wissende Lachen,
das nicht nur an der Oberfläche klebt, wird aus Me-
lancholie und Leid geboren. Die Unwiderstehlichkeit
Charlots liegt aber nicht nur in seinem explosiven mu-
sikalischen Rhythmus, sondern vor allem in seinem
Gesicht, das zwanzig Nuancen in der Sekunde zeigt.
Jeden Abend wandern die Seelen der Pariser Künstler
aus nach Amerika, hin zu Charlot, dessen Schatten le-
bendiger ist wie die Körper aller Mimen der Seinestadt.
Charlot, wie den meisten Amerikanern, ist keine kör-
perliche Leistung unmöglich. Er ist Akrobat, Athlet, Jon-
gleur und das erhöht noch den Effekt seiner Filme. […]
Diese drei Menschen haben den Film nach allen Rich-
tungen ins Grandiose gesteigert. Von ihnen wird der
Kontinent für die Zukunft zu lernen haben.»
Sehnsüchtig wartete auch Kurt Tucholsky auf Chap-
lin-Filme. Wie Siemsen beobachtete er die Entwick-
lung um Chaplin und meldete sich dazu bis Mai
1932 – meistens unter einem Pseudonym – vor al-
lem in der Weltbühne immer wieder gewitzt-scharf-
sinnig zu Wort. Über Chaplin schrieb er meist als
Peter Panther, zum ersten Mal Ende Juli 1920 in der
Weltbühne. Mit einem einzigen Satz brachte er seine
Erwartungsfreude auf den Punkt, als er im Übrigen
die unbefriedigende deutsche Kinolandschaft aufs
Korn nahm:12
«Und wie wir erst vergnügt werden, wenn Chaplin her-
kommt, der wirkliche Original-Charlie Chaplin, der
große Amerikaner! Er brächte frisches Blut und fri-
schen Wind mit.»
Ebenfalls mit nur wenigen Worten umriss der deut-
sche Filmdichter Hans Valentin im Tage-Buch bei sei-
ner Betrachtung über die «Kunst des Dramas im Film
der Zukunft» Chaplins Bedeutung. Denn Valentin be-
schränkte sich nicht nur auf das Drama, er ging auch
auf das Komische im Film ein und verglich Chaplin
mit Max Pallenberg:13
«Diese Sphäre [der Komik …] findet ihre schönste Er-
füllung etwa in einem Chaplin des Films wie in einem
Pallenberg der Bühne.»
Außerhalb der Kunstszene erregte 1920 Chaplins
Ehekrise die Aufmerksamkeit der Presse. Chaplin
hatte die am 29. November 1901 geborene Mildred
Harris am 23. Oktober 1918 geheiratet, also kurz
vor ihrem 18. Geburtstag. Die Brautleute waren ihre
Ehe sehr schnell, wenn nicht gar überstürzt einge-
gangen, weil Harris angeblich schwanger war.14 Ob
Harris Chaplin eine Schwangerschaft vorgespiegelt
hatte, um ihn in die Ehe zu zwingen, ob sie ehrlich
glaubte, von ihm ein Kind zu erwarten, oder ob sie
vor der Eheschließung tatsächlich schwanger war,
blieb letztlich ungeklärt. Jedenfalls gebar sie am 7.
Juli 1919 den gemeinsamen Sohn Norman Spencer
Chaplin, den sie durchaus vor der Eheschließung
empfangen haben konnte. Das Kind war missgebil-
det und starb schon am 10. Juli 1919. Mitte März
1920 erschienen in den USA Zeitungsberichte, dass
es in der Ehe der Chaplins kriselte, und kurz darauf
reichte Chaplins Frau mit der Begründung, ihr Mann
habe sie böswillig verlassen, Scheidungsklage ein,
über die im Herbst des Jahres verhandelt wurde.
Eine große Rolle spielten finanzielle Forderungen,
und nun wurde schmutzige Wäsche gewaschen.
Mittlerweile hatte Harris ihren Vorwurf auf seelische
Grausamkeit umgestellt, womit Chaplin ebenfalls
konterte. Obendrein unterstellten beide einander
sexuelle Perversionen. Der Ehezwist überschattete
Chaplins Arbeiten an seinem Welterfolg THE KID. Die
First National, für die Chaplin den siebenaktigen THE
11 Die Neue Schaubühne Nr. 6, Juni 1920, S. 164, 165: Amerika-
nisches Kino, von Claire Goll [Klara Aischmann].
12 Die Weltbühne Nr. 31 vom 29. Juli 1920, S. 149: Deutsche Ki-
nodämmerung?, von Peter Panther [Kurt Tucholsky].
13 Das Tage-Buch Nr. 22 vom 12. Juni 1920, S. 741–745: Kunst
des Dramas im Film der Zukunft, von Hans Valentin.
14 Siehe dazu: Charlie Chaplin, Die Geschichte meines Lebens,
a.a.O., S. 231: «Ich wurde erst einige Tage später wieder
an sie erinnert, als [mein Diener Tom] Harrington mir aus-
richtete, sie habe angerufen. Hätte er dabei nicht noch eine
Bemerkung gemacht, so hätte ich mich vielleicht nie mehr
um sie gekümmert, doch erwähnte er, der Chauffeur habe
ihm erzählt, er habe mich von Sam Goldwyns Haus in Be-
gleitung der schönsten Frau hergefahren, die er je zu Gesicht
bekommen habe. Diese absurde Bemerkung reizte meine
Eitelkeit, und das war der Anfang. Wir dinierten, tanzten,
fuhren im Mondschein am Strande entlang, und das Un-
vermeidliche geschah … Mildred begann, sich Sorgen zu
machen.» – Wahrscheinlich hatte Chaplin, der wegen seiner
enorm intensiven Filmarbeit – er berichtet, wie viele Tage
und Nächte er ununterbrochen mit A DOG’S LIFE verbracht
hat (Charlie Chaplin, Die Geschichte meines Lebens, a.a.O.,
S. 216) – kaum Zeit für sexuellen Zeitvertreib, geschweige
denn für eine feste Beziehung und deswegen einen gewis-
sen Nachholbedarf, als er Harris traf. Seine Liaison mit Edna
Purviance war er möglicherweise nur aus Bequemlichkeit
eingegangen.
60 | 4 1920 – Künstler und Intellektuelle rufen nach Chaplin
KID gedreht hatte, versuchte, sich das Zerwürfnis
der Eheleute zunutze zu machen. Mit Chaplin stritt
sie nämlich darüber, ob der Film ungeachtet seiner
Länge nur als drei Dreiakter zu bewerten sei, so dass
Chaplin 405.000 Dollar erhalten sollte, obwohl die
Produktion 500.000 Dollar verschlungen hatte; als
der Film bei der Preview, die Chaplin veranstaltet
hatte, stürmisch bejubelt wurde, einigten sich die
Vertragspartner zugunsten von Chaplin auf eine
Vorschuss-Zahlung von 1,5 Millionen Dollar und auf
70 % der Einspielergebnisse, auf die der Vorschuss
angerechnet wurde.
Ursprünglich waren die streitenden Eheleute
übereingekommen, dass Chaplin Harris eine Abfin-
dung von 100.000 Dollar zahlte. Während Chaplins
Streit mit der First National um THE KID zog Harris
jedoch ihre Zustimmung zurück. Harris wollte damit
erreichen, Chaplins Geschäftsvermögen pfänden zu
können, zu dem das Negativ des Filmes gehörte. Ab
Anfang April 1920 war Chaplin deswegen mit dem
Negativ auf der Flucht und schnitt den Film in einem
Zimmer des Hotels Utah in Salt Lake City; abschlie-
ßende Schnittarbeiten fanden in einem Filmstudio in
Fort Lee, New Jersey, statt. Zu dieser Zeit unterhielt
Chaplin eine Beziehung zu der Schauspielerin Flo-
rence Deshon, die ihn nach Salt Lake City begleitete.
Dies war keine herkömmliche Zweier-Liaison zwi-
schen Chaplin und Deshon, sondern wegen Deshons
gleichzeitigen Verhältnisses mit dem Verleger Max
Eastman eine Art offene Dreierbeziehung, von der
der Chaplin-Biograf Kenneth Lynn als Verbindung
à la JULES UND JIM [nach François Truffauts Film
von 1962] sprach. Angeblich hätte Chaplin Deshon
am liebsten geheiratet, wenn er nicht noch an Har-
ris gebunden gewesen wäre. Deshon soll sogar ein
Kind von ihm erwartet haben, was freilich nie erwie-
sen wurde. Angeblich starb das Kind im Mutterleib.
Nach einem Abfindungspoker wurde Chaplins Ehe
mit Harris am 19. November 1920 geschieden. Har-
ris erhielt schließlich die ins Auge gefassten 100.000
Dollar und Teile der gemeinsamen ehelichen Güter.15
Im Endeffekt hatte Chaplin Harris bewegen können,
seine Vermarktung von THE KID nicht zu behindern.
Der Stoff rief sowohl die Regenbogenpresse auf den
Plan, als auch die deutsche Filmfachpresse. An dem
auffallend jungen Alter von Chaplins Frau bei der
Eheschließung. Die Erste internationale Film-Zeitung
titelte Ende März 1920: «Charlie Chaplins Ehe in Ge-
fahr». Dabei konnte sich das Blatt einige Seitenhiebe
nicht verkneifen. Chaplin beabsichtigte danach un-
ter anderem, sich einem neuen, noch unbekannten
«Fimmel» zuzuwenden – war Deshon neben ande-
ren kursierenden Namen dieser «Fimmel»? Dem
deutschen Branchenblatt zufolge wollte Chaplin sich
für etwa umgerechnet 10.000 Mark «das Loskom-
men vom eigenen Weibe» erkaufen und seine «Ehe-
fesseln ab[...]streifen»:16
«[… Das] reizende[…] Geschöpf […] will sich nicht von
ihm scheiden lassen, denn sie hat Chaplin aus inniger
Liebe geheiratet und liebt ihn noch und immer. Der
berühmte Komiker findet diese Hartnäckigkeit durch-
aus nicht komisch und nach eigenem Geschmack. […
Die Kabelmeldungen berichten] von seiner unheimli-
chen Drohung, die Scheidung selbst gegen den Willen
seiner Frau durchzusetzen. […] Was nun daraus wird,
werden uns die amerikanischen Blätter und Berichter-
statter englischer Blätter ja auf dem schnellsten Wege
wissen lassen. Man bedenke, welch schöne neue Gro-
teske – diesmal aus dem Leben – das abgeben wird,
wenn Chaplin mit erhabener und wegwerfender Ge-
bärde seiner Ehefrau einen Packen Banknoten vor die
Füße wirft und ihr damit sagen will: ‹Für Dich, meine
Liebe, ist mir nichts zu teuer!›»
Wesentlich zurückhaltender nahm der Film-Kurier
die Scheidungsaffäre auf und beschränkte sich zu-
nächst auf die Wiedergabe ausländischer Meldun-
gen, die versicherten, dass der Scheidungsprozess
Chaplins komischer Wirkung in den Kinos keinen
Abbruch getan habe.17 Auch im Herbst 1920 ver-
hielt das deutsche Blatt sich neutral und referierte
lediglich aus amerikanischen Blättern Harris’ Be-
hauptung, von Chaplin schlecht behandelt worden
zu sein. Sie habe «eine sehr traurige Existenz an der
15 Siehe dazu: Robinson, Chaplin: His Life and Art, a.a.O.,
S. 274–277. – Bei Robinson tritt Florence Deshon nicht in
Erscheinung. Joyce Milton stellt Chaplins Vaterschaft an
Deshons vor der Geburt gestorbenem Kind in ihrer umstrit-
tenen Chaplin-Biographie Tramp. The Life of Charlie Chaplin,
HarperCollinsPublishers, New York 1996, S. 178, als festste-
hende Tatsache hin, bleibt aber Nachweise schuldig. Ken-
neth S. Lynn, Charlie Chaplin and His Times, Aurum Press,
London 1998, S. 236, hat klargestellt, dass es diese nicht
gibt. Milton und Lynn stützen sich auf Max Eastmans 1964
veröffentlichte Memoiren Love and Revolution. My Journey
Through an Epoch, Random House, New York, S. 206. East-
man soll mit Chaplin während dessen Arbeiten an My Au-
tobiography über Deshon telefoniert haben. Chaplin habe
sie als «großherziges Mädchen» bezeichnet (a.a.O., S. 207),
sie dann aber in seinem Buch nicht erwähnt. – Das speku-
lative Gerücht über Chaplins Vaterschaft griff 2001 Darwin
Porter in seinem anekdotenhaft-fiktiven Buch Hollywood’s
Silent Closet. A Novel, Blood Moon Productions, Staten Is-
land 2001, S. 400, auf. Danach war der Fötus laut Chaplins
japanischem Kammerdiener Kono zwischen Tijuana und
dem Staat New York verscharrt worden.
16 Erste internationale Film-Zeitung Nr. 12-13 vom 31. März
1920, S. 28: Neues aus aller Welt. Charlie Chaplins Ehe in
Gefahr.
17 Film-Kurier Nr. 108 vom 23. Mai 1920, S. 5 (Beilage S. 1): Al-
lerlei vom Übersee-Film.
Die deutsche Filmfachpresse zum Scheidungsprozess | 61
Seite des Mannes geführt, der so unzähligen ihrer
Mitmenschen heitere Stunden verschafft hat».18 Dies
klang dezidiert anders als der Artikel der Erste inter-
nationalen Film-Zeitung, der von Harris’ fehlendem
Scheidungswillen und ihrer angeblich unverbrüchli-
chen Liebe zu Chaplin berichtete.
Dass es bei Harris auch ganz einfach um handfeste
finanzielle Interessen ging und weniger um «ewige
Liebe», sprach Ende Mai 1920 aus einer Nachricht
des Kinematographen:19
«Sie verließ den berühmten Charlie wegen ungenügen-
den Unterhaltes. In den wenigen Monaten ihrer Ehe
erhielt sie von Charlie nur 50.000 Dollar und außer-
dem für ihre Mitwirkung beim Filmen wöchentlich
1.000 Dollar. Die Ärmste!»
Die anzeigenfreie Zeitschrift Film-Hölle, die der viel-
beschäftigte Film-Journalist Egon Jacobsohn, von
September 1920 bis 1923 als «Filmteufel» herausgab,
enthielt gleich in ihrer ersten Ausgabe eine Leserzu-
schrift zu Chaplins Scheidungsprozess. Geld mache
nicht glücklich, mutmaßte der Verfasser, wohl aber
eine Scheidung von einer ungeliebten Frau. Ganz si-
cher war er sich aber nicht, ob Chaplin sich mit all dem
nicht lediglich als «Reklamekanone» betätigt habe.20
Ungeachtet des Scheidungsprozesses waren enor-
me Filmschauspieler-Gagen in der Weimarer Repub-
lik ein Dauerthema. Der Ruf, die Stargagen im Zaum
zu halten und zu deckeln, war freilich ein vergebli-
ches Unterfangen, bei dem man aber immer wieder
auf Chaplin zu sprechen kam. In der Film-Hölle war
das nicht anders. Jacobsohn rümpfte die Nase über
den «Größenwahn der [überbezahlten] Kinoschau-
spieler». Der deutsche Schauspieler Emil Jannings er-
hielt nach dem Beitrag eine Stundengage von 1.000
Mark, womit er hochgerechnet längst das Jahresein-
kommen des Opernstars Enrico Caruso von 350.000
Dollar geschlagen habe. Aber: «Was ist das schon ge-
gen den Filmkomiker Charlie Chaplin, der für seine
paar Films mehr als das Doppelte pro Jahr nach Hau-
se schleppt», schimpfte Jacobsohn weiter (unter an-
derem auch über den US-amerikanischen Kinolöwen
Robert Warwick und über Mary Pickford), weil das
ein Vielfaches des Salärs des US-Präsidenten war.21
Der Zusammenhang zwischen außergewöhnli-
chen Einkommensverhältnissen und Chaplins Ehe-
streit war allerdings rasch hergestellt. Dazu druckte
die Film-Hölle ein Interview ab, das Harris dem New
York American gegeben hatte, hielt aber Abstand zu
Harris’ Behauptungen. Chaplins Ehefrau schilderte
ihren Gatten als Menschen, der seine Filmarbeit über
alles stelle und darüber seine Frau vernachlässige.
Stattdessen habe er ältliche Freunde mit nach Hause
gebracht, mit denen er philosophiert und sie damit
gelangweilt habe. Sie zieh ihn auch des «unerhörten
Geizes», da er ihr lediglich zugestanden habe, monat-
lich nicht mehr als 1.000 Dollar auszugeben [damals
für Durchschnittsbürger ein exorbitanter Betrag] und
sich sparsam zu kleiden, obwohl er doch Jahr für Jahr
eine Million Dollar verdiene. Außerdem regte sie sich
über seine «blödsinnige Eifersucht» auf. Gleichzeitig
sei er ein «unheilbarer Kaffeehauszigeuner», der «in
dem slawischen Orient, aus dem er herkam, nur mit
Zigeunerinnen» verkehrte.22 Stichelte Harris damit
auch gegen Chaplins Affäre mit Deshon?
Vom Einfluss des Streites der Eheleute um das
liebe Geld auf Chaplins neuestes Werk THE KID war
ebenfalls die Rede. Zutage trat freilich nicht, welche
Rolle Chaplins Vertragsfirma First National im Hin-
tergrund eingenommen hatte:23
«Chaplin hat sich vorläufig unsichtbar gemacht. An-
scheinend hat er sein Buen Retiro aufgesucht, um die
Ansprüche seiner von ihm getrennt lebenden Frau auf
den Film THE KID prozessual zu erschweren. Das ihr
von Chaplin gemachte Angebot einer Abfindungssum-
me von 125.000 Dollar hat Mildred Harris abgelehnt.»
In diesem Zusammenhang bemerkten in aller Kürze
die Lichtbildbühne und der Film-Kurier:24
«Charles Chaplin hat seine Ateliers in Los Angeles für
ein Jahr geschlossen und das Personal entlassen. Er
will nach England.»
Der Film-Kurier enthielt sich wie das Konkurrenz-
blatt weiterhin einer eigenen Stellungnahme zur
Scheidung und druckte lediglich die Sichtweise des
Pariser Blattes Comoedia ab, die auf einem Artikel
der britischen Daily Mail fußte und im Wesentlichen,
spöttisch ausgeführt, Harris’ Vorwürfe referierte, die
aus dem Scheidungsprozess bekannt waren. Auf die-
se Weise maß das deutsche Fachblatt den Berichten
um Chaplins Ehestreit die Bedeutung zu, die diese
Auseinandersetzung hatte: Für Chaplins Bewertung
18 Film-Kurier Nr. 207 vom 16. September 1920, S. 2: Filmi-
sches aus dem Auslande. Amerika: Charlie Chaplin als Ehe-
gatte.
19 Der Kinematograph Nr. 698 vom 30. Mai 1920, S. 26: Neues
vom Ausland. Amerika.
20 Film-Hölle Nr. 1, September 1920, S. 12: Rubrik «Hier kannst
Du Deine Wut rauslassen», Leserbrief von Fritz K. – Jacob-
sohn war Mitarbeiter/Chefredakteur von Film-Illustrierten
und -Branchenblättern (zum Beispiel der Ersten internatio-
nalen Film-Zeitung und bis November 1924 der Filmbeilage
«Film-B.Z.» der B.Z. am Mittag) sowie Mitverfasser eines
Film-Lexikons.
21 Film-Hölle Nr. 2, Oktober 1920, S. 1, 2: 1.000 Mark Filmgage
pro Stunde. Der Größenwahn der Kinoschauspieler.
22 Film-Hölle Nr. 3, November 1920, S. 12, 13: Die Ehetragödie
des Filmhumoristen. Frau Chaplins Klage.
23 Der Kinematograph Nr. 716 vom 3. Oktober 1920, S. 36: Neu-
es vom Ausland. Amerika.
24 Lichtbildbühne Nr. 41 vom 9. Oktober 1920, S. 41: Was das
Ausland meldet; Film-Kurier Nr. 261 vom 25. November
1920, S. 2: Charlots Ehestand; Nr. 266 vom 1. Dezember
1920, S. 1: Der Film im Ausland. Amerika.
62 | 4 1920 – Künstler und Intellektuelle rufen nach Chaplin
als Künstler war der Zwist belanglos. Folgerichtig
hatte der Film-Kurier denn auch die Nachricht, die
Gründungsmitglieder der United Artists, die «Großen
Vier», bereiteten «Interessantes mit ‹Überfilmen›
vor[…]», als entschieden wichtiger behandelt.25
Dass Chaplin sich bis auf Weiteres an derartigen
Aktivitäten mit eigenen Filmen für die United Ar-
tists nicht würde beteiligen können, ging aus einer
Meldung der Lichtbildbühne vom November 1920
hervor. Bisher hatte Chaplin erst die Hälfte seiner
vertraglichen Verpflichtungen bei der First National
abgearbeitet und durfte bis zur Erfüllung seines Ver-
trages nicht auf eigene Rechnung filmen.26
Unterdessen hatte sich die Illustrierte Filmwoche /
Illustrierte Kino-Woche jenseits von Chaplins eheli-
chen Querelen und seiner Auseinandersetzung mit
der First National dem «amerikanischen Humor»
zugewandt, offensichtlich in der Erwartung, dass
US-amerikanische Grotesk-Filme in absehbarer Zeit
nach Deutschland kommen würden. Dies geriet zu
einer Abhandlung über das Lachen, mit Abbildun-
gen von Chaplin, «Fatty» Arbuckle, Louise Fazen-
da und Douglas Fairbanks, die der Leserschaft den
Mund nach zukünftigen Filmvergnügen wässrig ma-
chen sollten:27
«[… D]er eigentlich Vertreter des amerikanischen Hu-
mors [ist] der Grotesk-Komiker, wie wir ihn aus Frie-
denszeiten noch von der Varietébühne kennen, und
über den wir oft und herzlich gelacht haben. Hoffent-
lich gibt es bald ein fröhliches Wiedersehen – im Film!!»
Die Vorboten eines «fröhlichen Wiedersehens» mit
Grotesk-Komikern aus den USA hatten sich längst
auf den Weg nach Deutschland gemacht. Mit seinen
Sunshine-Comedies meldete sich im April 1920 der
seinerzeit wohl größte US-amerikanische Filmkon-
zern Fox Film Corporation mit seinem Präsiden-
ten William Fox an der Spitze. Über den deutschen
Ableger, die Fox-Film-Gesellschaft, offerierte deren
im Berliner Nobel-Hotel Adlon abgestiegene Reprä-
sentant unter anderem «zwerchfellerschütternde
Lustspiele».28 Da im Frühjahr 1920 weiterhin unklar
war, wann US-Grotesken nach Deutschland würden
eingeführt werden können, versuchte die deutsche
Filu-Film-GmbH aus der Not eine Tugend zu machen:
Nach Drehbüchern von Theo Halston produzierte sie
in der Regie von Artur Brenken-Kiekebusch vier Gro-
tesken in US-amerikanischer Machart mit Petty Kid
als Hauptdarsteller. Das Ziel war hochgesteckt, denn
man maß sich an der «amerikanische[n] Filmgrotes-
ke […, wie sie] zum Anfang des Krieges durch Charlie
Chaplin vertreten war».29
Ob US-amerikanische Grotesken deutschen Lustspiel-
filmen qualitativ vorzuziehen waren, war für deutsch-
nationale Stimmen womöglich zweitrangig. Denn im
Oktober 1920 opponierte die Lichtbildbühne natio-
nalbewusst gegen den Auslandsfilm: «Grotesken von
Deutschen für Deutsche» – und reduzierte Chaplin im
gleichen Atemzug mehr oder minder auf Artistik:30
«Max Linder und der gliederverrenkende Charly Chap-
lin - ihre Kunst in allen Ehren -, die amerikanischen
Sunshines und anderen Comedies können uns unter-
halten und belustigen; den eigentlichen Kern unseres
nationalen Geschmacks treffen sie nicht, sie können
das elementare herzbefreiende Lachen nicht auslö-
sen, wie KOHLHIESELS TÖCHTER oder ROMEO UND JU-
LIA IM SCHNEE [beide von Ernst Lubitsch, 1920]. Das
deutsche Filmlustspiel muss von Deutschen für Deut-
sche geschrieben, inszeniert und gespielt werden.»
Anfang November 1920 erschienen in deutschen
Fachblättern Werbeanzeigen der Londoner Unity
Film Co., Ltd. (Direktor Ernst Bru), die im Weltvertrieb
50 «Mack Sennet[t] Keystone Lustspiele» auch für
Deutschland anboten, darunter 22 Einakter und vier
Zweiakter mit Chaplin. Zum ersten Mal zeigte man
ihn zu Werbezwecken im Tramp-Kostüm (Abb. 25).
Dazu hieß es:31
«Die Unity Film Co., Ltd., ist die ausschließliche Bezugs-
quelle für alle Käufer in europäischen Staaten der her-
25 Film-Kurier Nr. 201 vom 9. September 1920, S. 3: Filmisches
aus dem Auslande. Amerika.
26 Lichtbildbühne Nr. 46 vom 13. November 1920, S. 34: Was
das Ausland meldet.
27 Illustrierte Filmwoche / Illustrierte Kino-Woche Nr. 32 vom 7.
August 1920, S. 323: Amerikanischer Humor.
28 Lichtbildbühne Nr. 15 vom 10. April 1920, S. 21: Amerika
und Deutschland; Nr. 15 vom 10. April 1920, S. 76, 77: Wer-
bung für Fox-Films.
29 Film-Kurier Nr. 107 vom 22. Mai 1920, S. 3: Aus dem Glas-
haus. – Geplant waren die Filme PETTYS FLEGELJAHRE, PET-
TYS VERHÄNGNIS, PETTY HAT EINEN VOGEL und PETTY DER
UNGLÜCKSRABE. Zensurvorgänge sind nur für beiden ersten
Filme nachweisbar (Film-Prüfstelle Berlin Prüf-Nr. 107 und
108 vom 21. und 22. Juli 1920).
30 Lichtbildbühne Nr. 42 vom 16. Oktober 1920, S. 42, 43: Das
deutsche Lustspiel, von H. Wollenberg [Dr. Hans Wollenberg,
Chefredakteur des Blattes].
31 Lichtbildbühne Nr. 45 vom 6. November 1920, S. 136, 137,
und Der Kinematograph Nr. 721 vom 7. November 1920,
S. 23, 24: etwas sich unterscheidende Werbungen The Unity
Film Co., Ltd.
Chaplins Erfolgsgeheimnis: Maschinen und maschinenhafte Bewegungen? | 63
vorragenden Lustspielserie mit dem größten Künstler
der Welt, Charlie Chaplin, und garantiert alle Kopien
von Original-Negativen.»
Um diese Zeit beklagte Dora Benjamin in der Ersten
internationalen Film-Zeitung den Rückgang deut-
scher Filmexporte in die USA. Von der möglichen
Wechselwirkung zwischen dem Export und dem
weiterhin bestehenden deutschen Filmimport-Ver-
bot wollte sie dabei nichts wissen. Vielmehr schob
sie die inhaltliche Veränderung in der deutschen
Filmproduktion nach dem Ersten Weltkrieg auf den
deutschen Geschmack, der durch die Revolution ei-
nen geistigen Aufschwung erfahren habe, während
ein solcher Aufschwung an den USA vorbeigegangen
sei. Veränderungen habe es in Übersee nur «auf dem
Gebiet der Verherrlichung der Technik [gegeben],
die den Amerikanern und ihren Dollars den Krieg
gewonnen [haben …], […] trotz deutscher Tüchtigkeit
und Aufopferung». Am Beispiel von Chaplin-Filmen
versuchte Benjamin zu illustrieren, welche Art Filme
zum Absatz in den USA produziert werden müssten.
Gleichzeitig entwickelte Benjamin eine eigenwillige
Theorie, weshalb Chaplins Filme nicht in Deutsch-
land aufgeführt würden und ihr Erfolg in den USA
jenseits von Chaplins analytischem Humanismus
in Oberflächlichkeiten begründet liege – fernab von
dem, was andere durch Chaplins Kunst über intensi-
ves seelisches Erleben zu berichten wussten. Aller-
dings entwickelte sie hierbei eine höchst eigenwilli-
ge dichterische Freiheit, indem sie Szenen entweder
frei erfunden oder anderen Filmen entnommen hat,
die sie fälschlich für Chaplin-Filme hielt:32
«Charakteristisch sind für diese neue [amerikani-
sche] Geschmacksrichtung die Chaplin-Films, die in
Deutschland fast ganz unbekannt sind, weil sie teils
wegen der hohen Kosten teils aber auch darum nicht
bei uns eingeführt werden, weil unser Publikum für
lange Zeit die Freude an den ‹Errungenschaften der
Technik› verloren hat und grausige, sentimentale oder
kriminelle Sujets bevorzugt. […]
Wie sieht nun solch ein Charlie-Chaplin-Film aus?
Ich möchte gleich vorausbemerken, dass es sich hier
weniger um einen Star-Film handelt, als man anneh-
men möchte. Gewiss ist Charlie Chaplin der Liebling
des Publikums, aber das ist nicht so zu verstehen, dass
er einen schlechten Film durch sein gutes Spiel trägt.
Vielmehr sind Regie und Sujet ihm immer ebenbürtig,
und das sichert den Erfolg des Films. Die Hauptsache
in diesen Films ist die verblüffende Wirkung der Ma-
schinen und der maschinenhaften Bewegungen. Mag
es sich nun um eine Musterdampfwäscherei handeln
oder um ein Skating-Rink, immer ist das Technische,
das Blendende und Bezaubernde der Geschwindig-
keit, sei es von Maschinen, sei es von Menschen, die
mit ihnen in unliebsame Berührung kommen, das
Wichtige. Ein Auto im Chaplin-Film rast nicht die
Straße hinunter, es klettert über Bäume und Kirch-
türme – eine Windmühle reißt Wagen und Pferde mit
und schleudert sie in unwahrscheinlicher Entfernung
zur Erde – der Luftzug im Trockenraum der Dampfwä-
scherei bläst nicht nur Papiergeld zum Fenster hin-
aus, sondern Liebespaare und verfolgende Väter, und
wenn Charlie Chaplin nach vieler Mühe Rollschuhlau-
fen gelernt hat, so ist es, als ob ein Orkan losgelassen
wäre, der alles mit sich fortreißt, Rink, Besucher, die
ganze Straße. Der Amerikaner liebt das Groteske, er
liebt die rasende Bewegung. Danach müssen wir uns
richten, wenn wir für Amerika produzieren wollen. An
guten Kräften ist bei uns ja kein Mangel. Je grotesker,
desto komischer – je komischer, desto zugkräftiger –
und was ‹zieht›, das zahlt.»32 Erste internationale Film-Zeitung Nr. 42-43 vom 6. Novem-
ber 1920, S. 4, 5: Welcher Film eignet sich für den Export
nach Amerika?, von Dora Benjamin.
64 | 4 1920 – Künstler und Intellektuelle rufen nach Chaplin
Wie sehr sich Chaplins in Deutschland aufgehender
Stern trotz der angeblichen «Maschinenfixierung»
seines Filmhumors weiter abzeichnete, belegte eine
Werbeanzeige im Herbst 1920. Für seine Matray
Film GmbH und die für diese produzierten «grotes-
ken Filmserien» ließ Ernst Matray sich in einem Kos-
tüm und einem Bärtchen ablichten, was verdächtig
an Chaplins Tramp erinnerte (Abb. 26).33
Die Scandinavian Film Agency in Kopenhagen
wiederum setzte auf die «Super Special-Produktio-
nen» der Firma Robertson Cole, Corporation (siehe
S. 41) für die Saison 1919/20, zu der «21 Billy West
Chaplin-Imitationen (Zweiakter)» gehörten. Um die-
se über die dort ansässige Lothar Stark GmbH an den
Mann zu bringen, war der Direktor der Scandinavian
Film Agency, A. Gregory, nach Berlin gereist.34 Aber
33 Lichtbildbühne Nr. 33 vom 14. August 1920, S. 43: Werbung
Matray Film GmbH.
34 Lichtbildbühne Nr. 37 vom 11. September 1920, S. 93: Wer-
bung Scandinavian Film Agency.
35 In der Zeit vom 7. Januar bis zum 13. Mai 1925 ließ die Film-
Prüfstelle Berlin zehn Billy-West-Filme der Arrow Pictures
zu. Der erste Zweiakter war BILLY, BIST DU’S (Prüf-Nr. 9.616),
der letzte BILLY ALS DETEKTIV (Prüf-Nr. 10.462).
36 B.Z. am Mittag Nr. 347 vom 22. Dezember 1923, S. 12: Film-
B.Z.
37 Lichtbildbühne Nr. 33 vom 14. August 1920, S. 45, 46: Die
Grenzen auf!, von Dr. W. [Dr. Hans Wollenberg].
Grotesken, in denen Billy West als Chaplin-Imitator
auftritt, scheinen nicht nach Deutschland gelangt
zu sein. Billy-West-Filme wurden erst 1925 in deut-
schen Kinos gezeigt.35 Es waren aber Grotesken, die
West für die Arrow Pictures gedreht hatte, zu denen
er 1924 gestoßen war. Zu der Zeit hatte er das Tramp-
Kostüm bereits wieder abgelegt. Ende Dezember
1923 berichtete die B.Z. am Mittag von einer Klage
Chaplins gegen «Willi West», womit vielleicht Billy
West gemeint war. In dem Prozess sollte es darum
gegangen sein, dass Chaplin seine Darstellung und
sein Tramp-Kostüm als sein geistiges Eigentum an-
sah, worauf «Willi West» erwiderte, Chaplin habe
doch auf nichts ein Patent, und Charlies Bärtchen
habe es auch schon lange vor den Chaplin-Filmen ge-
geben.36 Ein Urheberrechtsprozess zwischen Chaplin
und West ist allerdings nicht bekannt. Der Grund für
das ausbleibende Interesse deutscher Verleiher an
Wests Chaplin-Imitationen mag darin gelegen ha-
ben, dass Chaplin in Deutschland erst einem breiten
Publikum bekannt gemacht werden musste und an-
schließend sehr viele Chaplin-Filme in den Umlauf
kamen, so dass der Bedarf nach «mehr Chaplin»
nicht noch mit Filmen von Imitatoren gestillt werden
musste. Anders dürfte es sich mit deutschen Chap-
lin-Imitationen verhalten haben, die sich nach dem
einsetzenden Chaplin-Erfolg an das große Geschäft
anzuhängen versuchten.
Wie auch immer: Der Ruf «Die Grenzen auf!»37
war mittlerweile auch in dieser Hinsicht eine ernst-
zunehmende Forderung, die es galt, über kurz oder
lang endlich zu erfüllen.