Kaulbach, Friedrich - Kritik Der Vernunft Und Vernunft Der Sinnwahrheit Bei Nietzsche

Post on 28-Nov-2015

38 views 0 download

Transcript of Kaulbach, Friedrich - Kritik Der Vernunft Und Vernunft Der Sinnwahrheit Bei Nietzsche

F R I E D R I C H K A U L B A C H

Kritik der Vernunft und Vernunft der Sinnwahrheit bei Nietzsche*

Kritik der reinen Vernunft, der Titel des kantischen Werkes, ist für einen wesentlichen Zug auch dessen kennzeichnend, was Nietzsche unter Vernunft versteht und selbst in seinem philosophischen Denk-handeln praktiziert. Dabei kommen seine Aussagen über Vernunft wie auch sein Gebrauch der Vernunft des Philosophierens in Betracht. Das Drama der Vernunft, welches sich in Kants Denken abgespielt hat, ist dem Nietzsche der Geburt der Tragödie bereits vor Augen: Kants Bild von der Vernunft zeigte sich dabei als das einer Geschichte von Übergängen über sich selbst hinaus. Kant hat sich selbst zum Wortführer und zum Vollzieher dieser Übergänge gemacht, wenn er z. B. philosophische Vernunft den Stand einer Gesetzgeberin und Richterin zugleich einnehmen läßt, von dem aus sie Ansprüche eigener Gestalten, in denen sie auftritt, rechtlich normiert. Es ist die Gestalt der theoretisch-wissenschaftlichen Vernunft, die Nietz-sche in der Geburt der Tragödie, in der Richtung der kantischen Kritik weitergehend, in ihre Rechtsgrenzen zurückweisen will, die diese bei weitem überschritten hatte. Bei Nietzsche ist es die künstlerische Vernunft, welche die legislative und zugleich judikative Rolle übernimmt. Im Ein-klang mit Wagner sieht er in der Ausübung dieses Amtes eine für die Kultur im allgemeinen bedeutsame Leistung. Man vernimmt aus seinem Munde das auch von Kant in demselben kritischen Zusammenhang ge-brauchte Wort „Bändigung", mit dem er die Disziplinierung des anarchisch gewordenen Erkenntnistriebes bezeichnet. Dessen theoretischer Vernunft kann der philosophische Richter, der sich zugleich als Künstler erweist, vom Stand seiner Vernunft aus den Anspruch nicht zubilligen, das Dasein zu „rechtfertigen", oder, in der späteren Sprache Nietzsches gesagt, die Sinnfrage zu stellen und sie zu beantworten.

Nietzsche bekennt in einem nachgelassenen Fragment1, daß es die Einsicht in die letzten Grenzen der theoretischen Vernunft gewesen sei, die ihn damals für Kant und Schopenhauer begeistert habe. Es ist im

* Erweiterte Fassung eines im April 1988 bei einem Nietzsche-Kurs in Dubrownik gehalte-nen Vortrags.

1 1883, K S A , 10, S. 239

Bereitgestellt von | Freie Universität BerlinAngemeldet | 87.77.174.220

Heruntergeladen am | 16.09.13 12:59

Kritik der Vernunft 135

Blick darauf in der Geburt der Tragödie die Rede von der „tragischen Erkenntnis".2 Deren Augenblick sieht er in dem Ereignis des Untergangs der metaphysischen Vernunft gekommen. Sie ist kritische Erkenntnis der Tragödie der Metaphysik, die der Europäische Mensch bis zu Kant mit der Mission betraut hatte, in dogmatischer Denkart das Dasein zu rechtfertigen sowie eine ihm Sinn verleihende Weltdeutung rational zu begründen. Da dabei die Grenzen der theoretischen Vernunft unbeachtet geblieben sind, mußte die Hoffnung, die auf sie gesetzt war, enttäuscht werden. Es ist die Intention Nietzsches in der Geburt der Tragödie, die von Kant und seinen idealistischen Nachfolgern gegebene Antwort auf diese tragische Situation, in welcher der Held des dort gespielten Dramas, die metaphysische Ver-nunft, untergegangen war, durch eine überlegene Form von Vernunft zu überbieten, die allein der Aufgabe der Rechtfertigung des Daseins gewach-sen sein sollte: das sollte die Vernunft der dionysischen Kunst sein.

In der frühen Zeit übernimmt Nietzsche die Rolle des Wortführers der dionysisch-apollinischen Vernunft und ihrer Welterkenntnis, von deren Stand aus er kritisch beschränkend die wissenschaftlich theoretische Ver-nunft zu bändigen sucht. Später wird sich dieser überlegene, gesetzgebende und richterliche Stand als derjenige der Vernunft des Leibes darstellen. Wenn Nietzsche von „Vernunft" und über sie spricht, dann wird man nur dann seine Aussagen angemessen zu deuten vermögen, wenn man jeweils bedenkt, welche Gestalt von Vernunft im einzelnen Fall vor Augen steht, der Nietzsche von dem von ihm eingenommenen Vernunftstande aus sein kritisches, Recht und Unrecht unterscheidendes Auge zuwendet. Wenn Nietzsche ζ. B. gegen die Programmatik der reinen, neutralen und blassen Vernunft in Natur- und Geisteswissenschaften das Prinzip des Affekts als an der Erkenntnis beteiligt erklärt, und ihm ein kognitives Recht zuspricht, so redet er von seinem Vemunftstande aus über eine untergeordnete Form der Vernunft, der er als reiner Vernunft die Allherrschaft streitig macht. „Seine" eigene Vernunft ist über den Gegensatz zum Affektprinzip hinaus. Auch gegen diejenigen nämlich, die den Reichtum der Irrationalität gegen Vernunft ausspielen, wendet er sich mit dem Gedanken, daß sich deren abschätzige Rede von Vernunft auf ein verengtes Bild von dieser bezieht. Aufschlußreich hierfür ist ein Aphorismus aus der Morgenrote, in welchem er sich gegen Apostel der Vernunftfeindschaft, gegen gutartige und sogar edle Schwärmer ausspricht, die sich für Gefühl, Schau, Intuition

2 Hierzu die Ausführungen zur dionysischen Gestalt der Vernunft in meinem Buch Nietz-

sches Idee einer Experimentalpbilosophie, Köln —Wien 1980; zum Begriff der tragischen Erkenntnis vgl. meine Skizze Das Drama in der Auseinandersetzung ^wischen Kunst und Wissensmoral, aus: Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche, Würzburg 1986.

Bereitgestellt von | Freie Universität BerlinAngemeldet | 87.77.174.220

Heruntergeladen am | 16.09.13 12:59

136 Friedrich Kaulbach

auch auf dem Felde philosophischen Erkennens gegen den Anspruch der Vernunft einsetzen. „Bis zum Hass gegen die Kritik, die Wissenschaft, die Vernunft treibt ihr e s . . . Farbige Bilder, wo Vernunftgründe not täten! Glut und Macht der Ausdrücke! Silberne Nebel! Ambrosische Nächte!"3

Diese Vernunftfeinschaft — Kant hat von Misologie gesprochen — beur-teilt Nietzsche als „Lasterhaftigkeit des Intellekts". Nietzsche spricht in einem gleich darauf folgenden Abschnitt im Blick darauf, „wie man jetzt Philosophie treibt", von den „Lüsternen und Dünkelhaften", die sich über das von Sokrates zum Maßstab des Philosophierens erhobene Vernunft-prinzip unter Berufung auf Schau, Gefühl und Intuition hinwegsetzen.

Sie haben keine Ahnung von dem Jauchzen über die Erfindung des vernünftigen Denkens, das in den platonischen Dialogen spürbar sei: also vom dionysischen Einschlag der Vernunftphilosophie. „Damals füllten sich die Seelen mit Trunkenheit, wenn das strenge und nüchterne Spiel der Begriffe der Verallgemeinerung, Widerlegung, Engführung betrieben wurde, mit jener Trunkenheit, welche vielleicht auch die alten grossen strengen und nüchternen Contrapunktiker der Musik gekannt haben."4

Der „feinere Ehrgeiz" der heutigen Irrationalisten möchte „gar zu gerne sich glauben machen, dass ihre Seelen Ausnahmen seien, nicht dialektische und vernünftige Wesen, sondern — nun zum Beispiel „intuitive Wesen", begabt mit dem „inneren Sinn" oder mit der „intellektuellen Anschauung". Vor allem aber wollen sie „künstlerische Naturen" sein, mit einem Genius im Kopfe und einem Dämon im Leibe und folglich auch mit Sonderrechten für diese und jene Welt, namentlich mit dem Götter-Vorrecht, unbegreiflich zu sein. — Das treibt nun auch Philosophie. Ich fürchte, sie merken eines Tages, dass sie sich vergriffen haben, — das, was sie wollen, ist Religion!"5 Diese Apologie der Vernunft aus Nietzsches Munde ist bemer-kenswert, vor allem auch, wenn man auf die Parallele des späten Aufsatzes Kants Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie von 1796 achtet. Auch hier wird der Dünkel des Vornehmen ironisch bloßge-stellt, der sich aus der Vernunftgesetzgebung der quasibürgerlichen Gesell-schaft der Philosophierenden ausnimmt.

Nietzsche ist wahrhaft nicht der Letzte von denen, die für die Bedeu-tung der Anschauung, des Instinktes, der individuellen Wahrheit plädieren, aber er will sein Eintreten für die kognitive Bedeutung dessen, was nach gewöhnlichen Maßstäben als das Außervernünftige, das Irrationale bezeichnet wird, nicht als Polemik gegen die Vernunft überhaupt verstan-

3 M, 543 4 M, 544 5 M, 544

Bereitgestellt von | Freie Universität BerlinAngemeldet | 87.77.174.220

Heruntergeladen am | 16.09.13 12:59

Kritik der Vernunft 137

den wissen. Er nimmt vielmehr, um diesen Lebensbereich zu decken, sogar höhere Standpunkte der Vernunft in Anspruch: von der Leibvernunft wird noch die Rede sein. Anders gesagt: Nietzsche will Gerechtigkeit. Diese wird, das ist auch für ihn ausgemachte Sache, vom Richterstuhl einer überlegenen Vernunft aus verwirklicht. Nietzsche stellt sich auf den über-legenen Stand richterlicher Vernunft, von dem aus diese Vernunft Rechts-grenzen der Ansprüche und Kompetenzbereiche ihrer eigenen untergeord-neten Gestalten festlegt: er selbst spricht gelegentlich vom „Herabsehen" auf sich selbst. Für ihn besteht analog wie für Philosophen der Vernunft vor ihm der Gesamtbau der Vernunft in einer Hierarchie von Aufgabenfel-dern, für deren jedes eine Gestalt der Vernunft verantwortlich, und auf welches sie rechtlich beschränkt ist. Aber Nietzsche geht über die Tradition der Vernunftphilosophie insofern in entscheidender Weise hinaus, als es die Vernunft des Leibes ist, der er den Platz auf dem Stuhl des Gesetzgebers und des Richters anweist.

Unter dieser Voraussetzung der Situation des Beurteilens und Verwal-tens der Vernunft durch sich selbst ist ζ. B. das berühmte Urteil Nietzsches über den Werkzeugcharakter der Vernunft zu deuten. Wenn sich Vernunft als Organon versteht, dann meint sie eine besondere Gestalt, in der sie sich ihrem eigenen Urteil stellt. So etwa ist es der Fall an der Stelle, an welcher er drei Phasen der bisherigen Moralität unterscheidet:6 er könnte sie als drei Phasen des Gebrauches der Vernunft als Mittel und Werkzeug für die Verwirklichung von Handlungszwecken nennen. Moralität und Vernunft treten in der ersten Phase als Verbündete auf, von der es heißt, daß in ihr der Mensch „nützlich" und „zweckmäßig" werde und daß in ihr zuerst die „freie Herrschaft der Vernunft" herausbreche. Eine analoge Rolle des Mittels spielt Vernunft in den beiden anderen Phasen: es sind diejenige der „Ehre" und die des Eingestelltseins auf den allgemeinen Nutzen. In der Sprache der herkömmlichen Moral und gemäß ihrer Perspektive, deren sich Nietzsche als Artist des Umgangs mit Perspektiven vom Stand s e i n e s Denkens und Sprechens aus ironisch bedient, kann „nützlich" und „zweckmäßig" als gleichbedeutend mit „vernünftig" ver-standen werden, wobei dann eine untergeordnete Gestalt der Vernunft im Blick ist. Das heißt, daß hier nicht endgültige, wesentliche Aussagen über „die" Vernunft gemacht werden wollen: es bedeutet nur, daß Nietzsche eine Vernunftgestalt, nämlich diejenige betrachtet, die sich in der menschlichen Geschichte als Werkzeug in der Hand moralischer Weltstellung erwiesen hat.

6 MA I, 94

Bereitgestellt von | Freie Universität BerlinAngemeldet | 87.77.174.220

Heruntergeladen am | 16.09.13 12:59

138 Friedrich Kaulbach

So ist der Doppelsinn in der Stelle in Jenseits von Gut und Böse zu verstehen, in welcher gegen das Cartesische Plädoyer für Vernunft als der alleinigen Autorität von Nietzsche gesagt wird: „aber die Vernunft ist ein Werkzeug und Descartes war oberflächlich".7 Das ist in diesem Zusammen-hang und auf dieser Stufe der Reflexion vor allem auf das Verhältnis zwischen Vernunft und Instinkt in der Moral gemünzt. In Dingen der Moral habe „bisher der Instinkt oder wie es die Christen nennen, der Glaube, oder wie ich es nenne, die Herde" gesiegt. Descartes, der „Vater des Rationalismus und damit der Grossvater der Revolution", habe die Rolle, welche Vernunft in Wahrheit in der Moral gespielt hat, nicht in ihrem Werkzeugcharakter erkannt. Er hat nicht gesehen, so könnte man ergänzend sagen, daß die Vernunft der Moral als Werkzeug derjenigen eines besonderen Instinktes zu Diensten ist, welche in diesem Falle der Instinkt der Verleumdung des Lebens ist. Vernunft der Wissenschaft oder der Moral dient jeweils einem Lebensinstinkt bestimmten Charakters, auch wenn sie sich selbst von i h r e m Standpunkt aus und in ihrer Perspektive etwa in der Wissenschaft als interessefrei oder in der Moral als der reinen Gutheit verpflichtet verstehen oder auch tarnen sollte.

In Aussagen der Vernunft über sich selbst macht sie jeweils eine besondere Gestalt ihrer selbst zu ihrem Gegenstand: diese Aussagen dürfen nicht als dogmatisch gedeutet werden. Sie sind als die Vernunft in je einer bestimmten Hinsicht betreffend zu verstehen. Wer von „der" Vernunft überhaupt aussagen wollte, sie sei Werkzeug und Mittel, würde Nietzsche nicht auf seiner Seite finden, denn dieser reflektiert die eigene Vernunft, von deren Stand aus und in deren Perspektive solche Aussagen gemacht werden. Diese Vernunft selbst versteht sich und ihren über-legenen Stand des Urteilens und Beurteilens selbst nicht als Werkzeug für die Verwirkli-chung von Zwecken einer höheren Vernunft des Lebensinstinktes, sondern als die Vernunft, die dem Lebenswillen selbst ein Ziel, einen Wert, einen Sinn gibt. Nietzsche steht daher auf der Seite Kants, wenn dieser bemerkt, daß die Natur selbst unvernünftig gehandelt hätte, wenn sie mit ihrer Gabe der Vernunft beabsichtigt hätte, dem Menschen ein Werkzeug und Mittel zur Lebenserhaltung zu geben, statt mit dieser Vernunft eine ganz andere, unendlich über ihre Mittelrolle hinausgehende Absicht zu verbin-den. Vernunft als lebensbeförderndes Mittel allein angesehen müßte als ungeeignetes und zweischneidiges Werkzeug betrachtet werden: besser wäre, so Kant, in dieser Hinsicht die Ausstattung mit geschickteren Instink-ten. Wenn schon Vernunft, dann muß sie die weit über ihre pragmatische, utilitarische, biologische Nützlichkeit hinausgehende Mission erfüllen, dem

7 JGB, 191

Bereitgestellt von | Freie Universität BerlinAngemeldet | 87.77.174.220

Heruntergeladen am | 16.09.13 12:59

Kritik der Vernunft 139

Menschen seine ausgezeichnete Stellung im Kosmos zu geben. Auf ihrem Boden standnehmend soll sich der Mensch seinen absoluten Wert, seine Würde verschaffen: so Kant. Der Mensch soll eine Gestalt der Vernunft verwirklichen, die ihn in den Stand setzt, sein Dasein zu rechtfertigen und ihm einen Sinn zu geben: so Nietzsche.

Besondere Aufmerksamkeit der Kritik zieht die Vernunft des wissen-schaftlichen Begründens und Beweisens auf sich: es geht um diejenige Gestalt der Vernunft, die in der philosophischen Tradition seit Kant den Namen „Verstand" trägt. Sie dient als theoretische Vernunft dem Willen zum wissenschaftlichen Systematisieren als Werkzeug (Organon), mit Hilfe dessen er einzelne Erkenntnisse in ein überzeugendes Wissensgebäude einzubauen vermag. Die Grenzüberschreitung dieser Vernunft, welche Richterin Vernunft unter der Federführung Kants als unrechtmäßig beur-teilt hat, kann so gekennzeichnet werden: sie besteht in dem anmaßenden Anspruch des theoretischen, auf Begründung und Beweis abzielenden Verstandes, nicht nur die Natur oder auch die geistige Welt auf Begriffe zu bringen und in die Hand zu bekommen, sondern als dogmatische Metaphysik auch die Frage nach dem Wozu?, dem Sinn zu stellen und zu beantworten. Durch ihr Scheitern in dieser Hinsicht hat dogmatisch-metaphysische Vernunft die Gesetzgeberin und Richterin Vernunft auf den Plan gerufen, die ihren Sprecher in Kant gefunden hat. Dogmatische Metaphysik hat, um es in der Sprache Nietzsches zu sagen, durch ihr Bestehen auf dem Verfahren des Begründens und Beweisens die tragische Situation bewirkt, sofern sie die Erwartungen auf Sinn-leistung enttäuscht hat. Das Urteil, welches Kant die Richterin Vernunft über die Angeklagte: Metaphysik sprechen läßt, mag so formuliert werden: Philosophische Aussagen können und dürfen nicht, wie dogmatische Metaphysik es will, darauf ausgehen, Wahrheit über Objekte auszusprechen: sie gehören nicht dem Bereich der Objektwahrheit an. Philosophisches Denken macht sich vielmehr die „Denkart", wie Kant sagt, also die „Perspektive" zu seinem „Gegenstand", in welcher die Welt der Objekte gedeutet wird. Daher kann und darf philosophische Vernunft nicht darauf ausgehen, dogmatische, d. h. lehrhaft mitteilbare Aussagen über die Welt zu machen; vielmehr soll die Sprache der Philosophie diejenige sein, in welcher mögliche Perspektiven der Weltdeutung erörtert und die Entscheidung für die „wahre" motiviert werden. In der transzendentalen Dialektik will Kant eine Gesetzgebung für den der „Wahrheit" gemäßen Gebrauch von Per-spektiven geben.

Wenn demgemäß die Intention philosophischen Denkens und Spre-chens nicht auf Objektwahrheit gehen darf, dann muß sie auf die Bedeutsam-keit von Perspektiven für den Denkenden und Sprechenden achten: diese

Bereitgestellt von | Freie Universität BerlinAngemeldet | 87.77.174.220

Heruntergeladen am | 16.09.13 12:59

140 Friedrich Kaulbach

Bedeutsamkeit nenne ich Sinnwahrheit. Im Denken Kants z. B. motiviert die von ihm als metaphysisch deklarierte Vernunft die Behauptung des Sinnes menschlichen Handelns in der Weise, daß er dem guten Willen die Hoffnung auf end-gültigen Erfolg seines Einsatzes durch die Perspektive des höchsten Gutes rechtfertigt. Diese Perspektive erweist ihre „Wahrheit" dadurch, daß sie der Handelnde „voraussetzen" bzw. „annehmen" muß, wenn er zur Entscheidung zum Handeln fähig sein soll, statt wie Hamlet am Handeln zu verzweifeln. Dieses „muß" gehorcht einer Notwendigkeit, die ich als Sinnotwendigkeit bezeichne: sie ist Notwendigkeit der Sinnver-nunft. Kant trägt ausdrücklich dem perspektivischen Charakter der Aus-sage über die Welt dieser moralischen Qualität in der Weise Rechnung, daß er sie nicht als Aussage über das objektive Sein dieser Welt etwa in der Bedeutung der Leibnizschen Metaphysik der besten aller möglichen Welten gelten läßt, sondern daß er ihr „nur" die Rolle eines Postulats zubilligt. Sie kann demgemäß nicht auf Objekte bezogene, also „Objekt-wahrheit" beanspruchen: ihre Bedeutung richtet sich nicht auf das Sein eines Objekts, sondern auf dessen Gefordertsein, sie erfüllt sich in der Bedeutsamkeit für den Handelnden. Sinnwahrheit wird sich auch bei Nietzsche als Wahrheit der philosophischen Aussagen erweisen, welche als Ausdruck von Weltperspektiven und Entscheidungen für sie nicht Bedeutung auf das Objekt hin, sondern Bedeutsamkeit für das Subjekt nach Maßgabe der Sinnotwendigkeit zeigen. In solchen Wendungen wie der, nicht Wahrheit von Aussagen im herkömmlichen Verstände — es ist Objektwahrheit gemeint — sondern der Wert für das Leben entscheide, zeigt Nietzsche in diese Richtung.

An dieser Stelle des Gedankenganges wird erkennbar, wie eng die Frage nach der Vernunft mit derjenigen nach der Rolle verbunden ist, die man der Metaphysik zubilligt. Das ist darauf zurückzuführen, daß Metaphysik in der Tradition als die philosophische Domäne aufgetreten ist, in welcher die Sinn-vernunft ihre Frage gestellt und beantwortet hat. Die vorkantische Metaphysik ist, in der Sprache der Kritik beurteilt, daran gescheitert und mußte scheitern, weil sie dogmatische, statt perspektivisti-sche Deutung ihrer Sätze intendiert hat; weil sie weiterhin auf wissenschaft-liche Objektwahrheit, statt auf Sinnwahrheit ausgegangen ist: genauer gesagt, weil sie zu Unrecht die Sinnfrage mit der Intention auf Objektwahr-heit beantwortet hat. Schließlich ist sie mit ihrem Anspruch auf Begrün-dung und dem von Kant so genannten „ostentativen" Beweis, auf dem falschen Wege, statt sich damit zu bescheiden, die Entscheidung für eine jeweils als sinnwahr erkannte Perspektive der Weltdeutung zu motivieren. Wenn man die auf Sinnwahrheit abzielende Aufgabe unter perspektivisti-schem Gesichtspunkt übernimmt und erfüllt, dann mag man das als

Bereitgestellt von | Freie Universität BerlinAngemeldet | 87.77.174.220

Heruntergeladen am | 16.09.13 12:59

Kritik der Vernunft 141

berechtigte, weil kritische Metaphysik bezeichnen. Es kann unter dieser Voraussetzung nicht als Beschuldigung gewertet werden, wenn ζ. B. Hei-degger Nietzsche gegen dessen Selbstverständnis als „Metaphysiker" aus-gibt. Gegenwärtige Debatten über Recht oder Unrecht der Metaphysik kranken oft daran, daß man von Kant nicht gelernt hat, den eigentümlichen Charakter der Bedeutung, die eine metaphysische Aussage hat, von dem wissenschaftlicher Aussagen zu unterscheiden. So machen es sich Wider-sacher leicht, wenn sie ihre Ablehnung der Metaphysik auf die Vorstellung gründen, sie erhebe den illegitimen Anspruch einer Art Über-Wissenschaft, bei der es um maßgebende Objektwahrheit gehe.

Auch wenn Nietzsche in einem abschätzigen Tone von Metaphysik spricht, hat er das einseitige Bild von ihr als einem Unternehmen mit dem Anspruch auf Wissen von der „wahren Welt" vor Augen. Aber er selbst spricht eine metaphysische Sprache, wenn er die Perspektive der Wieder-kehr als die unserer Gegenwart angemessenen Weltdeutung wählt. In dieser Sprache zeichnet er auch ein Bild des Denkenden und Wollenden, in welchem sich dieser als ein System von Monaden darstellt, von denen jede eine eigene Perspektive vertritt. Sie behauptet diese mit Durchset-zungswillen im Kampf mit den anderen und tritt mit diesen in Herrschafts-verhältnisse ein. Diese sind in Fluktuation begriffen, da in jeder Lebensge-genwart jeweils eine andere Perspektive die Herrschaft über die anderen ausübt.8

Daß Nietzsche schon im Bereich des physiologischen Lebenkönnens des Menschen der Sinnwahrheit ihren Platz einräumt, ist aus seiner oft wiederholten und variierten These zu ersehen, daß das Leben nur in bedingter Weise Wahrheit, verstanden in der Bedeutung der Objektwahr-heit, vertrage, und daß demjenigen Geltung für das Leben zukommt, was am Maßstab jener Wahrheit gemessen als Irrtum, ja auch als Lüge zu bezeichnen ist. An die Überlegungen der zweiten Unzeitgemäßen Betrach-tung ist in diesem Zusammenhang zu erinnern.

Vom Stand perspektivistischer und zugleich kritischer Philosophie aus ernennt Nietzsche die philosophische Vernunft zum Richter über das Programm der „wahren Welt". In einem Abschnitt über die Vernunft in der Philosophie9 spricht er von „Idiosynkrasieen der Philosophen", unter denen auch die als selbstverständlich geltende These genannt wird, daß solche ganz abstrakten Begriffe wie das Seiende, das Unbedingte, das Gute, das Wahre, das Vollkommene in der Bedeutung des Ansichseins zu

8 E s ist ein bedeutendes Verdienst Müller-Lauters, die hierauf bezogenen Gedanken Nietz-sches scharf herausgebildet zu haben.

9 G D , Die „Vernunft" in der Philosophie, 415

Bereitgestellt von | Freie Universität BerlinAngemeldet | 87.77.174.220

Heruntergeladen am | 16.09.13 12:59

142 Friedrich Kaulbach

verstehen seien. „Das Letzte, Dünnste, Leerste wird als Erstes gesetzt als Ursache an sich, als ens realissimum". Nietzsche trifft in Wahrheit nur die vorkantisch dogmatische Metaphysik und spielt gegen sie den kritischen Perspektivismus aus, wenn er es als symptomatisch für die Idiosynkrasie der Metaphysiker bezeichnet, daß sie über das Ding, das Subjekt, die Ursache-Wirkungbeziehung, über Einheit, Identität, Substanz usw. mit dem Anspruch auf Objekt-Wahrheit aussagen.

Dagegen wehrt sich die perspektivistisch-kritische Vernunft: „ In der Tat, nichts hat bisher eine naivere Überzeugungskraft gehabt als der Irrtum vom Sein, wie er z. B. von den Eleaten formuliert wurde: er hat ja jedes Wort für sich, jeden Satz für sich, den wir sprechen! . . . Die „Vernunft" in der Sprache! ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik g lauben. . ." 1 0 Die in Anführungszeichen gesetzte Vernunft in der Philosophie hat sich durch die falsche dogmatische Vernunft, in deren Bann wir die Sprache des Alltags sprechen, zur falschen Metaphysik der wahren Welt mit ihrem Anspruch auf Objektwahrheit verleiten lassen: sie wurde durch diese gerade dazu „nezessitiert", in dieser Stellung des dogmatischen Sprechens von den genannten Kategorien als Ansichbeständen zu reden. Gibt es vielleicht ein noch zu rechtfertigendes Denken und Reden von Gott in nicht-objektiver Bedeutung? Wir „kom-men in ein grobes Fetischwesen hinein, wenn wir uns die Grundvorausset-zungen der Sprach-Metaphysik, auf deutsch: der Vernunft, zum Bewusst-sein br ingen. . ." 1 1 Damit wird zugleich der hinter dieser Metaphysik stehende Wille zur Objektwahrheit aufgedeckt. Die Entlarvung des sich als reinen Erkenntniswillen ausgebenden Willens zur dogmatischen Meta-physik läßt erkennen, daß die objektwahre Welt nur „hinzugelogen" ist: sie ist gelogen, da der sie behauptende Philosoph ihren bloß perspektivischen Charakter nicht zugeben will. Der kritische Philosoph wird nicht abstrei-ten, daß die philosophische Sinnvernunft von einer als objektiv vorgestell-ten Welt sprechen muß, aber er verlangt von ihr, daß dieses mit perspektivi-stischem Bewußtsein geschieht. Er will die Gegenstände, von denen er spricht, nur in der Bedeutung der „Als-ob-Gegenständlichkeit" verstanden wissen.

Durch Überwindung der Befangenheit des philosophischen Denkens aus den Fesseln der Objektwahrheit stellt Kritik an dogmatischer Anma-ßung der Sprache ebenso wie der ihr hörigen Metaphysik für die Vernunft, welche Sinnperspektiven entwerfen will, den Zustand der Freiheit her:

10 G D , Die „Vernunft" in der Philosophie, 5 11 G D , Die „Vernunft" in der Philosophie, 2. Eigentlich wäre auch an dieser Stelle das

Wort: Vernunft zu apostrophieren.

Bereitgestellt von | Freie Universität BerlinAngemeldet | 87.77.174.220

Heruntergeladen am | 16.09.13 12:59

Kritik der Vernunft 143

diese wird dazu befreit, perspektivische Entwürfe allein im Blick auf das Sinnbedürfnis eines Lebens, ohne Rücksicht auf objektive, wissenschaft-liche Genauigkeit zu leisten: ebenso wie die Kunst nicht naturalistische Forderungen zu erfüllen hat. Diesen Zug der Freiheit läßt auch die Sprache der vom dogmatischen Denken emanzipierten Philosophie erkennen. Dog-matisches Sprechen ist demjenigen nachzusagen, der objektwahre, lehrbare und begründbare Aussagen über das Sein in der Weise des „Ist"-sagens zu machen beansprucht. Kant besteht als kritischer Anwalt der Sinnvernunft darauf, daß sich philosophisches Sprechen auf das „als ob" sagen versteht, und daß es seine Sätze nicht als Feststellungen über Seiendes, sondern als Postulate gedeutet wissen will.

In der Vorrede zu Jenseits von Gut und Böse, welches auch als ein Jenseits von Objektwahrheit und Objektfalschheit gelten kann, benennt Nietzsche, übrigens einstimmig mit Kant, Plato mit der Philosophie der „wahren Welt" als den Vater des Dogmatismus. Die Überwindung dieser „wahren Welt" und der Erfindung vom „reinen Geiste" und vom „Guten an sich" kennzeichnet er auch in der Göt^endämmerung als Geschichte, die aus charakteristischen Schritten der Befreiung zu perspektivistischem Denken besteht. Entsprechend heißt es in der Vorrede zum Jenseits , Europa atme „von diesem Alpdrucke auf." Die dogmatische Rede von der wahren Welt habe bedeutet, „die Wahrheit auf den Kopf zu stellen" und „das Perspektivische, die Grundbedingung alles Lebens, selber verleugnen, so vom Geiste und vom Guten zu reden, wie Plato es getan"12. Der sorgsame Leser wird bemerken, daß nicht das Reden vom Geist und vom Guten überhaupt hier für Nietzsche unerträglich ist, sondern die dogmatische Art, in der es bei Plato geschieht, wird von ihm zurückgewiesen. Als Maßstab für Deutung und Bewertung dieser Begriffe wählt Nietzsche das Leben und seinen Anspruch auf Sinnwahrheit. Er versteht das Standneh-men auf diesem Boden als Befreiung: „ . . . wir guten Europäer und freien, sehr freien Geister — wir haben sie noch, die ganze Not des Geistes und die ganze Spannung seines Bogens und vielleicht auch den Pfeil, die Aufgabe, wer weiss? das Zie l . . ,"13

Das Ziel, die für uns geltende Sinnwahrheit nämlich, steht unter dem Vorzeichen des: Vielleicht. Die Ungewißheit des Vielleicht ergibt sich aus der von der kritisch-perspektivistischen Vernunft geschaffenen Denksitua-tion des Experimentierens. Perspektivistische Philosophie eröffnet einen Freiheitsraum für das Experiment des individuellen Lebens mit seinen eigenen Möglichkeiten des Entwerfens von Sinnperspektiven, um sich

12 JGB, Vorrede » JGB, Vorrede

Bereitgestellt von | Freie Universität BerlinAngemeldet | 87.77.174.220

Heruntergeladen am | 16.09.13 12:59

144 Friedrich Kaulbach

schließlich für die dem Leben genügende entscheiden zu können.14 Nietz-sche fordert in der Fröhlichen Wissenschaft erst zum Experiment mit der Perspektive der Ewigen Wiederkehr auf, bevor er später in der Rolle des Zarathustras eine Entscheidung für sie trifft und sogar auch noch als „Lehrer und Fürsprecher" dieser Perspektive auftritt. Dadurch, daß er sich in eigner Person als deren Repräsentant darstellt, der sich selbst zu ihrem Sprecher macht, statt über sie zu reden, verwandelt er ihren Zustand des Möglichseins in den des Wirklichseins. Der freie Geist sagt vom Stand perspektivistischer Vernunft aus: „Wir sind Experimente und wollen es auch sein!15 Nietzsche versteht sich als Lehrer der experimentel-len Methode des Suchens der je für ein Leben sinnwahren Weltperspektive: „Ich will allen, welche ihr Muster suchen, helfen, indem ich zeige, wie man ein Muster sucht."16 Damit ist ausgesagt, daß der Philosoph nicht nur die Rolle des Wissenden oder des Theoretikers annimmt, sondern in der Weise antiker Denker auch als Lehrer der Meisterung des Lebens auftritt. Dem entspricht, daß perspektivistische Philosophie zwei Aufgaben übernimmt: sie ist „Theorie" über die Freiheit des Geistes zum Entwurf sinnwahrer Weltperspektiven und zugleich auch „praktische" Anweisung für die individuelle Vernunft, durch Experiment ihre Sinnwahrheit zu finden und sich für sie zu entscheiden.

Es ist schon ein Handeln intellektueller Art, wenn Nietzsche den Stand der Vernunft des Lebens einnimmt. Von diesem Stand aus geht sein philosophisches Interesse dahin, dem individuellen Leben Freiheit zum Entwurf perspektivischer Möglichkeiten einzuräumen und dessen Vernunft in den Stand zu setzen, die für sie sinnwahre Perspektive zu finden und sich für sie zu entscheiden. So wird der am Leben Teilnehmende vom perspektivistischen Philosophen dazu aufgefordert, sich in eine Situation zu versetzen, für welche Freiheit zum Entwurf von Perspektiven, Experi-mentieren mit Möglichkeiten, Entscheidung für je meine Sinn Wahrheit maßgebend sind. Wenn das Leben als auf Sinn-rechtfertigung ausgehend zu verstehen ist, dann wird einsichtig, daß sich Folgen daraus für die Sprache ergeben: gewöhnliche Bedeutungen von Wörtern wie wahr und falsch, gut und böse verlieren ihre absolute Geltung. Die „Falschheit" z. B. — gemeint ist das Gegenteil von Objektwahrheit, die Objektfalsch-heit — eines Urteils kann, vom Stand der Lebensvernunft aus beurteilt,

14 FW, 341; vgl. mein Buch Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie; auch meine Schrift: Sprachen der Ewigen Wiederkunft, Würzburg 1985.

15 M, 453 16 KSA, 10, S. 206

Bereitgestellt von | Freie Universität BerlinAngemeldet | 87.77.174.220

Heruntergeladen am | 16.09.13 12:59

Kr i t ik der Vernunf t 145

nicht als Einwand gegen dieses Urteil angesehen werden.17 Entscheidend vom Stand der Vernunft des Lebens aus sei die Frage, wieweit das Urteil „lebenfördernd, lebenerhaltend,, arterhaltend, vielleicht sogar artzüchtend ist; und wir sind grundsätzlich geneigt zu behaupten, dass die falschesten Urteile . . . uns die unentbehrlichsten sind, dass ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktionen ohne ein Messen der Wirklichkeit an der rein erfun-denen Welt des Unbedingten, Sich-selbst-Gleichen, ohne eine beständige Fälschung der Welt durch die Zahl der Mensch nicht leben k ö n n t e . . . " Damit ist auch gesagt, daß wissenschaftliche Objektkategorien wie Sub-stanz, Kausalität, Zahl gerade durch ihre einseitig die Dinge verfälschenden Begriffe auch bedeutsam für das Leben, nicht nur hindeutend auf das Objekt sein können: darin ist auch der Beitrag der objektwahren Katego-rien für die Sinnwahrheit zu sehen. Es wird sogar der Schluß nicht von der Hand gewiesen, daß es Urteile gibt, die sinnwahr sind, weil sie objektfalsch sind: credo quia absurdum. Da die höchste Form der Lebens-förderung für den Menschen in den perspektivischen Entwürfen seiner sinnschaffenden Vernunft besteht, kann der zitierte Text auch als Begren-zung der Objektwahrheit im Interesse des Gewinns an Sinnwahrheit ausgelegt werden. Man kann damit den Tenor der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung in Zusammenhang bringen, in welcher die „plastische Kraft" der Lebensgestaltung durch Weltdeutung als sinnschaffende Kraft zum Maßstab der Bewertung der Objekt-feststellungen des Historikers gemacht wird. Wenn Nietzsche vor allem in späteren Jahren von der physiologi-schen Bedeutsamkeit etwa der Kunst spricht, dann ist der Gedanke der für das Leben sinnschaffenden Kraft im Spiele.17a

Objektivistische Wissenschaft auch in der Gestalt der Historie oder der Philologie läßt die sinnschaffende Kraft verkümmern, die sich aus der Vernunft der Instinkte, Affekte oder auch der Leidenschaft entfaltet: so zeigt sie sich als dem Leben feindlich und der Vernunft dieses Lebens, welche mit der Leibvernunft eines ist, nicht gewachsen. Es ist die Erkennt-nis höherer, perspektivistischer Vernunft, daß „hinter aller Logik und ihrer anscheinenden Selbstherrlichkeit der Bewegung . . . Wertschätzungen, deutlicher gesprochen, physiologische Forderungen zur Erhaltung einer bestimmten Art von Leben" stehen.18 Nicht objektivistische Selbstausle-

1 7 J G B , 4. Daß die Widersprüchl ichkei t v o n Sätzen in der Naturwissenschaft nicht unbedingt

ihre Ungült igkei t bedeutet, ist eine parallele Feststellung der gegenwärt igen Wissenschafts-

theorie. , 7 a Vgl. V. Gerhardt , V o n der ästhetischen Metaphysik zur Physiologie der Kuns t , Nietzsche-

Studien 13 (1984) , S. 3 7 4 f. 18 J G B , 3. Wei ter führende Über legungen wird mein künft iges Buch: Perspektive und

Wahrhei t mitteilen.

Bereitgestellt von | Freie Universität BerlinAngemeldet | 87.77.174.220

Heruntergeladen am | 16.09.13 12:59

146 Friedrich Kaulbach

gung hat Recht, die den Standpunkt reiner Ich-vernunft vertritt und die den Gegenstand in seinem Ansich erkennen will. Vielmehr befreit sich der Erkennende von der Befangenheit der Gegenständlichkeit gegenüber und entwirft für sein Leben perspektivische Sinnmöglichkeiten, um sich für eine davon zu entscheiden. Freiheit der Vernunft zu möglichen Sinnwahr-heiten, nicht interesseloses objektives Anschauen und Erkennen ist für philosophisches Denken und Sprechen maßgebend. Perspektivismus steht für die Befreiung der perspektivenbildenden Kraft der Instinkte und Affekte ein. „Es gibt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivi-sches .Erkennen'; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je mehr Augen, verschiedene Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissert, umso vollständiger wird unser ,Begriff dieser Sache, unsere Objektivität" sein.19 Die hier bezeichnenderweise in Anfüh-rungszeichen gesetzte Objektivität ist nicht diejenige des allgemeinen wissenschaftlichen Sprachgebrauchs: sie bedeutet die Weite und Überlegen-heit perspektivischer Deutungen der „Sache" über einseitigen und engen „subjektiven" Urteilen über sie. Freiheit des Denkens zu umfänglichen perspektivischen Möglichkeiten ist zugleich das „Vermögen, sein Für und Wider in der Gewalt haben und ein- und auszuhängen: so dass man sich gerade die Verschiedenheit der Perspektiven und Affektinterpretationen nutzbar zu machen weiss."20 Perspektivische Vernunft, die sich von gegen-standsbefangenem Denken befreit und sich darüber erhebt, ist zugleich als die grosse Vernunft des weiten Horizontes des offenen Meeres der Möglichkeiten perspektivischer Weltdeutungen zu verstehen. Sie geht aber auch den Weg von der Möglichkeit zur Wirklichkeit der Entscheidung für die jeweils sinnwahre Perspektive.

Auf die Individualität der Sinnwahrheit und der Entscheidung für sie sei hier noch eingegangen. Angesprochen wird dabei der Gedanke der der Sinnwahrheit zugehörigen Vernunft und ihrer Argumentation. Es wurde angedeutet, daß Jeder zur Überzeugung von der Wahrheit seiner Weltper-spektive auf dem Wege des in eigener Person ausgeführten Experimentes zu kommen hat. Perspektivistische Philosophie unterscheidet sich auch dadurch von der dogmatischen, daß sie nicht wie diese ihren Aussagen durch allgemeine Begründung und Beweis Gewißheit und Überzeugungs-kraft geben will. Es ist an den wichtigen Satz der kantischen Kritik zu erinnern, daß es in der Philosophie nicht angehe, es z. B. der Mathematik gleichzutun, und ihre Aussagen „ostentativ", d. h. auf die objektive Sache hinweisend beweisen zu wollen. Der philosophische Beweis sei dagegen

" GM, Was bedeuten asketische Ideale?, 12 20 Ebd.

Bereitgestellt von | Freie Universität BerlinAngemeldet | 87.77.174.220

Heruntergeladen am | 16.09.13 12:59

Krit ik der Vernunft 147

als „akroamatisch" zu bezeichnen. Bei diesem spielt keine der objektiven Wahrheit dienende Anschauung mit, sondern die Bedeutung der in ihm enthaltenen Aussagen beruht auf bloßen Begriffen und den sie aussprechen-den Worten. Die spärlichen Andeutungen Kants hierzu lege ich so aus: mit ihnen sei gemeint, daß die philosophische Sprache nicht die Aufgabe habe, gegenstandsrelevante Inhalte mitzuteilen; vielmehr soll es dem Spre-chenden darum gehen, den Hörenden in den Stand zu setzen, von derselben Perspektive des Deutens der Welt Gebrauch zu machen, zu der er, der Sprechende, sich entschieden hat. Philosophisches Sprechen ist danach ein Ansprechen des Hörenden, nicht Information über dogmatische Bedeu-tungsinhalte. Das Gewißmachen philosophischer Wahrheit im Bereich akroamatischen „Beweisens" hat die Bedeutung des Motivierens: der Ange-sprochene soll zur Annahme der in Frage stehenden Sinn-perspektive motiviert werden.

Damit erweist sich die Handlung des Stellungnehmens als für die philosophische Sprache bedeutungsbildend: der Philosophierende kann sich als sprechende Person nicht von der Bedeutung des Gesagten zurück-ziehen und dieses nicht als „objektiv" Gemeintes mitteilen, wie man eine Sache übergibt. Er teilt vielmehr sich selbst, sein eigenes Stellungnehmen und Entscheiden für eine Weltperspektive mit, um andere zum gleichen, gemeinsamen Stellungnehmen zu motivieren. Nietzsche weitet diesen Ge-danken zu demjenigen dionysischen Redens, welches zugleich ein Singen ist, aus.21 Der Fürsprecher der Ewigen Wiederkunft, Zarathustra, gibt für diese nicht einen vielleicht sogar naturwissenschaftlich argumentierenden „Beweis" in objektiver Sprache, — Nietzsche war eine Zeit lang nicht frei von dieser unkritischen Absicht, die er aber fallen ließ — sondern er will den Hörer zu einem Stand des Denkens hinführen, auf dem er sich für diese Perspektive zu entscheiden vermag, weil er sie als seine Sinnwahrheit erkennt.

Wie gesagt, führt der Weg zu diesem Stand über das Denken und Sprechen des Experimentes, des „Vielleicht"-sagens. Experimentelle Ver-nunft ist die der Versuche des Denkend-Lebenden mit seinen eigenen perspektivischen Möglichkeiten. E r geht darauf aus, die für ihn sinnwahre Perspektive zu finden. Der Für-sprecher für eine bestimmte Perspektive will die Vernunft des Angesprochenen zu Versuchen des Denkens anleiten und auffordern, in denen dieser selbst seine für ihn sinnwahre Perspektive findet. Das Kriterium für die Entscheidung für diese Perspektive ist allgemeingültig nur in der Bedeutung, daß jeder seinen experimentellen

21 Zum Begriff der dionysischen Sprache vgl. meine Schrift: Sprachen der Ewigen Wieder-kunft.

Bereitgestellt von | Freie Universität BerlinAngemeldet | 87.77.174.220

Heruntergeladen am | 16.09.13 12:59

148 Friedrich Kaulbach

Weg zu seiner ihm angemessenen Perspektive zu gehen hat: jeder hat in eigner Handlung des Stellungnehmens über das Gelingen seines Experi-mentes zu entscheiden. Die Logik dieses Experimentierens ist der Sinn-notwendigkeit unterworfen. Für diese gilt: Mit der „Notwendigkeit, mit der ein Baum seine Früchte trägt, wachsen aus uns unsere Gedanken, unsre Werte, unsre Jas und Neins und Wenns und Obs — verwandt und bezüglich allesamt untereinander und Zeugnisse Eines Willens, Einer Gesundheit, Eines Erdreichs, Einer Sonne."22

Nietzsche zeichnet den Typus des künftigen Philosophen als den der Vergegenwärtigung des freien Geistes. Er stellt sich als frei in der Bedeu-tung dar, daß er über die Souveränität des Umgangs mit Perspektiven verfügt: dabei sind nicht Laune und Willkür für die jeweilige Entscheidung zu einer Perspektive maßgebend, vielmehr gehorcht der frei über sie Verfügende der Sinn-notwendigkeit. Die „kommenden Philosophen möch-ten ein Recht, vielleicht auch ein Unrecht darauf haben, als Versucher bezeichnet zu werden. Dieser Name selbst ist zuletzt nur ein Versuch, und, wenn man will, eine Versuchung"23 Wahrscheinlich sei es, daß es „neue Freunde der ,Wahrheit' seien. Dieses apostrophierte Wort kann nur Sinn-wahrheit bedeuten, da es in einem perspektivistischen Kontext gebraucht wird." Sicherlich aber werden es keine Dogmatiker sein. Es muß ihnen wider den Stolz gehen, auch wider den Geschmack, wenn ihre Wahrheit gar noch eine Wahrheit für jedermann sein soll: was bisher der geheime Wunsch aller dogmatischen Bestrebungen war. „Mein Urteil ist mein Urteil: dazu hat nicht leicht auch ein anderer das Recht — sagt vielleicht solch ein Philosoph der Zukunft."24

Dieser Philosoph nimmt sich die Freiheit des Entwurfes perspektivi-scher Möglichkeiten, um dann zu einer Entscheidung für eine bestimmte unter ihnen zu kommen. Er wird zum Lehrer und Fürsprecher sinnwahrer Perspektive; diese hat keine „allgemeine Geltung", weil sie nicht Thema objektiven Redens ist. Aber ihr Fürsprecher setzt eine gemeinsame Bewe-gung des denkenden Mit-gehens in Gang. Sie ist die Bewegung einer den Sprechenden und den Hörenden einigenden Vernunft, die als dionysische zu bezeichnen ist. Ihre Sprache ist ebenso dionysisch, da sie mit dieser Vernunft identisch ist. Für diese Sprache gilt das von Zarathustra Gesagte, daß sie über alles Gegenständliche, Objektive hinweg-tanzt. Ihre Sache ist es nicht Objektwahrheit auszusprechen: sie ist der Sinnwahrheit verbun-den. „Es ist eine schöne Narretei das Sprechen: damit tanzt der Mensch

22 GM, Vorrede, 2 23 JGB, 42 24 JGB, 43

Bereitgestellt von | Freie Universität BerlinAngemeldet | 87.77.174.220

Heruntergeladen am | 16.09.13 12:59

Kritik der Vernunft 149

über alle Dinge".25 Nietzsche beendet den letzten Teil des Zarathustra in dithyrambisch-dionysischer Sprache, die er nicht nur selbst „spricht", er fordert sie auch ausdrücklich als der Stellung der Vernunft des freien Geistes angemessen. Zarathustra, der in sich der Liebe zum Fatum und dem Willen zu Ewigen Wiederkehr Raum gegeben hat, sucht dieser durch dionysische Sprache Überzeugungsmacht zu geben: er fordert die höheren Menschen, die er anspricht, zum „Rundgesang" auf mit dem Text, der beginnt: „O Mensch gib ach t . . . "

Der freie Geist verdankt seine Freiheit der Emanzipation des Vermö-gens, sinngebende Weltperspektiven zu entwerfen und sich für die wahre zu entscheiden. Eine Erforschung der Ursprünge dieses Vermögens führt zu der Form der Vernunft, welche Nietzsche als die des Leibes bezeichnet. Freiheit, gesehen im Lichte des dionysischen Gedankens, ist an die Vernunft des Leibes gebunden. Dieser Zusammenhang mag noch eingehender be-trachtet werden. Zu ihm gehört der Gedanke, daß das Vermögen des Entwerfens der dem Leben sinngebenden Perspektiven nicht in der „rei-nen" Vernunft, sondern in derjenigen dieses Lebens selbst seine Wurzel hat. Diese hat sich jetzt als dionysische Vernunft gezeigt, sofern ihre Sprache nicht nur vorgestellte Begriffe mitteilt, sondern die Bewegung des gemein-samen Vollzugs der Stellungnahme für eine Perspektive ist: der Sprechende setzt diese Bewegung beim Hörenden in Gang. Das Bild, welches diese Vernunft des Lebens und für das Leben mit ihrem dionysischen Charakter bietet, wird durch die Wendung des Zarathustra von dem „Tanzen" der Sprache über die Dinge hinweg ergänzt, und es nimmt die Züge der Vernunft des Leibes an. Die gedankliche Linie der vorliegenden Überle-gungen, die von der kritisch-perspektivistischen Vernunft ausgegangen ist und zum Begriff des Experimentes und der Freiheit je zu meiner Sinnwahr-heit geführt hat, erstreckt sich weiter zum Begriff der dionysischen Ver-nunft, die sich am Ende als Leibvernunft darstellt. Nicht reine Vernunft, sondern Leibvernunft ist der Stand, den Nietzsche als Lebender und Philosophierender einnimmt. Von ihm aus übt er das Richteramt über untergeordnete Gestalten der Vernunft, wie etwa über die theoretische Vernunft der Wissenschaft aus.

Zwischen dem Freiheitsbegriff der Vernunftphilosophie etwa Kants und demjenigen Nietzsches liegt die nihilistische Erfahrung. Das Pathos des freien Geistes ergibt sich aus dem Bewußtsein der Befreiung von der Befangenheit in dem selbstgezimmerten Käfig der „wahren Welt". In der Konsequenz dieser Befreiung liegt es, daß sich der Denkende nicht mehr als an die in dieser Perspektive vorgesehene Weltteleologie gebunden

25 Za, III, Der Genesende

Bereitgestellt von | Freie Universität BerlinAngemeldet | 87.77.174.220

Heruntergeladen am | 16.09.13 12:59

150 Friedrich Kaulbach

versteht. Ebenso hat sich auf diesem Stande der Geschichte der Freiheit die Vernunft des Lebens auch von der Autonomie der reinen praktischen Vernunft befreit, auf die sich der kantische Freiheitsbegriff beruft. Die nihilistische Bewegung hat seitdem auch von der Befangenheit des Ver-pflichtetseins gegenüber dem Vernunftgesetz und des Gebundenseins an das Postulat der reinen Vernunft sowie an den von ihm aufgedrungenen Weltsinn des höchsten Gutes befreit. Die Entmachtung des von der reinen Vernunft gebotenen Sinnes durch die nihilistische Bewegung bewirkt ein Sinnvakuum. Der Vernunft des Lebens kommt nach Nietzsche die Aufgabe und das Vermögen zu, dieses durch eigenes Sinnschaffen auszufüllen: sie muß sich auf ihre Sinnautarkie besinnen.

Sinnautarke Vernunft ist die, welche vor dem Hintergrund des Nihilis-mus ihre eigene sinnwahre Perspektive schafft und behauptet, um die Situation des Sinninterregnums zu überwinden. Sie bedarf keiner Sinn-bevormundung durch reine teleologische Weltvernunft: der sich auf Sinn-autarkie besinnende Mensch ist ein „aus sich rollendes Rad". 2 6

Von da aus gesehen ist das Individuum „eine neue Kraft, eine erste Bewegung: ein aus sich rollendes Rad; wäre er stark genug, er würde die Sterne um sich herumrollen machen".2 7 Die Freiheit des freien Geistes beruht auf seiner sinnautarken Vernunft, die dazu vermögend ist, sich im Horizont des Meeres perspektivischer Möglichkeiten für die zu entschei-den, die für ein individuelles Leben die sinnwahre ist. Leben und Erleben geschehen nicht unmittelbar, sondern vollziehen sich als Entfaltung sinn-schaffender, sinnautarker Vernunft, welche sich als diejenige des Leibes darstellt. Die jeweils für eine bestimmte Perspektive, eine sinnwahre Welt-deutung getroffene Entscheidung darf vom philosophischen „Psycholo-gen", als den sich Nietzsche versteht, für Lebensverfassung, Triebstruktur und Seins-stellung dessen als symptomatisch gedeutet werden, der sich entschieden hat.28 Vernunft in der Verfassung der Sinnautarkie will Sinner-füllung in der jeweiligen Gegenwart. Sie gibt sich nicht mit der metaphysi-schen Auskunft zufrieden, daß der Handelnde das Wozu? seines Handelns erst in einer fernen Zukunft, vielleicht sogar jenseits des leiblichen Lebens erreicht und verwirklicht sehen darf. Der von dieser Vernunft gewollte Sinn, den sie dem Nichts entgegensetzt, geht auf jeweilige Gegenwärtigkeit aus: auf den Sinn des gegenwärtigen Augenblicks. Der im Hier und Jetzt zur Welt Stellung nehmende Wille entscheidet sich für eine Perspektive der Weltdeutung, die von ihm als f ü r ihn sinnwahre erfahren wird. Diese

26 Za, I, Von den drei Verwandlungen 27 KSA, 10, S. 207, 5 [1] 178 28 M, 119

Bereitgestellt von | Freie Universität BerlinAngemeldet | 87.77.174.220

Heruntergeladen am | 16.09.13 12:59

Krit ik der Vernunft 151

Intention auf die gegenwärtige Sinnerfüllung zeigt den Charakter einer durch Leibvernunft eingenommenen Weltstellung, der es auf das Jasagen zum jeweiligen Jetzt und Hier ankommt. Diese Gestalt der Sinnvernunft ist von derjenigen der reinen Vernunft unterschieden, die es auf Orientie-rung an allgemeinen überzeitlichen Normen abgesehen hat. Sie versteht sich nicht als eine über dem Lebens- und Leibgeschehen thronende Ver-nunft. Als Vernunft des Leibes selbst entwirft sie Weltperspektiven, die für die geschichtliche Gegenwart notwendig sind, und entscheidet sich für sie. Leibvernunft ist hierzu aufgerufen, weil sie Vernunft der Gegenwarts-geltung ist: sie ist „mittägliche" Vernunft. Diese Geltung trägt auf der höheren Stufe der Bedeutung und des Wahrseins den Zug des hier und jetzt Gewisseins, den auch Wahrnehmung der Sinne aufweist.

Die Perspektive der Ewigen Wiederkehr ordnet Nietzsche nicht der Metaphysik zu, die in seinen Augen Metaphysik der reinen Vernunft ist. Diese Perspektive ist der Leibvernunft zugehörig, weil sie Sinn, Zweck und Ziel des Lebens jeweils als gegenwärtig versteht: denn jedes Jetzt wird von dem sich für sie entscheidenden Willen als ewig wiederkehrend gewollt. Schon in der Geburt der Tragödie ist dieser Gedanke angelegt: Hier begegnet die These: wenn das Dasein als der jeweils lebendige Augenblick überhaupt zu rechtfertigen ist, dann kann das nur durch dionysische Kunst geschehen. Der Augenblick des künstlerischen Erlebnisses nämlich wird als vollkommen, als keines Ausblickes auf Künftiges bedürftig, als sinnautark erlebt. Er erfüllt das Bedürfnis nach Sinn in einer dem leiblichen Wesen Mensch angemessenen Weise. Demgemäß erfüllt sich der Sinn der von der Leibvernunft propagierten Weltperspektive in der Gegenwart. Ihre Sinnwahrheit gilt für den gegenwärtigen geschichtlichen Augenblick, wie sie auch dem Individuum in seiner Lebensgegenwart zugehört. Leibver-nunft ist geschichtliche Vernunft: die von ihr behauptete Sinnwahrheit hat den Charakter relativer Absolutheit.

Das Adjektiv: „relativ" in dieser paradox klingenden Wendung deutet auf die Bezüglichkeit der sinnwahren Perspektive auf das sich für sie entscheidende Individuum hin. Für dieses gibt es keinen allgemeingültigen Weg zur Wahrheit. Diese se ine Wahrheit muß es in der Weise des Experimentierens finden. Jeder ist darauf verwiesen, gleichsam auf eigene Faust Versuche mit Weltperspektiven zu wagen. Vernunft des Leibes ist daher nach den Worten Zarathustras diejenige des Selbst, welches nicht „Ich" sagt, sondern „Ich" tut. Es gibt, von hier aus gesehen nicht ein Ich, welches Vernunft „hat", sondern ich bin mein Leib und meine Leibver-nunft. Absolutheit aber erreicht die Leibvernunft mit ihrer Sinnwahrheit, weil diese nicht durch die Logik des Begründens, Beweisens oder Abzulei-

Bereitgestellt von | Freie Universität BerlinAngemeldet | 87.77.174.220

Heruntergeladen am | 16.09.13 12:59

152 Friedrich Kaulbach

tens gewiß zu machen ist; sie hängt nicht logisch von Anderem ab, sondern meine Entscheidung für sie bedeutet ihre Geltung für mich.

Weitere Züge der Vernunft des Leibes, der es obliegt, Sinnwahrheit der für die Gegenwart gültigen Perspektive aufzuschließen, zeigen sich im Blick auf das Selbstsein und sein Ich: „Hinter deinen Gedanken und Gefühlen steht dein Leib und dein Selbst im Leibe: die terra incognita. Wo^u hast du diese Gedanken und Gefühle? Dein Selbst im Leibe will etwas damit."29 Dieser Wille des Selbst will eine dem „leibenden Leben" (Heidegger) sinngebende Perspektive zur Geltung bringen. Das Selbst als Leibvernunft gibt sich den Stand perspektivenschaffender, sinnproduzie-render Vernunft: es steht auch als die Sinnwahrheit verwaltende Instanz „hinter" dem Bewußtsein, wenn dieses die Welt einer Sinnperspektive „gegenständlich" durchzeichnet. Denn: „Alles Bewusste ist nur das Zweit-Wichtige: dass es uns näher und intimer ist, wäre kein Grund, wenigstens kein moralischer Grund, es anders zu taxieren. Dass wir das Nächste für das Wichtigste nehmen, ist eben das alte Vorurteil — Also umlernen! In der Hauptschätzung! Das Geistige ist als Zeichensprache des Leibes festzuhal-ten!"30 Leibvernunft ist ein Innesein der unendlichen Verflechtungen des kosmischen Systems und ein Sich-einfügen in seine Verhältnisse. Daher wird auch die Weite der irdischen Natur im Ganzen vom Horizont der Leibvernunft umfaßt. Daher heißt sie im Zarathustra die „grosse Ver-nunft".

Im Bereich der großen Vernunft des Leibes eröffnet sich der Mensch Horizont und Perspektive der Notwendigkeit der kosmischen Vorgänge, und er entscheidet sich für diese Perspektive des in sich verlaufenden ewigen Wiederkehrens. Er gibt seinem Verwobensein in diesem Geschehen dadurch Sinn, daß er dieser Perspektive gegenüber die Stellung des „Ich will es so" einnimmt.31

Die Größe der großen Vernunft aber hat auch die Bedeutung, daß sie die Ewige Wiederkehr als eine von vielen Weltperspektiven versteht, aus deren Meer von Möglichkeiten sie diese ausgezeichnet und sich für sie als ihre sinnwahre entschieden hat. Diese Entscheidung trifft die große Ver-nunft im umfänglichen Horizont des Meeres von Möglichkeiten. Der perspektivistische Philosoph ist ein Odysseus des Geistes, ein „Polytro-pos", der die Meere befahren hat. Zugleich gilt für ihn der Vergleich mit dem „Freund der grossen Jagd" in dem Felde des ganzen bisher erreichten Umfangs „menschlicher innerer Erfahrungen", der „ganzen bisherigen

25 KSA, 10, S. 225 30 KSA, 10, S. 284, 7 [126]; S. 225, 5 [30] 31 KSA, 10, S. 284, 7 [126]

Bereitgestellt von | Freie Universität BerlinAngemeldet | 87.77.174.220

Heruntergeladen am | 16.09.13 12:59

Kritik der Vernunft 153

Geschichte der Seele und ihrer noch unausgetrunkenen Möglichkeiten".32

Der freie Geist ist „in vielen Ländern des Geistes zu Hause, mindestens Gast gewesen; den dumpfen angenehmen Winkeln immer wieder ent-schlüpft, in die uns Vorliebe und Vorhass, Jugend, Abkunft, der Zufall von Menschen und Büchern, oder selbst die Ermüdungen der Wanderschaft zu bannen schienen . . ."33

Ein Resüme zeigt folgendes Bild des durchlaufenen Weges. Zunächst wurde der Weg verfolgt, der vom dogmatischen Denken und Sprechen zum Programm des kritischen Perspektivismus führt. Dieser bedeutet Befreiung der Vernunft zu ihrer Möglichkeit des Entwurfes lebensbedeut-samer Perspektiven, aus deren Meer der Möglichkeiten sich der Lebend-denkende die für seine geschichtliche Gegenwart angemessene, ihm Sinn gebende und daher sinn-wahre herauszieht. Die Entscheidung dafür trifft die Sinnvernunft auf dem Wege der Experimente mit ihren eigenen per-spektivischen Entwürfen. Vor dem Hintergrund des Nihilismus versteht sich nicht die reine, aber die dionysische, leibliche Vernunft dazu aufgeru-fen, den Richterstuhl des Urteils über die Sinnwahrheit einer Perspektive einzunehmen. Diese Vernunft ist als das „Selbst" sinnschaffend, ihr eignet das Bewußtsein ihrer Sinnautarkie. Der Leiblichen Vernunft, die zugleich dionysische Züge trägt, geht es um Sinnerfüllung in der Gegenwart, wo wie Gesang, Musizieren, Tanz, miteinander Sprechen ihr „Wozu?" in sich selbst tragen. Autarkie des Sinnschaffens bedeutet auch den Überschuß des Lebenden an Möglichkeiten des Jasagens. Im amor fati ζ. Β. kommt der Sinnüberschuß der autarken, perspektivenschaffenden Vernunft zum Ausdruck. Die Liebe zum Fatum vermag dieses auch in seiner Sinnlosigkeit und im Blick auf Leiden und Schmerzen zu bejahen, die es dem Lebenden zufügt.

32 J G B , 45 33 J G B , 44

Bereitgestellt von | Freie Universität BerlinAngemeldet | 87.77.174.220

Heruntergeladen am | 16.09.13 12:59