Die Wüste im Herzen Europas

Post on 08-Mar-2016

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Ein eigenwilliger Blick auf eine etwas andere Wüste. Ein Kommentar von Marcus Bauer.

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Kaum eine Woche vergeht,in der nicht ein Verbrau-

chermagazin eine Reise in eineLandschaft anbietet, die sichnur schwer lokalisieren lässt.Die Rede ist von der Dienst-leistungs- bzw. Servicewüsteund den dazugehörenden Oa-sen. Überall auf der Welt ist sieangeblich zu finden, anschei-nend vorwiegend in industria-lisierten Ländern. Das hat sei-nen guten Grund. Diese Län-der befinden sich auf dem Wegin die so titulierte Dienstlei-stungsgesellschaft, in der Ser-vice professionell sein muss. Eswird mit Service geworben,man zahlt ihn mit und da soll-te man einiges erwarten dür-

fen. Eine Dienstleistung ist einepersonenbezogene Leistung.Die Kundin bzw. der Kundebestimmt über Trockenheitoder Erfrischung. Und be-kanntlich sind die Kunden/in-nen das Einzige, was im Ge-schäft stört (vgl. E.K.Geffroy).Soweit eine Betrachtung ausUnternehmersicht. Aus Sichtder Kunden/innen stellt sichvieles etwas anders dar. Ist maneher zufrieden mit dem schnel-len Geldautomaten am Flug-hafen oder doch mit der nurradebrechenden, aber dafürreal existierenden Dame amGeldwechselschalter? Soll mandie Nähe zur Natur auf demharten Boden eines Camping-

platzes weniger schätzen alsdas bereits in Wunschtempe-ratur eingelassene Badewasserin der Suite einer Nobelher-berge? Nur weil es wenigerService bietet und daher auchweniger kostet? Die Reise-branche scheint sich an dieserFrage im Moment zu spalten.

Zuwachsraten verzeichneneinerseits die Luxussegmente:Mit Menschen, die im www„wohnen“ und in der BusinessClass schlafen. Menschen mithohen Anforderungen, die be-reit sind, für außergewöhnli-che Oasenaufenthalte außer-ordentliche Preise zu zahlen.Menschen, die auf den Baha-mas im Hotel einmal ihre Vor-liebe für Halspastillen einer be-stimmten Geschmacksrichtungäußern und dann bei Ankunftin Shanghai im Hotel der glei-chen Kette exakt diese aufihrem Kopfkissen vorfinden.Auch wenn man diese eigent-lich in China gar nicht käuflicherwerben kann. Ausgeklügel-te Intranets und globale Logi-stik machen es möglich. DerKunde ist König – und Königeverfügen über Reichtümer.

Andererseits boomt der Be-reich der No-frills, die auf je-den Schnickschnack verzich-ten und entsprechend günsti-ge Preise bieten. Bekanntheithat das Konzept durch die ‚Bil-ligflug’-Industrie erlangt. Nixerwarten, nix bekommen, we-nig bezahlen. Was so bekannt-lich nicht stimmt. Sicher musses sein, sitzen will man auchwährend des Fluges und dasBordpersonal soll auch lächeln,nach Möglichkeit. Pünktlich-keit scheint zudem nicht uner-

heblich, immerhin werben die‚Low-Coster’ eifrig mit gutenWerten. Das alles ist möglichdurch optimale Nutzung vonSkalenerträgen und präziserPlanung. Der Kunde ist Unter-tan – und Untertanen mussman bei Laune halten.

Wenn doch die Welt so ein-fach wäre: Das Mittelmaß ver-schwindet, und mit ihr die Mit-telmäßigkeit. Wenige Häupt-linge, viele Indianer - klareGrenzen, klare Kompetenzen.

Zu folgern, dass es Kundengibt, die sich für das eine oderdas andere entscheiden, wärefalsch. Für viele heißt es kom-binieren: Billig fliegen und dasgesparte Geld dafür in einemHotel der gehobenen Klasseausgeben. Oder im Orient Ex-press zur Privatunterkunft indie Türkei fahren. BewussterVerzicht und das Einfordernhoher Servicequalität werdennahezu gleichzeitig praktiziert.Unterstützt wird der Kunde aufseiner Reise durch die Service-Wüste durch allerlei elektroni-sche Helfer: PDAs, Online-Por-tale, Dynamic Packaging toolsetc. sind die Tuareg der Neu-zeit. Entsprechend sind dieMarktforscher, die die so ge-wonnenen Kundendaten ana-lysieren, moderne Ethnologen.Zu den noch unentdecktenStämme auf dieser Welt gehö-ren beispielsweise die Couch-surfer, die in Hospitalityclubsverkehren.

Manchmal könnte manwirklich den Eindruck haben,das Kundenverhalten resultie-re aus dem tiefen Wunsch, gesetzlos und unlogisch das System zu stören.

SERVICEWÜSTE

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Die Wüste im Herzen EuropasEin eigenwilliger Blick auf eine etwas andere Wüste. Ein Kommentar von Marcus Bauer.

Auf Marmor gebettet: Übernachtung am Flughafen London-Stansted

Foto: Marcus B

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