DEUTSCHE MODALVERBEN 1609 - COnnecting REpositories · 2013. 10. 24. · DEUTSCHE MODALVERBEN 1609...

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  • DEUTSCHE MODALVERBEN 1609 -EPISTEMISCHE VERWENDUNGSWEISEN

    Ein Beitrag zur Bedeutungsgeschichte der Modalverben im Deutschen

    1. Ziele der Untersuchung

    Eine zusammenfassende Darstellung der Bedeutungsgeschichte der Modalverben im Deutschen ist ein Desiderat der historischen Semantik. Beim gegenwärtigen Forschungsstand sind die Vorausset-zungen für eine Gesamtdarstellung noch nicht optimal. Es gibt zwar reiche Materialsammlungen in den entsprechenden Bänden des Grimmschen Wörterbuchs und in älteren Arbeiten, wie z. B. Deggau 1907 und Klaren 1913. Diese Informationsquellen vermitteln aber nur in Ansätzen einen Überblick über den Entwicklungsstand der verschiedenen Verwendungsweisen eines einzelnen Modalverbs bzw. des ganzen Systems der Modalverben zu einem bestimmten Zeit-punkt und lassen deshalb die Entfaltungs- und Umbildungsvorgän-ge des Systems im Zusammenhang nur undeutlich erkennen.1 Es herrscht ein Mangel an historischen Spezialuntersuchungen zu ein-zelnen Texten, Autoren, Textsorten, synchronischen Schnitten und regionalen Bereichen.2 Die vorliegende Darstellung soll für das spä-tere Frühneuhochdeutsch eine der diagnostizierten Lücken füllen. Sie setzt sich zum Ziel, auf der Grundlage eines Corpus von Zeitun-gen aus dem Jahre 1609 das in diesen Texten erkennbare System der sog. epistemischen Verwendungsweisen von Modalverben im Über-blick darzustellen und, wo es nützlich erscheint, auch semantische Konkurrenzformen (Satzadverbien, Ausdrücke für propositionale Einstellungen, Ausdrücke zur Kennzeichnung der Quellenperspekti-

    1 Ein erster Versuch, die Systementwicklung im Zusammenhang zu überblicken, findet sich bei Bech 1951. Eine knappe Übersicht über die Entwicklung der epistemischen Verwendungsweisen gibt Valentin 1984.

    2 Zwei nützliche Beiträge in dieser Richtung stammen von Jäntti 1981 und Peilicke 1987.

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    ve), in die Betrachtung einzubeziehen. Eine Paralleluntersuchung zu den nicht-epistemischen Verwendungsweisen ist in Vorbereitung .

    • Das auffallendste Ergebnis der vorliegenden Untersuchung be-steht darin, daß für die Zeit um 1600 ein breites Spektrum von epi-stemischen Verwendungsweisen nachgewiesen werden kann, das die nlld. Verhältnisse sozusagen in statu nascendi zeigt. Es erweist sich dabei die Fruchtbarkeit der in den letzten Jahren mehrfach erhoben-en:Forderung, Wortgeschichte im Zusammenhang mit der Geschich-te! 'Von Textsorten und Kommunikationsformen zu betreiben. Die Zeitungsberichte der Zeit sind Texte, die aufgrund ihrer Textsorten-spezifik eine Fundgrube für die hier untersuchten sprachlichen Mit-tel abgeben, die verstreut zwar auch in zeitgenössischen Briefen und Chroniken auftauchen, die aber in den Zeitungen aufgrund des dort angewendeten Sammelprinzips in vielfältiger Gestalt und quantita-tiv massiert vorkommen. Die Korrespondenten der frühen Zeitun-gen machen in vielen Fällen keinen Hehl aus der Unsicherheit der Nachrlchtenlage und aus der Tatsache, daß sie Information aus zweiter Hand weitergeben (man sagt / es solle), daß sie sich manchmal nUl'l,'auf Gerüchte stützen können (es geht das Geschrey), daß be-stimmte Informationen noch unzugänglich sind (kan man nit wis-sew), daß manche Entwicklungen noch im Dunkel liegen (was nun darauß werden will / gibt zeit) und daß bestimmte Meldungen auf Schlüssen aus Indizien beruhen (es lest sich ansehen / als ob ..• , müs-senialso diese leute was böses in Gedancken haben). Die Meldungen be-schränken sich nicht auf reine Ereignisberichterstattung, sondern es werden auch Prognosen, Vermutungen und Befürchtungen von den Korrespondenten geäußert, genau wie sie auch über Annahmen und Befürchtungen der Beteiligten oder Betroffenen in den Krisengebie-ten': berichten. Diese Form der Berichterstattung verlangt entspre-chende sprachliche Mittel, zu denen auch der Gebrauch von Modal-verben gehört.

    Das dieser Untersuchung zugrundegelegte Corpus umfaßt die zwei ersten erhaltenen Jahrgänge deutscher Wochenzeitungen, den Wol-fenbütteler >Aviso< (A) und die Straßburger >Relation< (R) aus dem Jahre, 1609.3 Das Corpus umfaßt ca. 194.000 Wörter, worunter ca.

    3 Die Untersuchung ist entstanden im Zusammenhang mit dem von der DFG geförderten Projekt »Entstehung und Entwicklung der Zei-tungssprache um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert« (Projekt-leitung: Bucher, Fritz, Muckenhaupt, Straßner). Der DFG sei an die-ser Stelle für ihre Unterstützung gedankt. Bedanken möchte ich mich

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    3.560 Modalverbformen sind (dörfen: A 26/R 18, können: A 177/R 126, mögen: A 156/R 177, müssen: A 107/R 74, sollen: A 813/R 720, wollen: A 634/R 478, werden: A ca. 35/R ca. 20).4 Unter quantitati-vem Gesichtspunkt muß berücksichtigt werden, daß A und R stel-lenweise eine Parallelberichterstattung haben, die auf gemeinsame Quellen für manche Korrespondenzen schließen läßt, so daß sich die Zahl der ursprünglichen Korrespondenzbelege um eine Anzahl von Verbreitungsdubletten reduziert. Für die Zwecke dieser Untersu-chung kann diese Einschränkung vernachlässigt werden. Charakte-risierungen wie »sehr häufig« und »selten«, die durch Zahlenwerte gestützt werden sollen, werden durch diese Einschränkung nicht tangiert. Die Unsicherheit in der Lokalisierung des >Aviso< ist nur ein Teil der generellen Unsicherheit in der regionalen Zuordnung der Zeitungstexte. Da mit einer tiefgreifenden redaktionellen Bearbei-tung der Korrespondentenberichte aufgrund der Produktionsbedin-gungen der Zeitungen nicht zu rechnen ist, und da die Drucker ver-mutlich im allgemeinen allenfalls in die orthographische Form der Vorlagen eingegriffen haben, bleiben als die eigentlichen Produzen-ten der vorliegenden Texte die Berichterstatter an den verschiede-nen Korrespondenzorten. Diese Korrespondenten werden zum einen ortsansässige Gewährsleute gewesen sein. Darauf deutet bisweilen der Ausdruck persönlicher Betroffenheit durch die Ereignisse hin. Zum andern aber können es Handelsleute, Kanzleibeamte und ande-re gewesen sein, deren eigene regionale Herkunft mit dem Korre-spondenzort nicht übereinstimmte und die sich möglicherweise ge-zielt einer nicht speziell regional gefärbten Sprache bedienten. Das bedeutet, daß die Frage, ob mit Regionalismen gerechnet werden kann, für jede Korrespondenz einzeln gestellt werden muß und in den meisten Fällen nur bedingt beantwortet werden kann. Insofern eignen sich die Zeitungstexte im allgemeinen weniger dazu, Regiona-

    ferner bei M. Muckenhaupt, der das EDV-Fundament für die Erstel-lung der unentbehrlichen Konkordanzen gelegt hat, und bei T. Glo-ning, dem unermüdlichen Gesprächspartner in allen Wortschatzfra-gen. - Auf das schwierige Problem der Lokalisierung des >Aviso< kann ich hier nicht eingehen. Der Druckort ist höchstwahrscheinlich Wol-fenbüttel, es gibt aber Indizien dafür, daß die redaktionelle Zusam-menstellung der Texte in Augsburg stattfand.

    4 Die Verwendung von »ca.« bei der Zahl der werden-Belege ist damit begründet, daß es für etliche Belege nicht zu entscheiden ist, ob sie als epistemische Verwendung oder als Futur-Indikator zu deuten sind.

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    lismen sicher zu fixieren, als dazu, einen auf weite Verbreitung und regional uneingeschränkte Verständlichkeit hin angelegten Sprach-gebrauch zu dokumentieren. Die genaue Untersuchung von Regio-nalismen im Gebrauch der Modalverben, mit denen auch um 1600 zweifellos zu rechnen ist, bleibt ein Desiderat für zukünftige ForSchung.

    Die vorliegende Darstellung beschäftigt sich primär mit zwei Ty-pen von Modalverbverwendungen, die in der neueren Literatur un-ter der Kennzeichnung »epistemisch«, bisweilen auch unter der Kennzeichnung »evidential«, zusammengefaßt werden:5

    1. 'Die Verwendung des Modalverbs zur Kennzeichnung des Be-richts aus zweiter Hand oder, wie man auch sagen könnte, zur Kenn-zeichnung der Quellenperspektive. In der Gegenwartssprache ist der typische Ausdruck dafür die Verwendung von sollen in Sätzen wie Der Kanzler soll unter Druck geraten sein.

    2. Die Verwendung eines Modalverbs zur Kennzeichnung der Tatsache, daß sich der Berichtende bei seiner Mitteilung eines Sach-verhalts auf mehr oder minder starke Indizien für die Wahrheit sei-ner Meldung stützt, wie in Er kann / dürfte / muß unter Druck geraten sein,:

    Es geht zunächst um die Bestandsaufnahme der relevanten Ver-wendungsweisen unterschiedlicher Ausdrücke und die Dokumenta-tion dieser Verwendungsweisen mit Belegen aus den Zeitungstexten. Abschließend soll dieser Befund dann kurz in den Zusammenhang der Entwicklungsgeschichte der Modalverben eingeordnet werden. Wo es nötig erscheint, vor allem, wo sich hermeneutische Probleme stellen, werden die Belege genauer beschrieben und diskutiert. Dabei sollen punktuell Fragen der Gebräuchlichkeit, der regionalen Zuord-nung· und der sprachhistorischen Einordnung aufgeworfen werden. Daneben soll, vor allem mit Blick auf die Entwicklung zur Gegen-wartssprache hin, eine Antwort auf zwei Fragen gesucht werden: 1. Wie weit ist bei den einzelnen Ausdrücken die Möglichkeit entwik-kelt; "in bezug auf verschiedene Zeitstufen verwendet zu werden? (Vgl.nhd. Er kann es gewußt haben / wissen / morgen wissen.) In der Beantwortung dieser Frage kann man ein Kriterium für den Grad der Entfaltung einer typischen epistemischen Verwendungsweise se-hen. 2. Inwiefern läßt sich eine Ordnung nach der Stärke der signali-

    5 Den Terminus »epistemisch« verwenden u. a. Lyons 1977, Öhlschläger 1989, Traugott 1989. Von »Evidentialen« spricht z.B. Anderson 1986.

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    sierten Indizien feststellen, wie sie für das System der Gegenwarts-sprache angenommen werden kann?

    Der bedeutungstheoretische Rahmen, in dem sich diese Untersu-chung bewegt, ist eine handlungstheoretische Semantik.6 Diese theo-retische Ausrichtung bietet sich schon deshalb an, weil beim Be-schreiben des Gebrauchs der Modalverben fast naturwüchsig ein Vokabular verwendet wird, das für die handlungstheoretische Be-schreibungssprache grundlegend ist. Modalverben werden verwen-det, um Erlaubnis zu geben, Ratschläge zu geben oder Vermutungen zu äußern. Dieser Redeweise bedienen sich auch Vorstellungstheore-tiker und Strukturalisten. An spezifisch handlungstheoretischem Begriffsapparat wird in dieser Untersuchung verwendet: der Begriff der Festlegung, der Begriff des gemeinsamen Wissens und der Be-griff der Griceschen Implikatur.7 Während die letzteren beiden Be-griffe seit einigen Jahren allgemein verbreitet sind und keiner Erläu-terung bedürfen, will ich den Gebrauch des Ausdrucks Festlegung (oder auch: Commitment) an einem Beispiel erläutern. Wenn jemand mit dem Satz Er muß es gewußt haben eine starke Vermutung äußert, dann legt er sich dabei darauf fest, daß er starke Indizien dafür hat, daß der Betreffende das Betreffende gewußt hat. Diese Festlegung kann ein Gesprächspartner kommunikativ einklagen.

    Ein methodisches Problem bei der Analyse historisch entfernter Texte besteht darin, zu entscheiden, wann es sich bei einem be-stimmten Verwendungsaspekt eines Ausdrucks um ein Element der konventionellen Bedeutung und wann um eine kontextuelle Implika-tur handelt. Für eine Sprache, die er als Muttersprachler beherrscht, kann der Analysierende den Aufhebungstest machen. Läßt sich die Implikatur in geeigneten Kontexten aufheben, ist sie kontextuell be-dingt, sie ist in Grices Terminologie konversationeil. Als Ersatz für diese fehlende Möglichkeit muß bei historischen Texten der Ver-gleich von Kontexten eintreten, der bisweilen Hinweise auf den kon-textuellen oder konventionellen Charakter von Verwendungsaspek-ten gibt. Das kann eine sehr schwierige, manchmal nicht befriedi-gend lösbare hermeneutische Aufgabe sein. Als methodisches Prinzip dürfte sich bewähren, die kontextuellen Varianten differen-ziert zu dokumentieren, aber mit der Annahme der Konventionali-sierung sparsam umzugehen.

    6 Zur Anwendung einer handlungstheoretischen Semantik auf histori-sche Fragestellungen vgl. Fritz 1988.

    7 Zu diesen drei Begriffen vgl. Kasher 1980, Schiffer 1972, Grice 1975.

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    ','Zum Abschluß dieser Einleitung noch ein Hinweis zu einer bei die-ser Untersuchung gemachten Voraussetzung zur Semantik der Mo-dalverben. Der Unterschied zwischen den epistemischen und den nicht-epistemischen Verwendungsweisen ist so grundlegend, daß es sinnvoll ist, die beiden Typen von Verwendungsweisen getrennt zu behandeln. Diese Verfahrensweise macht die Gruppe der epistemi-schen Verwendungsweisen für die Zeit um 1600 überhaupt erst deut-lich sichtbar. Daraus folgt aber nicht, daß die verschiedenen Typen von Verwendungsweisen nichts miteinander zu tun haben. Im Ge-genteil, für die Erklärung der Entstehung der epistemischen Ver-wendungsweisen ist es gerade essentiell, den Zusammenhang mit nicht-epistemischen Verwendungsweisen zeigen zu können.

    2. Bestandsaufnahme

    2.1. Kennzeichnung der Quellenperspektive

    2.1.1. sollen

    Bei Berichten aus zweiter Hand wird in den Zeitungen häufig die Quelle der Information angegeben oder doch wenigstens gekenn-zeichnet, daß es sich um Information aus zweiter Hand handelt.

    (1) Gleich jetzt hat man zu Hoff außgeben / das die Euangelische Oster-reichische Stendt / vnd die Königischen ... / vneins worden (A 5, 12-14)

    (2) deßgleichen wird gesagt das nach den Feyertagen der Phillip lang (lies: Lang) soll ledig werden (R 8, 3f.)

    , Mittel zur Kennzeichnung der Quellenperspektive (MKQ) sind ,z.B.: man sagt, (deßgleichen) wird gesagt, man wil sagen, wie man sagt, iwie gesagt wird, vnd gehet noch die sag, das Geschrey geht (öffentlich), vnd ist die sage, der gemeinen sage nach, (sonsten) hat man, (sonsten) verlaut, hat sich verlauten lassen, wie verlaut, wie der ruff, wie man ver-nimbt, wie man vermeint, (alhie) wird außgeben, wird vermeld, (in ge-mein) wil man spargirn. , 'Alternativ zu diesen Mitteln gibt es die Möglichkeit, die Quellen-

    perspektive durch den Gebrauch von sollen zu signalisieren. Wie die folgenden Belege zeigen, ist diese Möglichkeit für Sachverhalte aller drei Zeitstufen verfügbar:

    3 Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache, Band 113

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    (3) Ertzhertzog Leopolt sol von hier stracks auff München gereist seyn (A228,9)

    (4) Der Stendt Volck soll gar wol geputzt vnnd ansehnlich sein (A 21, 23)

    (5) Künfftige Wochen sol Ertzherzog Leopold / ... / wieder nach Wien geschickt werden (A 54, 27)

    Bei den Belegen mit Zukunftsbezug ist allerdings häufig schwer zu entscheiden, ob mit der Verwendung von sollen die Quellenperspek-tive signalisiert werden soll oder ob damit festgestellt werden soll, daß es Pläne bzw. Absichten gibt, den betreffenden Sachverhalt zu realisieren. M. a. W. es muß in diesen Fällen offen bleiben, ob es sich um eine epistemische oder eine nicht-epistemische Verwendung handelt.

    Mit dem Hinweis auf die Quellenperspektive ist im Nhd. oft eine Distanzierung von der Verläßlichkeit der Information impliziert. Eine derartige Deutung liegt auch bei manchen Belegen in den vor-liegenden Korrespondentenberichten nahe. Es erscheint aber sinn-voll, darin, ähnlich wie in der heutigen Sprache, eine in vielen Fällen naheliegende konversationelle Implikatur und nicht ein konventio-nelles Bedeutungselement zu sehen.8

    Häufig findet sich der Gebrauch VOn sollen in Verbindung mit an-deren Mitteln der Quellenkennzeichnung. Unter syntaktischem Ge-sichtspunkt lassen sich vier Formen der Kombination unterscheiden:

    1. MKQ im übergeordneten Satz, sollen im untergeordneten Satz:

    (6) Es ist die sage / das vorgestern in 300. Reutter vmb Gülich ange-langt sein sollen (R 171, 32)

    2. Satzgefüge mit MKQ im übergeordneten Satz, Anschluß eines selbständigen Satzes mit sollen zur Fortführung der Quellenperspek-tive (meist im Konjunktiv):

    (7) Auß Moßcaw hat man / das der König in Polen Schmolinsko beren-nen lassen / ... / das Landvolck habe sich alles begeben / ... / vnnd solle ein grosse(r) Schatz in der Vestung vorhanden seyn (A 360, 1-7)

    (8) Das geschrey geht öffentlich / das sich der Ducadi Newers mit hülff des Königs in Franckreich stercke / ... / vnd solle bereit schon viel Volcks auff den Lützelb. Grentzen liegen (A 226, 21-24)

    Die Fortführung der Quellenperspektive in längeren Perioden durch den Anschluß mit vnd solle(n) ist in unseren Texten außeror-

    8 Vgl. Öhlschläger 1989, 234ff.

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    dentlich häufig, so daß hier geradezu VOn einer zeitungsspezifischen stilistischen Eigenart gesprochen werden kann.

    ,3. MKQ im Angabesatz, solle(n) im Hauptsatz:

    (,9) wie man sagt solle der Graff allbereit das beste vnd schönste Sil-. bergeschmeid ... verschenckt vnd versetzt haben (R 67,19-21)

    (10) wie verlaut solle er vnter andern wegen des Schwäb. Creiß Thona-werdt wieder begehren (A 216,7)

    4. MKQ parenthetisch eingefügt vor oder nach dem Modalverb:

    (11) Der Churfürst von Cölln ist noch nicht alhero kommen / soll wie die sag / die Außsöhnung mit dem König Matthia tractiren (A 365,

    , H.) (12) dessen vortrag / wie man sagt / soll nach Rom vnnd Spannia / ... /

    gesand worden sein (R 151, 32f.)

    Der Modusgebrauch ist oft nicht sicher zu bestimmen, da in der 3. Plur. Präs. Indikativ und Konjunktiv (sollen) nicht differenziert sind und zumindest in R mit einer großen Anzahl von apokopierten For-men der 3. Sing. Präs. gerechnet werden muß (soll statt solle). Nach dem Befund in A könnte man als Grundregel formulieren: Indikativ im Hauptsatz, Konjunktiv im abhängigen Satz. Es gibt aber durch-aus Beispiele für die jeweils entgegengesetzte Verteilung. Vor allem scheint die Verbindung mit einem anderen Ausdruck zur Kennzeich-nung der Quellenperspektive, gleichgültig ob im übergeordneten Satz, als vorangestellter Angabesatz oder in Parenthese, die Wahl des' Konjunktivs zu beeinflussen. Die entsprechende Verwendungs-weise im Präteritum ist in den vorliegenden Texten nur in wenigen Fällen zu belegen, etwa in folgender Äußerung:

    (13) vnnd ob wol man vor diesem außgeben / daß König Matthias auff antrieb der Böheimischen stende wider in dise Land einfallen so 1 te / will doch solches nit erfolgen / man gehet auch strack auff diejeni-gen / die solches anfänglich spargiert haben (R 74,35/75, 1)

    Hier wird ein früher verbreitetes Gerücht angeführt, das sich aber in der Zwischenzeit nicht bewahrheitet hat.

    Wie ordnet sich nun das hier gezeichnete Bild vom epistemischen Gebrauch von sollen in das vorhandene sprachhistorische Wissen ein? Bech 1951 verzeichnet diese Verwendungsweise überhaupt nicht. Das DWb (Bd. 16 [1905], Sp. 1484f.) spricht vom ))jetzt so häufigen sollen zur bezeichnung eines gerüchts«. Der Bearbeiter fin-det·zwar ))ähnliches schon im mhd.«, stellt dann aber fest: ))beson-ders ist diese bedeutung jedoch erst im nhd. seit etwa 1700 entwik-

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    kelt«. Diese Angabe ist auf jeden Fall zu korrigieren. In den Zeitun-gen von 1609 ist diese Verwendungsweise voll entwickelt und außerordentlich häufig. Von den 1.533 Belegen für sollen in A und R sind ca. 30% Verwendungen zur Kennzeichnung des Berichts aus zweiter Hand. Diese Häufigkeit - auf jeder zweiten Seite findet sich ein Beleg - ist zweifellos eine textsortenspezifische Besonderheit.

    Belege für diese Verwendungsweise finden sich nicht nur in Ver-gleichstexten um 1600 (z. B. dem Briefwechsel zwischen Balthasar Paumgartner dem Jüngeren und seiner Gattin Magdalena, 1582-1598), sondern regelmäßig schon in Brief texten des ersten Drittels des 16. Jahrhunderts (z. B. in Briefen von Luther oder Eck, in hand-schriftlichen Nachrichtenbriefen und auch in gedruckten Neuen Zei-tungen).9 Auch für das 15. Jahrhundert lassen sich eindeutige Belege beibringen.1° Bemerkenswert ist, daß Jäntti in der >Bayerischen Chronik< (um 1493), einem Text von ca. 95.500 Wörtern, keinen ein-zigen Beleg findet für die sog. indirekte Behauptung mit sollen (Jänt-ti 1981, 50). Hier scheint die Textsortenspezifik eine Rolle zu spielen. Bei systematischer Überprüfung geeigneter Texte dürfte es möglich sein, die epistemische Verwendungsweise bis ins klassische Mhd. zu-rück kontinuierlich zu belegen.ll Zu erklären bleibt weiterhin die re-lative Ungebräuchlichkeit bzw. Schwachbelegtheit dieser Verwen-dungsweise im spätmittelalterlichen Deutsch und ihr Zusammen-hang mit den anderen Verwendungsweisen von sollen.

    2.1.2. wollen

    Auch vom Verb wollen gibt es in unseren Texten Verwendungswei-sen, die berichtsspezifisch sind und die dem Bereich der Kennzeich-nung der Quellenperspektive zugeordnet werden können. Ihr Beitrag zur Satzbedeutung ist aber schwieriger zu bestimmen als im Falle von sollen. Sie kommen im wesentlichen in zwei Arten von geradezu

    9 Vgl. eine handschriftliche Zeitung von 1534: ... das der Kayser ein In-sel mit weissenn Leuthen gefunden hat, di sol grosser sein als man auß yspania dem Babst hieher schreibt dan gantz Europa ... (Bechstein 1862,196).

    10 Vgl. folgenden Beleg aus einem Regensburger Verhörprotokoll von 1470: item, als er sagt das sand Haymran in dem Judenjreithofe solle begraben sein, des ist er bekenntlich und sagt, er hab das gehört von sein eltern ... (Philipp 1980, 153).

    11 Vgl. >Tristan( 18833-18837 (nicht im DWb): dannoch vor naht do wart der schal/in dem lande vliegend über al, / daz der stolze Kaedin / uz geri-ten solte sin.

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    formelhaften Wendungen vor, man will + redekennzeichnendes Verb ([vor gewiß] sagen, [vor gewiß] außgeben, spargirn) und man will + Verb zur Kennzeichnung einer propositionalen Einstellung (vermu-ten, erachten, dafür halten, halten vor, zweiffeln). Ein Beispiel für die erste Art von Wendung soll mit knappem Kontext angeführt wer-den:

    (14) gleichfals sollen jhre May. auch vertröstung starcker gelthülff von vnderschiedlichen Potentaten haben / ... Man will gleichwol auß-geben / daß jhre May: auff dem Land die Religion auch verwilligen ... wollen (R 19, 37-41)

    Der Kontext legt hier die Deutung nahe, daß der Korrespondent mit der Verwendung von man will außgeben nicht nur den Bericht aus zweiter Hand kennzeichnet, sondern sich gleichzeitig auch von der Verläßlichkeit der verbreiteten Nachricht distanziert. Für einige der insgesamt 21 Belege für diese Art von Wendung ist diese Deu-tung plausibel. Da dies aber nicht für alle Vorkommen gilt und zu-dem auch die dieser Deutung günstigen Fälle als konversationelle Implikaturen gedeutet werden könnten, muß man mit der Möglich-keit rechnen, daß man will sagen in den vorliegenden Texten als rein stilistische Variante zu man sagt verwendet werden kann.

    Die zweite Art von Wendung zeigt folgender Beleg:

    (15) vnd wollen etliche darfür halten / es sey diß beyden Fürsten mehr zu gut / alß argen angesehen (A 236, 28 f.)

    , Als eine elliptische Version der Wendung in (15) dürfte (16) zu ver-stehen sein:12

    (16) etliche wollen wegen des Vbels / so vnser Volck vnter jhme im , Reich / ... begangen / Andere aber halten dafür eines Paßquills hal-

    ben / so er auff jetzigen Stillstandt gemacht habe (A 210, 13-16) >manche nehmen an [der betreffende spanische Würdenträger wer-de bestraft] wegen der Untaten, die unser Heer unter seiner Füh-rung im Reich begangen hat, andere dagegen sind der Auffassung ... (

    Ebenfalls kombiniert mit einem redekennzeichnenden Verb (ver-lauten), aber mit unpersönlicher Konstruktion findet sich will in Äu-ßerungsformen der folgenden Art:

    (17) In gleichem will auch verlauten / daß der beyder Fürsten Volck / das Hauß Rauschenberg ... eingenommen sollen haben (R 207, 12-14)

    12 Zur elliptischen Form vgl. DWb 30,1354 (c).

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    Bemerkenswert ist hier die Verbindung von will verlauten im über-geordneten Satz mit sollen im untergeordneten Satz. Auch bei diesen Wendungen ist nicht sicher zu entscheiden, ob damit eine Distanzie-rung vom Inhalt des Berichts verbunden ist.

    Vergleichbare Verwendungen derartiger Ausdrücke belegt das DWb erst für den Ausgang des 18. Jahrhunderts: so will man sagen (Kretschmann [1784]), man will ... wissen (Lessing).13

    2.2. Hinweise auf Indizien, Vermutungen, vorsichtige Prognosen

    2.2.1. mögen

    Für den Ind. Präs. finden sich insgesamt nur zehn Belege in unse-rem Corpus. Davon lassen sich nur zwei als Verwendungen zum Aus-druck einer Vermutung deuten, wobei beide nicht unbedingt als Pro-totypen dieser Verwendungsweise gelten können.

    (18) (Die Soldaten der streitenden Parteien liegen sich nahe gegenüber.) dann es jtzt nur an deme / wer den anfang macht / das end mag sein wie das Glück wil (A 13, 13f.)

    (19) was sein Negotien allhie seyn mögen / ist in der still / die Böhm. Ständt vermuhten / es werde etwan Kriegsvolck herein zu bringen bedeuten (A 192, 19-21)

    Die Verwendung im Ergänzungssatz in (19) setzt wohl die Mög-lichkeit eines Hauptsatzes folgender Art voraus, der eine Deutung als Äußerung einer Vermutung zuläßt:

    (20) Sein Negotien allhie mögen seyn / Kriegsvolck herein zu bringen.

    Die epistemische Verwendungsweise kann also als belegt, aber als eher ungebräuchlich gelten. Das wird besonders deutlich, wenn man im Kontrast die hohe Belegzahl für die Formen des Konj. Prät. (möcht/möchte/möchten) betrachtet, die als Verwendungen zum Aus-druck der Vermutung gelten können. Von den 197 Belegen in A und R lassen sich 88 der Vermutungslesart zuordnen, wobei der prozen-tuale Anteil in R höher liegt als in A (55 % gegenüber 34 %). Ob sich in diesem Zahlenverhältnis eine regionale Präferenz ausdrückt, ist schwer ,zu entscheiden.

    An vielen Stellen der Zeitungen werden Prognosen ohne explizite Einschränkung des Grades der Begründetheit gemacht. Demgegen-über gibt es aber reiches Belegmaterial für Prognosen, bei denen

    13 Vgl. DWb 30, 1342.

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    durch den Gebrauch bestimmter sprachlicher Mittel auf einen schwächeren Grad der Gesichertheit hingewiesen wird. Zu diesen Mitteln gehören die Verben dörffen, können, werden und - zahlenmä-ßig an der Spitze der Gruppe - möchte(n). Man könnte hier von der Verwendung zum Ausdruck von Zukunftsvermutungen oder vor-sichtigen Prognosen sprechen.

    Die hier zu betrachtende Verwendungsweise von möchte(n) tritt besonders deutlich hervor, wenn mit dem Subjektausdruck der Sub-jekt-Infinitiv-Prädikation auf keine handelnde Person oder Institu-tion Bezug genommen wird oder wenn das dazugehörige Verb kein Handlungsverb ist.14 Typische Gegenstände, auf die sich der Sub-jektausdruck bezieht, sind der Krieg, der Frieden, ein großes Übel, die herrschenden Zustände (diß wesen) und unbestimmte Gegenstän-de wie alles oder allerlei. Die oben gegebene negative Bestimmung trifft natürlich a fortiori auf sog. unpersönliche Konstruktionen zu wie denen möcht es nicht wohl ergehn oder es möcht noch seltzam zuge-hen. Häufig werden die Gründe für die Einschätzung der zukünfti-gen Entwicklung angegeben, wie in (21), oder es wird mit der Ver-wendung von Ausdrücken wie allem ansehn nach darauf hingewie-sen, daß es Gründe für eine derartige Einschätzung gibt. Für die Verwendung im Hauptsatz sollen zwei Beispiele angeführt werden:

    (21) Gleichsfals hat der Hertzog von Neuers / ein Edelman hieher ge-sandt / welcher seines Hertzogen Geburts Linij in Druck verferti-gen lest / daß er also sich seiner Ansprach auff die Gülch. Land auch nicht begeben wil / möcht also dieser Succession halber / sich noch allerley zutragen (A 143, 18-21)

    (22) Es lassen auch die Stende den Altstetter Ring vnd Platz von Läden vnd Schrägen abraumen / darauß zuschliessen / daß sie die Burger-schafft in pflicht nemen / sich sebst (sic) Herrn deß Lands machen / vnd vielleicht jhrem König ein deputat geben wollen / ... / möch-te also diß wesen allem ansehen nach /ohn Blutvergiessen nit ab-gehn (R 118, 2-10)

    In diesen Beispielen wird mit dem möcht-Satz jeweils das progno-stische Fazit aus den mitgeteilten Beobachtungen gezogen - eine ty-pische inferentielle Verwendung.

    Häufig wird möchte im untergeordneten Satz verwendet, abhängig von Ausdrücken wie besorgt man, wird besorgt, sie befürchten. Hier handelt es sich also nicht um eine Äußerung der Besorgnis des Kor-

    14 Der Terminus »Subjekt-Infinitiv-Prädikation« geht auf Bech 1949 zurück. Bech bezeichnet damit den syntaktischen Zusammenhang Er . .. kommen in Sätzen der Form Er will kommen.

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    respondenten, sondern um den Bericht des Korrespondenten über Besorgnisse und Befürchtungen der örtlichen Bürger und sonstiger Beteiligter.

    (23) daher besorgt man / wo jhnen solches nicht gewehrt / ... / es möch te sich der Frieden ... zerstossen (A 181, 13-15)

    (24) Herr Ferdinand von Colonitsch kan mit seiner Werbung nicht fort oder auffkommen / weil er im Reich nit werben darff / vnd die Knecht hierumb nicht trawen wollen / sondern beförchten es möchte jhnen / mit der bezahlung nicht woll ergehen (R 27, 17-20)

    (25) (Der Herzog von Savoien) laß Krigsvo1ck werben / besorgend / weil der König von Franckreich in grosser Kriegsrüstung / es möchteso1chesauff jhn angesehen sein (R 146, 17f.)

    Es fällt auf, daß von der großen Zahl der Belege nur (25) den Be-zug auf einen gegenwärtigen Sachverhalt dokumentiert. Immerhin: Möglich war eine Verwendung dieser Art.15

    2.2.2. können

    Wie bei mag sind die epistemischen Verwendungsweisen bei kan in unserem Corpus zwar nachzuweisen, aber doch sehr spärlich be-legt. Für den Hauptsatz mit kan finden sich nur zwei Belege:

    (26) (Man will den Soldaten nur ein Drittel ihres ausstehenden Soldes bezahlen) kan noch wol ein mutination daraus folgen (A 143, 1)

    (27) Der Herr Tresurier Robian befindet sich noch zu Hertzogenbusch / vnd tractirt mit der Stadt wegen der Soldaten / so jhre Dht. daselb-sten eingelegt / aber die Bürgeschafft nicht gedulden wH / kan auß solchem bald ein Vnruh erwachsen (A 403,5-8)

    Dazu kommen noch einige Verwendungen in abhängigen Sätzen, die auch dieser Verwendungsweise zugeordnet werden können:

    (28) Es ist allen Vmbstenden nach nicht zuuermuten / daß dieser Frie-den lange bestendigbleiben kan (A 156, 7f., parallel R 93, 22f.)

    (29) daher menniglich zweiffeIt / daß dieser Frieden mit dem Türcken nit lang bestendig sein kan (A 115, 11f.)

    (30) (die Soldaten) warten mit grosser Begierd auff Krieg vnd Auffruhr / so sich allem ansehen nach / leichtlich erregen kan (A 126, 18-20, parallel R 79, 11f.)

    Charakteristisch ist die Abhängigkeit von Verben des Vermutens (bzw. Zweifelns) in (28) und (29) sowie die Verbindung mit adverbia-

    15 Zum Gebrauch mit Inf. Perl. vgl. den Beleg bei Jäntti 1981, 48: es mocht ain unru erstanden sein (Bayerische Chronik 615,29).

    DEUTSCHE MODALVERBEN 1609 41

    len Ausdrücken wie wol (26) und allem ansehn nach (30). Man könn-te ve~muten, daß die Korrespondenten bei weniger gebräuchlichen epistemischen Verwendungsweisen das Verständnis der betreffenden Stellen durch zusätzliche Verwendung dieser Ausdrücke sichern. Ähnliches ist bei darff zu beobachten.

    i. Wenn man die Stärke des mit der Verwendung eines Modalverbs signalisierten Indizienhintergrunds zu bestimmen versucht, kom-men mehrere Verfahren in Frage. Man kann die typischen Kontexte analysieren, man kann Parallelen zu anderen Verwendungsweisen suchen (z. B. kann vs. muß in verschiedenen Verwendungsweisen), man kann nach Anzeichen in der historischen Entwicklung fragen und man kann Zeugnisse zeitgenössischer Sprachreflexion heranzie-'hen, wenn es sie gibt. In unserem Fall gibt es für das Verhältnis kan / möchte einen interessanten Hinweis bei einem zeitgenössischen Grammatiker, dem Pädagogen Wolfgang Ratke (geb. 1571), der in seiner >WortbedeutungsLehr< (ca. 1630) Bedeutungsverwandtschaf-ten zwischen Ausdrücken unterschiedlicher Wortartencharakteristik angibt. Unter seinen Beispielen für Wendungen, die nichts anderes seien »alß vmbschreibungen einfacher Beywörter« (Ising 1959, 299), führt er eine Gruppe von Äußerungsformen an, mit denen man da-mals Vermutungen äußern konnte:

    . (31) Es kan sein Es mochte sein Es ist wohl müglich

    I Es ist wohl zuglauben )

    das ist so viel alß vieleicht.

    Diese Angabe von Synonymiebeziehungen kann zumindest als Hinweis darauf dienen, daß für Ratke zwischen kan und mochte keine gravierenden Unterschiede in der Stärke des signalisierten Indizien-hintergrundes bestehen.

    Der Beleg aus Ratkes Schrift ist noch in einer anderen Hinsicht 'interessant. Ratke war gebürtiger Holsteiner und verbrachte seine Jugend in Hamburg und Rostock. Es ist also denkbar, daß seine An-gaben Zeugnisse für einen norddeutschen Sprachgebrauch sind. Das könnte sich möglicherweise in der Tatsache niedergeschlagen haben, daß er Es kan sein als erstes Synonym zu vieleicht nennt. Für unsere Zeitungen müßte man nach dem quantitativen Befund zweifellos möchte primo loco nennen. In der Literatur werden für den epistemi-schen Gebrauch von kan keine Belege aus süddeutschen Texten des 16. Jahrhunderts gegeben. Dagegen weist Peilicke diese Verwen-dungsweise von kan bereits in Leipziger Drucken um 1534 nach

  • 42 GERD FRITZ

    (Peilicke 1987, 358). Vor diesem Hintergrund bekommt die anson-sten nicht zu hoch zu veranschlagende Tatsache ein gewisses Ge-wicht, daß von sieben Belegen für kan in unseren Zeitungen vier aus Korrespondenzen aus Antwerpen stammen, die von norddeutschen Korrespondenten verfaßt sein könnten. Setzt man das Mosaik zu-sammen, dann sieht es so aus, als hätten wir in der meuen< Verwen-dungsweise von kan einen norddeutschen Sprachgebrauch, der sich, auch durch die Zeitungen, nach Süden ausbreitet.

    Im Gegensatz zu möchte gibt es für die Verwendung von könte in der Vermutungslesart keine überzeugenden Belege. Die sonst so of-fensichtliche Konkurrenz von mögen und können hat sich, möglicher-weise wegen der relativen Ungebräuchlichkeit der epistemischen Verwendungsweisen von können, auf diese noch nicht übertragen. Es scheint, daß erst im 19. Jahrhundert könnte gegenüber möchte zum Ausdruck der Vermutung favorisiert wurde.

    2.2.3. dörffen

    Zum Ausdruck von Zukunftsvermutungen dient auch die Verwen-dung von dörffen, sowohl im Indikativ (darff) als auch im Konjunktiv (dörffe, dörffte). Bei den ersten drei Belegen fällt die Verbindung mit wolauf.

    (32) Gleichwol sollen morgen etlich Puncten erlediget werden / vnd darff der Vergleich allhie / wol ehe ins werck gericht werden / Als etwan in Böhemb (A 61,18-20)

    (33) dieses darff wol die OberEnserische Huldigung einstellen (R 86, 34)

    (34) vnd dörffe der vbeln tractirung halben / so jhm widerfahren / sich im Reich wol etwas anspinnen (R 169, 18f.)

    (35) doch ist man guter hoffnung / das an jtzt ein gewisse vergleichung geschehen werde / wo nicht / so dörfft letzlich ein groß Blutver-giessen darauß entstehen (R 40, 27 -29)

    Diese Verwendungsweise findet sich auch im abhängigen Satz:

    (36) ist also zubefürchten / da jhnen kein content beschicht / es dörfft jnner 3. oder 4. tagen ein schedtlicher Tumult allhie entstehen (A 166,27f.)

    Wenn unsere Deutung der Belege (32) bis (34) zutreffend ist, dann muß die Feststellung des DWb, daß zum Ausdruck der »möglichkeit oder wahrscheinlichkeit ... immer das praet. conj. nötig« sei (DWb 2,1730), revidiert werden. In der Tat scheinen jedoch Ind. Präs. und Konj. Präs. in dieser Verwendungsweise weniger gebräuchlich zu

    DEUTSCHE MODALVERBEN 1609 43

    sein (je zwei Belege) als die Form des Konj. Prät. (sieben Belege). Diese ist es auch, die bis zum heutigen Tag zum Ausdruck von Ver-mutungen üblich ist. Im heutigen Deutsch gibt es aber, anders als in unseren Belegen von 1609, die Möglichkeit, mit dürfen Vermutungen in bezug auf gegenwärtige und vergangene Sachverhalte auszudrük-ken: (37) Er dürfte jetzt gerade in Bukittingi sein. (38) Er dürfte damals gerade in Bukittingi gewesen sein.

    Nach den Belegen des DWb zu urteilen, könnte die in unseren Texten vorliegende Verwendungsweise eine Neuerung der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts sein. In den Zeitungen des Jahres 1609 kann sie als etabliert gelten.

    2.2.4. werden

    Ohne die Fragen zu präjudizieren, ob werden generell den Modal-verben zugeordnet werden sollte und in welcher Weise das Verhältnis von Temporalität und Modalität beim Ausdruck zukünftiger Sach-verhalte zu bestimmen ist, läßt sich festhalten, daß es im Nhd. eine epistemische Verwendungsweise von werden gibt.16 Sie ist am deut-lichsten erkennbar bei werden + Inf. Perf.: (39) Er wird es gewußt haben.

    Genau diese Verwendungsweise finden wir auch in unseren Zei-tungstexten, allerdings nur in drei Belegen:17

    (40) Aus dem verlauff des Brüssallischen Einfals / werdet jhr vernom-men haben / mit was fug solches Werck angefangen vnd geendet worden (A 174, 5f., ähnlich R 156,18)

    (41) (Vor den Toren Wiens sollte ein Duell zwischen streitenden Partei-en ausgetragen werden.) derwegen jhr May. die Statt Thor biß auff mittags zeit nit anffsperren (sic) lassen / damit sie nit zusammen kommen können / glaub eswirdt wider verglichen sein (R 177, 23f.)

    Für den Ausdruck einer Vermutung in bezug auf einen gegenwär-tigen Sachverhalt finden sich zwei Belege:18

    16 Vgl. Vater 1975, nOff. 17 Das DWb bietet für diese Verwendungsweise einen Luther-Beleg (Bd.

    29,256). Weitere frühe Belege geben Pau11920, 256 (1593) und Valen-tin 1984,192 (1587).

    18 Vgl. den Cochläus-Beleg (1538) im DWb (Bd. 29, 256).

  • 44 GERD FRITZ

    (42) Es werden sich die Herrn Ritter vnd andere Abgesandten wissen zu erinnern / wasmassen die Ständ ... ein Defension beschlossen haben (A 212,15f.)

    (43) (Herr Hanibal) sucht allerhandt mittel/wie er sich mit fug / von Hof weg bringen möcht / dann jhm ohn zweiffel / das Anhaltische beschehene anbringen / wol im Kopff wird vmbgehen (A 323, 28-30)

    In bezug auf zukünftige Ereignisse ist es, wie im Nhd., oft schwer zu entscheiden, ob eine bestimmte Verwendung von werden + Ini als mehr oder minder reiner Ausdruck des Futurs oder als Ausdruck ei-ner auf die Zukunft bezogenen Vermutung zu verstehen ist.19 Bei Prognosen zu Reaktionen und Gefühlen von Beteiligten oder Leid-tragenden politischer Aktionen stützen sich die Korrespondenten auf Indizien unterschiedlicher Art. Hier liegt es nahe, eine epistemi-sche Deutung der Verwendung zu suchen. In vielen Fällen findet sich auch die Kombination mit adverbialen Ausdrücken wie wol, gewiß-lich, schwerlich, vielleicht, allem ansehen nach. Soweit man hier mit pleonastischem Gebrauch rechnet, kann man diese Belege der episte-mischen Verwendungsweise zurechnen. Im ganzen scheint für den Gebrauch von werden in den vorliegenden Texten der nhd. Zustand schon erreicht.

    2.2.5. müssen

    Epistemische Verwendungsweisen von müssen sind in unseren Texten sehr selten. In R finden sich keine eindeutigen Belege, in A nur drei. In diesen Textstellen ist jedoch der epistemische Charakter ganz deutlich. Es werden jeweils Umstände angeführt, die als starke Indizien dafür gelten können, daß ein bestimmter Sachverhalt gege-ben ist. Daran anschließend wird die von diesen Indizien gestützte Vermutung geäußert. Im Beispiel (45) wird durch die Verwendung von also explizit gemacht, daß es sich um einen Schluß aufgrund der angegebenen Sachverhalte (und weiterer Annahmen) handelt. Man kann hier zurecht von einer inferentiellen Lesart sprechen.

    ( 44) Diese wochen ist der Spinola zu nachts gen Prüßel paßiert / vnd bey jhr Dht: 2. stund gewest / hernach bey der nacht wider alher kommen / das muß was wichtigsantreffen (A 59,12-14)

    (45) Der Oberste zu Villeck / Poßnack Thomas / hat sich etlichmahl im Rausch verlauten lassen / man wolle acht haben / jnner 2. Monaten

    I

    19 Vgl. Vater 1975, 118. Generell ist zu bemerken, daß für die Sprache un-serer Texte das werden-Futur als fest etabliert gelten kann. Mit über 200 Belegen ist es auch quantitativ reich vertreten.

    DEUTSCHE MODALVERBEN 1609 45

    werden seltzame Sachen zugewarten sein / müssen also diese Leut was böses in Gedancken haben / vnnd mit dem Türcken practicirn wollen (A 103, 24-28)

    (46) Wegen auffgehobenen Pflasters im Schloß / glaubt das gemeine Volck / daß entweder J.M. tödtlich kranck / oder sonst ein wunder-barliche Vrsach seyn müsse (A 318, 21-23)

    Aufgrund der in diesen Belegen gegebenen Kontexte und auf-grund von Erwägungen zu den sonstigen Verwendungsweisen von müssen zur Zeit der Belegtexte liegt es nahe, mit der Verwendung von müssen eine Festlegung auf das Vorhandensein ziemlich starker Indizien zu verbinden, stärker etwa als bei dörjjen. Im Gegensatz zu der Mehrheit der anderen Modalverben bezieht die mit den betref-fenden Sätzen der Belegtexte gemachte Vermutung sich bei müssen auf die Zeitstufe der Gegenwart. Das gilt übrigens auch für die Lu-ther-Belege des DWb, die als früheste Belege für diese Verwendungs-weise angegeben werden (Bd.12, 2756).

    3. Zusammenfassung und entwicklungsgeschichtliche Betrachtung

    In den Zeitungen des Jahres 1609 finden wir ein Repertoire an epi-stemischen Verwendungsweisen, das, nach unserer Kenntnis, dasje-nige des Mhd. deutlich übertrifft und schon die wesentlichen Ele-mente des gegenwärtigen Systems epistemischer Verwendungswei-sen enthält. Die Besonderheiten des um 1600 erreichten Standes kann man verdeutlichen, indem man den Befund kontrastiert mit früheren Entwicklungsstufen einerseits und dem gegenwärtigen Stand andererseits.

    Blickt man von 1609 in die Geschichte zurück, so bietet sich etwa folgendes Bild der Entwicklung: Im Ahd. kam man offensichtlich mit einem epistemisch verwendeten Modalverb aus, nämlich mag. Gut abgesicherte Vermutungen, die man sicherlich auch damals äu-ßerte, drückte man mit anderen sprachlichen Mitteln aus, z. B. mit adverbialen Ausdrücken. Im Lauf des Mhd. kommt möchte dazu und vermqtlich auch sol. Mit dem Beginn des 16. Jahrhunderts scheinen sich die epistemischen Verwendungsweisen geradezu explosiv zu ver-mehren. Das DWb gibt überzeugende Belege aus Luthers Schriften für möchte und mus (es möchten vieleicht jünjzig gerechten in der stad sein, woltest du die umbringen? 1. Mos. 15, 28; dieser mensch mus ein mörder sein Apg. 28,4). Epistemisches wird ist belegt bei Cochläus, Luther und Hans Sachs. Epistemisches kann findet sich in Leipziger

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    Frühdrucken von 1534, und dörffte ist bei Fischart (ca. 1570) belegt. Im Jahre 1609 bieten die Zeitungen dann das volle Repertoire, ein-schließlich der schwierig einzuschätzenden Verwendungsweisen von will. Das in den Zeitungen wirksame kumulative Prinzip bringt gleichsam alles zusammen, wasauf dem Markt ist.

    Blickt man von 1609 voraus auf das heutige System, lassen sich einige charakteristische Unterschiede erkennen:

    1. Es hat sich der reine Formenbestand verändert. darf und möchte in ihren epistemischen Verwendungsweisen werden aufgegeben, letz-teres eine Entwicklung, die aus der Sicht von 1609 überraschend er-scheint, da möchte dort sehr gut etabliert ist.2o Neu einbezogen in das System werden die Formen des Konj. Prät. von können und müssen.

    2. Das heutige System zeichnet sich aus durch einen vollständigen Ausbau der Möglichkeiten, die Modalverben in bezug auf Sachver-halte in verschiedenen Zeitstufen zu verwenden:

    (47) A dürfte kann könnte mag muß müßte soll will wird

    {

    in Madurai gewesen sein } in Madurai sein nächstes Jahr in Madurai sein

    Diese Symmetrie, die als Charakteristikum der voll entwickelten epistemischen Verwendungsweise gelten kann, zeigen nach dem Zeugnis der vorliegenden Texte nur zwei der behandelten Verben, nämlich sollen und werden. mögen (Ind. Präs.jKonj. Prät.) ist nur in bezug auf gegenwärtige und zukünftige Sachverhalte belegt. müssen und wollen sind nur in bezug auf gegenwärtige Sachverhalte belegt, können und dörffen nur in bezug auf zukünftige Sachverhalte. Es ist nicht auszuschließen, daß unser Corpus einen zu restriktiven Befund liefert, aber generell scheint das Prinzip der freien Kombinierbarkeit erst in der Entwicklung zum Nhd. hin realisiert worden zu sein.

    Natürlich gab es im Jahre 1609 sprachliche Mittel, Vermutungen unterschiedlicher Stärke in bezug auf die Zeitstufen auszudrücken,

    20 Verwendungen von dürfen der Art Das darf doch nicht wahr sein! in der Gegenwartssprache sind nicht der epistemischen Verwendungsweise zuzuordnen. Bei Verwendungen dieser Art wird ohne Wenn und Aber vorausgesetzt, daß der angesprochene Sachverhalt tatsächlich gege-ben ist.

    DEUTSCHE MODALVERBEN 1609 47

    für die etwa dörffen und müssen (vielleicht) nicht verwendet wurden. Dazu gehören Ausdrücke wie ist zu vermuten, (ist) vermutlich j daß, ist nicht zu zweifeln, es scheint, es lest sich ansehen, (ich) glaub, gewiß, ohn zweiffel, wol, vielleicht. Es ist denkbar, daß neben den frei kombi-nierbaren Verben der Gruppe Adverbien wie wol und vielleicht, die ja häufig auch mit dörffen oder können auftreten, als Muster für die Ausweitung des Gebrauchs gewirkt haben.

    3. Das System der epistemisch verwendeten Modalverben in der gegenwärtigen Sprache verdient die Bezeichnung >System< auch des-halb, weil es eine erkennbare, zumindest partielle Abstufung der mit den verschiedenen Verben ausdrückbaren Grade der Gesichertheit von Feststellungen zeigt. Mit einer leichten Idealisierung könnte man folgende Skala der zunehmenden Stärke von Festlegungen kon-statieren:21

    (48) mögenjkönnen/dürfenjwerden/müssen

    In dieser Reihenbildung besteht eine semantische Verwandtschaft zu den sog. Satzadverbien möglicherweise, vielleicht, vermutlich, wahr-scheinlich, zweifellos. Eine entsprechende Systematisierung des Ge-brauchs ist in unseren Texten von 1609 in Ansätzen zu erkennen. Dabei muß man natürlich in Rechnung stellen, daß der moderne Le-ser mit seiner sekundären philologischen Kompetenz bei der Fest-stellung der feinen Bedeutungsnuancen, um die es hier geht, leicht an die Grenzen seiner Möglichkeiten stößt. Einigermaßen zweifels-frei erscheint, daß mit müssen, ähnlich wie im Nhd., der stärkste An-spruch auf Begründetheit einer Feststellung erhoben wird, vielleicht gefolgt von werden. Für die restliche Gruppe fällt es schwerer, eine gut begründete Binnendifferenzierung nach der Stärke der Festle-gungen anzugeben. Man könnte vermuten, daß die Festlegung bei dörffen und möchte(n) stärker ist als bei mag jmögen, aber die begrenz-ten Kontexte lassen eine sichere Abgrenzung nicht zu. Das Zeugnis von Ratke deutet darauf hin, daß zumindest in seiner Sprache der Bedeutungsunterschied zwischen kan und möchte nicht sehr stark ge-wesen sein dürfte. Für das subjektive bzw. auch das kon~ssive Mo-

    21 Auf unterschiedliche Beschreibungen der Gewißheitsskala in der For-schung weist Öhlschläger 1989, 205f. hin. Die Divergenzen liegen vor

    , allem in der Einschätzung der relativen Anordnung von mag und kann sowie wird und dürfte in der Skala. Hier spielen sicherlich auch regionale und stilistische Besonderheiten eine Rolle. Vielleicht ist ein Fünfersystem auch schon zu differenziert, um stabil zu sein.

  • 48 GERD FRITZ

    ment, auf das manche Autoren bei der Beschreibung des epistemi-schen Gebrauchs von mag in der Gegenwartssprache hinweisen, fin-den sich in den vorliegenden Zeitungstexten keine Hinweise. Ebenso ist eine deutliche Unterscheidung zwischen objektiv-epistemischen und subjektiv-epistemischen. Verwendungsweisen, wie sie manche Autoren für müssen, können und dürfen in der Gegenwartssprache se-hen, in den Belegen des vorliegenden Corpus nicht zu erkennen.22

    Auch das Teilsystem der Kennzeichnung der Quellenperspektive ist in der Gegenwartssprache klarer strukturiert, wie folgende Bei-spiele und Paraphrasen verdeutlichen:

    (49) Er soll ein Meisterschütze sein. (50) Es wird behauptet, er sei ein Meisterschütze. (51) Er will ein Meisterschütze sein. (52) Er behauptet, er sei ein Meisterschütze.

    Der Gebrauch von sollen in unseren Texten entspricht dem nhd. Gebrauch, dagegen zeigt wollen eine Gruppe von möglicherweise di-stanzierenden Verwendungsweisen, deren historischer Zusammen-hang mit dem heutigen Gebrauch noch nicht ausreichend geklärt ist.

    Überblickt man die tiefgreifenden historischen Veränderungen im Bereich der epistemischen Verwendungsweisen der Modalverben, so stellen sich unter evolutionärem Gesichtspunkt vielfältige Fragen, die vor allem die Entstehung des Variantenreichtums und die Selek-tion und Bearbeitung des Variantenbestands betreffen. Ich will an dieser Stelle spekulative Überlegungen zu allgemeinen Ursachen der ~Unruhe< in diesem lexikalischen Bereich aussparen und nur zwei spezielle Fragen herausgreifen, für die sich die Richtung andeuten läßt, in der Antworten zu finden sind.

    1. Wie kommt es zur explosionsartigen Vermehrung der epistemi-schen Verwendungsweisen im 16. Jahrhundert?

    Bei der Antwort muß man zuerst eine Voraussetzung der Frage näher betrachten. Hat es diese Explosion gegeben, oder sitzen wir da einer überlieferungs- und forschungsgeschichtlichen Fiktion auf? Das besondere Interesse der Wortgeschichte am 16. Jahrhundert

    22 Vgl. Öhlschläger 1989, 192ff. Wenn meine Deutung des Befunds zu-trüft, dann ist zumindest für die Entwicklung bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts die von E. C. Traugott für vergleichbare Entwicklun-gen in der englischen Sprache postulierte Kategorie der »Subjektivie-rung« nicht die entscheidende Veränderungskategorie (vgl. Traugott 1989). Eine Auseinandersetzung mit den Hypothesen von Traugott ist an dieser Stelle allerdings nicht möglich.

    DEUTSCHE MODALVERBEN 1609 49

    und das relative Desinteresse am 15. und 14. Jahrhundert mag hier eine Rolle spielen. Und außerdem werden mit der Vielfalt deutscher Texte im 16. Jahrhundert Sprachschichten zugänglich, die vorher in der Überlieferung wohl gar nicht präsent sind. Die Datierungsfragen sollte man also offenlassen, solange keine umfangreichen Analysen fül" das 14. und 15. Jahrhundert vorliegen. Aufgrund der folgenden Überlegungen wäre es sowohl für kan als auch für mus eher seltsam, wenn die epistemischen Verwendungsweisen tatsächlich erst im 16. Jahrhundert zu belegen wären.

    Unabhängig von der genauen Datierung stellt sich die Frage, wie es zu der Entstehung der neuen Verwendungsweisen überhaupt kom-men konnte. Die Antwort auf diese Frage muß man in zwei Teile aufspalten, einen allgemein-semantischen und einen speziell-histori-schen. Die allgemeine Antwort lautet, daß Ausdrücke, mit denen man Möglichkeiten und Notwendigkeit zuschreiben kann, prinzi-piell geeignet erscheinen, zum Ausdruck einer schwach gestützten bzw. einer stark gestützten Vermutung verwendet zu werden. Ein Blick auf andere Sprachen läßt die Annahme berechtigt erscheinen, daß es sich hier um einen sehr engen semantischen Zusammenhang handelt, der leicht aktualisiert und verstanden werden kann.23 Die speziell-historische Antwort betrifft den Befund, wann welche Ver-ben als Möglichkeitsverben belegt sind und damit als Kandidaten für die epistemische Verwendungsweise in Frage kommen. Schon seit dem Spätmhd. konkurriert kan, das ursprünglich der Zuschreibung von (vor allem intellektuellen) Fähigkeiten diente, mit dem Mög-lichkeitsverb mac, und auch für darf sind, allerdings erst im 16. Jahr-hundert, Verwendungen zur Zuschreibung der Möglichkeit belegt.24 Damit waren mag, kann, darf, jeweils mit Indikativ- und Konjunk-tivformen, prinzipiell für epistemischen Gebrauch verfügbar. Wie einzelne Formen dann jeweils, möglicherWeise differenziert nach Re-gionen, Textsorten etc., in geringerem oder höherem Maß gebräuch-lich wurden, läßt sich in manchen Fällen sicherlich noch rekonstruie-ren.25 Aus Texten wie den frühen Zeitungen erhalten wir Aufschluß sowohl über kommunikative Motive für die Aufnahme dieser Neue-

    23 Für verschiedene europäische Sprachen sind derartige Zusammen-hänge seit langem bekannt. Für die englische Sprache vgl. Traugott 1989. Außereuropäische Parallelen gibt Anderson 1986.

    24 Zum Verhältnis von kan und mag vgl. Deggau 1907, Klaren 1913; spe-ziell zum Fnhd. vgl. Peilicke 1987.

    25 Dieser Art von Fragestellung geht Peilicke 1987 nach.

    4 Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache. Band 113

  • 50 GERD FRITZ

    rungen als auch über die Mechanismen ihrer Verbreitung. Ein wich-tiges kommunikatives Motiv für die gehäufte Verwendung dieser Ausdrücke liegt ·zweifellos in dem Bedürfnis, beim Berichten den Grad der Gesichertheit der Information adäquat auszudrücken. Es ist leicht einzusehen, daß dieses Motiv in öffentlicher Kommunika-tion besonders ausgeprägt sein könnte. Als Verbreitungsmechanis-mus wirkte das in den Zeitungen realisierte kumulative Prinzip.

    2. Warum werden manche Varianten im Laufe der Geschichte auf-gegeben, z. B. darf und möchte?

    Auch hier müssen verschiedene Erklärungsmuster ineinandergrei-fen. Ein Erklärungstyp, der hier relevant werden könnte, ist der Ver-weis auf die wechselseitige Stützung unterschiedlicher Verwendungs-weisen innerhalb eines semantischen Systems. Im Falle der epistemi-schen Verwendungsweisen von darf und möchte könnte der Zusammenhang mit den nicht-epistemischen Verwendungsweisen eine Rolle spielen. Bei darf dominiert nicht-epistemisch zunehmend die Verwendung zum Ausdruck der Erlaubnis bzw. zum Bericht über Erlaubnis, so daß die epistemische Verwendung hier keine starke Ba-sis mehr hat. Es bleibt zu erklären, warum dürfte sich gehalten hat. Wird es in bestimmten Textsorten oder Sprachbereichen tradiert, z. B. im juristischen Sprachgebrauch, auf den das DWb hinweist (Bd. 2, 1730)? Was möchte angeht, so kann man einerseits darauf hin-weisen, daß können generell zunehmend gegenüber mögen in den meisten Verwendungsweisen des ursprünglichen Konkurrenzbe-reichs favorisiert wird, und andererseits darauf, daß möchte nicht-epistemisch zunehmend zur Wunschäußerung, zum Bericht über Wünsche etc. verwendet wird. Beide Beobachtungen könnten rele-vante Bedingungen für das Aufgeben der epistemischen Verwen-dungsweise von möchte erfassen. Allerdings muß man hinzufügen: Wenn das Interesse an einer Verwendungsweise groß genug ist, aus welchem Grund auch immer, stört die Sprecher die Isolation dieser Verwendungsweise nicht. Dafür gibt es gerade in der Geschichte der Modalverben gute Beispiele.

    Diese sehr tentativen Überlegungen zur semantischen Entwick-lungsgeschichte der Modalverben zeigen, daß diese Gruppe von Ver-ben ein Paradigma für eine evolutionäre Betrachtungsweise abgeben könnte, in der eine ganze Konstellation von Erklärungsmustern zu-sammenwirken müßte, wie sie in folgender kurzer Liste angedeutet ist:

    DEUTSCHE MODALVERBEN 1609 51

    (i) der Verweis auf kommunikative Bedürfnisse, die das Aufgreifen und die systematische Nutzung von Innovationen begünstigen, relativ zu bestimmten Textsorten und Kommunikationsformen,

    (ii) der Verweis auf etablierte oder sich neu etablierende Verwendungs-weisen, die ihrerseits in geeigneten Kontexten den Ausgangspunkt für naheliegende Implikaturen bilden können und damit zur Basis für neue Varianten werden,

    (iii) der Verweis auf kommunikative Prinzipien wie das der Variation oder das der Genauigkeit, deren Befolgung in bestimmten Kommu-nikationsformen die Aufrechterhaltung eines Variantenpools oder die Ausdifferenzierung innerhalb des Variantenspektrums begün-stigt,

    (iv) der Verweis auf syntaktische und morphologische Zusammenhänge, die es erlauben, Prinzipien wie das der Variation oder das der ein-heitlichen Ausdrucksweise zu befolgen (z. B. Variation Modalverb/ Satzadverb oder einheitliche Feinabstimmung von Gewißheitsgra-den innerhalb einer syntaktischen Kategorie, Modalverben oder Satzadverbien),

    (v) der Verweis auf Verbreitungsmechanismen, die, einer unsichtbaren Hand gleich, Bausteine eines Systems überregional verfügbar ma-chen oder ein ganzes System über seinen ursprünglichen Geltungs-bereich hinaus verbreiten.

    Bevor jedoch eine erklärende Geschichte der Modalverben in die-sem Sinne geschrieben werden kann, müssen noch etliche der zu Be-ginn dieses Aufsatzes diagnostizierten Lücken der Detailkenntnis geschlossen werden.

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    TÜBINGEN GERD F'RITZ

  • BEITRÄGE ZUR GESCHICHTE DER DEUTSCHEN

    SPRACHE UND LITERATUR

    Begründet von

    Wilhelm Braune / Hermann Paul / Eduard Sievers

    UNTER MITWIRKUNG VON

    HANS FROMM

    HERAUSGEGEBEN VON

    KLAUS GRUBMÜLLER / MARGA REIS / BURGHART WACHINGER

    113. BAND

    1991

    MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN