Die Wüste im Herzen Europas

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K aum eine Woche vergeht, in der nicht ein Verbrau- chermagazin eine Reise in eine Landschaft anbietet, die sich nur schwer lokalisieren lässt. Die Rede ist von der Dienst- leistungs- bzw. Servicewüste und den dazugehörenden Oa- sen. Überall auf der Welt ist sie angeblich zu finden, anschei- nend vorwiegend in industria- lisierten Ländern. Das hat sei- nen guten Grund. Diese Län- der befinden sich auf dem Weg in die so titulierte Dienstlei- stungsgesellschaft, in der Ser- vice professionell sein muss. Es wird mit Service geworben, man zahlt ihn mit und da soll- te man einiges erwarten dür- fen. Eine Dienstleistung ist eine personenbezogene Leistung. Die Kundin bzw. der Kunde bestimmt über Trockenheit oder Erfrischung. Und be- kanntlich sind die Kunden/in- nen das Einzige, was im Ge- schäft stört (vgl. E.K.Geffroy). Soweit eine Betrachtung aus Unternehmersicht. Aus Sicht der Kunden/innen stellt sich vieles etwas anders dar. Ist man eher zufrieden mit dem schnel- len Geldautomaten am Flug- hafen oder doch mit der nur radebrechenden, aber dafür real existierenden Dame am Geldwechselschalter? Soll man die Nähe zur Natur auf dem harten Boden eines Camping- platzes weniger schätzen als das bereits in Wunschtempe- ratur eingelassene Badewasser in der Suite einer Nobelher- berge? Nur weil es weniger Service bietet und daher auch weniger kostet? Die Reise- branche scheint sich an dieser Frage im Moment zu spalten. Zuwachsraten verzeichnen einerseits die Luxussegmente: Mit Menschen, die im www „wohnen“ und in der Business Class schlafen. Menschen mit hohen Anforderungen, die be- reit sind, für außergewöhnli- che Oasenaufenthalte außer- ordentliche Preise zu zahlen. Menschen, die auf den Baha- mas im Hotel einmal ihre Vor- liebe für Halspastillen einer be- stimmten Geschmacksrichtung äußern und dann bei Ankunft in Shanghai im Hotel der glei- chen Kette exakt diese auf ihrem Kopfkissen vorfinden. Auch wenn man diese eigent- lich in China gar nicht käuflich erwerben kann. Ausgeklügel- te Intranets und globale Logi- stik machen es möglich. Der Kunde ist König – und Könige verfügen über Reichtümer. Andererseits boomt der Be- reich der No-frills, die auf je- den Schnickschnack verzich- ten und entsprechend günsti- ge Preise bieten. Bekanntheit hat das Konzept durch die ‚Bil- ligflug’-Industrie erlangt. Nix erwarten, nix bekommen, we- nig bezahlen. Was so bekannt- lich nicht stimmt. Sicher muss es sein, sitzen will man auch während des Fluges und das Bordpersonal soll auch lächeln, nach Möglichkeit. Pünktlich- keit scheint zudem nicht uner- heblich, immerhin werben die ‚Low-Coster’ eifrig mit guten Werten. Das alles ist möglich durch optimale Nutzung von Skalenerträgen und präziser Planung. Der Kunde ist Unter- tan – und Untertanen muss man bei Laune halten. Wenn doch die Welt so ein- fach wäre: Das Mittelmaß ver- schwindet, und mit ihr die Mit- telmäßigkeit. Wenige Häupt- linge, viele Indianer - klare Grenzen, klare Kompetenzen. Zu folgern, dass es Kunden gibt, die sich für das eine oder das andere entscheiden, wäre falsch. Für viele heißt es kom- binieren: Billig fliegen und das gesparte Geld dafür in einem Hotel der gehobenen Klasse ausgeben. Oder im Orient Ex- press zur Privatunterkunft in die Türkei fahren. Bewusster Verzicht und das Einfordern hoher Servicequalität werden nahezu gleichzeitig praktiziert. Unterstützt wird der Kunde auf seiner Reise durch die Service- Wüste durch allerlei elektroni- sche Helfer: PDAs, Online-Por- tale, Dynamic Packaging tools etc. sind die Tuareg der Neu- zeit. Entsprechend sind die Marktforscher, die die so ge- wonnenen Kundendaten ana- lysieren, moderne Ethnologen. Zu den noch unentdeckten Stämme auf dieser Welt gehö- ren beispielsweise die Couch- surfer, die in Hospitalityclubs verkehren. Manchmal könnte man wirklich den Eindruck haben, das Kundenverhalten resultie- re aus dem tiefen Wunsch, gesetzlos und unlogisch das System zu stören. S ERVICEWÜSTE 29 2/06 integra Die Wüste im Herzen Europas Ein eigenwilliger Blick auf eine etwas andere Wüste. Ein Kommentar von Marcus Bauer. Auf Marmor gebettet: Übernachtung am Flughafen London-Stansted Foto: Marcus Bauer

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Ein eigenwilliger Blick auf eine etwas andere Wüste. Ein Kommentar von Marcus Bauer.

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Kaum eine Woche vergeht,in der nicht ein Verbrau-

chermagazin eine Reise in eineLandschaft anbietet, die sichnur schwer lokalisieren lässt.Die Rede ist von der Dienst-leistungs- bzw. Servicewüsteund den dazugehörenden Oa-sen. Überall auf der Welt ist sieangeblich zu finden, anschei-nend vorwiegend in industria-lisierten Ländern. Das hat sei-nen guten Grund. Diese Län-der befinden sich auf dem Wegin die so titulierte Dienstlei-stungsgesellschaft, in der Ser-vice professionell sein muss. Eswird mit Service geworben,man zahlt ihn mit und da soll-te man einiges erwarten dür-

fen. Eine Dienstleistung ist einepersonenbezogene Leistung.Die Kundin bzw. der Kundebestimmt über Trockenheitoder Erfrischung. Und be-kanntlich sind die Kunden/in-nen das Einzige, was im Ge-schäft stört (vgl. E.K.Geffroy).Soweit eine Betrachtung ausUnternehmersicht. Aus Sichtder Kunden/innen stellt sichvieles etwas anders dar. Ist maneher zufrieden mit dem schnel-len Geldautomaten am Flug-hafen oder doch mit der nurradebrechenden, aber dafürreal existierenden Dame amGeldwechselschalter? Soll mandie Nähe zur Natur auf demharten Boden eines Camping-

platzes weniger schätzen alsdas bereits in Wunschtempe-ratur eingelassene Badewasserin der Suite einer Nobelher-berge? Nur weil es wenigerService bietet und daher auchweniger kostet? Die Reise-branche scheint sich an dieserFrage im Moment zu spalten.

Zuwachsraten verzeichneneinerseits die Luxussegmente:Mit Menschen, die im www„wohnen“ und in der BusinessClass schlafen. Menschen mithohen Anforderungen, die be-reit sind, für außergewöhnli-che Oasenaufenthalte außer-ordentliche Preise zu zahlen.Menschen, die auf den Baha-mas im Hotel einmal ihre Vor-liebe für Halspastillen einer be-stimmten Geschmacksrichtungäußern und dann bei Ankunftin Shanghai im Hotel der glei-chen Kette exakt diese aufihrem Kopfkissen vorfinden.Auch wenn man diese eigent-lich in China gar nicht käuflicherwerben kann. Ausgeklügel-te Intranets und globale Logi-stik machen es möglich. DerKunde ist König – und Königeverfügen über Reichtümer.

Andererseits boomt der Be-reich der No-frills, die auf je-den Schnickschnack verzich-ten und entsprechend günsti-ge Preise bieten. Bekanntheithat das Konzept durch die ‚Bil-ligflug’-Industrie erlangt. Nixerwarten, nix bekommen, we-nig bezahlen. Was so bekannt-lich nicht stimmt. Sicher musses sein, sitzen will man auchwährend des Fluges und dasBordpersonal soll auch lächeln,nach Möglichkeit. Pünktlich-keit scheint zudem nicht uner-

heblich, immerhin werben die‚Low-Coster’ eifrig mit gutenWerten. Das alles ist möglichdurch optimale Nutzung vonSkalenerträgen und präziserPlanung. Der Kunde ist Unter-tan – und Untertanen mussman bei Laune halten.

Wenn doch die Welt so ein-fach wäre: Das Mittelmaß ver-schwindet, und mit ihr die Mit-telmäßigkeit. Wenige Häupt-linge, viele Indianer - klareGrenzen, klare Kompetenzen.

Zu folgern, dass es Kundengibt, die sich für das eine oderdas andere entscheiden, wärefalsch. Für viele heißt es kom-binieren: Billig fliegen und dasgesparte Geld dafür in einemHotel der gehobenen Klasseausgeben. Oder im Orient Ex-press zur Privatunterkunft indie Türkei fahren. BewussterVerzicht und das Einfordernhoher Servicequalität werdennahezu gleichzeitig praktiziert.Unterstützt wird der Kunde aufseiner Reise durch die Service-Wüste durch allerlei elektroni-sche Helfer: PDAs, Online-Por-tale, Dynamic Packaging toolsetc. sind die Tuareg der Neu-zeit. Entsprechend sind dieMarktforscher, die die so ge-wonnenen Kundendaten ana-lysieren, moderne Ethnologen.Zu den noch unentdecktenStämme auf dieser Welt gehö-ren beispielsweise die Couch-surfer, die in Hospitalityclubsverkehren.

Manchmal könnte manwirklich den Eindruck haben,das Kundenverhalten resultie-re aus dem tiefen Wunsch, gesetzlos und unlogisch das System zu stören.

SERVICEWÜSTE

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Die Wüste im Herzen EuropasEin eigenwilliger Blick auf eine etwas andere Wüste. Ein Kommentar von Marcus Bauer.

Auf Marmor gebettet: Übernachtung am Flughafen London-Stansted

Foto: Marcus B

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