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DELIKTPHÄNOMENEIM VERGLEICH
Lina-Maraike StettenIKG, Universität Bielefeld
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Struktur1. TARGET – Das Verbundprojekt2. Problematiken in der Forschungspraxis3. Radikalisierung von Gewalt4. Forschungsdesign und Methode5. Gemeinsamkeiten und Unterschiede6. Tätertypologien (nach Böckler et al.)
7. Fazit und Ausblick
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Das Verbundprojekt− Freie Universität Berlin
(Arbeitsbereich Entwicklungswissenschaft und Angewandte Entwicklungspsychologie)
− Justus-Liebig-Universität Gießen (Professur für Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug)
− Universität Konstanz (Arbeitsgruppe Forensische Psychologie)
− Deutsche Hochschule der Polizei Münster(Fachgebiet Kriminologie und interdisziplinäre Kriminalprävention)
− Institut Psychologie und Bedrohungsmanagement Darmstadt− Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung; Universität
Bielefeld (Sozialpsychologie, Soziologie, Pädagogik und sozialwissenschaftliche Kriminologie)
• Gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen des Programms „Forschung für die zivile Sicherheit II“.
• Projektlaufzeit von Juni 2013 bis Mai 2016.
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ZIELE DES FORSCHUNGSVERBUNDES• Analyse aller in Deutschland (2000-2012) erfolgten Fälle schwerer,
zielgerichteter (Mehrfach-)Tötungsdelikte durch junge Einzeltäter/innen• Kontrastierung dieser Delikte mit Fällen von geplanten, versuchten oder
vollendeten durch erwachsene Täter/innen
Schulamokläufe/School Shootings ≤ 25 Jahre (n=11)
• Beschreibung des Entwicklungsprozesses im Vorfeld der Tat
• Erarbeitung von interdisziplinär konsensfähigen & empirisch begründeten Verlaufsmodellen
• Voranbringen anwendungs-orientierter Fragen der Prävention und Intervention
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GROßE THEORIEN FÜR SELTENE EREIGNISSE…• Warum töten Menschen und stellen sich gegen das demokratische System
in dem sie oftmals selbst sozialisiert wurden?• Keine eindeutigen Persönlichkeits- und Sozialprofile. Kein Faktor scheint
spezifisch genug, um in ihrer phänotypischen Ausprägung derart spezifische Taten zu erklären.
• Viele Personen, die vermeintliche Risikofaktoren aufweisen, begehen keine Tat. Ein bloßer Blick auf Risikofaktoren scheint wenig vielversprechend – Persönliche Missstände
• Wichtig, um Anknüpfungspunkte für die Intervention und Prävention zu finden: Mechanismen und Funktionale Elemente hinter diesen Botschaftsverbrechen zu verstehen.
• Austauschbare Narrative? School Shootings, Islamistischer Terrorismus, rechtsextremistischer Terrorismus, Mischformen…nicht Inhalt, sondern Struktur zählt!
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Problematiken in der Forschungspraxis
1. Problematik der Begriffsklärung2. Problematik des Generalverdachtes3. Problematik der Dynamik4. Problematik des Phänomens
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1. Problematik der Begriffsklärung
Methodisch Thematisch
Eingrenzung der Fälle Fehlende klare Eingrenzung des Phänomens, erschwert den Umgang mit eben diesem
Identifikation der Fälle Häufig werden Begriffe wie Amok oder Terror in den Medien fälschlich verwendet
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2. Problematik des Generalverdachtes
„Männlich, jung, unauffällig, Einzelgänger, aus der Mittelschicht - diese Eigenschaften bestimmen das Profil eines Schulamokläufers”„Männlich, in der Gesellschaft gescheitert, auf der Sinnsuche - diese Eigenschaften…”
Methodisch Thematisch
Es existiert kein eindeutigesTäter/innenprofil oder ein vulnerablerPersönlichkeitstypus in Bezug auf School Shootings oder Lone Wolf Taten
Es gibt eine Vielzahl an Menschen mitgleichen Persönlichkeitseigenschaftenoder -akzentuierungen, durch die jedoch keine Gewalttaten begangenwerden
Es ist nicht möglich eine Art „Schablone” an potenzielleTäter/innen anzulegen
Stigmatisierung
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3. Problematik der Dynamik
Methodisch Thematisch
Der Prozess der Radikalisierung istnicht linear, demnach ist es schwerihn in seiner Gesamtheit abzubilden
Es handelt sich um einen hochkomplexen Prozess,der nicht leicht durchbrochenwerden kann.
Betrachtung der Prozesse imbiografischen Verlauf auf Grundlagevon Einzelfallanalysen – führt wiederzum Generalverdacht
An welcher Stelle sind welche Mittelwirksam? Wie kann man versuchen, die Person von der Ideologie zulösen?
Gewalttat
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4. Problematik des Phämones
• Das betrachtete Froschungsproblem erweist sich als vielschichtig und hoch komplex
• Radikalisierung ist immer individuell• Standardisierte Profilbildung nicht möglich• Weiteres Problem bildet die “Willkür der Ideologie-Auswahl”:
• Dahinter steckt die Annahme, dass die Ideologie, der sich einTäter/eine Täterin verpflichtet, im Grunde austauschbar ist
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BEGRIFFSDEFINITION:HOCHEXPRESSIVE GEWALT
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FOKUS: RADIKALISIERUNG VON GEWALT
• Besonderer Fokus liegt auf hochexpressiven Taten:• Tatplanung• Hohe Anzahl an Opfern wird antizipiert• Meist symbolische Tatorte (öffentiche Plätze, Institutionen)• Symbolische Opferwahl
Botschaftsvermittlung
• Analyse von Radikalisierungsprozessen von Einzeltäterinnen und -tätern hochexpressiver zielgerichteter Gewalttaten
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RADIKALISIERUNGSDYNAMIKEN
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WIE KÖNNEN RADIKALISIERUNGSPROZESSEUNTERSUCHT WERDEN?
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SAMPLE
Analyse von Radikalisierungspfaden
• Ideologie: n = 33 (28 männlich/5 weiblich) (intendierte) ideologische Mehrfachtötungen seit 2000; Rechtsextremistischer Hintergrund, n = 26; islamistischer Hintergrund, n = 7
• School Shootings, n=11 (2 weiblich)
• Alter: Terror: n=33; Ø=21,6 JahreSchulamok: n=11; Ø= 17,55 JahreMord: n=210; Ø=30,84 Jahre
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FORSCHUNGSDESIGN
QUANTITATIVEANALYSEN
QUALITATIVEANALYSEN
Zugriff auf ein im Gesamtprojekt
erhobenes Sample aller (intendierten)
Tötungsdelikte in 3 BL in Deutschland (2000-2012),
nahezu Kompletterhebung aller Mehrfachtötungen im
öffentlichen Raum
Komparative Fallanalyse auf Basis eines
theoretischen Samplings
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FORSCHUNGSINTERESSE DERQUANTITATIVEN ANALYSE• Ausmachen von Subgruppen innerhalb der intendierten • (Mehrfach-)Tötungen im öffentlichen Raum• Analyse der Radikalisierung: Lassen sich auch quantitativ bestimmte
Radikalisierungsstufen ausmachen? • Findet sich jeder Täter in jeder Radikalisierungsstufe wieder? • Ist für eine bestimmte Stufe eine bestimmte Konstellation an Risiko-
(bzw. Schutz-)Faktoren relevant? • Unterscheiden sich die signifikanten Einflüsse der Faktoren in den
verschiedenen Stufen? Ist letztlich immer das gleiche Faktorenbündel tatrelevant?
• Entwicklung einer Typologie der Radikalisierung: diese lässt bestenfalls Aussagen über die Wellenförmigkeit der Radikalisierung zu, über die Unterschiede oder Ähnlichkeit der Radikalisierung zwischen unterschiedlichen Deliktformen sowie Erkenntnisse über einen Teil der erklärenden Variablen
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QUANTITATIVE ANALYSEN
• Fallerhebung
•Allgemeine Codebuch
• Radikalisierungsbuch
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DAS ALLGEMEINE CODEBUCH
• Das allg. Codebuch wurde in Zusammenarbeit aller Arbeitsgruppen erstellt, es enthält Themenschwerpunkte aus allen teilnehmenden Disziplinen, wurde jedoch stark gekürzt und liefert somit als alleiniges Instrument eher deskriptive Erkenntnisse.
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QUANTITATIVE ANALYSE: ERWEITERUNGSBOGEN „RADIKALISIERUNG“
• Risiko- und Schutzfaktoren: Erhebung des Forschungsstands zu Terrorismus, Extremismus, Devianz
• Entwicklungsaufgaben: Aktuelle Studien (als latente Variablen eingebracht)
• Radikalisierungsphasen: Bestehende Modelle, Erkenntnisse der qualitativen AnalysenQ
uant
itativ
st
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ische
Ana
lyse
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Gemeinsamkeiten und Unterschiede
90,9
100
61,1
6,1 0
28,4
3 0 10,40
20
40
60
80
100
120
ideology school shootings homicide
Familienstand
single
married
divorced 21,9
3,1
37,5
21,9
15,6
72,7
0 9,1
18,2
0
40,2
4,6
29,4
11,9 13,9
0
10
20
30
40
50
60
70
80
Schulabschluss
ideology
school shootings
homicide
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100
40
72,6
0
40
27,4
020
00
20
40
60
80
100
120
ideology school shooting homicide
Schuldfähigkeit
fully accountable diminished responsibility insanity
Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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44
9,1
96,2
56
90,9
3,80
20
40
60
80
100
120
ideology school shooter homicide
Tatplanung
no yes
Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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12,5
72,7
88,2
66,7
18,2
9
20,8
9,1 2,90
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
ideology school shooting homicide
Leitendes Motiv: Ideologie
no
yes, documented
yes, hints
75,8
9,1
78,6
12,10
11,212,1
90,9
10,20
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
ideology school shooting homicide
Leakage
no
yes, once
yes, repeated
Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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75
33,3
89,9
25
66,7
10,1
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
ideology school shooter homicide
Fixierung auf wahrgenommene Ungerechtigkeit
no
yes
67,9
45,5
63,4
32,1
54,5
36,6
0
10
20
30
40
50
60
70
80
ideoloy school shooter homicide
Bezug zu anderen Gewalttätern(fiktiv oder real)
no
yes
Gemeinsamkeiten und Unterschiede
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FORSCHUNGSDESIGN
QUANTITATIVEANALYSEN
QUALITATIVEANALYSEN
Zugriff auf ein im Gesamtprojekt
erhobenes Sample aller (intendierten)
Tötungsdelikte in 3 BL in Deutschland (2000-2012),
nahezu Kompletterhebung aller Mehrfachtötungen im
öffentlichen Raum
Komparative Fallanalyse von Schulamoktätern mit
terroristischen Einzeltätern
auf Basis von Gerichts-und Ermittlungsakten
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AKTENANALYSE NACH BÖCKLER ET AL. 2015
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BIOGRAPHISCHE ANALYSE NACH BÖCKLER ET AL. 2015
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TYPOLOGIE VON GRUPPEN- ODEREINZELTÄTERINNEN
TYP I TYP II TYP IIISELBSTPRÄSENTATION & SOZIALE
BESPIEGELUNGSOZIALE ABHÄNGIGKEIT & VERTRAUEN
SINNSTIFTUNG & SELBSTVERPFLICHTUNG
• Meinungsführerschaft• Suche nach Selbstpräsentation
und -bespiegelung• Identifikation mit
menschenfeindlicher Ideologie als Mittel zum Selbstausdruck und zur Strukturierung sozialer Interaktionen
• Identifikationsfigur für andere Gruppenmitglieder
• Positive soziale Resonanzen führen zur Verfestigung des eigenen Radikalisierungswegs
• Einfluss auf Radikalisierungsprozesse anderer durch Rekrutierung, Anweisung und Bestärkung
• Mitläufertum• Suche nach Zugehörigkeit,
Orientierungs- und Verhaltenssicherheit
• Gefühl zunehmender Verpflichtung gegenüber Vertrauenspersonen in radikalen Kontexten
• Planung und Vollzug der Gewalttat aus der sozialen Abhängigkeit heraus, weniger aus intrinsisch-ideologischer Überzeugung
• Missionsorientiertheit• Suche nach Sinn und dem
“wahren“ Weltverständnis• Bewältigung subjektiv äußerst
belastender Krisen• Ideologie in starkem Maße als
Definitionskriterium der eigenen Identität
• Radikalisierung wird sukzessive durch die zunehmende Selbstverpflichtung gegenüber der Ideologie vorangetrieben
• Keine Angewiesenheit auf die reale Einbindung in eine radikale Gruppe
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TYPOLOGIE VON GRUPPEN- ODEREINZELTÄTERINNEN
TYP IV TYP V TYP VI
VERBUNDENHEIT & IDENTIFIKATIONGEWALTKANALISIERUNG &
DOMINANZBESTREBENPERSÖNLICHE RACHE OHNE
KOLLEKTIVBEZUG
• Suche nach Selbstwertschätzung
• Identifikation mit den Biografien anderer Täter/innen oder ihren Weltanschauungen
• Sukzessive Veränderungen von Wahrnehmungs-, Deutungs-und Verhaltensmustern
• Gewaltaffinität nach der Auseinandersetzung mit Narrativen vorangegangenerSchulamoktäter/innen
• Umdefinition des Selbst vom Opfer zum Rächer
• (Prä-)deliktische Inszenierung• Inkonsequente Tatausführung• Symbolische Opferwahl
• Suche nach Kontrolle und Dominanz
• Bewältigung subjektiv erlebter Missachtungserfahrungen und Ohnmachtsgefühle
• Gewaltaffinität vor der Auseinandersetzung mit dem Skript
• Suizidale Tendenzen• Ideologie richtet und spezifiziert
allenfalls Verhaltensmuster und Strategien der Gewalt
• Pragmatisch-effiziente Tatdurchführung
• Symbolische Opferwahl
• Keine Beschäftigung mit Ideologien
• Dynamik ergibt sich aus devianten Verhaltensdispositionen, Prozessen biographischer Schließung, Beziehungsabbrüche, Gelegenheitsstrukturen und Hinweisreize
• Hoch selektive Opferwahl
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Zusammenfassung der Ergebnisse
- Großteil der Täter ist unverheiratet
- Großteil der ideologisch motivierten Täter verfügt über eine gute schulischeAusbildung
- Alle Täter ideologisch motivierter Straftaten sind für schuldfähig erachtet
- „normaler“ Mord als ungeplante Tat; hohe Rate der Tatplanung innerhalb derGruppe der Schulattentäter (91%) wie auch in der Gruppe der ideologischmotivierten Täter (56%)
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Zusammenfassung der Ergebnisse- Fast 90% der ideologisch motivierten Täter verletzten keines der Opfer tödlich
Aber 10% töteten mehr als eine Person, 2 Schulattentäter töten dabei sogar 15 und 16 Personen
- In nur 34% der Fälle der ideologisch motivierten Taten war die Ideolgie selbst die treibende Motivation
- In 67% der ideologisch motivierten Fälle findet sich keinerlei Leakage, ebenso in 79% der „normalen“ Mordfälle,aber in 91% der Fälle des Schulamoks
- 75% der ideologisch mon Täter ebenso wie 67% der Schulamoktäter zeigten im Vorfeldder Tat eine Fixierung auf eine gefühlte UngerechtigkeitDies fand sich bei nur 10% der Täter in der Gruppe “Mord”
- Mehr als die Hälfte der Schulamoktäter (55%) zeigte im Vorfeld der Tat bewunderndesVerhalten für bisherige Gewalttäter
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Weitere Forschung und Prävention
Eigene Forschung:- Datenanalyse im Rahmen einer hierarchischen Clusteranalyse
- Anreicherung der Fälle durch eine Fallgruppe von Propagandisten
- Weitere Vergleiche der Ergebnisse aus der qualitativen und quantitativenAnalyse
Prävention und Intervention
− Tätertypologien sollten in stärkerem Fokus stehen als die Ideologie selbt
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Diskussion: ungelöste Probleme
1. Welche Rolle nimmt die Ideologie imRadikalisierungsverlauf ein?
2. Ist der Ansatz, Präventionsprogramme aus unterschiedlichen Phänomenen auf andere Ideologien zu übertragen ein wirksamer Ansatz?
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Vielen Dank!
Kontakt: lina.stetten@uni-bielefeld.de
Ergebnisse der qualitativen Analysen beruhen auf Arbeiten meiner Kollegen:Viktoria Roth und Nils Böckler