Fakultät für Gesundheitswissenschaften AG 1: Gesundheitssysteme, Gesundheitspolitik und...

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Fakultät für GesundheitswissenschaftenAG 1: Gesundheitssysteme, Gesundheitspolitik und GesundheitssoziologieProf. Dr. Dr. Thomas GerlingerUniversität Bielefeld

Systemwechsel in der Gesundheitspolitik – die schwarz-gelbe Gesundheitsreform

3. ordentliche Bezirkskonferenzdes ver.di-Bezirks Düsseldorf

Ratingen, 20.11.2010

2

Inhalt

1. Strukturprobleme des deutschen Gesundheitswesens

2. Die Gesundheitsregierung der schwarz-gelben Koalition

3. Alternativen

3

1.

Strukturprobleme des deutschen Gesundheitswesens

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Problem 1:Schwächung der Finanzierungsgrundlagen

● Finanzierung der GKV aus bruttolohnbezogenen Beiträgen (Arbeitnehmer + Arbeitgeber)

● Rückgang des Anteils der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen (Lohnquote)

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Entwicklung der Lohnquote (2000-2008)

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Durchschnittlicher allgemeiner Beitragssatz in der GKV (1975-2009)

10

10,5

11

11,5

12

12,5

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13,5

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2009

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Anteil der GKV-Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt (1975-2009)

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2003

2005

2007

2009

%

8

Problem 2:Gerechtigkeitsdefizite

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a) Trennung in GKV und PKV

● Wechselmöglichkeit in die PKV für:● besser verdienende Arbeitnehmer (ab: Bruttoeinkommen von

jährlich 49.950 Euro im Jahr 2010)● Selbständige● Beamte

● Tendenz: Abwanderung in die PKV● Anteil der Privatversicherten 2009: rund 10,8 % (8,8

Mio. Personen)

Entwicklung der Versichertenzahlen in PKV

und GKV 1996-2008 (1996 = 100)

-5

0

5

10

15

20

25Abnahme GKV in %

Zunahme PKV in %

in %

Quelle: BMG, PKV

10

Unterschiede GKV – PKV (vor dem GKV-WSG)

Jahr GKV PKV

1996 72,00 6,98

2009 70,01 8,81

11

Quelle: BMG/PKV

Zusatzversicherungen in der PKV 2009: 21,71 Mio.

11

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Warum ist diese Trennung ungerecht?

● PKV-Mitglieder entziehen sich dem Solidarausgleich● PKV-Mitglieder sind zumeist Besserverdienende● PKV-Mitglieder haben ein geringeres Krankheitsrisiko

● Trennung GKV/PKV + verstärkte Abwanderung in die PKV bedeuten:

● Der GKV gehen Mitglieder verloren, die durchschnittlich● hohe Beiträge zahlen und ● geringen Behandlungsbedarf haben

Private Krankenversicherung

13

14

b) Zuzahlungen und Leistungsausgliederungen

● Kontinuierlicher Anstieg der Zuzahlungen seit den 1980er Jahren

● Praxisgebühr: 10 € je Quartal zzgl. 10 € für jeden weiteren Praxisbesuch ohne Überweisung

● Arzneimittel: 10 % des Abgabepreises (mind. 5 €, höchstens 10 €)

● Krankenhausaufenthalt: 10 € je Kalendertag● Heilmittel/häusliche Krankenpflege: 10 % der Kosten

und 10 € je Verordnung● Zahnersatz/Hilfsmittel: Festzuschüsse

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Zuzahlungsgrenzen

● Zuzahlungen betragen max. 2 % der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt

● Bei chronisch Kranken: 1 % der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt

● 2004: Wegfall der vollständigen Zuzahlungsbefreiung für Geringverdiener

Zuzahlungen zu GKV-Leistungen nach Leistungsarten 2009 (ohne Aufzahlungen)

Leistungsart Millionen Euro

% der GKV-Leistungs-ausgaben

Ärztliche Behandlung 1.501,9

Zahnärztliche Behandlung 374,5

Arznei-, Verband- und Hilfsmittel aus Apotheken 1.650,0

Heil- und Hilfsmittel 544,2

Krankenhausbehandlung 596,0

Fahrkosten 62,3

Vorsorgeleistungen, Reha, Vater/Mutter etc. 68,0

Verhütung, Schwangerschaftsabbruch, Sterilisation etc. 3,5

Ergänzende Leistungen Reha 7,8

Behandlungspflege, häusliche Krankenpflege 37,9

Summe 4.846,2 3,0

16

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: B

MG

, K

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5

17

c) Beseitigung der paritätischen Finanzierung

● Zuzahlungen (s.o.)● Sonderbeitrag der Versicherten in Höhe von 0,9 %-

Punkten (seit 1.7.2005) ● Zusatzbeitrag in Höhe von bis zu 1 % des

Bruttoarbeitseinkommens möglich (seit 1.1.2009)

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Beitragslast für Versicherte und Arbeitgeber

Bruttolohn: 3.000 Euro Arbeitnehmer-beitrag

Arbeitgeber-beitrag

Summe

„Normaler“ Beitrag (7,0%) 210,00 210,00 420,00

An-Sonderbeitrag (0,9 %) 27,00 ---- 27,00

Zusatzbeitrag (1 %) 30,00 ---- 30,00

Zuzahlung je Mitglied/Monat 9,00 ---- 9,00

Summe 276,00 210,00 486,00

Anteil (%) 57 43 100

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Problem 3:Effizienzmängel in der Versorgung

● hohe Kosten (im internationalen Vergleich)● Gesundheitsausgaben als Anteil am

Bruttoinlandsprodukt: 10,4 % (Platz 4 in der Welt)● Gesundheitsausgaben pro Kopf der Bevölkerung:

3.588 $ (Platz 9 in der Welt)

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Gesundheitsausgaben im internationalen Vergleich (2007)

Land in % des BIP

USA 16,0

Frankreich 11,0

Schweiz 10,8

Deutschland 10,4

Belgien 10,2

Kanada 10,1

Österreich 10,1

Dänemark 9,8

Niederlande 9,8

Griechenland 9,6

Island 9,3

Land in US-$-PPP

USA 7.290

Norwegen 4.763

Schweiz 4.417

Kanada 3.895

Niederlande 3.837

Österreich 3.763

Frankreich 3.601

Belgien 3.595

Deutschland 3.588

Dänemark 3.512

Irland 3.424

Quelle: OECD Health Data 2009

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Versorgungsprobleme

● Nebeneinander von Über-, Unter- und Fehlversorgung● bei vielen Volkskrankheiten nur durchschnittliche

Versorgungsqualität und viele Mängel, z.B.:● hohe Zahl an Erblindungen/Amputationen bei Diabetikern● Brustkrebs: wahrscheinlich nur etwa jede zweite Patientin

erhält eine leitliniengerechte Therapie

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Gründe für Versorgungsmängel

● Historisch gewachsene Abschottung der Versorgungssektoren (Schnittstellenprobleme)

● Kommunikation und Koordination an den Übergängen● Hausarzt - Facharzt● ambulant - stationär● Akutversorgung – Rehabilitation● Akutversorgung - Pflege● Rehabilitation – Pflege

● Bedeutungsverlust des Hausarztes

2. Das GKV-Finanzierungsgesetz

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24

Koalitionsvertrag (Oktober 2010)

„Langfristig wird das bestehende Ausgleichssystem überfuhrt in eine Ordnung mit (...) einkommens-unabhängigen Arbeitnehmerbeitragen, die sozial ausgeglichen werden. Weil wir eine weitgehende Entkoppelung der Gesundheitskosten von den Lohnzusatzkosten wollen, bleibt der Arbeitgeberanteil fest.“

Also:

●Einfrieren des Arbeitgeberbeitrages●Einführung einkommensunabhängiger Arbeitnehmerbeiträge („Kopfpauschale“)

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Der allgemeine Beitragssatz

● Der Beitragssatz zur Krankenversicherung wird von 14,9 auf 15,5 % angehoben.

● Die Anhebung um 0,6 %-Punkte wird zu gleichen Teilen von Versicherten und Arbeitgebern getragen

● Der Sonderbeitrag der Versicherten in Höhe von 0,9 %-Punkten soll bestehen bleiben.

● Damit würden die Versicherten künftig 8,2 % und die Arbeitgeber 7,3 % tragen.

● Der Arbeitgeberanteil wird auf 7,3 % festgeschrieben.● Künftige Beitragssatzsteigerungen sind somit allein von

den Beschäftigten zu tragen.

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Der Zusatzbeitrag

● Zur Deckung eines Defizits müssen die Krankenkassen einen kassenindividuellen Zusatzbeitrag erheben.

● Die Zusatzbeiträge können künftig in unbegrenzter Höhe festgesetzt werden.

● Die bisherige Begrenzung des Zusatzbeitrags auf 1 % der Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt entfällt.

● Der Zusatzbeitrag kann nur noch als einkommensunabhängige Pauschale erhoben werden.

● Wenn eine Krankenkasse einen Zusatzbeitrag erhebt oder erhöht, können die Mitglieder ihre Kasse sofort wechseln.

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Der steuerfinanzierte Zuschuss (1/2) („Sozialausgleich“)

● Geringverdiener erhalten einen steuerfinanzierten Zuschuss zum Zusatzbeitrag.

● Die individuelle Belastung der Versicherten beträgt maximal 2 % des durchschnittlichen Zusatzbeitrags (nicht: des kassenindividuellen Zusatzbeitrags).

● Zu diesem Zweck ermittelt das Bundesversicherungs-amt für das kommende Jahr einen durchschnittlich notwendigen Zusatzbeitrag je Versicherten.

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Der steuerfinanzierte Zuschuss (2/2) („Sozialausgleich“)

● Der Arbeitgeber prüft, ob dieser Betrag mehr als 2 % des Bruttoarbeitseinkommens des Beschäftigten beträgt.

● Ist dies der Fall, reduziert der Arbeitgeber den Krankenversicherungsbeitrag des Versicherten um den Betrag, der über die 2-%-Grenze hinausgeht.

● Der Arbeitgeber zahlt diesen Betrag an die Versicherten aus.

● Der Arbeitgeber überweist die reduzierte Beitragssumme an den Gesundheitsfonds.

● Der Fehlbetrag im Gesundheitsfonds wird durch Steuermittel ausgeglichen.

Finanzströme in der GKV ab 2011

Arbeitnehmer Arbeitgeber(Rentenkasse)

Gesundheitsfonds

Staat

Krankenkasse

Steuerzuschuss

Steuerzuschuss

zum Zusatzbeitrag

(„Sozialausgleich“)

Zuschuss zum

durchschn. Zusatzbeitrag

Zusatzbeitrag (p

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(8

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A

Beitrag (7,3%)

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Entwicklung des Arbeitgeber- und max. Arbeitnehmeranteils an der GKV-Finanzierung

7,106,65

7,30 7,00 7,30

7,107,55

9,20 8,90

10,20

0,00

2,00

4,00

6,00

8,00

10,00

12,00

Jan 05

Aug 05

Mrz 06

Okt 06

Mai 07

Dez 07

Jul 08

Feb 09

Sep 09

Apr 10

Nov 10

Proz

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Arbeitgeberanteil

max. Arbeitnehmeranteil

30

Prozentuale Belastung der Versicherten mit Krankenversicherungsbeiträgen

Prozentuale Belastung für Arbeitnehmer bei einem durchschnittlichen Zusatzbeitrag in Höhe von monatlich 16 Euro

(Prognose des Bundesversicherungsamts für das Jahr 2014)

Bruttoarbeitseinkommen (in Euro)

Belastung in % vom Bruttoarbeitseinkommen

800 10,2

1.000 9,8

2.000 9,0

3.000 8,7

3.750 8,6

4.000 8,1

6.000 5,4

8.000 4,0

31

32

Erleichterung des Wechsels in die PKV

● Arbeitnehmer mit einem Jahreseinkommen oberhalb der Jahresarbeitsentgeltgrenze (2010: 49.950 Euro)

● Seit 2007: Eintritt in die PKV nur, wenn der Versicherte die Jahresarbeitsentgeltgrenze an drei aufeinander folgenden Jahren überschritten hat

● Ab 2011: Eintritt bereits nach einjähriger Überschreitung der Jahresarbeitsentgeltgrenze möglich

● Folge für die GKV: Verlust von Versicherten, die● hohe Beiträge zahlen● einen unterdurchschnittlichen Behandlungsbedarf aufweisen

Fazit (1/3)

● keine Schaffung einer nachhaltigen Finanzierungs-grundlage für die GKV

● keine Strukturreformen● keine Beseitigung der Gerechtigkeitsdefizite● Im Gegenteil:

● Systemwechsel in der gesetzlichen Krankenversicherung● Endgültiger Bruch mit dem Solidarprinzip

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Fazit (2/3)

● Einführung einer kleinen Kopfpauschale durch Erhöhung des Zusatzbeitrages

● Zusatzbeitrag tritt neben die Versichertenbeiträge und den Steuerzuschuss

● Ausgabensteigerungen in der GKV werden ausschließlich den Versicherten aufgebürdet.

● Die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen werden durch den pauschalen Zusatzbeitrag in besonderer Weise belastet.

● Die Möglichkeit zum Wechsel in die PKV wird erleichtert.

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Fazit (3/3)

● Die Möglichkeit zum Wechsel in die PKV wird erleichtert.

● Konkurrenzschutz für Apotheker (keine Änderung des Mehr- und Fremdbesitzrechts!)

● Ärzte, Zahnärzte, Apotheker werden keine Kosten aufgebürdet

35

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3. Alternativen

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Alternativen (1/2)

● Solidarische Bürgerversicherung!● Beseitigung der Versicherungspflichtgrenze● Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze auf das

Niveau der Rentenversicherung● Erweiterung der Beitragsbemessungskriterien auf weitere

Einkunftsarten (Kapital-, Zins- und Mieteinnahmen)

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Alternativen (2/2)

● Reform von Versorgungsstrukturen!● stärkere Einflussnahme von Kassen/Staat auf die Preise

von Originalpräparaten (bei Arzneimitteln)● Stärkung der integrierten Versorgung (bessere

Koordination und Kooperation)● generelle Einführung ambulanter

Behandlungsmöglichkeiten am Krankenhaus● dabei: Vorsicht beim Wettbewerb!

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Vielen Dank für Eure

Aufmerksamkeit!