Einheit und Mehrheit von Leistungen bei der Mehrwertsteuer

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DER AKTUELLE STEUERENTSCHEID STE U E R N

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C L A U D I O F I S C H E R

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Die Frage, ob eine oder mehrere Leistungen vorliegen, ist bisweilen schwer zu beur-teilen, kann in der Praxis aber massive Auswirkungen haben: Im Urteil des Bundes-verwaltungsgerichts A-7311/2014 vom 22. September 2015 entscheidet sie beispiels-weise darüber, ob Millionen von Franken an Mehrwertsteuer (MWST) geschuldet sind oder nicht.

EINHEIT UND MEHRHEIT VON LEISTUNGEN BEI DER MEHRWERTSTEUERUnklare Regeln für wirtschaftlich komplexe Fälle

1. EINLEITUNGKaum ein anderer Artikel des geltenden Mehrwertsteuergeset­zes (MWSTG) erscheint auf den ersten Blick so selbsterklärend und ist doch so schwer verständlich wie Art. 19 MWSTG. Die Bestimmung adressiert die mehrwertsteuerlichen Folgen, die sich bei Vorliegen von mehreren Leistungen ergeben kön-nen. Widersprüchlich erscheint dabei zunächst, dass zwar gemäss Art. 19 Abs. 1 MWSTG voneinander unabhängige Leistungen grundsätzlich selbstständig behandelt werden, jedoch eine einheitliche Besteuerung nach Art. 19 Abs. 3 MWSTG zur Anwendung gelangt, wenn die Leistungen wirtschaftlich eng zusammengehören. Wann aber besteht ein wirtschaftlich enger Zusammenhang und in welchem Verhältnis stehen sich hierbei die Grundsätze der Absätze 1 und 3 gegenüber? Welche Stellung nimmt die Regelung von Haupt- und Nebenleistung im Gefüge des Art. 19 MWSTG ein?

Gegenüber dem früheren Recht ist die Ausgangslage inso-fern anders, als die Mehrheit von Leistungen nun in einem eigenen Artikel geregelt ist, während früher nur die Ge-samtleistung und die Nebenleistung in Art. 36 Abs. 4 und 5 aMWSTG aufgeführt waren [1]. Der heute in Absatz 1 ge-nannte Grundsatz der Selbstständigkeit der Leistung war früher nicht im Gesetz enthalten. Und die «Kombinations-regel» von Absatz 2 bestand früher – in eingeschränkter Form – nur in der Praxis der Eidg. Steuerverwaltung (ESTV) [2]. Absatz 3 hat ebenfalls eine Erweiterung erfahren, indem bei Gesamtleistungen nicht nur die Rechtsfolge in Bezug auf

den Steuersatz geregelt wird, sondern die steuerliche Be-handlung generell nach dem Charakter der Gesamtleistung zu erfolgen hat. Das heisst, sie betrifft namentlich auch die Frage des Ortes der Leistung oder die Steuerbarkeit oder Ausnahme der Leistung [3].

Die Bedeutung von Art. 19 MWSTG ist für den Steuer-pflichtigen in der Praxis enorm. Mit geschickten Leistungs-kombinationen kann die Steuerbelastung verringert werden. Es können aber auch hohe Steuerforderungen drohen, wenn die ESTV und der Steuerpflichtige unterschiedlicher Mei-nung darüber sind, ob selbstständige oder einheitliche Leis-tungen vorliegen. Ein eindrückliches Beispiel hierfür ist das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts A-7311/2014 vom 22. September 2015 (Weiterzug an das Bundesgericht): Die Beschwerdeführerin bietet ihren Kunden neben der Zentral-regulierungstätigkeit auch die Besorgung einer Bürgschaft an zur Absicherung ihrer Kunden gegenüber deren Schuld-nern. Die ESTV schloss sich im Einspracheverfahren der Auf-fassung der Beschwerdeführerin an, dass es sich bei den Zen-tralregulierungsleistungen um steuerbare Inkassodienst-leistungen gemäss Art. 18 Ziff. 19 Bst. c aMWSTG handelt, die dem Empfängerortsprinzip unterliegen [4]. Während aber die Beschwerdeführerin ihre Leistungen im Zusammenhang mit der Zentralregulierung (Inkasso) und der Bürgschafts-besorgung als Haupt- und Nebenleistung und somit einheit-lich und als am Empfängerort zu besteuernde Leistung sah, beurteilten die ESTV und das Bundesverwaltungsgericht die Bürgschaftsbesorgung als unabhängige Leistung, die nach

CLAUDIO FISCHER,

LIC. IUR. ADVOKAT,

MITGLIED DES

MWST-KOMPETENZ-

ZENTRUMS VON

EXPERTSUISSE, EY,

ZÜRICH

CLARA BODEMANN,

MASTER OF LAW (MLAW)

UNIVERSITÄT ZÜRICH,

SENIOR CONSULTANT, EY,

ZÜRICH

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dem hier noch massgebenden aMWST am Ort der Leistungs-erbringerin in der Schweiz steuerbar wäre. Obwohl das Bun-desverwaltungsgericht im Urteil die Steuerforderung nicht beziffert, ist schon aus der Höhe der Gerichtskosten von CHF 32 500 zu schliessen, dass es sich um einen Steuerbetrag von mehreren Millionen CHF handeln muss, den die ESTV bei der Steuerpflichtigen nachfordern will.

Der vorliegende Artikel macht eine Auslegeordnung des Art. 19 MWSTG und bespricht die verschiedenen Tatbe-stände und deren Rechtsfolgen.

2. ANWENDUNGSBEREICH VON ART. 19 MWSTG2.1 Grundsätze der einheitlichen und der selbstständi-gen Besteuerung (Abs. 1, 3, 4). Nach dem in Art. 19 Abs. 1 MWSTG verankerten Grundsatz sind voneinander unabhän-gige Leistungen mehrwertsteuerlich selbstständig zu be-handeln. Der Gesetzgeber geht von der Grundidee aus, dass beim Erbringen von mehreren Leistungen über jede Leis-

tung separat abzurechnen ist, d. h. ohne dass die mehrwert-steuerliche Behandlung dieser Leistungen durch deren ge-meinsames Erbringen beeinflusst wird. In Abweichung hier-von sind je doch gemäss Art. 19 Abs. 3 MWSTG Leistungen, die aufgrund ihres wirtschaftlich engen Zusammenhangs als unteilbares Ganzes zu betrachten sind, als Gesamtleis-tung zu qualifizieren. Bei Vorliegen einer Gesamtleistung richtet sich die mehrwertsteuerliche Behandlung nach der für die Gesamtleistung wesentlichen Eigenschaft, das heisst nach der Leistung, welche wirtschaftlich betrachtet im Vordergrund steht [5]. Dies bedeutet jedoch nicht, dass eine Leistung ein herausragendes Element aufweisen müsste. Oft ist es gerade die Kombination der Leistungen, die der Ge-samtleistung ihren Charakter verleiht [6]. Sind zwei Leistun-gen hingegen nicht als unteilbares Ganzes zu betrachten, sondern durchaus als voneinander unabhängige Leistun-gen, wobei aber die eine Leistung im Vergleich zur anderen nur nebensächlich erscheint, so folgt diese Nebenleistung gemäss Art. 19 Abs. 4 MWSTG dem steuerlichen Schicksal

der Hauptleistung, wodurch letztlich dieselbe Rechtsfolge wie bei einer Gesamtleistung nach Absatz 3 erzielt wird. Während somit in Absatz 1 der Grundsatz der Massgeblich-keit der einzelnen Leistung verankert ist, enthalten die Ab-sätze 3 und 4 den Grundsatz der Einheitlichkeit der Leis-tung [7].

Im Ergebnis ist festzuhalten, dass Art. 19 MWSTG in Abs. 1, Abs. 3 und Abs. 4 drei verschiedene Tatbestandssachverhalte kennt mit zwei verschiedenen Rechtsfolgen (Abbildung 1) [8].

2.2 Die Rolle der 70%–30%-Regel (Absatz 2). Die in Ab-satz 2 aufgeführte sogenannte 70%–30%-Regelung setzt vor-aus, dass voneinander unabhängige Leistungen vorliegen. Absatz 2 gibt somit keine Antwort auf die Frage der Abgren-zung von Haupt- und Nebenleistung und Gesamtleistung [9]. Absatz 2 ist vielmehr als Ergänzung zu Absatz 1 zu verstehen: Lediglich in jenem Fall, in dem mehrere voneinander un-abhängige Leistungen vorliegen, kann der Steuerpflichtige diese Leistungen dennoch einer einheitlichen steuerlichen Behandlung unterwerfen, sofern die folgenden Vorausset-zungen erfüllt sind [10]: Angebot der Leistungen als Sachkombination oder Leis-tungskombination, zu einem Gesamtentgelt und die überwiegende Leistung macht wertmässig mindestens 70% des Gesamtentgelts aus.

Die Anwendung dieser Vereinfachungsregelung für die Ab-rechnung der MWST liegt im Ermessen des Leistungserbrin-gers. Sie lässt die wirtschaftliche Realität des Sachverhalts in den Hintergrund treten, indem sie eine einheitliche steuer-liche Behandlung gerade dort ermöglicht, wo wirtschaft-lich gesehen eine unterschiedliche Behandlung angezeigt wäre [11]. Im Gegensatz hierzu bezwecken die Absätze 3 und 4 insbesondere zu verhindern, dass ein wirtschaftlich ein-heitlicher Vorgang einzig aus Steuergründen künstlich auf-gespaltet wird [12]. Der Steuerpflichtige kann hierauf kei-nen Einfluss nehmen.

3. VERHÄLTNIS DER BEIDEN GRUNDSÄTZE ZUEINANDEREs stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis der Grund-satz der Massgeblichkeit der einzelnen Leistung und der Einheitlichkeitsgrundsatz zueinander stehen. Das Gesetz definiert nicht, was es unter einer unabhängigen Leistung versteht. Um also feststellen zu können, ob Art. 19 Abs. 1 MWSTG Anwendung findet, muss zunächst geklärt werden, ob die erbrachten Leistungen unter wirtschaftlichen Ge-

Abbildung 1: ANWENDUNGSBEREICH VON ART. 19 MWSTG

Tatbestand Rechtsfolge

Abs. 1 Unabhängige Leistungen Selbstständige mehrwertsteuerliche Behandlung jeder einzelnen Leistung

Abs. 3 Gesamtleistung Einheitliche, d. h. gleichartige und gemeinsame Behandlung(Besteuerung gemäss der wirtschaftlich im Vordergrund stehenden Leistung)

Abs. 4 Haupt- und Nebenleistung Einheitliche, d. h. gleichartige und gemeinsame Behandlung(Nebenleistung teilt steuerliches Schicksal der Hauptleistung)

« Es stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis der Grundsatz der Massgeblichkeit der einzelnen Leistung und der Einheitlichkeitsgrundsatz zueinander stehen.»

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sichtspunkten ein Ganzes bilden [13]. Erst wenn weder eine Gesamtleistung noch eine Haupt- und Nebenleistung vorlie-gen, sind die Leistungen als selbstständig und unabhängig voneinander zu behandeln [14]. Daraus ergibt sich, dass der Grundsatz der einheitlichen Behandlung von Leistungen dem Grundsatz der Massgeblichkeit der einzelnen Leistung vorgeht [15]. Absatz 1 bildet mithin den Auffangtatbestand, wenn die Absätze 3 und 4 keine Anwendung finden. Der Ge-setzgeber hat damit eine ähnliche Vorgehensweise gewählt wie bei der Bestimmung des Ortes der Dienstleistung, bei welcher Art. 8 Abs. 1 MWSTG immer erst dann Anwendung findet, wenn die Tatbestände von Art. 8 Abs. 2 MWSTG aus-zuschliessen sind. Im Unterschied zu Art. 8 MWSTG hat es der Gesetzgeber aber unterlassen, den Vorrang der Absätze 3 und 4 in Art. 19 Abs. 1 MWSTG ausdrücklich vorzubehalten. Abbildung 2 zeigt, welche Schritte bei Anwendung von Art. 19 MWSTG zu prüfen sind.

4. QUALIFIKATION ALS EINHEITLICHE LEISTUNGDas Prinzip der Einheitlichkeit der Leistung dient der Ver-wirklichung des in Art. 1 Abs. 2 MWSTG verankerten Grund-satzes der Erhebungswirtschaftlichkeit und beruht wie vor-stehend ausgeführt auf einer wirtschaftlichen Betrachtungs-weise der relevanten Leistungen [16]. Eine mehrwertsteuerlich einheitliche Behandlung der Leistungen erfolgt in den zwei in den Absätzen 3 und 4 beschriebenen Konstellationen.

4.1 Gesamtleistung (Absatz 3). Das Prinzip der Gesamt-leistung findet seinen Ursprung in der Überlegung, dass es nicht möglich sein soll, Leistungen, die bei einer wirtschaft-lichen Betrachtungsweise untrennbar zusammengehören, künstlich aufzuteilen. Mehrere an sich voneinander unab-hängige Leistungen werden dann als Gesamtleistung behan-delt, wenn sie einen einheitlichen wirtschaftlichen oder gar physischen Vorgang bilden und aufgrund dieses wirtschaft-

Abbildung 2: PRÜFSCHEMA ZU ART. 19 MWSTG

Angebot von mehrerenLeistungen

Angebot der beiden Leistungen alsLeistungsbündel zu einem Pauschal- bzw. Gesamtpreis?

Separate mehrwertsteuerliche Behandlungjeder Leistung (Grundsatz der Massgeblichkeit

der einzelnen Leistung) (Absatz 1)

Erscheint eine Leistung imVerhältnis zur anderen

Leistung nebensächlich?

Besteht ein engerZusammenhang zwischen

Haupt- und Nebenleistung?

Gesamtleistung(Grundsatz der Einheitlich-keit der Leistung) (Absatz 3)

Ergänzung/Verbesserung/Abrundung der Hauptleistung

durch die Nebenleistung?

Kommt die Nebenleistungüblicherweise mit der

Hauptleistung vor?

Haupt- und Nebenleistung(Nebenleistung teilt

steuerliches Schicksalder Hauptleistung) (Absatz 4)

Enger wirtschaftlicherZusammenhang?

GleichrangigeLeistungen?

Überwiegende Leistungwertmässig ≥ 70%?

Kombination(Anwendung 70%–30%-

Regelung möglich*)(Absatz 2)

Separate Abrechnungder Leistung erforderlich

Nein

Nein

Ja

Ja Nein Nein Ja

Nein

Ja

Ja

JaJa Nein

Ja

Nein

Nein

*Ausnahme (MWST-Info 04 Steuerobjekt, Ziff. 4.2.1): Sofern die Leistungskombination im Sinne von Art. 32 MWSTV sowohl im In- als auch im Ausland angeboten wird, müssen die einzelnen in- und ausländischen Leistungen gesondert behandelt werden. Kombinationsregel ist ausgeschlossen, wenn von der MWST ausgenommene Leistungen, für die nicht optiert werden kann (Art. 22 Abs. 2 MWSTG), mit steuerbaren Leistungen kombiniert werden, welche wertmässig ≥ 70% entsprechen.

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lichen Zusammenhangs als unteilbares Ganzes zu verstehen sind [17]. Hierbei besteht zwischen den Leistungen kein Sub-ordinationsverhältnis, sondern diese stehen sich grundsätz-lich in einem gleichrangigen Verhältnis gegenüber [18]. Eine Gesamtleistung liegt somit vor, wenn die erbrachte Leis-tung beim Fehlen eines Teils zerstört, verschlechtert oder zumindest verändert wird und ihren ursprünglichen Sinn-gehalt verlieren würde. Dies ist beispielsweise der Fall bei Sachen und ihren Bestandteilen im Sinne von Art. 642 ff. des Zivilgesetzbuchs. Obwohl diese Definition nahelegen würde, die Gesamtleistung eng auszulegen, zeigt die bundesge-richtliche Rechtsprechung ein weiteres Verständnis. So hat das Gericht beispielsweise die verschiedenen im Rahmen des Aircraft Managements erbrachten Leistungen als Gesamt-leistung qualifiziert [19], ebenso das Zurverfügungstellen eines In frastrukturpakets mit Büros, Personal und weiteren Dienstleistungen [20]. Auch die zahlreichen Leistungen, die das World Economic Forum unter dem Titel «Partnership Agreements» an seine Partner erbringt, wurden als einheit-liche Leistung aufgefasst [21].

4.2 Haupt- und Nebenleistung (Absatz 4). Eine einheitli-che Behandlung erfolgt ebenfalls, wenn die eine Leistung als Hauptleistung zu sehen ist, während die andere Leistung eine Nebenleistung dazu darstellt und somit das steuerliche Schicksal der Hauptleistung teilt. Eine Nebenleistung ist dann anzunehmen, wenn sie eng mit der Hauptleistung zu-sammenhängt und letztere wirtschaftlich ergänzt, verbes-sert oder abrundet und zudem üblicherweise mit der Haupt-leistung vorkommt [22].

Das Gesetz nennt Nebenleistungen in einigen Fällen aus-drücklich. Neben den in Art. 19 Abs. 4 MWSTG genannten Verpackungen betrifft dies beispielsweise Nebenleistungen bei sportlichen Anlässen (Art. 21 Abs. 2 Ziff. 15 MWSTG) oder

die Vermietung von Parkplätzen als Nebenleistung zu einer von der Steuer ausgenommenen Immobilienvermietung (Art. 21 Abs. 2 Ziff. 21 Bst. c MWSTG). Nach der Praxis der ESTV gelten Beratungsleistungen bei Abschluss, Änderung oder Anpassung eines Versicherungsvertrags als Nebenleis-tung zur Versicherungsleistung [23]. Die vom Apotheker er-brachte Beratungsleistung, die über die Apotheker- bzw. Pa-tiententaxe abgegolten wird, stellt eine Nebenleistung zur Medikamentenlieferung dar [24].

Die zwei Varianten des Einheitlichkeitsgrundsatzes sind dadurch voneinander abzugrenzen, dass eine Gesamtleis-tung durch eine dauerhafte innere oder physische Verbin-dung mehrerer Leistungen gekennzeichnet ist, während das massgebende Kriterium bei Haupt-und Nebenleistung in der Nähe von Leistungsort und Zeitpunkt besteht [25]. Sowohl die Qualifikation als Gesamtleistung als auch jene als Nebenleistung liegt aber nie im Ermessen des Steuer-pflichtigen. Liegt ein enger wirtschaftlicher Zusammen-hang vor, kann dieser nicht durch Massnahmen wie bei-spielsweise entsprechende Vertragsgestaltung oder getrennte Fakturierung der Leistungen künstlich aufgetrennt wer-den [26].

5. FESTSTELLUNG EINER EINHEITLICHEN LEISTUNGIn einem ersten Schritt ist also zu prüfen, ob eine einheitli-che Leistung vorliegt. Die Frage ist, welche Sichtweise hier-für massgebend ist. Rechtsprechung und Lehre sind sich einig, dass die Qualifikation aus Sicht des Durchschnittsver-brauchers zu erfolgen hat. Massgebend für die Beurteilung ist somit, ob mehrere Leistungen aus Sicht einer bestimmten Verbrauchergruppe typischerweise als einheitliche Leistung verstanden werden [27]. Dies widerspiegelt den Grundsatz, dass bei der MWST die Sicht des Leistungsempfängers als

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Verbraucher der Leistung massgebend sein soll [28]. Die Sicht des Leistungserbringers hingegen ist grundsätzlich uner-heblich [29]. Im ungünstigsten Fall kann der Leistungser-bringer folglich eine mehrwertsteuerliche Qualifikation vornehmen, die sich nicht mit der Sicht der Durchschnitts-verbrauchergruppe deckt. Da aber der Leistungserbringer über die MWST abrechnen muss und es nicht zielführend wäre, bei jeder Leistung zunächst Überlegungen dazu anzu-stellen, wie wohl die durchschnittliche Verbrauchergruppe seine Leistungen qualifizieren würde, ist u. E. auch das Ver-ständnis des Leistungserbringers über die mehrwertsteuer-liche Behandlung der von ihm angebotenen Leistungen zu berücksichtigen. Dies nicht zuletzt auch aus dem Grund, dass der Leistungserbringer die Sicht des Durchschnittsver­brauchers und auch die Qualifikation des Kreises der Durchschnitts­verbraucher für den infrage stehenden Bereich allenfalls plau-sibel darlegen, jedoch in der Regel nicht abschliessend be-weisen kann. Zudem erscheint es insbesondere vor dem Hintergrund, dass dem subjektiven Verständnis des Ver-brauchers keine Wirkung zugesprochen werden soll, nahe-liegend, die Sicht des Durchschnittsverbrauchers weit zu verstehen.

Zurückkommend auf den einleitend dargestellten Fall der Inkassotätigkeit mit Bürgschaftsbesorgung erstaunt es eini-germassen, dass das Bundesverwaltungsgericht zum Schluss kam, es handle sich um eigenständige, voneinander voll-kommen unabhängige Leistungen. Während es sich schwer-lich um eine Gesamtleistung handeln kann, da die beiden er-brachten Leistungen nicht gleichwertig sind, erscheint die Konstellation als ein Fall einer Haupt- und Nebenleistung. In Anbetracht der dargestellten Kriterien zum Vorliegen einer Nebenleistung und unter Beizug der in Gesetz, Praxis und Rechtsprechung geschaffenen Beispiele erscheint klar, dass im konkreten Fall die Besorgung einer Bürgschaft die Inkassotätigkeit wirtschaftlich ergänzt und – soweit aus

dem Sachverhalt ersichtlich – nur zusammen mit der Inkas-soleistung vorkommt. Damit sind auch aus Sicht des Durch-schnittsverbrauchers beide Leistungen so eng miteinander verbunden, dass sie objektiv einen einzigen untrennbaren wirtschaftlichen Vorgang bilden, dessen Aufspaltung wirk-lichkeitsfremd wäre [30]. Zudem sind das leistende Unter-nehmen sowie der Leistungsempfänger für beide Leistungen (Inkassodienstleistung und Besorgung der Bürgschaft) iden-tisch, was diese enge wirtschaftliche Verknüpfung unter-streicht. Es ist zu hoffen, dass das Bundesgericht sich dieser wirtschaftlichen Betrachtungsweise anschliessen wird.

6. FAZITDie korrekte mehrwertsteuerliche Behandlung von mehre-ren Leistungen erfordert vom Steuerpflichtigen eine präzise Eingrenzung des Sachverhalts, um eine Zuordnung zu den in Art. 19 MWSTG ausgewiesenen Rechtsfolgen vornehmen zu können. Die Leistungen sind nur dann als selbstständig zu qualifizieren (Abs. 1), wenn weder eine Gesamtleistung (Abs. 3) noch Haupt- und Nebenleistung (Abs. 4) anzuneh-men sind. Liegen voneinander unabhängige einzelne Leis-tungen vor, steht es dem Steuerpflichtigen unter Einhaltung der gesetzlichen Bedingungen frei, Leistungskombinatio-nen (Abs. 2) zu bilden.

Zur Abgrenzung zwischen selbstständig und einheitlich zu behandelnden Leistungen ist auf die Sichtweise des Durchschnittverbrauchers abzustellen. Aufgrund der gros-sen Tragweite der Qualifikation für den Steuerpflichtigen und der vagen Aussagekraft der Sichtweise des Durchschnitts-verbrauchers sollte immer das Verständnis des Leistungs-erbringers miteinbezogen werden. Nur so kann bei den in der Regel komplexen Sachverhalten und angesichts des nicht leicht verständlichen Art. 19 MWSTG grösstmögliche Rechtssicherheit erreicht werden. n

Anmerkungen: 1) Bundesgesetz vom 2. Septem-ber 1999 über die MWST (aufgehoben mit Wir-kung per 1. Januar 2010). 2) ESTV, Wegleitung 2008 zur Mehrwertsteuer, Ziff. 360. 3) Botschaft zur Vereinfachung der Mehrwertsteuer vom 25. Juni 2008, 6961. 4) Vgl. Urteil BVGer A-7311/2014 vom 22. 9. 2015, E. 3.3. 5) Vgl. Urteil BGer 2C_807/2008 vom 19. 6. 2009, E. 2.2 mit weiteren Hinweisen; Urteile BVGer A-2628/2012 vom 5. 2. 2013, E. 2.5 sowie A-7311/2014 vom 22. 9. 2015, E. 2.6. 6) Mathias Bopp, Einheitlichkeit der Leistung, ST 2004/3, 227 ff. (228). 7) Vgl. Urteile BGer 2C_807/2008 vom 19. 6. 2009, E. 2.2 mit weiteren Hinweisen, 2C_717/ 2010 vom 21. 4. 2011, E. 4.2 sowie 2A.499/2004 vom 1. 11. 2005 E. 3.2, in: StR 61/2006, 553 ff. 8) Vgl. auch Philip Robinson, in: Markus Reich, Steuerrecht, 2. Auflage, Zürich/Basel/Genf, § 34 Rz. 35 ff. 9) Vgl. Alexandra Pillonel, in: Zweifel/Beusch/Glauser/Robinson (Hrsg.), Kommentar zum MWSTG, Basel 2015, Art. 19 N 9 MWSTG. 10) Vgl. auch MWST-Info 04, Ziff. 4.2.1. 11) Vgl. Felix Geiger, in: Geiger/Schluckebier (Hrsg.), Kommentar zum MWSTG, Zürich 2012, Art. 19 N 7. 12) Ivo P. Baumgartner/Diego Clavadetscher/Martin Kocher, Vom alten zum neuen Mehrwertsteuergesetz, Langenthal 2010, § 4 Rz. 51. 13) Urteil BGer 2A.452/2003 vom 4. 3. 2004, E. 3.1, in: ASA 75, 401 ff. (403). 14) Alois Camen-zind/Niklaus Honauer/Klaus A. Vallender/Marcel

R. Jung/Simeon L. Probst, Handbuch zum MWSTG, 3. Auflage, Bern 2012, Rz. 910; Pillonel, a.a.O., Art. 19 N 11 MWSTG; vgl. Urteile BGer 2C_639/2007 vom 24. 6. 2008 E. 2.2, 2A.40/2007 vom 14. 11. 2007, E. 2.2, 2A.452/2003 vom 4. 3. 2004, E. 3.1, in: ASA 75, 401 und 2C_717/2010 vom 21. 4. 2011, E. 4.2; Urteil BVGer A-1561/2007 vom 4. 7. 2008, E. 3.2.3. 15) So auch Baumgartner/Clavadetscher/Kocher, a.a.O., § 4 Rz. 51; Camenzind/Honauer/Vallender/Jung/Probst, a.a.O., Rz. 911; vgl. auch Urteil BVGer A-1561/2007 vom 4. 7. 2008, E. 3.2.3; a.A. Geiger, a.a.O., Art. 19 N 18. 16) Vgl. Pillonel, a.a.O., Art. 19 N 6 MWSTG; Geiger, a.a.O., Art. 19 N 19; Urteile BGer 2A.40/ 2007 vom 14. 11. 2007, E. 2.2 und 2A.452/2003 vom 4. 3. 2004, E. 3.1, in: ASA 75, 402 f. 17) Geiger, a.a.O., Art. 19 N 18; Urteil BGer 2A.452/2003 vom 4. 3. 2004, E. 3.1, in: ASA 75 S 401; Urteil BVGer A-6740/2011 vom 6. 6. 2012, E. 4.2.1. 18) Bopp, a.a.O., 228. 19) Ur-teil BGer 2A.40/2007 vom 14. 11. 2007, E. 2.2. 20) Ur-teil BGer 2A.520/2003 vom 29. 6. 2004, E. 10.2. 21) Urteil BGer 2C_628/2013 vom 27. 11. 2013, E. 3.1. ff. 22) Vgl. Urteile BGer 2A.452/2003 vom 4. März 2004, E. 3.2, in: ASA 75, 401 ff. und 2A.40/2007 vom 14. 11. 2007, E. 2.1; Urteile BVGer A-2572/2010 und A-2574/2010 vom 26. 8. 2011 E. 3.3.1 f.; vgl. dazu Alois Camenzind, Einheitlichkeit der Leistung im MWST-Recht, in: IFF-Forum für Steuerrecht 2004, 240 ff.; Jean-Marc Rivier/Anne Rochat Pauchard,

Droit fiscal suisse, La taxe sur la valeur ajoutée, Fribourg 2000, 37. 23) MWST-Branchen-Info 16 Versicherungswesen, Ziff. 4.1.2. 24) Urteil BGer 2A.452/2003 vom 4. 3. 2004, E. 4.2, in: ASA 75, 407 f. 25) Vgl. Urteile BGer 2A.567/2006 vom 25. 4. 2007, E. 4.3 sowie 2C_628/2013 vom 27. 11. 2013, E. 2.6.1. 26) Baumgartner/Clavadetscher/Kocher, a.a.O., § 4 Rz. 51. 27) Urteil BGer 2A.452/2003 vom 4. 3. 2004, E. 4.2, in: ASA 75, 404 f.; Camenzind/Honauer/Val-lender/Jung/Probst, a.a.O., Rz. 917; Bopp, a.a.O., 228; Pillonel, a.a.O., Art. 19 N 7 MWSTG; Camen-zind, a.a.O., S. 244, Ziffer 4.2. 28) Vgl. Daniel Riedo, Vom Wesen der Mehrwertsteuer als allgemeine Ver-brauchsteuer und von den entsprechenden Wirkun-gen auf das schweizerische Recht, 1999, 230 ff.; Baumgartner/Clavadetscher/Kocher, a.a.O., § 4 N 20; Claudio Fischer/Claude Grosjean, Der Leis-tungsbegriff, in: ASA 78, 701 ff. (711 f.); s. auch Urteil BVGer A-6152/2007 vom 21. 8. 2009, E. 2.2.1. 29) Vgl. Urteil BVGer A-7311/2014 vom 22. 9. 2015, E. 2.2.1. 30) Siehe so im Europäischen MWST-Recht: EuGH-Urteile vom 27. Oktober 2005 C-41/04, Levob Verzekeringen und OV Bank, Slg. 2005, I-9433 Rdnr. 22; vom 29. März 2007 C-111/05, Aktie-bolaget NN, Slg. 2007, I-2697 Rdnr. 23, und vom 19. November 2009 C-461/08, Don Bosco, UR 2010, 25 Rdnr. 37.

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