Die Divergenz der Menschenbilder in Europa und China Horst-Görtz-Stiftungsinstitut CharitéCentrum...

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Die Divergenz der Menschenbilder in Europa und China

Horst-Görtz-Stiftungsinstitut

CharitéCentrum 01 für

Human- und

Gesundheitswissenschaften

Prof. Dr. Paul U. Unschuld, M.P.H.

Direktor

19. Oktober 2011 Technische Universität BerlinEinführung in die Geschichte der Chinesischen Medizin

Die Selbstheilungskräfte

des Organismus

Die Divergenz der MenschenbilderEuropa vs. China

Die Divergenz der MenschenbilderEuropa vs. China

Selbstheilungskräfte des Organismus:

φυσιείς νουσων ιήτροι(physieis nouson ietroi)(Die Natur eines Menschen ist der Arzt seiner Krankheiten)

natura sanat, medicus curatDie Natur heilt, der Arzt therapiert

Warum in Europe?Warum nicht in China?

Die Divergenz ordnungspolitischer Vorstellungen.Selbstheilungskräfte

Antikes Griechenland/China: Identische Beobachtungen

die Selbstheilung/ 不治自已 mancher Krankheiten

in Europa: nouson physieis ietroi

medicus curat, natura sanat

Glaube an die Selbstorganisation des Organismus

Teleologie der Harmoniesuche: Selbstheilungskräfte

vs. Chaos-Angst (R. Moritz) des Konfuzianismus

• Heilkunde:

• Jegliches Bemühen, Kranksein zu heilen,

• zu lindern, oder vorzubeugen

• Unterscheidung:

• Nichtmedizinische Heilkunde

• Medizinische Heilkunde

Eingangsverse der Ilias:

„Denn Apollo, dem Könige zürnend,

sandte verderbliche Seuche durchs Heer;

und es sanken die Völker“

(Zur Erinnerung: Apollo hatte sich über

Agamemnon geärgert, der sich mit Achilles

überworfen hatte)

Aischylos

525 - 465

Euripides

480 - 406

Friedrich Nietzsche

Die Geburt der Tragödie:

Fremdbestimmung wandelt sich in Eigenverantwortung

Die Intrige ist der Versuch, sein Schicksal selbstin vorteilhafte Bahnen zu lenken

Von Matt: „Nur das handlungsmächtige Subjekt intrigiert“

Der Kontext in Griechenland:

Die Aversion gegen Tyrannen, Despoten, Adel

Die politische Selbstorganisation der Gesellschaft

Die Einführung der Gesetzmäßigkeit des Seins

vom Mythos zum Logos

Die Planbarkeit der Existenz

Die Ablösung von den Göttern

Die Entdeckung der Naturgesetze

Das Credo:

1. Allem Geschehen in der Natur liegen Gesetzmäßigkeiten zu Grunde. Diese Gesetzmäßigkeiten sind gültig unabhängig von Raum, Zeit und Personen

Das Gesundheitswesen derZukunft: Ursachen und Konsequenzen zunehmender heilkundlicher Heterogenität

Das Credo:

1. Allem Geschehen in der Natur liegen Gesetzmäßigkeiten zu Grunde. Diese Gesetzmäßigkeiten sind gültig unabhängig von Raum, Zeit und Personen

2. Wir Menschen sind fähig, diese Gesetzmäßigkeiten zu erkennen. Beharrliches Suchen führt zu immer tieferen Einsichten. Eine Grenze ist nicht erkennbar

Das Gesundheitswesen derZukunft: Ursachen und Konsequenzen zunehmender heilkundlicher Heterogenität

Das Credo:

1. Allem Geschehen in der Natur liegen Gesetzmäßigkeiten zu Grunde. Diese Gesetzmäßigkeiten sind gültig unabhängig von Raum, Zeit und Personen

2. Wir Menschen sind fähig, diese Gesetzmäßigkeiten zu erkennen. Beharrliches Suchen führt zu immer tieferen Einsichten. Eine Grenze ist nicht erkennbar

3. Wenn wir die Gesetze der Natur kennen, so ist das hinreichend, um die menschliche Existenz zu deuten und auch das gesamte Universum, in dem sich diese Existenz vollzieht.

Sokrates:

Ἓν οἶδα ὅτι ουδὲν οἶδα

Der Aufbruch in die Wissensgesellschaft

Die Abkehr vom Schicksal

Die Geburt der Medizin aus der Heilkunde

Medizinische Heilkunde:

Bemühen, Gesundheit und Kranksein allein mittels Rückgriff auf naturgesetzlich begründete Vorstellungen zu deuten und zu beeinflussen.

In Europa: seit 6./5. Jh.v.Chr.In China: seit 2./1. Jh. v. Chr.

Medizin (im Gegensatz zu nichtmedizinischer Heilkunde)beruht auf der Vorstellung

a) es gibt Naturgesetze

b) wir können diese Naturgesetze erkennen

c) die Kenntnis der Naturgesetze (Biologie, Physik) ist ausreichend, um die Lebensvorgänge zu verstehen und in unserem Sinne zu beeinflussen.

d) nicht-naturwissenschaftlich legitimierte Medizin hat keine Berechtigung

Die Parallele: Befolgung der Gesetze in der

-- Gesellschaft:

Befreiung von der Willkür der

Monarchen, Despoten, Tyrannen

-- in der Medizin:

Befreiung von der Willkür der Geister,

Dämonen, Götter, des einen Gottes

Die Parallele: Gesellschaft und Natur

Es gibt Gesetze.

Wenn man sich danach richtet, hat man es selbst in der Hand, wie lange man sich eines irdischen Lebens erfreuen darf.

Kenntnis und Befolgung der Gesetze ermöglichen es, Länge und Qualität des Lebens selbst zu bestimmen

Medizin erfüllt vordergründig allein eine

heilkundliche

Aufgabe.

Medizin erfüllt hintergründig eine zweite, eine

kultur-politische

Aufgabe:

Medizin folgt der kulturpolitischen Zielsetzung,

Länge und Qualität des menschlichen Daseins

in existentieller Selbstbestimmung zu gestalten

Medizin steht immer in prinzipiellem Konfliktmit den Kräften, die dem Menschen das Recht auf

existentielle Selbstbestimmung nicht zubilligen:

Medizin steht immer in prinzipiellem Konfliktmit den Kräften, die dem Menschen das Recht auf

existentielle Selbstbestimmung nicht zubilligen:

Anatomie, Schmerzfreie Geburt,

Pockenschutzimpfung,Abtreibung,

Stammzellforschung, etc.

Die politische Metaphorik der Medizin in Europa und China

Naturwissenschaftliche Medizin:

Komponente der Demokratie

in Europa:

Antagonismus zu existentieller Heteronomie

Ausweis und Grundlage existentieller Selbstbestimmung

und in China?

Die Entwicklung von Gesetzen:

Die Entstehung großer politischer Einheiten und die Notwendigkeit einer Bürokratie

Keine Infragestellung von Monarchen

China: Ausgangslage wie in Griechenland:

Existentielle Heteronomie

死生有命 富貴在天

“Leben und Tod sind Schicksal; es hängt vom Himmel ab, ob jemand Reichtum ansammeln kann und einen hohen Rang einnimmt.”(Konfuzius, Gespräche, ca. 5.-3. Jh. v. Chr.)

人算不如天算(Buddhistisch)

China: Ausgangslage wie in Griechenland:

Existentielle Heteronomie

死生有命 富貴在天“Leben und Tod sind Schicksal; es hängt vom Himmel ab, ob jemand Reichtum ansammeln kann und einen hohen Rang einnimmt.”(Konfuzius, Gespräche)

我命在我不在天„Mein Schicksal liegt in meiner Macht, nicht in der Macht des Himmels“(Tao Hongjing, ca. A.D. 500 )

Die Geburt der antiken chinesischen Medizin aus dem politischen Geist der Antike

• Im Mittelpunkt antiker chinesischer Naturwissenschaft:

• Zwei Vorstellungen:

• Naturgesetzlichkeit

• Beziehungen/Korrespondenzen

Die Geburt der antiken chinesischen Medizin aus dem politischen Geist der Antike

• Yinyang- und Fünf-Phasen-Theorien

• Frage:

• Wie teilt uns die Natur mit, daß sie Gesetze hat und daß es Beziehungen/Korrespondenzen gibt?

Die Geburt der antiken chinesischen Medizin aus dem politischen Geist der Antike

• Die Entdeckung der Naturgesetze:

• Ergebnis der Notwendigkeit von Gesetzen in der Gesellschaft.

• Ende der „familiären Ethik“ (Ralf Moritz, Leipzig)

• Zum Ausdruck gebracht in der Gesellschaftsphilosophie des Legalismus

Die Geburt der antiken chinesischen Medizin aus

dem politischen Geist der Antike.• Die Wissenschaft der „systematischen

Beziehungen/Korrespondenzen“

• Im Mittelpunkt: Beziehungen zwischen den Dingen, nicht die Kenntnis der einzelnen Bestandteile der Dinge. Moral und die Einsicht in das Gute regeln die harmonische Beziehung unter den Menschen

• Zum Ausdruck gebracht in der Gesellschaftsphilosophie des Konfuzianismus

„Entdeckung“ der Naturgesetze ab 3. Jh. v. Chr.

Fa 法 : Vorbild, Modell, Gesetz

1. Sozialgesetz

2. Naturgesetz

Unterschied zu europäischer Naturwissenschaft:

Naturgesetze: Keine Unabhängigkeit von einer Moral

Überwölbt vom Himmel und gestützt von der Erde kommen die 10.000 Dinge zur Existenz. Niemand ist edler als der Mensch. Der Mensch erhält sein Leben aus dem Qi von Himmel und Erde. Er kommt zur Reife durch die Gesetze der vier Jahreszeiten.

Fa 法 , Gesetz, im Suwen, Kap. 56

Wenn man sorgfältig dem Weg (dao 道 ) folgt, wie die Gesetze (fa 法 ) [es befehlen], dann wird das himmlische Mandat lange andauern.

Die politische Metaphorik der Medizin in Europa und China

Wenn man sorgfältig dem Weg (dao 道 ) folgt, wie die Gesetze (fa 法 ) [es befehlen], dann wird man Myriaden von Heilungen in Myriaden von Fällen erzielen.

Qi und Blut werden die rechte Balance erreichen und das himmlische Mandat wird lange andauern.

Die politische Metaphorik der Medizin in Europa und China

Oben und unten, dasselbe Gesetz.

Die politische Metaphorik der Medizin in Europa und China

Die politische Metaphorik der Medizin in Europa und China

• Gesundheit ist die Belohnung für gesetzestreues Verhalten

• Krankheit ist die Strafe für Verstöße gegen Gesetz und Moral

Die politische Metaphorik der Medizin in Europa und China

Die Kehrseite von

„Mein Leben/Schicksal liegt in meiner Macht“:

für Krankheit bin ich selbst verantwortlich

Die politische Metaphorik der Medizin in Europa und China

Die Kehrseite von

„Mein Leben/Schicksal liegt in meiner Macht“

für Krankheit bin ich selbst verantwortlich

Chinesische Medizin:

Extremer Individualismus: Auf den Kranken fixiert

Existentielle Autonomie, nicht auf der Grundlage von

„amoralischen“ Naturgesetzen, sondern auf der Basis von „Modellen“, die die Normkraft von Gesetzen haben

und Gesellschaft und Natur verbinden.